Pressefreiheit in der Türkei nach dem Putschversuch von 2016

Über die strukturellen Faktoren der Medienregulierung und Zensur


Bachelorarbeit, 2020

49 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Republik Türkei
2.1 Geschichte der Republik Türkei
2.2 Putschversuch vom 15. Juli 2016
2.3 Politisches System nach dem Referendum von 2017
2.4 Zwischenfazit

3. Theoretischer Rahmen: Über die Messung von Pressefreiheit
3.1 Verständnis von Pressefreiheit
3.2 Kritik an konventionellen Indizes zur Messung von Pressefreiheit
3.2.1 Freedom House: ‚Freedom of the Press‘
3.2.2 Reporters sans frontières: ‚World Press Freedom Index‘
3.3 Strukturelle Faktoren der Pressefreiheit nach Andrea Czepek
3.4 Zwischenfazit

4. Eine strukturelle Analyse der Pressefreiheit in der Türkei
4.1 Historische Einflüsse auf das türkische Mediensystem
4.2 Rechtliche Rahmenbedingungen
4.2.1 Verfassungsrechtliche Grundlagen
4.2.2 Kontrolle der Judikative durch die Exekutive
4.3 Politische Medienregulierung
4.3.1 Medienregulierung durch die Exekutive
4.3.2 Politischer Parallelismus in den türkischen Medien
4.4 Wirtschaftliche Strukturen
4.4.2 Wirtschaftlich motivierte Selbstzensur
4.5 Kulturelle und religiöse Einflüsse
4.6 Zusammenfassung und Einordnung der Analyseergebnisse

5. Schlussbetrachtung und Fazit

Literaturverzeichnis

Vorwort

Die vorliegende Bachelorarbeit ist im Rahmen meines Studiums der Politikwissenschaft an der Universität Hamburg entstanden.

Sowohl mein Erasmus-Aufenthalt während des Sommersemester 2019 an der Boğaziçi Üniversitesi in Istanbul, als auch meine persönliche Leidenschaft für den Journalismus haben die Themenfindung dieser Arbeit beeinflusst.

Da ich mittlerweile M.A. Journalistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Hamburg studiere, wird mich das Thema der Pressefreiheit in meiner akademischen Laufbahn weiterhin begleiten.

Ein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Horst Pöttker für die Betreuung und Evaluierung sowie Herrn Prof. Dr. Peter Niesen für die Begutachtung dieser Arbeit.

Außerdem möchte ich Frau Doç. Dr. Selcan Kaynak danken, die mich während meiner Zeit in Istanbul stets unterstützt und mein Interesse für das türkische Mediensystem gefördert hat.

Hamburg, im Januar 2020

Severin Pehlke

„The moment we no longer have a free press, anything can happen. What makes it possible for a totalitarian or any other dictatorship to rule is that people are not informed; how can you have an opinion if you are not informed? If everybody always lies to you, the consequence is not that you believe the lies, but rather that nobody believes anything any longer. […] And a people that no longer can believe anything cannot make up its mind. It is deprived not only of its capacity to act but also of its capacity to think and to judge. And with such a people you can then do what you please.1

Hannah Arendt

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Weltkarte zur farblichen Visualisierung des Freedom of the Press Reports von 2017, Quelle: Freedom House: Freedom of the Press Report 2017, verfügbar unter https://freedomhouse.org/report/freedom-press/freedom-press-2017, aufgerufen am 19.12.2019.

Abbildung 2: Weltkarte zur farblichen Visualisierung des World Press Freedom Index 2019 von RSF, Quelle: Reporters Without Borders, World Press Freedom Index 2019, verfügbar unter https://rsf.org/en/ranking, aufgerufen am 20.12.2019.

Abbildung 3: Politische Zugehörigkeit der zehn auflagenstärksten Zeitungen in der Türkei, Quelle: Bianet & Reporters Without Borders 2019, Media Ownership Monitor Turkey, verfügbar unter https://turkey.mom-rsf.org/en/, aufgerufen am 03.01.2019.

Abbildung 4: Politische Zugehörigkeit der zehn meist gesehenen Fernsehsendern in der Türkei, Quelle: Bianet & Reporters Without Borders 2019, Media Ownership Monitor Turkey, verfügbar unter https://turkey.mom-rsf.org/en/, aufgerufen am 03.01.2019.

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

Der gescheiterte Putschversuch vom 15. Juli 2016 hat dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan den Anlass gegeben, im Interesse der „nationalen Sicherheit“ eine massive Säuberung der Presselandschaft voran zu treiben: Mehr als zweihundert Medienhäuser und Verlage sind seitdem durch Notstandsdekrete geschlossen und weit über hundert Journalist*innen inhaftiert worden (Bianet & Reporters Without Borders 2019). Die französische Nicht-Regierungsorganisation (NRO) Reporters sans frontières (deutsch: Reporter ohne Grenzen, RSF) platziert die Türkei in ihrem World Press Freedom Index für das Jahr 2019 auf Platz 157 von 180, noch hinter Russland, Ungarn und dem Irak (Reporters Without Borders 2019). Diese aktuellen Entwicklungen machen eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Zustand der Pressefreiheit in der Türkei relevant und notwendig.

Obwohl die Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei verfassungsrechtlich gewährleistet ist – Abschnitt X, Art. 28: „Die Presse ist frei, Zensur findet nicht statt“ –, wird sie in der Praxis systematisch untergraben. Eine Analyse der rechtlichen Grundlagen und des Justizwesens reicht daher nicht aus, um den Status der Pressefreiheit in der Türkei zu ergründen. Es muss vielmehr auf die politischen, medienökonomischen, historischen und kulturellen Faktoren eingegangen werden, die als regulierende und zensierende Mechanismen, direkt und indirekt, auf das Mediensystem in der Türkei einwirken.

Welche Formen politischer Einflussnahme und Medienregulierung treten auf? Wie kommt es zur Selbstzensur? Auf welche Weise wirken sich Eigentumsstrukturen und Medienkonzentration auf die Pressefreiheit in der Türkei aus? Welches Grundverständnis der Presse hat sich historisch etabliert und inwiefern erzeugen kulturelle und religiöse Normen möglicherweise eine gesellschaftliche Toleranz gegenüber Einschränkungen der Pressefreiheit? Diese Fragen münden in der zentralen Fragestellung dieser Abschlussarbeit: Wie wirken sich die strukturellen Faktoren der Medienregulierung und Zensur auf die Pressefreiheit in der Türkei aus?

Da es sich bei dem Konzept der Pressefreiheit um ein normatives und sehr komplexes Konstrukt handelt, dessen Bedeutung stark von strukturellen Faktoren abhängt, liegt es in der Natur der Sache, dass ihre Ausprägung empirisch schwer zu erfassen ist. Dennoch veröffentlichen diverse Nicht-Regierungsorganisationen jährlich Erhebungen, die den Eindruck erwecken, Pressefreiheit ließe sich „objektiv messen, eindeutig bestimmen und international vergleichen“ (Czepek 2012: 41). Zwar geben die Indizes von Freedom House und RSF eine hilfreiche Orientierung, um den Grad der Pressefreiheit in einem Land einschätzen und vergleichen zu können, dennoch werden sie der Komplexität von Mediensystemen nicht gerecht. Die Indizes sind auf Grund ihrer Erhebungsweise, die sich hauptsächlich auf Experteneinschätzungen beschränkt, subjektiv und wissenschaftlich inkonsistent. In den meisten konventionellen Indizes für die Messung von Pressefreiheit lässt sich außerdem ein negatives Verständnis von Pressefreiheit wiederfinden (Czepek 2009: 35, 36). Pressefreiheit wird hier also in erster Linie mit der Abwesenheit von rechtlichen Kontrollmechanismen assoziiert. Dies ist ein problematischer Ansatz, denn eine Analyse der rechtlichen Rahmenbedingungen ist zwar notwendig, aber nicht ausreichend, um den Status der Pressefreiheit in einem Land zu evaluieren. Nicht allein die Abwesenheit von politischen oder rechtlichen Kontrollmechanismen ist entscheidend, sondern die uneingeschränkte Freiheit des Einzelnen, seine Meinung äußern, Informationen austauschen und am öffentlichen Diskurs teilhaben zu können. Sowohl Pluralismus in der Medienlandschaft, welcher die Vielfältigkeit der Gesellschaft widerspiegelt, als auch gesellschaftliche Partizipation, die durch die Verbreitung und Bereitstellung von Informationen ermöglicht wird, sind relevante Faktoren für die Messung von Pressefreiheit. Dieses positive und aktive Verständnis von Pressefreiheit soll in der folgenden wissenschaftlichen Arbeit als Referenzpunkt dienen.

Es besteht nicht der Anspruch, eine objektive empirische Messung vorzunehmen, vielmehr wird ein Fokus auf die Analyse der genannten strukturellen Dimensionen gelegt. Diese sollen mit Hilfe von einschlägigen Fallbeispielen untersucht werden. Zunächst wird mit einem Blick auf die Mediengeschichte der Republik Türkei die historische Dimension der Pressefreiheit beleuchtet. Danach folgt eine Analyse der rechtlichen Grundlagen, der politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sowie der kulturellen und religiösen Einflüsse. Diese Vorgehensweise orientiert sich an den strukturellen Faktoren, die Andrea Czepek in ihrem Index of Press Freedom aufführt (Czepek 2009: 39, 42). Für zukünftige empirische Analysen der Medieninhalte in der Türkei, die auch für den Grad der Pressefreiheit relevant sind, soll die folgende Arbeit als Forschungsgrundlage dienen.

Die Ergebnisse der strukturellen Analyse haben ergeben, dass in der Türkei vor allem wirtschaftliche und politische Faktoren die Existenz einer unabhängigen, freien und pluralistischen Presse verhindern. Die klientilistischen Beziehungen zwischen Medien und Politik, die tief in der türkischen Historie verwurzelt sind, erzeugen ein Klima der (Selbst-)zensur: Die türkischen Medienunternehmen bereichern sich durch lukrative Staatsaufträge und die Exekutive profitiert im Gegenzug von regierungsfreundlicher Berichterstattung.

2. Die Republik Türkei

Die aktuellen politischen Entwicklungen in der Türkei, insbesondere im Hinblick auf die Beschneidungen der Pressefreiheit, lassen sich nur in einem größeren historischen Kontext erfassen. Im folgenden Abschnitt soll ein kurzer Überblick über die Geschichte der Republik Türkei gegeben werden, um zu verdeutlichen, welche politischen, historischen und gesellschaftlichen Dynamiken dort bis heute wirken.

2.1 Geschichte der Republik Türkei

Die Zeitrechnung der modernen Türkei beginnt mit dem 29. Oktober 1923. Bis heute wird jedes Jahr mit diesem höchsten türkischen Nationalfeiertag an die Proklamation der Republik Türkei durch ihren ersten Staatspräsidenten Mustafa Kemal Pascha, genannt „Atatürk“ (deutsch: „Vater der Türken“), gedacht. Dieser hatte ab Mai 1919 die nationale Widerstandsbewegung gegen die alliierten Besatzungsmächte angeführt (Aydın 2017: 28). Nach der Niederlage des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg wurde mit dem Friedensvertrag von Sévres 1920 die Aufteilung Anatoliens mit weitläufigen Gebietsabtretungen an Griechenland, Armenien, Kurdistan und die alliierten Siegermächte besiegelt – ein Diktatfrieden, der, ähnlich wie der Versailler Vertrag in der Weimarer Republik, vom türkischen Volk als schwere Demütigung empfunden wurde (Ahmad 2003: 82, 163). General Mustafa Kemal, der durch die erfolgreiche Verteidigung der türkischen Halbinsel Gallipolli im Ersten Weltkrieg über hohes militärisches Ansehen verfügte, formierte eine Befreiungsarmee, der es gelang, die alliierten Besatzungsmächte zurückzudrängen. Mit dem Friedensvertrag von Lausanne vom 24. Juli 1923 kam es schließlich zur internationalen Anerkennung der neu gewonnenen türkischen Souveränität (Ahmad 2003: 85). Hier wird deutlich, dass das türkische Militär durch den gewonnen Befreiungskrieg einen Grundstein für die zukünftige Republik legte und sie legitimierte. Vor diesem Hintergrund erklärt sich der große politische und gesellschaftliche Einfluss des Militärs in der jüngeren türkischen Geschichte.

Den militärischen Ruhm nutzte Atatürk als erster Staatspräsident für die Umsetzung drastischer Reformen. Die Modernisierung und Säkularisierung der Türkei, insbesondere „die Zurückdrängung der Religion aus dem öffentlich-staatlichen Bereich“ (Aydın 2017: 29), hatte für die kemalistische Elite oberste Priorität. Mit neuen Gesetzen, wie beispielsweise der Einführung des lateinischen Alphabets, dem Verbot traditioneller Kopfbedeckungen und der Kalenderreform (ebd.), manifestierte sich eine kemalistische Kulturrevolution, die das Ziel hatte, die Türkei in eine moderne, nach westlichen Idealen ausgerichtete Gesellschaft zu verwandeln. Trotz der progressiven und emanzipatorischen Reformen lässt sich nicht leugnen, dass Atatürk diese auf eine äußerst autoritäre Art und Weise durchführte. Bis 1950 regierte dessen Republikanische Volkspartei (türkisch: Cumhurriyet Halk Partisi, CHP) unangefochten in einem Einparteiensystem.

Eine Besonderheit der Republik Türkei besteht in der staatstragenden Sonderrolle des Militärs, das über einen hohen gesellschaftlichen und politischen Einfluss verfügt. Da der türkische Staat aus einem Befreiungskrieg hervorging und eine hohe Anzahl an Militärs, allen voran Mustafa Kemal, massiv an der Staatsgründung beteiligt waren, wurde das türkische Militär zu einer „zentralen Säule der kemalistischen Republik“ und galt als „wichtigster Träger und Motor des türkischen Modernisierungsprozesses“ (Aydın 2017: 74). Dieses Selbstverständnis als eigenständiges politisches Organ und Korrektiv manifestiert sich in der Tatsache, dass es bis heute vier erfolgreiche militärische Staatsstreiche in der Türkei gegeben hat – allesamt mit dem Anspruch, für politische Stabilität und die Einhaltung der kemalistischen Ideale zu sorgen.

Der Putsch vom 12. September 1980 gilt an dieser Stelle als repräsentatives Beispiel für die beschriebene politische Ordnungsfunktion des türkischen Militärs. Nachdem es in den 1970er Jahren vermehrt zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen links- und rechtsradikalen Gruppen sowie zu Attentaten auf Politiker*innen, Akademiker*innen und Journalist*innen gekommen war, übernahm das Militär 2008 die Macht (Aydın 2017: 32). Der türkische Staat war zuvor zum politischen Stillstand gekommen: Zwischen den Jahren 1972 und 1980 wurden türkische Politiker*innen insgesamt 16 Mal mit einer Regierungsbildung beauftragt, sieben Mal scheiterte dieses Vorhaben (Kreiser 2012: 96-99). 1982 wurde unter massivem Einfluss des Militärs eine neue Verfassung verabschiedet, die bis heute Gültigkeit hat. Sie stärkte die Exekutive gegenüber der Legislative und erweiterte die Kompetenzen des Minister- und Staatspräsidenten (Aydın 2017: 57). Sie ist der „Ausdruck des Interesses der damaligen Militärführung an einer staatlich kontrollierten politischen Stabilität“ (Aydın 2017: 55). Nach Artikel 14 der Verfassung dürfen „Grund- und Freiheitsrechte dahingehend eingeschränkt werden, dass sie zum Schutz der ‚unteilbaren Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk , der ‚nationalen Souveränität , gesetzlichen Beschränkungen unterworfen werden können“ (Aydın 2017: 56). Zu diesen Grund- und Freiheitsrechten zählt auch die Pressefreiheit. An dieser Stelle zeigt sich, welchen historischen Hintergrund die Beschneidung von individuellen Freiheiten und Rechten in der Türkei hat.

Nachdem die islamisch-konservative „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (türkisch: Adalet ve Kalkınma Partisi, AKP) die vorgezogenen Parlamentswahlen 2002 mit 34,4 Prozent der Stimmen gewann (Günay 2012: 324) zeichnete sich zunächst eine Zeit der Liberalisierung ab. Diese Entwicklung gründete vor allem auf der Absicht der türkischen Regierung, mit den progressiven Reformen die Bedingungen der Europäischen Union (EU) für Beitrittsverhandlungen zu erfüllen. So kam es zwischen den Jahren 2003 und 2005 unter anderem zu der Verabschiedung eines neuen Strafrechts und der Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten (Aydın 2017: 41). Außerdem verbesserte die AKP-Regierung die Gesundheitsversorgung und es ließ sich ein allgemeiner Wohlstandsgewinn verzeichnen (ebd.). Am 1. Januar 2009 wurde sogar ein staatlicher Fernsehkanal in kurdischer Sprache eingeführt, was in Anbetracht der historischen staatlichen Eindämmung jeglicher kurdischer Unabhängigkeitsbestrebungen bemerkenswert ist (Aydın 2017: 43). Die Demokratisierungs- und Reformprozesse flauten jedoch mit einer zunehmenden Machtkonsolidierung der AKP ab 2010 drastisch ab (ebd.). Insbesondere die Gezi-Park-Proteste2 vom Sommer 2013 haben „die autoritären Züge der AKP-Regierung offengelegt“ (ebd.).

2.2 Putschversuch vom 15. Juli 2016

„Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand verfügt“ (Schmitt 1922).

In der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016 ereignet sich in der Türkei ein weiterer Putschversuch. Teile der türkischen Streitkräfte versuchen durch die Kontrolle von wichtigen strategischen Punkten in Istanbul und Ankara, die politische Macht an sich zu reißen. In Istanbul werden Militärakademien, der Atatürk-Flughafen, das Rathaus, diverse Rundfunkanstalten und Verkehrsknotenpunkte von Putschisten besetzt; Panzer blockieren die beiden Brücken über den Bosporus. Die türkische Luftwaffe bombardiert das Parlamentsgebäude in Ankara, nachdem sich die parlamentarische Opposition geschlossen gegen den Putsch gestellt hat (Esen & Gümüşçü 2017a: 62). Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan kann einem Mordkommando entkommen und spricht kurz nach Mitternacht per Videoanruf auf CNN Türk zur Nation (Esen & Gümüşçü 2017a: 64). Er ruft die türkischen Bürger*innen dazu auf, sich „auf den Plätzen und am Flughafen zu versammeln“ und sich als geschlossene Nation den putschenden Soldaten gegenüberzustellen (ebd.). Zehntausende folgen seinem Ruf und stellen sich den Panzern entgegen (Aydın 2017: 46). Etwa 250 Menschen kommen in der Nacht des Putsches ums Leben, über 2000 werden verletzt (Aydın 2017: 46). Der zivile Widerstand und die mangelnde politische Unterstützung der Opposition entzieht den Putschisten jegliches Momentum. In den frühen Morgenstunden des 16. Juli ergeben sich die letzten abtrünnigen Einheiten des Militärs der staatstreuen Polizei.

Vor laufenden Kameras verkündet Erdoğan, der Putschversuch sei ein „Geschenk Gottes“, der ihm die Möglichkeit gebe, das Land gründlich zu „säubern“ (Güngör 2017: 207; Karakoyun 2018: 16). Zwar bleibt der Verdacht, dass er den Putsch inszeniert haben könnte, bis heute haltlos (Güngör 2017: 215), doch eines steht außer Frage: Der türkische Staatspräsident nutzt seither die Geschehnisse des 15. Juli 2016, um gezielt gegen politische Gegner*innen und kritische Stimmen in Justiz, Wissenschaft und Medien vorzugehen. In der Tat rechtfertigte der Putschversuch für viele Türk*innen zunächst ein hartes Vorgehen gegen die vermeintlichen Verantwortlichen (Karasu 2016: 408). Die Verhängung eines dreimonatigen Ausnahmezustandes, der insgesamt sieben weitere Male verlängert wurde, gab Erdoğan dazu den rechtlichen Handlungsspielraum (Esen & Gümüşçü 2017a: 70). Die juristischen Maßnahmen richteten sich zunächst nur gegen mutmaßliche Anhänger*innen, Medien, Schulen und Firmen der Gülen-Bewegung3, die vom türkischen Staat für den Putschversuch verantwortlich gemacht wurde (Karasu 2016: 408). Doch die „Säuberungsmaßnahmen“ weiten sich schon bald aus:

„In den folgenden Wochen [nach dem Putschversuch, Anm. d. Autors] wurden über 120 Medienschaffende festgenommen, darunter landesweit bekannte Journalisten und Schriftsteller unterschiedlichster politischer Gesinnung. Über 170 Medien und Verlage ließ die Regierung schließen, darunter vor allem kurdische, aber auch linke Medien“ (Karasu 2016: 408).

Arif Kosar, Programmdirektor des regierungskritischen Nachrichtensenders Hayatın Sesi TV, der ebenfalls nach dem Putschversuch durch die Exekutive geschlossen wurde, äußerte sich über die Situation in der Türkei wie folgt: „Wer es wagt, noch irgendetwas gegen die Regierung zu sagen, wird zum Terroristen erklärt“ (zitiert nach Karasu 2016: 408).

Der gescheiterte Putschversuch vom 15. Juli 2016 ist für die Türkei zu einer Zäsur geworden. Er hat offenbart, wie weitreichend der Einfluss der Exekutive unter Erdoğan auf Justiz, Legislative, Medien und Militär geworden ist. Unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung sind Tausende Journalist*innen, Medienschaffende, Schriftsteller*innen und Oppositionspolitiker*innen entlassen, verhaftet und verurteilt worden. Erdoğans Worte, es handle sich um ein „Geschenk Gottes“, verdeutlichen die opportunistische Absicht, die Gunst der Stunde zu nutzen und unter den juristischen Rahmenbedingungen des Ausnahmezustands gegen kritische Stimmen vorzugehen. Der Putschversuch scheint „der Katalysator für die Konsolidierung eines vollwertigen autoritären Regimes in der Türkei“ zu sein (Esen & Gümüşçü 2017a: 69). Das politische Momentum Erdoğans, der zweifellos gestärkt aus der Nacht des 15. Juli hervorgegangen ist, hatte ebenfalls Auswirkungen auf das Präsidialreferendum von 2017, das den Machtausbau des türkischen Staatspräsidenten institutionalisiert hat. Im folgenden Abschnitt sollen die Kernelemente des Präsidialsystems der Republik Türkei kurz erläutert werden.

2.3 Politisches System nach dem Referendum von 2017

Am 16. April 2017 wurde in der Türkei ein Referendum abgehalten, bei dem die von der AKP vorgeschlagene Verfassungsänderung zur Einführung des Präsidialsystems mit einer knappen Mehrheit von 51,4 Prozent angenommen wurde (Esen & Gümüşçü 2017b: 303, 304). Aus Sicht der AKP war das Hauptziel des Referendums, Erdoğans Macht zu institutionalisieren, für klare politische Verhältnisse zu sorgen und eine effektive Regierungsarbeit zu gewährleisten (Aytaç et al. 2017: 2). Das von der AKP vorgelegte Änderungspaket beinhaltete 18 Zusatzartikel, die Einfluss auf insgesamt 72 Artikel der gültigen türkischen Verfassung von 1982 haben (Esen & Gümüşçü 2017b: 305). Das Referendum hatte drastische Folgen für das politische System der Türkei, wie aus einer Analyse von Berk Esen und Şebnem Gümüşçü hervorgeht: Das Amt des Ministerpräsidenten wurde abgeschafft; der Präsident ist daher nicht nur Staatsoberhaupt, sondern auch Regierungschef. Er kann sowohl Minister als auch hohe Beamte und Richter*innen ohne Einverständnis des Parlaments ernennen und entlassen. Außerdem ist es dem Staatspräsidenten möglich, Dekrete mit Gesetzeskraft zu erlassen. Diese werden nur dann aufgehoben, wenn das Parlament Gesetzgebung zur selben Sache beschließt. Der Staatspräsident ist in der Lage, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen auszurufen, allerdings ist die Möglichkeit eines Misstrauensvotum von Seiten der Legislative durch die Einführung des Präsidialsystems abgeschafft worden. (Esen & Gümüşçü 2017b: 306)

Es liegt auf der Hand, dass durch die Verfassungsänderung große Machtkompetenzen vom Parlament zum Staatspräsidenten geflossen sind und dass dadurch eine weiterführende Monopolisierung der Exekutivgewalt in Person Recep Tayyip Erdoğans erfolgt ist. Durch die Erlassung von Dekreten ist es dem Staatspräsidenten nun möglich, eigenhändig und in Umgehung der Legislative, politische Macht auszuüben. So sind beispielsweise während des Ausnahmezustandes per Dekret insgesamt 204 Medienhäuser geschlossen worden (Bianet & Reporters Without Borders 2019: 1167, 1168). Esen und Gümüşçü warnen vor einer weiteren Ausweitung der autoritären Herrschaftsform in der Türkei:

„His [Erdoğan’s, Anm. d. Autors] quest to remain in office against growing societal opposition may plunge Turkey into a deeper form of authoritarianism characterised by harsher constraints on civil liberties, a crackdown on opposition politicians and the media, and wider use of state coercion against anti-government protestors“ (Esen & Gümüşçü 2017b: 322).

2.4 Zwischenfazit

In diesem Kapitel ist dargestellt worden, welche historischen und politischen Entwicklungen zum gegenwärtigen de facto Autoritarismus in der Republik Türkei geführt haben. Der gescheiterte Putschversuch vom 15. Juli 2016 hat der türkischen Regierung einen neuen Vorwand für das autoritäre Vorgehen gegen oppositionelle Stimmen in Politik, Medien und Gesellschaft gegeben. Durch die Einführung des Präsidialsystems hat Staatspräsident Erdoğan elementare Machtkompetenzen hinzugewonnen, die es ihm als Inhaber der Exekutivgewalt unter anderem ermöglicht haben, Medienhäuser per Dekret zu schließen. Weitere Faktoren der politischen Medienregulierung werden in Kapitel 4.3 näher beleuchtet.

3. Theoretischer Rahmen: Über die Messung von Pressefreiheit

Im diesem Kapitel soll erörtert werden, auf welche Weise die Freiheit der Presse in einem Land sinnvoll gemessen werden kann und ob dies überhaupt objektiv möglich ist. Es wird argumentiert, dass Pressefreiheit nicht als ein rechtliches Konzept, sondern als ein unabgeschlossener und von strukturellen Faktoren abhängiger gesellschaftlicher Aushandlungsprozess verstanden werden sollte, bei dem das Recht der Pressefreiheit stets mit anderen Grundrechten abgewogen wird. Dadurch ergibt sich das geplante Vorgehen, in der Analyse gezielt auf jene strukturellen Faktoren einzugehen, um den Zustand der Pressefreiheit in der Türkei möglichst umfassend erfassen zu können.

3.1 Verständnis von Pressefreiheit

„Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen, Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten“ (Artikel 19, Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, 10. Dezember 1948).

Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 macht unmissverständlich klar: „Die freie Meinungsäußerung ist ein grundlegendes Menschenrecht“ (Welker et al 2010: 9). Dies gilt allerdings nicht für die Pressefreiheit, also das Recht der Presse zur Beschaffung und Verbreitung von Informationen und zur freien Meinungsäußerung. Sie leitet sich zwar indirekt aus der Meinungsäußerungsfreiheit und der Informationsfreiheit4 ab, es handelt sich bei ihr jedoch nicht, wie oft fälschlicherweise angenommen wird, um ein universelles Menschenrecht (Nordenstreng 2007: 25). Sie kann nur von bestimmten Akteur*innen wie Medienunternehmen und Journalist*innen in Anspruch genommen werden und ist daher nicht für jeden Menschen und universell gültig (Czepek 2012: 25). Menschenrechte haben einen Geltungsanspruch für das menschliche Individuum, es ist ein Irrtum davon auszugehen, dass sie sich ebenfalls auf Institutionen wie die Presse beziehen: „It is a myth that the press and the media themselves enjoy protection of human rights and fundamental freedoms“ (Nordenstreng 2007: 25).

Darüber hinaus sollte daran erinnert werden, dass es sich bei der Menschenrechtserklärung von 1948 um eine rechtlich nicht bindende Resolution der Vereinten Nationen handelt und dass sie demnach kein international gültiges Recht konstituiert. Die entscheidende Rolle spielt vielmehr die Rechtsprechung der Nationalstaaten. Tatsächlich beinhalten weltweit fast alle Verfassungen ein Recht auf Kommunikationsfreiheit. Eine Studie von Christian Breunig aus dem Jahr 1994 hat gezeigt, dass 143 von 160 untersuchten Staaten mindestens ein Recht auf Kommunikationsfreiheit in ihrer Verfassung garantieren; in 58 wird explizit die Pressefreiheit, in 60 die Informationsfreiheit und in 103 die Meinungsfreiheit erwähnt (Breunig 1994: 308). Eine verfassungsrechtliche Garantie bedeutet jedoch nicht, dass diese Rechte auch de facto umgesetzt werden (Behmer 2009: 25). Aus diesem Grund sollte Pressefreiheit nicht nur als ein rechtliches Konzept, sondern eher als ein unabgeschlossener gesellschaftlicher Aushandlungsprozess verstanden werden (Sell 2018: 17-28). Ein Aushandlungsprozess, in dem die Pressefreiheit mit anderen Grundrechten abgewogen wird und dadurch legitime Begrenzungen entstehen (Czepek 2012: 23, 24). Wo diese Grenzen verlaufen, hängt laut Czepek stark „von historischen und kulturellen Faktoren ab“ (Czepek 2012: 24). Hier wird deutlich, dass es sich bei der Pressefreiheit nicht um ein starres, singuläres und universelles Konzept handelt, sondern dass dessen Bedeutung und Umsetzung maßgeblich von strukturellen Umständen abhängig ist.

Die „reale Ausgestaltung von Kommunikationsfreiheit, jenseits ihrer verfassungsrechtlichen Kodifizierung“ kann darüber hinaus als „Gradmesser der Demokratisierung eines politischen Systems“ verstanden werden (Breunig 1994: 11,12) Denn sowohl die Pressefreiheit als auch die Unabhängigkeit und Vielfalt der Medien ist Grundvoraussetzung für jede demokratische Gesellschaft, wie aus dem folgenden Zitat von Andrea Czepek hervorgeht:

„Press freedom is usually considered a basic element of democratic societies, which should enable citizens to take part in the democratic process and to form an opinion on the basis of being informed about political, social and cultural events and developments. This is only possible if media offer a pluralistic choice of topics, views and voices, and access is universally granted“ (Czepek et al. 2009: 11).

Pressefreiheit beinhaltet als Voraussetzung für die Demokratie nicht nur „die Abwesenheit von Kontrolle, sondern Pluralität und Zugang müssen auch aktiv und ggf. durch staatliche oder überstaatliche Einflussnahme unterstützt werden“ (Czepek 2012: 25). Ein negatives Verständnis von Pressefreiheit, das heißt eine reine Abwesenheit von Regulierungszwängen und Zensur, garantiert nicht den freien Austausch von Information, der für eine pluralistische öffentliche Debatte in einer Demokratie notwendig ist (Czepek 2009: 35). Czepek definiert den Begriff der Pressefreiheit positiv:

„[…] [I]n a context of consolidating and enhancing democratic processes, freedom of the press is seen as the opportunity for every citizen or societal group to be informed and have their voices heard and views reflected in public debate“ (Czepek 2009: 35).

Nicht allein die Abwesenheit von politischen oder rechtlichen Kontrollmechanismen ist entscheidend, sondern die uneingeschränkte Freiheit des/der Einzelnen, seine/ihre Meinung äußern, Informationen austauschen und am öffentlichen Diskurs teilhaben zu können. Sowohl Pluralismus in der Medienlandschaft, der die Vielfältigkeit der Gesellschaft widerspiegelt, als auch gesellschaftliche Partizipation, die durch die Verbreitung und Bereitstellung von Informationen ermöglicht wird, sind relevante Faktoren für die Messung von Pressefreiheit. Dieses positive und aktive Verständnis von Pressefreiheit soll in dieser wissenschaftlichen Arbeit als Referenzpunkt dienen.

3.2 Kritik an konventionellen Indizes zur Messung von Pressefreiheit

Da es sich bei dem Konzept der Pressefreiheit um ein normatives und sehr komplexes Konstrukt handelt, das stark von strukturellen Faktoren beeinflusst wird, liegt es in der Natur der Sache, dass ihre Ausprägung empirisch nur schwer zu erfassen ist. Dennoch veröffentlichen diverse Nicht-Regierungsorganisationen jährlich Erhebungen, die den Eindruck erwecken, Pressefreiheit ließe sich „objektiv messen, eindeutig bestimmen und international vergleichen“ (Czepek 2012: 41). Am Beispiel der Indizes von Freedom House und RSF sollen im Folgenden die methodologischen und wissenschaftlichen Mängel solcher Messinstrumente erörtert werden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Weltkarte zur farblichen Visualisierung des Freedom of the Press Reports von 2017

3.2.1 Freedom House: ‚Freedom of the Press‘

Die US-amerikanische NRO Freedom House veröffentlicht seit 1980 eine jährliche Studie, in der die Presse- und Medienfreiheit in über 190 Staaten gemessen und verglichen wird. Seit 2004 beinhaltet der Freedom of the Press Report außerdem ein Ranking, das den Staaten einen bestimmten Pressefreiheitsgrad – „free“, „partly free“ und „not free“ – zuweist. Freedom House visualisiert die Kategorisierung ebenfalls auf einer interaktiven Weltkarte, bei der mit Hilfe von farblichen Zuordnungen der jeweilige Freiheitsgrad dargestellt wird (siehe Abb.1). Im Freedom of the Press Report von 2017 erhielt die Türkei den Status „not free“ mit einem Freiheitsgrad 76 von 100 (0 = frei, 100 = unfrei). Zur Erörterung des Freiheitsgrades werden sowohl die rechtlichen Rahmenbedingungen wie verfassungsrechtliche Garantien und die Unabhängigkeit der Justiz, als auch die politische und wirtschaftliche Situation analysiert. Dies geschieht mit Hilfe von subjektiven Experteneinschätzungen (Czepek 2012: 30). Der genaue Evaluationsprozess der Daten bleibt jedoch unveröffentlicht. Auf Grund dieser Intransparenz und Subjektivität im Erhebungs- und Auswertungsprozess kann die wissenschaftliche Gültigkeit des Freedom Hose Index angezweifelt werden. Außerdem ist die Einteilung der Staaten in drei Kategorien („free“, „partly free“, „not free“) stark verallgemeinernd und kann daher den „komplexen Prozessen und den vielfältigen Facetten eines Mediensystems nicht gerecht werden“ (Czepek 2012: 29).

Freedom House wird außerdem vorgeworfen, eine neoliberale Auffassung von Freiheit zu haben, da die Regierungskontrolle über Medien stärker negativ gewichtet wird, als die Konzentration privatwirtschaftlicher Medienunternehmen (Czepek 2012: 31). Es wird außer Acht gelassen, dass staatliche Einflussnahme auch positive Auswirkungen auf die Pressefreiheit haben kann, beispielsweise wenn der Erhalt der Medienvielfalt durch staatliche Fusionskontrolle gesichert wird (Czepek 2012: 31). Der Freedom House Index orientiert sich an Daniel C. Hallins und Paolo Mancinis North Atlantic or Liberal Model, bei dem die Medien stark von der Marktwirtschaft dominiert werden und weniger am Mediterranean or Polarized Pluralist Model oder North/Central Europe or Democratic Corporatist Model, die dem Staat eine zentrale Rolle bei der Regulierung des Mediensystems einräumen (Hallin & Mancini 2004)5. Der internationale Gültigkeitsanspruch des Freedom House Index muss in Anbetracht des ihm innewohnenden westlichen Freiheitsverständnisses und der Orientierung am US-amerikanischen Mediensystem relativiert werden.

3.2.2 Reporters sans frontières: ‚World Press Freedom Index‘

Die internationale Nicht-Regierungsorganisation RSF veröffentlicht seit 2002 jährlich den sogenannten World Press Freedom Index. Im Jahr 2019 belegte die Türkei den Platz 157 von 180 (1 = am meisten frei, 180 = am wenigsten frei). Auch dieses Ranking wird immer wieder, trotz subjektiver Erhebungsverfahren und methodologischer Inkonsistenz, als Grundlage wissenschaftlicher Analysen herangezogen (Czepek 2012: 30). Da sich die NRO für die Rechte verfolgter Journalist*innen und bedrohter Medienunternehmen einsetzt, beruhte der Index zunächst „auf der Beobachtung von Angriffen auf individuelle Journalisten “ (Czepek 2012: 29). Diese äußerst einseitige empirische Erörterung von Pressefreiheit wurde allerdings mittlerweile abgelöst: Seit 2013 beantworten Expert*innen in den jeweiligen Ländern einen umfangreichen Fragebogen. Die insgesamt 84 Fragen beziehen sich auf das journalistische Arbeitsumfeld, die Pluralität und Unabhängigkeit der Medien, die rechtlichen Rahmenbedingungen, die Medieninfrastruktur und die Transparenz von Medienunternehmen (Schneider 2014: 20). Trotz der gesteigerten Komplexität des Messinstrumentes bleibt der World Press Freedom Index inkonsistent, subjektiv und unwissenschaftlich. Markus Behmer reduziert die Studie sogar auf ihren öffentlichkeitswirksamen Effekt:

„[…] [T]he RSF survey is primarily an (expedient) instrument for the purpose of public relations. It is very efficient in bringing public attention to the important concerns and the deserving work of the NGO in the service of freedom of journalists all over the world“ (Behmer 2009: 32).

Zwar fällt die Kategorisierung der untersuchten Staaten im World Press Freedom Index von RSF differenzierter aus als bei Freedom House (siehe Abb. 2), doch auch hier erschließt sich folgende Problematik: Die empirische Messung von Pressefreiheit ist von dem normativen Verständnis von Pressefreiheit abhängig und daher nicht objektiv feststellbar. Eine Experteneinschätzung bleibt zwangsläufig subjektiv und von einem kulturellen Ausgangspunkt beeinflusst. Daher ist eine objektive, universelle und allgemein gültige empirische Erörterung von Pressefreiheit und dessen standardisierte Erhebung und Darstellung in Rankings unzulänglich, sie wird der Komplexität von Mediensystemen nicht gerecht.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: Weltkarte zur farblichen Visualisierung des World Press Freedom Index 2019 von RSF

3.3 Strukturelle Faktoren der Pressefreiheit nach Andrea Czepek

Andrea Czepek kritisiert außerdem, dass sich in den meisten konventionellen Indizes für die Messung von Pressefreiheit ein negatives Pressefreiheitsverständnis wiederfindet (Czepek 2009: 35, 36). Pressefreiheit wird hier also in erster Linie mit der Abwesenheit von rechtlichen Kontrollmechanismen assoziiert. Dies ist ein problematischer Ansatz, denn eine Analyse der rechtlichen Rahmenbedingungen ist zwar notwendig, aber nicht ausreichend, um den Status der Pressefreiheit in einem Land zu ermessen. Vielmehr muss ebenfalls auf die politischen, medienökonomischen, historischen und kulturellen Faktoren eingegangen werden, die als regulierende und zensierende Mechanismen, direkt und indirekt, auf das Mediensystem eines Landes einwirken können (Czepek 2009: 38, 39). Jener Ansatz soll in dieser wissenschaftlichen Arbeit zur Erörterung der Pressefreiheit in der Republik Türkei zum Tragen kommen.

Andrea Czepek empfiehlt, auch das Produkt eines Mediensystems, den Medieninhalt, als Indikator für Pressefreiheit zu untersuchen (Czepek 2012: 34). Sie geht davon aus, dass eindimensionale, unkritische journalistische Inhalte und „ein Mangel an vielfältiger Berichterstattung (ebd.) Anzeichen dafür sein können, dass die Pressefreiheit eingeschränkt wird. Um die Qualität der Medieninhalte in der Türkei zu untersuchen, wäre eine umfangreiche Inhaltsanalyse notwendig, die den Umfang dieser Abschlussarbeit übersteigen würde. Außerdem verfügt der Autor nicht über ausreichende Sprachkenntnisse, um eine Analyse der türkischen Medieninhalte bewerkstelligen zu können. Daher soll die folgende Analyse der strukturellen Faktoren eher als eine Forschungsgrundlage für zukünftige Studien dienen, bei denen gezielt auf die inhaltliche Vielfalt des türkischen Mediensystems eingegangen werden kann. Beispielsweise drängt sich die Frage auf, ob gesellschaftliche Minderheiten und oppositionelle Stimmen in den Medieninhalten repräsentiert werden. Gesellschaftliche Partizipation und Medienzugang ist ein weiteres Untersuchungsfeld für zukünftige Studien. Auch diese Faktoren haben einen Einfluss auf die Qualität der Pressefreiheit.

3.4 Zwischenfazit

In diesem Kapitel wurde ein positives Verständnis von Pressefreiheit erörtert, das sich über die bloße Abwesenheit von politischen und rechtlichen Kontrollmechanismen hinaus, auch auf gesellschaftliche Partizipation und Medienvielfalt bezieht. Aufgrund von divergierenden normativen Freiheitsverständnissen sollte Pressefreiheit nicht schlichtweg als Rechtskonzept, sondern eher als unabgeschlossener gesellschaftlicher Aushandlungsprozess verstanden werden, der von kulturellen und historischen Faktoren abhängig ist.

Des weiteren wurde die standardisierte empirische Messung von Pressefreiheit durch bekannte Indizes wie den World Press Freedom Index von RSF und den Freedom of the Press Report von Freedom House problematisiert. Jene Messinstrumente sollen nicht als Grundlage dieser Arbeit dienen. Es besteht nicht der Anspruch, eine objektive empirische Messung vorzunehmen, vielmehr wird ein Fokus auf die Analyse der genannten strukturellen Dimensionen gelegt. Diese sollen mit Hilfe von einschlägigen Fallbeispielen untersucht werden. Zunächst wird mit einem Blick auf die Mediengeschichte der Republik Türkei die historische Dimension der Pressefreiheit beleuchtet. Danach folgt eine Analyse der rechtlichen Grundlagen, der politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sowie der kulturellen und religiösen Einflüsse.

[...]


1 Hannah Arendt: From an Interview, The New York Review of Books, October 26, 1978 Issue, http://www.nybooks.com/articles/1978/10/26/ hannah-arendt-from-an-interview/ (14. November 2019).

2 Die Proteste am Gezi-Park, einer der letzten Grünflächen im Stadtzentrum Istanbuls, entbrannten im Mai 2013 nachdem Bebauungspläne der AKP-Regierung für den Park am Taksim Platz bekannt geworden waren. Tausende Bürger*innen protestierten gegen das Vorhaben. Bis September 2013 kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstrant*innen und der Polizei. Der Gezi-Park wurde so zum Symbol des zivilgesellschaftlichen Widerstandes gegen die autoritäre Herrschaft der AKP (Esen & Gümüşçü 2017a: 69).

3 Die Hizmet-Bewegung oder Gülen-Bewegung, benannt nach dem islamischen Prediger Fethullah Gülen, ist eine transnationale religiöse Bewegung, die international etwa 1000 privat finanzierte Schulen betreibt. In den 2000er Jahren wurden viele Positionen im Staat und Militär von der AKP mit Gülen-Anhänger*innen besetzt, um das kemalistische Establishment einzudämmen. Zum Bruch zwischen Gülen und Erdoğan, die einst ein islamisch-konservatives Bündnis führten, kam es 2013. Die türkische Regierung beschuldigt Fethullah Gülen für den Putschversuch vom 15. Juli 2016 verantwortlich zu sein; die Gülen-Bewegung wird daher in der Türkei als Terrororganisation eingestuft (Esen & Gümüşçü 2017a: 62). Der Bundesnachrichtendienst bestreitet dies, BND-Chef Bruno Kahl stellte 2017 fest, es handle sich bei der Gülen-Bewegung um eine „zivile Vereinigung zur religiösen und säkularen Weiterbildung“ (zitiert nach Knobbe, Schmid & Weinzierl 2017). Fethullah Gülen lebt seit 1999 im US-amerikanischen Exil.

4 Informationsfreiheit beschreibt „die Freiheit, sich aus vielfältigen Quellen ungehindert informieren zu können“ (Czepek 2012: 25). Bei der Meinungsfreiheit handelt es sich um das Recht, seine Meinung frei in Wort und Schrift äußern zu dürfen.

5 Elemente der Studie Comparing Media Systems: Three Models of Media and Politics (2004) von Daniel C. Hallin und Paolo Mancini werden im weiteren Verlauf dieser Arbeit einer näheren Betrachtung unterzogen.

Ende der Leseprobe aus 49 Seiten

Details

Titel
Pressefreiheit in der Türkei nach dem Putschversuch von 2016
Untertitel
Über die strukturellen Faktoren der Medienregulierung und Zensur
Hochschule
Universität Hamburg  (Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften)
Note
1,7
Autor
Jahr
2020
Seiten
49
Katalognummer
V538887
ISBN (eBook)
9783346137890
ISBN (Buch)
9783346137906
Sprache
Deutsch
Schlagworte
pressefreiheit, türkei, putschversuch, über, faktoren, medienregulierung, zensur
Arbeit zitieren
Severin Pehlke (Autor:in), 2020, Pressefreiheit in der Türkei nach dem Putschversuch von 2016, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/538887

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