Alfred Johannes Noll. Über einen Rechtsanwalt, Schriftsteller und Universitätslehrer


Wissenschaftliche Studie, 2019

23 Seiten


Leseprobe


„Wie sehr lag ich mit meiner juristischen Tätigkeit im Irrtum, als ich noch glaubte, dass es stets etwas eindeutig Richtiges und etwas eindeutig Falsches gibt.“

Alfred J. Noll, Kannitz

Lang habe ich angenommen, die Berufe des Dichters und Juristen seien solche von Kopfarbeitern. Weit gefehlt. Sie sind auch Handwerker. Alfred J. Noll, ein exemplarischer Rechtsanwalt, Schriftsteller und Universitätspro-fessor, hat mir vor Jahren zugesagt, für ein Dossier der Zeitschrift Literatur und Kritik1, das ich redigiert habe, einen Beitrag zu schreiben. Bevor er mit dem Verfertigen begonnen hat, hat er sich beim Skifahren die Arme gebrochen. Ich weiß nicht, was alles ihm damals schwergefallen ist, das Schreiben jedenfalls … Seinen Text habe ich leider nicht bekommen, wie-wohl ich weiß, dass der multipel begabte Alfred J. Noll absolut verlässlich ist.

Hier möchte ich einige Facetten Nolls aus dieser Multiplizität, anders als mit diesem Wort kann ich es nicht ausdrücken, mag es hier auch nicht üblich gebraucht sein, ausleuchten, aber jetzt seine politischen Ambitionen aus-sparen. Es können nur „einige Facetten“ sein, weil man seiner umfassenden Arbeit, seinem empathischen Engagement und seinem blitzenden Intellek-tualismus nicht einmal mit einem Buch wirklich gerecht werden könnte. Mit einer Festschrift auch nur für den Zeitpunkt des Berühmens und Feierns.

Alfred J. Noll interessiert mich in erster Linie als Schriftsteller und auch auf diesem Gebiet ist er ein fertiger Künstler. Wünschen würde ich mir, dass er „abseits der Tagesarbeit“, wie er es nennt, mehr Zeit für Belletristik hätte.

Gleichsam ein Meisterwerk des Genres ist Alfred J. Nolls juristische Debüt-Parabel „Kannitz“2 3. Noll, als Rechtsanwalt und Wissenschaftler bereits be-kannt und renommiert, startete fulminant als Schriftsteller. Sein „Kannitz“ ist von der ersten bis zur letzten Seite spannend, inhaltlich nachvollziehbar und in einer glasklaren Sprache geschrieben. Jede Zeile belegt einerseits den Rechtstheoretiker und andererseits den enthusiastischen Kunstexper-ten, der in einen dichterjuristischen Text wie nebenbei kleine Expertisen einfließen lässt, beispielsweise über Richard Gerstl oder Max Liebermann. Vom Feinsten sind aber seine rechtsphilosophischen Ausflüge, die er dem jüdischen Wiener Rechtsanwalt Doktor Isidor Hoffer im Dialog mit der zwei-ten Hauptfigur des Buchs, Doktor Rudolf Kannitz, in den Mund legt. Hier hätte man wegen des Tons, des Wissens und der ludistischen Gekonntheit größte Lust, über die letzte Seite hinaus weiterzulesen. Ohne mit seinem enormen Wissen aus mehreren Abteilungen zu prahlen, versorgt Alfred J. Noll den Leser an den richtigen und zusammenhängenden Stellen mit Ge-danken und Zitaten von Brecht über Cicero und Montesquieu bis Rousseau und Stellen aus dem Koran. Fontane, Heine und Kleist sind die literarische Zuwaage.

Die Geschichte spielt hauptsächlich im Wien des Ständestaats und am Vor-abend des „Anschlusses“. Rechtsanwalt Hoffer, ein vifer und besonders ge-wandter Vertreter seiner Zunft mit Weitblick, tritt schon im Jahr 1937 die Flucht an. Sein gesamtes Vermögen überlässt er treuhändig Kannitz, dem Präsidenten des Verwaltungsgerichtshofs im Ruhestand, ohne dass es irgendein Dritter weiß. Hoffer kommt noch vor dem Ende des NS-Regimes auf einem Schiff, das von Hitlers U-Booten angegriffen wird, um. Kannitz hingegen überlebt unbehelligt, wie es ihm Hoffer vorausgesagt hat.

Nun sitzt der paragraphentreue und unflexible Beamte in der - mit Gerstl-Bildern und Hoffmann-Möbeln bestückten - Villa. Seine Reaktion ist typisch und heißt Unentschlossenheit, die so weit geht, dass zuletzt aus der Hand des Juristen nur der Anfang seines „Letzten Willens“ ohne eine rechts-erhebliche Erklärung vorliegt, weshalb das gesamte und im Jahr 1955 auf einhundert Millionen Schilling geschätzte Vermögen dem Staat anheimfällt, wie es im Gesetz heißt und dort vorgesehen ist.

Der Schriftsteller Noll stellt in der raffinierten Parabel zwei Figuren auf, die jeweils die eigene (Gedanken-)Welt repräsentieren. Der Rechtsanwalt ge-hört zum jüdischen Großbürgertum, dessen Attribute das Intellektuelle und Kunstsinnige sind. Auf der anderen Seite steht der kleinmütige Beamte ohne jedwede weltmännische Intention, aber mit Anständigkeit und Korrektheit. Anhand Hoffers und Kannitz’ hält der Restitutionsexperte Noll der damaligen und (!) heutigen Gesellschaft den Spiegel vor. Manche ge-sellschafts- und allgemeinpolitische Kritik richtet sich eher an die gegen-wärtig Mächtigen als jene in der nächsten Vergangenheit. Noll zeigt Mängel unseres Landes in Vergangenheit und Gegenwart ruhig und unspektakulär auf: Antisemitismus, Neid, Opportunismus und die Versuche, das Recht nach der eigenen Façon beeinflussen oder gar biegen zu wollen.

Geradezu erleichternd für den Leser ist Kannitz’ späte Einsicht, die Noll folgend formuliert: „Wie sehr lag ich mit meiner juristischen Tätigkeit im Irrtum, als ich noch glaubte, dass es stets etwas eindeutig Richtiges und etwas eindeutig Falsches gibt.“ Nolls Buch gehört eindeutig zum literarisch Richtigen. Auch die großzügige und ästhetische Buchausstattung, die in diesem Fall erwähnt werden muss.

Auf der Grundlage der Parabel hat Noll das Hörspiel „Kannitz“ gestaltet, das der Österreichische Rundfunk in seinem Programm Ö 1 gesendet hat4. Der Regisseur war Götz Fritsch, der in der Produktion mit einer hervorragenden Besetzung arbeiten konnte: Joachim Bißmeier (Kannitz), Gert Voss (Hoffer), Stefano Bernardin (Eduard), Peter Matic (Notar), Michael Dangl (Alfred, Erzähler), Linde Prelog (Erna) und Jacqueline Freire (Amerikanerin). Eine erstklassigere Besetzung wird man für ein deutschsprachiges Hörspiel nicht finden.

Eine Schlüsselszene möge hier exemplarisch für den Text stehen:

Alfred: Seit gut einer Stunde saßen sie zusammen. Kannitz sagte nichts, Hoffer redete ununterbrochen.

Hoffer: Ich weiß nicht, mein lieber Kannitz, wie viel Sie über meine Familie wissen. Die Hoffers sind reich geworden, weil sie im Weltkrieg gut verdient haben, wirklich sehr gut verdient. Dafür haben wir stets die Wahlkämpfe der Sozialdemokraten unterstützt. Heute geht das nicht mehr. Da fast alle meine Verwandten in den letzten Jahren gestorben sind, ist alles an mir hängen geblieben. Ich muß mich um die Fabrik kümmern, unseren Wald bewirtschaften, überdies weiß ich nicht, was ich mit den Hotels in Salzburg machen soll.

Ich wollte zunächst alles verkaufen. Aber die Zeiten sind nicht danach. Vieles müsste ich unter Wert abstoßen. Außerdem bin ich mir nicht so sicher, ob das ein endgültiger Abschied wird. Vielleicht komme ich wieder zurück, wenn sich die Hitlerei in Deutschland erledigt hat. Bis dahin werden wir reisen. Wir werden die Welt sehen. – Wenn ich aber gehe und nicht alles mitnehmen kann, wer kümmert sich dann um den ganzen Kram? Soll ich warten bis die Nazis auch bei uns sind und dann vielleicht alles kaputt schlagen? Für uns Juden wird alles den Bach hinuntergehen, mein lieber Kannitz. Also, was tun? –

(Musik)

Sie schauen so ungläubig, mein lieber Kannitz. Die Entscheidung ist längst gefallen.

Mir fehlt es an Zuversicht, dass dieses Land gegen das Nazipack etwas ausrichten wird – also gehe ich.

Kannitz: Ich wurde von Dr. Hoffer mit dem Ansinnen überrascht, alle seine Vermögenswerte zu übernehmen – er würde Österreich gemeinsam mit seiner Frau verlassen, ich solle als Treuhänder sein Vermögen bis zu seiner Rückkehr verwalten. Dr. Hoffer gab mir für seine Absichten nur kursorische Gründe bekannt. Die politische Lage sei hoffnungslos, in Deutschland habe man sich schon darangemacht, zur allgemeinen Judenverfolgung aufzurufen.

(Musik Ende)

Hoffer: Sie müssen mir nicht antworten, Kannitz. Ich kenne Sie, ich vertraue Ihnen, das heißt, soweit man unseresgleichen überhaupt trauen kann. Der Mensch ist fehlbar, verführbar, er ist feig. Bei Ihnen bin ich mir aber ganz sicher. Weder müssen Sie mich davon überzeugen, dass Sie alles nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden werden, noch will ich von Ihnen irgendwelche Bedenken hören.

Sie selbst sind persona grata hierzulande, mit Ihnen wird niemand streiten, niemand wird Sie behelligen, einerlei wie schlecht die Zeiten sich zeigen. Das Nazipack wird, soweit es nicht ohnedies schon da ist, ganz kräftig daherkommen, aber da sind wir schon weg. Wir werden in Verbindung bleiben. Amerika ist nicht aus der Welt: Glauben Sie mir, Kannitz, Sie sind der richtige Mann dafür. Sie können gar nichts falsch machen, Sie sind nicht in der Lage dazu.

(Musik)

Sie haben keine weiteren Ziele mehr im Leben. Sie werden sich der Sache widmen. Sie wird das einzige sein, was Sie zu tun haben. Ihren Ruf werden Sie nicht riskieren. Ihr Ruf ist Ihnen wichtig. Sie werden verwalten, was ich Ihnen übertrage. Was sonst sollten Sie schon damit tun? Meine Bilder und Möbel werden Ihnen nicht gefallen, meine Bücher werden Sie nicht lesen wollen. Wenn der Spuk vorbei ist, und irgendwann wird er vorbei sein, dann sind wir wieder da. Bis dahin werden Sie tun, was ich Ihnen sage, so wie bisher.

Der Notar muss gleich kommen. Wir können die Sache hinter uns bringen.5

Die zweite und große Passion Nolls, bei seiner ersten denke ich an den Rechtsanwaltsberuf, ist zweifellos die Wissenschaft, aber nicht nur die ju-ristische. Er ist in der philosophischen mindestens so zuhause. Es scheint, als sei für ihn ein Leben ohne Gesetze unvorstellbar und so hat der auf vie-len Gebieten begnadete Alfred J. Noll seine Fähigkeiten auch dafür genützt, mit seiner Sprachkunst und seinem offenbar unerschöpflichen Fachwissen ebenso Sachthemen zu bearbeiten.

Auf diesem Gebiet hat er vor nicht allzu langer Zeit einen großen Essay, „Wie das Recht in die Welt kommt“, vorgelegt6, in dem er – in verständlicher Ausdrucksweise – der Frage nachgeht, wie es dazu gekommen ist, dass sich die Menschen eine Ordnung gegeben haben und nach dieser auch leben. Er geht bis zu den Wurzeln und zeichnet die Grundlagen unserer Gesellschaft nach.

Bei diesem Thema geht es naturgemäß nicht ohne Rechtsgeschichte, die er – der Gegenstand mag es zunächst nicht versprechen – spannend … erzählt. Noll hat für dieses Buch nämlich eine lässige Essayform und nicht die trockene Wissenschaftsprosa gewählt. Er versteht es zu verdeutlichen, wa-rum Menschen seit Jahrtausenden intensiv um ein Rechtssystem ringen, im besten Fall um ein gerechtes.

Der Schriftsteller-Jurist Noll konstatiert, dass unser Leben ohne Gesetze un-vorstellbar ist und erklärt, seit wann es solche gibt, wie sie sich entwickelt haben und warum. Er veranschaulicht ihren Entwicklungsgang, um kritisch anzumerken, dass sich die heutige Wirklichkeit nach dem Markt ausrichtet. Dabei werde alles, wofür es sich zu leben lohne, zum Objekt aggressiver Aneignungsversuche durch exklusive Minderheiten. Es werde uns geraten, den Preis einer Sache zu kennen, den Wert sollten wir jedoch außer Betracht lassen. Das heißt auch, dass an die Stelle einer durch unmittelbare Teilhabe erworbenen Legitimation des Rechts die apathische Duldung rechtspoli-tischer Zumutungen trete. Hier würden sich die Menschen auf eine soge-nannte Scheindemokratie zubewegen.

In seinem großen Essay legt Noll jedermann nahe, nach den Gründen des Rechts zu suchen. Bei diesem Forschungsunternehmen ist er dem Leser mit einer kenntnisreichen Tour d’Horizon durch die Geschichte behilflich. Wir bewegen uns von den Griech en, die sich als erste Gedanken über die Ent-stehung von Staat und Recht gemacht haben, über die Römer, die die „Ra-tionalisten des souveränen Privateigentums“ waren, über Eike von Repgows „Sachsenspiegel“, von dem jeder Jusstudent schon im ersten Semester hört, bis zu Friedrich dem Zweiten und dem Vernunftprinzip, auf das wir im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch stoßen.

Alfred J. Noll gibt freimütig zu, dass der Inhalt seiner Studie sich nicht allein seiner Weisheit verdankt. Er habe den Stoff aus zweiter und dritter Hand geschöpft, „häufig aus mehr oder minder kurz gefassten Gesamtdarstellun-gen oder Programmschriften“. Sein Buch bezeichnet er als „Selbstvergewis-serung“ und kündigt nach dem historischen Teil schon einen zweiten an, der sich mit der Neuzeit und ihren Themen beschäftigen wird, mit der Ver-fassung, dem Eigentum und dem Vertrag, der Sicherheit sowie der Strafe und Demokratie. Noll ist, was sein Lehrer Theo Mayer-Maly von Rechts-wahrern gefordert hat, ein enzyklopädischer Jurist.

[...]


1 Vgl. Dossier »Literatur und Recht«. In: Literatur und Kritik, Juli 2011, Heft 455/456.

2 Alfred J. Noll: Kannitz. Eine Parabel. Czernin Verlag, Wien 2011.

3 Janko Ferk: Wenn der Staat erbt. Alfred J. Nolls juristische Parabel „Kannitz“. In: Janko Ferk: Luft aus der Handtasche. Rezensionen zur deutschsprachigen Literatur 2005 – 2012 von A bis Zeh. LIT Verlag, Wien-Berlin 2013, S. (103)f.

4 Sendedaten: 22.05.2012 (Erstsendung, 57:20 Minuten), 15.12.2012 (Wiederholung) und 23.01. 2016 (Wiederholung).

5 Aus: KANNITZ. Von Alfred J. Noll. Hörspielbearbeitung Götz Fritsch. Rechte bei Czernin Verlag, Wien. Die Rechtschreibung folgt dem Originaltext.

6 Alfred J. Noll: Wie das Recht in die Welt kommt. Von den Anfängen bis zur Entstehung der Städte. Edition Konturen, Wien-Hamburg 2018.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Alfred Johannes Noll. Über einen Rechtsanwalt, Schriftsteller und Universitätslehrer
Autor
Jahr
2019
Seiten
23
Katalognummer
V539015
ISBN (eBook)
9783346154873
ISBN (Buch)
9783346154880
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Noll, Rode, Rechtswissenschaften Germanistik
Arbeit zitieren
Prof. Dr. Janko Ferk (Autor:in), 2019, Alfred Johannes Noll. Über einen Rechtsanwalt, Schriftsteller und Universitätslehrer, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/539015

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