Der Begriff begheerte in Hadewijchs Visionen: Aspekte einer poetologischen Erotik


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

43 Seiten, Note: 5,5 (CH)


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

1. Ethik und Ästhetik der Begierde
1.1. Etymologie
1.1.1. die Wurzel – gier
1.1.2. begheerte
1.2. Semantik
1.2.1. Pathologie der Begierde
a) Begierde zwischen amor, caritas und cupiditas
b) begheerte und Erotik
1.2.2.Aspekte einer Text-Erotik

2. Erinnerndes Schreiben und Begehren

3. Poetologie der begheerte
XIV. Vision
XII. Vision
VIII. Vision
VII. Vision
VI. Vision
I. Vision
a) Bettlägerigkeit
b) Abstraktion der Erinnerung
c) Übrige Symbole

4. Schlusswort

5. Bibliographie

Einleitung

Das Konzept des Begehrens ist mit den gängigen Vorstellungen von Mystik derart eng verknüpft, dass deren Trennung als unmöglich und unnötig erscheinen mag, obwohl das Phänomen Mystik eng an die literarische Tätigkeit gebunden ist[1] und diese Bindung auf den ersten Blick keinerlei Zusammenhang zum Begehren aufweist. Trotzdem ist dieser Zusammenhang von Begehren als „ cupere, petere, stärker als bitten, schwächer als verlangen und fordern. ahd. nicht vorhanden, mhd. noch selten und der späteren zeit eigen [...], nnl. begeeren“[2], Gottessehnsucht und literarischer Produktion in mystischen Texten vorhanden, wenn er auch nicht explizit genannt wird. Aus einer Gattungsanalogie heraus tendiert die Mystikforschung dazu, die explizit genannten Wortfelder des Religiösen und des Erotischen hermeneutisch zu verabsolutieren und dabei ihre poetologischen Aspekte derart zu verkennen. dass ein Begriff wie begheerte in Hadewijchs Visionen zwangsläufig religiöse oder aber sexuelle und damit moralisch positive oder negative Konnotationen erhält, die nicht unmittelbar aus dem Text erschliessbar sind.

Dieses in der Mystikforschung im allgemeinen, in der Hadewijchforschung im Speziellen feststellbare Rezeptionsverhalten ist nicht neu, sondern ähnelt dem Bemühen mittelalterlicher Geistlicher, Ovids erotische Schriften moralisch zu rechtfertigen, obwohl Ovids Texte andere, von moralischen Wertungen unabhängige Lektüren zulassen.[3] Die Forschung unterstellt dem in Hadewijchs Werk zentralen Begriff der begheerte erotische und damit religiös nicht wertfreie Konnotationen. Als Folge einer bestimmten Begriffsinterpretation wird das Religiöse somit über das Sexuelle im Text festgemacht und mit dem Text als dessen selbstverständlicher Bestandteil ausgelegt. In der vorliegenden Arbeit versuchen wir, den Begriff begheerte in Hadewijchs Visionen[4] primär durch intra- und intertextuelle Bezüge zu untersuchen, das theologische Substrat aber höchstens ergänzend und soweit den philologischen Absichten dienlich zu berücksichtigen.[5] Dabei wird sich herausstellen, dass dieser Begriff eine poetologische Funktion erfüllt, die sich gegenüber seinen allegorischen und sexuellen Konnotationen als vorrangig erweist. Die These von der Poetologie der begheerte meint, dass die Begierde ein Gefühl ist, das die Unmittelbarkeit von Sprache ersetzt, damit den Dialog verunmöglicht und zur treibenden Kraft des Schreibens wird. Inhaltlich wird dies daran deutlich, dass das lyrische Ich, nicht, wie in erlebnismystischen Texten üblich, mit Gott in einen Dialog tritt.[6] In den Visioenen entspannen sich Zwiegespräche ausschliesslich zwischen den bei Hadewijch zentralen Mittlerfiguren und Gott; das lyrische Ich, so könnte man es überspitzt formulieren, schweigt und begehrt.

Die Sprachlosigkeit des lyrischen Ichs angesichts der mystischen Erfahrung schlägt in eine weitläufige literarische Produktion um, die somit als Performanz des mystischen Unsagbarkeitstopos zutage tritt. Was, jedoch, ist dieser Topos anderes als das ungestillte Kommunikationsbegehren schlechthin? Unsere Lektüre der Hadewijchschen Visionstexte zielt darauf ab, einen engen Zusammenhang zwischen der in ihnen beschriebenen Drastik der begheerte und dem Schreibprozess aufzuzeigen. Dabei gehen wir von zwei Beobachtungen aus. Zum einen bieten sich die durchnummerierten Visionen geradezu an, als lineare Entwicklung der begheerte gelesen zu werden, die genau in der Mitte, also in der VII Vision ihren hyperbolischen Höhepunkt erreicht. Die Hadewijchforschung beschränkte sich bis anhin darauf, in dieser Entwicklung einen Seelenaufstieg zu sehen und ihren Höhepunkt festzustellen, ohne über seine Implikationen für die Beschreibung der begheerte in den übrigen Visionen oder gar im übrigen Werk nachzudenken.[7] Zum zweiten erweist sich bei genauerem Hinsehen, dass die intratextuellen Bezüge der Hadewijchschen begheerte gerade deshalb nicht untersucht werden, weil Funktion und Stellung der XIV Vision und damit der Aufbau des aus vierzehn Texten bestehenden Visionsganzen umstritten ist. Die Lektüre derjenigen von der begheerte betroffenen Visionstexte vollzieht sich in dieser Arbeit in umgekehrter Reihenfolge, um auf die in der Hadewijchforschung vieldiskutierte Frage nach der Stellung der vierzehnten Vision einen Lösungsvorschlag zu unterbreiten. Unserer Meinung nach, verweisen Form und Inhalt dieser Vision auf die Aktualität des Schreibvorgangs, währenddem die vorherige Visionsabfolge von der ersten bis zur dreizehnten Vision als erinnerndes Schreiben konzipiert ist. Dieser chronologische Unterschied lässt sich auf formaler Ebene belegen, namentlich mit dem unstrukturierten auf Ekstase verweisenden Aufbau der vierzehnten Vision, welcher der elaborierten Form der übrigen Visionen entgegensteht und auf eine innere Distanzierung zum Geschilderten verweist. Die Ekstase der vierzehnten Vision, hingegen, stellt die Aktualität mystischen Schreibens dar. Hiermit suggerieren wir, dass die dreizehn Visionen einerseits, die vierzehnte Vision andererseits jeweils verschiedene Textproduktionsverfahren widerspiegeln. Die dreizehn Visionen bilden ein elaboriertes Ganzes, das aus der inneren Distanzierung zum Geschehen heraus dieses Geschehen erinnert, währenddem die vierzehnte Vision den „ekstatischen Text“[8] repräsentiert, der aus einer aktuellen gefühlsmässigen Beteiligung der Schreiberin hervorgeht. Unser Interesse gilt also dem in der europäischen Literatur rekurrenten[9] Zusammenhang von Erinnerung und Begehren. Dabei greifen wir einen kleinen Teil der Mystikforschung sowie einige Ausführungen von René Girard[10] zur Handhabung des Begehrens innerhalb der mimetischen Theorie auf, um die Thematik vor einen breiteren Hintergrund zu beleuchten und damit der Hadewijchforschung eine neue Untersuchungslinie vorzuschlagen. Gleichzeitig hebt die Erinnerungsthematik den Begriff begheerte aus seinen (un)moralischen Konnotationen heraus und appelliert an Hadewijchs eigenständige literarische Erinnerung an frühere Diskursformen. Diese literarische Erinnerung ist vom Begehren nach neuen literarischen Formen geleitet, das dem Ovidschen Begehren nach der Lesbarkeit der Erotik als Text nahesteht. So wie Ovid die Erotik textualisieren und damit intelligibel machen wollte,[11] versucht dies Hadewijch mit der begheerte als einem konstitutiven Gefühl innerhalb des religiösen Empfindens sowie der schriftstellerischen Tätigkeit.

1. Ethik und Ästhetik der Begierde

Da das mnl. Lexem begheerte vorwiegend mit nhd. Begierde übersetzt wird,[13] untersuchen wir zunächst die objektive Bedeutung des Konzepts Begierde. Dabei werden wir den Begriff in einen breiteren Kontext stellen, indem wir ihn etymologisch und semantisch untersuchen, bevor wir auf den Begriff begheerte in Hadewijchs Visionen eingehen und diesen mit den gewonnenen Ergebnissen kontrastieren.[12]

1.1. Etymologie

1.1. 1. Die Wurzel –gier

Wenn man sich mit Texten beschäftigt, die das mnl. Wort begherte (nhd. ‘Begierde , Lust , Verlangen’)[14] enthalten, so werden damit bestimmte ethische Konnotationen wachgerufen, das heisst, begherte ist kein wertfreies, neutrales Wort, was, Kluge zufolge, der Wurzel – gier - zuzurechnen ist,[15] sondern, im Gegenteil, eine Bezeichnung für ein an kulturelle und religiöse Wertvorstellungen gebundenes Gefühl. In den mittelhochdeutschen Adjektiven gër, gir (nhd. ‘begehrend, verlangend’)[16] sowie in den präfigierten Formen begir, begirde, begerde, begirdec, begirec, begirdecliche, begirden, begirn, begirlich, begërlich[17] äussert sich diese kulturelle Wertung in den von Luther hervorgehobenen Semen ‘Heftigkeit’ und ‘Masslosigkeit’.[18] Die genannten präfigierten Formen mitsamt deren Ableitungen werden denn in der heutigen Etymologie unter der Wurzel gier verzeichnet, die, „heftiges, massloses Verlangen, Begehren“[19] bedeutet, was auf die ursprüngliche dem mittelalterlich-höfischen Ideal der mâze entgegengesetzte Bedeutung hinweist.

Die Wurzel – gier - ist seit althochdeutscher Zeit äusserst produktiv gewesen und zwar in semantisch allgemeiner Form, also nicht nur, wie in nhd. Zeit vorwiegend der Fall ist, auf den erotisch- sinnlichen Bereich bezogen, wenngleich diese Komponente immer mitschwingt, so auch im Substantiv Neugier, das wir wohl mit ‘heftiges, massloses Verlangen nach Neuem’ zu paraphrasieren hätten, und Habgier, das aber zumindest aus heutiger Perspektive in die Nähe von Habsucht gerät.[20] Man kann aufgrund der beiden letztgenannten Beispiele darüber nachdenken, ob die Wurzel – gier - durch das Hauptwort semantisch überlagert wurde, so dass Habsucht nur deshalb als Assoziation zu Habgier möglich ist,[21] weil Haben negativer konnotiert ist als gier. Im Gegensatz dazu, ist Neugier neutraler, weil die Lust am Wissen sozusagen ein positiver Wert ist. Diese Wertungen sind historisch determiniert, ist doch die negative Konnotation des Habens in Armutszeiten eine andere als in Zeiten der Hochkonjunktur. Die Etymologie steht vor der Aufgabe, die Semantik von mnl. geer von derjenigen des mhd. gir, ger abzugrenzen. Für die Übersetzung von begeerte ins Neuhochdeutsche müsste wiederum eine entsprechende semantische Abgrenzung der beteiligten Morpheme erfolgen.

1.1.2. begheerte

Das mnl. Lexem begheerte ist etymologisch mit dem nhd. Begierde verwandt; allerdings bedeutet das Verb begeren, von dem es abgeleitet ist, auch „aansporen“ von lat. horiari und gr. chairein.[22] Diese transitive Bedeutung unterscheidet das mnl. begeren vom nhd. begehren und bringt auch das Substantiv begheerte weg von ihrer gängigen Funktion, eine Emotion[23] zu bezeichnen.

1.2. Semantik

1.2.1. Pathologie der Begierde

Für eine Verdeutlichung der in Begierde enthaltenen semantischen Aspekte braucht es die Beschäftigung mit der Thematik der Liebeskrankheit, deren Zusammenhang mit der Hadewijchschen begheerte in der I. Vision angedeutet wird.[24] Da wir im folgenden aus Platzgründen auf eine detaillierte Darstellung dieses Phänomens verzichten, beschränken wir uns darauf, semantische Aspekte herauszustreichen, die die Parallele zur Hadewijchschen begherte deutlich machen.[25] Das erste Vergleichselement zwischen begheerte und Liebeskrankheit sind deren psychosomatische Charakteristika, die im mittelalterlichen literarischen Topos der liebeskranken Seele[26] und in Hadewijchs Visionen teils explizit, teils verschlüsselt, z.B. in der Bettlägerigkeit zu Beginn der I. Vision anklingen.

a) Begierde zwischen amor, caritas und cupiditas

amor, caritas und cupiditas sind die drei mittellateinischen Schlüsselbegriffe, mit denen sich gefühlsmässige mâze bzw. unmâze bezeichnen lassen. Der erste Korintherbrief beschreibt caritas als „patiens et benigna“[27]. Die cupiditas ist der caritas entgegengesetzt und medizinhistorisch mit der Liebeskrankheit verwandt.[28] Diese Liebe[29] ist nicht auf einen (Mit)menschen konzentriert, sondern vielmehr am Liebenden selbst körperlich ablesbar. Es handelt sich um ein somatisches Phänomen, das in Europa in der Zeitenwende zwischen Mittelalter und Neuzeit epidemisch auftritt.[30] Als „venerische Krankheit“[31] ist sie klar definierbar und auch hiermit der abstrakt bleibenden caritas entgegengesetzt.

caritas und cupiditas unterscheiden sich in ihrer Ausrichtung. Dem Korintherbrief zufolge ist caritas auf einen oder mehreren Mitmenschen bezogen, bezeichnet also mehr eine grundsätzliche Liebesfähigkeit denn ein spezifisches Gefühl.[32] Der medizinische Diskurs definiert cupiditas als somatisches Phänomen, der einen Verliebten äusserlich kennzeichnet.

Liebe, ein deadjektivisches Nomen aus lieb ahd. liob, mhd. liep, mnl. lief wird mit den verwandten Verben erlauben, glauben, loben und mit aind. lubhyati ‚ist gierig, empfindet Verlangen‘, lobha - ‚Gier, Habsucht, lat. libere ‚belieben, gefällig sein‘, libido, lubido ‚Lust, Begierde‘ auf eine ie. Wurzel * leubh - ‚gern haben, begehren, lieb‘ zurück.[33] Das bedeutet, im neuhochdeutschen Lexem Liebe ist dasjenige Begierde gleich wie im lateinischen amor die cupiditas enthalten und ihm morphologisch sogar ähnlicher als die lateinischen Nomen.

b) begheerte und Erotik

amor hereos – der lateinische Terminus für die Liebeskrankheit – ist ein Beispiel für die Interdependenz von literarischem und medizinischem Diskurs über das Beherrschtwerden[34] von der Liebe. Beide Diskurse lassen sich auf eine gemeinsame Auffassung pointieren, nämlich auf die Ablesbarkeit der Liebe am Körper bzw. die Interpretierbarkeit des Körpers auf die an ihm zum Ausdruck kommenden Gefühle, die dann den Hintergrund für die moralische Bewertung des Körpers bilden. Diese Vorstellung, die letztendlich auf einem Form- und Inhaltsverhältnis zwischen Körper und Gefühl gründet, rührt von einem Novellenstoff her, deren früheste Version die Heirat zwischen Antiochus I und seiner Stiefmutter, Stratonike, als medizinische Notwendigkeit darstellt, um jenen von seiner Leidenschaft für diese zu heilen. Der Vater des Verliebten, Seleukos I, willigt in die Hochzeit ein, als ihm der Arzt die in Stratonikes Anwesenheit auftretende Pulserhöhung sowie das abwechselnde Erröten und Erblassen als Liebeskrankheit seines Sohnes diagnostiziert. Antiochus gesundet sofort als er Stratonike zur Frau nimmt und obendrein an der Regierung beteiligt wird.

Die Reaktion des Vaters einerseits, die Auslegung der körperlichen Liebesmanifestationen als Krankheit andererseits lassen sich mit einer Liebesauffassung verbinden, wonach dem Menschen die Verantwortung für seine erotischen Gefühle genommen wird. Diese Unabhängigkeit des Menschen von der Erotik lässt sich auch in Hadewijchs begherte festmachen, weshalb es die Setzung des Lexems begherte als bewusst und nicht als stellvertretend für das Wortfeld der Lust zu betrachten gilt, innerhalb dessen es mit einem anderen Lexem beliebig austauschbar wäre.[35] Die hierin enthaltene übersetzungs-theoretische Kritik lässt sich auf neuzeitliche Interpretationen von Mystik ausweiten, funktionieren doch diese nach dem Prinzip eines hermeneutischen Zirkels, der uns bereits aus dem mittelalterlichen Umgang mit Ovids erotischen Texten bekannt ist, nämlich insofern als dem Text eine moralische Ebene unterstellt wird, die nicht unmittelbar aus ihm hervorgeht.[36]

Anhand von zwei Forschungsbeispiele postulieren wir im folgenden zunächst die Lektüre der begheerte im Sinne einer Text-Erotik wie sie implizit bereits von Monika Gsell[37] und Siegfried Ringler[38] nahegelegt wurde. Worum es in diesen beiden Ansätzen geht, ist das philologisch grundlegende Problem der Textdefinition, das vermittels der Beziehung von Sprache und Erfahrung im mystischen Text gehandhabt wird. Das bei Gsell und Ringler implizit vorhandene Postulat einer Text-Erotik enthält einen textdefinitorischen Ansatz. Diese Text-Erotik betont den Wirklichkeitsaspekt von Literatur, also die Materialität des Textes; was allerdings ein Paradox in sich vereint, da, wie Ringler gezeigt hat, auf inhaltlicher Ebene die Fiktion über die Materialität des Textes siegt. Diese Anerkennung der Fiktionalität des mystischen Textes führt dazu, seine Inhalte vor Kommentaren zu schützen, die sie, wie dies im Mittelalter mit Ovidschen Schriften geschehen ist und noch heute mit mystischen Texten geschieht, mit einer moralisierenden Ebene versehen wird, die in der Sinnlichkeit des Textes nicht beabsichtigt sein muss. Die Forscher, die die sprachliche Seite mystischer Texte ins Visier nehmen, postulieren häufig eine Text-Erotik, die, auf mulieres religiosae angewandt, zu neuen soziohistorischen Theorien über die gesellschaftliche Stellung dieser Frauen im Mittelalter führt. Am Beispiel Monika Gsells und Siegfrid Ringlers soll über die Implikationen dieser Text-Erotik für die Neudefinition des Textbegriffs, die zu einer Typologie mystischer Texte führen kann, nachgedacht werden.

1.2.2. Aspekte einer Text-Erotik

Monika Gsell vertritt die These, mittelalterliche Klosterfrauen befänden sich in einer gesellschaftlichen Zwischenstellung. Dies schliesst sie aus der Interpretation erotischer Metaphorik vor einem soziohistorischen und psychoanalytischen Hintergrund. Aus Texten der Passionsmystik werde ersichtlich, dass Mystikerinnen sich, Gsell zufolge, beidseits der symbolischen Ordnung des Mittelalters „befinden“[39]. Sie verkörpern einerseits das Ideal des geschlossenen weiblichen Körpers, öffnen dafür andererseits umso radikaler ihre Haut, „um das eigene Blut zu veräussern, sich mit den unreinen Säften anderer zu beschmutzen – und schliesslich auch, um dafür das göttliche Blut zu empfangen.“[40] Textimmanent werde diese Zweiheit von Ganzheit und Verstümmelung an den Rasuren deutlich, also an jenem Merkmal, der die Elaborierung des Textes, also an der eigentlichen Abstraktion der Erfahrung, am deutlichsten zeigt. Gsells Interpretation siedelt sich hier also auf derjenigen Ebene an, die Ringler „Wirklichkeit der Literatur“[41] genannt hat, also auf der faktischen Realität des literarischen Textes, die man gerade mit Bezug auf die zu den Körperpeinigungen analogen Rasuren, auch als Text-Erotik bezeichnen könnte. Auf dieser Ebene werde, so Ringler, deutlich, wie sich das Rollen-Ich des mystischen Textes „in engstem Bezug zur Erwartungshaltung der klösterlichen Gemeinschaft“[42] entwickelt. Zwar sei diese Gemeinschaft der unmittelbarste und „wichtigste“[43] Empfänger dieser Literatur, jedoch nicht der eigentlich beabsichtigte. Ringler stellt die interessante These auf, dass das sich in Bezug auf diese Gemeinschaft formierende Rollen-Ich der Texte im Grunde genommen ein ideales Publikum anstrebt, nämlich „die erst noch zu formende Gemeinschaft ideal strebender Seelen“[44]. Das Rollen-Ich formiert sich also im Hinblick auf eine zum Zeitpunkt seiner Entstehung fiktive, vielleicht auch nach der Vollendung des Textes fiktiv bleibende Leserschaft. Demzufolge gründet sich die Nonnenliteratur auf dem Begehren nach einem nach bestimmten Kriterien gearteten Publikum. Vor dem Hintergrund dieses Begehrens gewinnt Gsells These von der symbolischen Zwischenstellung der mittelalterlichen Mystikerinnen eine neue Bedeutung. Sie besagt in der Folge, dass diese Zwischenstellung im symbolischen Denken des Mittelalters noch nicht begriffen werden konnte, war doch die ideale Leserschaft – die Rezeption ihrer diese Stellung reflektierenden Texte – in den Augen der Mystikerin noch nicht erschaffen. Ziel der mystischen Literatur muss also ein Publikum sein, der das Spiel fiktionaler Entstehung mitmacht, also die mystische Erfahrung nicht im Sinne eines magischen „Trips“ zur tatsächlichen Vervollkommnung versteht, sondern, im Gegenteil, dem Rollen-Ich bei seiner fiktionalen Entstehung durch Einsteigen in die Fiktion hilft. Der „Sitz im Leben“ von dem Ringler in Bezug auf mystische Literatur spricht, muss in diesem Zusammenhang relativiert und als „Sitz in der Fiktion“ umformuliert werden. Diese Menschen, die, so Ringler, „nach idealen Zielsetzungen im Sinne der Mystik verlangten und für Grenzerlebnisse ansprechbar, in manchen Fällen sogar: danach süchtig waren“[45], wurden vom Begehren des Dichters nach einem Rollen-Ich vereinnahmt und somit als Teil seiner Fiktion im Text miteinbezogen, das heisst es gibt einen referentiellen Bezug zwischen realer und fiktiver Interpretation und nicht so sehr zwischen Literatur und soziohistorischem Kontext. Mit der mystischen Literatur wohnen wir also der Etablierung einer fiktionalen Welt bei, die sich mithilfe religiöser Parameter konstituiert. Auf der Grenze zwischen religiöser Realität und religiöser Fiktion – da scheint die Nonnenliteratur des Mittelalters ihren „Sitz“ zu haben. Vor diesem Hintergrund erweist sich Text-Erotik als ein Begriff, der einen Prozess zu bezeichnen vermag, der dem Vorhaben Ovids gleichkommt, einem Diskurs über das Schreiben zum Durchbruch zu verhelfen.

Wie also lässt sich die Text-Erotik für eine Typologisierung mystischer Texte verwenden? Im Zuge einer in der Textlinguistik feststellbaren Ausdifferenzierung des Textbegriffs[46] haben sich für eine Typologie mystischer Texte nebst psychoanalytischen auch soziale Kriterien durchgesetzt, die die Text-Erotik als gattungstypologisches Kriterium implizit nahelegen. Manfred Frank[47] zufolge, ist ein Text an drei wesentliche Merkmale gebunden: an Schriftlichkeit, Dauerhaftigkeit und Kohärenz. Diese Merkmale können freilich hinterfragt werden, so zum Beispiel dasjenige der Dauerhaftigkeit, ist es doch mehr ein Interpretat als eine tatsächliche Eigenschaft von Texten. Gerade heutzutage in der technisierten Welt gewinnt der Dauerhaftigkeitsaspekt eine gänzlich andere Bedeutung als in einer Zeit, wo Schriftlichkeit mit der Beständigkeit des Pergaments einherging. Man kann also sagen, dass Dauerhaftigkeit eher ein in die Schriftlichkeit hineininterpretierter Effekt, als ein unmittelbar textgebundenes Merkmal ist. Unter diesem Vorbehalt müssen wir sehen, dass Franks Postulat, Texte hätten „keinen Erfahrungscharakter, keinen Charakter von Präskripten, sondern von Appellen, denen frei entsprochen wird oder nicht“,[48] von der Mystikforschung problematisiert werden. Die von Frank implizit mitvertretene rezeptionstheoretische Auffassung, der Text werde im Wesentlichen vom Leser „konstruiert“, widerspricht die Art und Weise, in der mystische Erfahrung in mystischen Texten thematisiert wird, nämlich als subjektive, wie wir meinen, literarische Erinnerung an literarische Vorbilder, die sich in Hadewijchs Visionen zudem strukturell im Visionsaufbau niederschlägt. Mystische Texte verlangen also nach einer Revision dieses auch in der Textlinguistik einflussreichen Textbegriffs.

[...]


[1] Es ist schwierig, Mystik, trotz gemeinsamer Form-, Stil-, und Inhaltsmerkmale als literarische Gattung zu bezeichnen, weil eine rein philologische Auslegung dem theologischen Substrat dieser Texte nicht gerecht wird. Im allgemeinen umgeht die Forschung den Terminus ‘Gattung’ für diese Texte und spricht stattdessen von „Phänomen Mystik “ und streitet sich gleichzeitig über dessen allgemeingültige Definition. Das dringendste definitorische Problem stellt die Tatsache dar, dass Mystik, als religiöses Phänomen, faktisch nur literarisch tradiert, jedoch nie von Mystik als einer literarischen Gattung die Rede ist. Wir vermuten, dass der Gattungsbegriff die mystischen Texte zu stark ihres theologischen Substrates entledigt und sie dafür in das Feld des Literarischen rückt. Ein Beispiel dafür, dass die Mystik, trotz ihrer ausschliesslich textuellen Form vorwiegend als religiöses Phänomen betrachtet wird, ist der lexikographische Eintrag zu Hadewijch, in dem sie als „Mystikerin und Dichterin“ verzeichnet ist. vgl. Lutz, Bernd [hrsg.]: Metzler Autoren Lexikon: deutschsprachige Dichter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Stuttgart: J. B. Metzler, 1994.

Als gültige Definition von Mystik erachten wir im Zusammenhang folgende Beschreibung, die unseren Zwecken entgegenkommt. „Mystik ist tiefste Gottessehnsucht, Gottsuche aus reiner Gottesliebe; der liebende Mensch schaut Gott und gelangt zur Einung mit ihm, und nun folgt dieser Mensch Gott allein nach. Die Geschichte der Mystik ist die Geschichte dieser Gottesliebe“. Lanczkowski Johanna [hrsg.]: Erhebe dich, meine Seele: mystische Texte des Mittelalters. Stuttgart: Philipp Reclam, 1988, S. 7.

[2] Grimm, Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch; Bd. 1. Leipzig: Hirzel, 1854-1960, Spalte 1292.

[3] vgl. Paxson James J. [et al.] : Desiring discourse: the literature of love, Ovid through Chaucer. Selinsgrove: Susquehanna University Press, 1998.

[4] Basis unserer Arbeit wird folgende zweisprachige (Altflämisch – Neuhochdeutsch) Textausgabe sein. Hofmann, Gerald [hrsg.]: Hadewijch. Das Buch der Visionen; Band I: Text, Band II: Kommentar. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1998. Im folgenden zitieren wir den ersten Band mit ‘Hofmann 1998 I: Seitenzahl’, den zweiten entsprechend mit ‘Hofmann 1998 II: Seitenzahl’. Für einige übersetzungskritische Überlegungen ziehen wir ausserdem noch folgende ältere Ausgabe bei. Hadewijch: Die Werke der Hadewych. Aus dem Altflämischen übersetzt und mit ausführlichen Erläuterungen versehen von J. O. Plassmann. Hannover: Lafaire, 1923.

[5] Da zu Hadewijchs Zeit die Heilige Schrift auf Lateinisch rezipiert wurde, zitieren wir im folgenden aus der Vulgata. Wir ziehen folgende Ausgabe bei. Biblia sacra: juxta vulgatam Clementinam: divisionibus, summariis et concordantiis ornata. Tournai: Desclée, 1947.

[6] vgl. Schneider-Lastin, Wolfram [hrsg.]: Elsbeth von Oye: Offenbarungen. Vorabdruck; Tübingen; Basel, (erscheint).

[7] Selbst Rob Faesens umfangreiche Untersuchung zur begheerte in Hadewijchs Werk sieht in der VII. Vision nicht mehr als einen Höhepunkt an psychosomatischer Drastik dieses Gefühls. vgl. Faesen, Rob: Begeerte in het werk van Hadewijch. Leuven: Peeters, 2000.

[8] Gsell, Monika: „Das fliessende Blut der Offenbarungen Elsbeths von Oye“. in: Dinzelbacher, Peter: Christliche Mystik im Abendland: ihre Geschichte von den Anfängen bis zum Ende des Mittelalters. Paderborn; Zürich [etc.]: Ferdinand Schöningh, 1994, S. 455-482, hier S. 475.

[9] Rekurrent ist es beispielsweise beim spanischen Sprachakademiker und Literaten Antonio Muñoz Molina, der seinem ersten Roman das Zitat von T. S. Eliot „Mixing memory and desire“ voranstellt und dort den poetologischen Aspekt dieser Verbindung deutlich macht. (vgl. Muñoz Molina, Antonio: Beatus Ille. Barcelona: Seix Barral, 1997). In der deutschen Literatur besitzt das Verhältnis von Erinnerung und Begehren eine, wie wir meinen, noch nicht in allen ihren Aspekten erkannte Tradition. Im Parzival -Prolog, diese Vermutung wollen wir hier wagen, verweist die an den Spiegel gebundene Ephemeritätsvorstellung ebenfalls auf diese Verbindung. Das beständige Scheinen steht der „kurze fröude“ (I, 25) gegenüber und damit auch dem „trüebe lîhte schîn“ (I, 24) sowie „des blinden troum“ (I, 21). Rezeption steht bei Wolfram somit der Blindheit und der Ephemerität des Glücks gegenüber und impliziert damit einen Leserblick, der mit dem religiösen eng verwandt ist. Meister Eckhart betont in seinen Traktaten, dass die Geburt des Sohnes sich im „ûzschinendes“ Wort offenbart, das Glanz und Wort in sich vereinigt. (vgl. Quint, Josef [hrsg. u. übers.]: Meister Eckhart. Deutsche Predigten und Traktate. Zürich: Diogenes, 1979). Insofern als der Blick, der dem „blinden troum“ gegenübersteht „staete“ impliziert, gewinnt die Allgegenwart des göttlichen Auges eine besondere Nähe zur literarischen Kreativität. Der Ephemerität des Augenblicks im Spiegel steht die Beständigkeit des geschriebenen Wortes gegenüber. Über die Unterschiedlichkeit des Blicks werden Spiegel und Literatur zu Allegorien des Vergessens und Erinnerns. Denn im Spiegel erblindet die Erinnerung, in der Literatur wird sie erst wach wie ein aufgeschreckter Hase. Auch bei Muñoz Molina bewahrt der Spiegel das lyrische Ich vor der Erinnerung, wohingegen es im Schreiben dem Erinnerungsprozess ausgesetzt ist und ihn mit seinem Begehren steuert. Das Begehren scheint hier also eine Machtposition des Ichs gegenüber seiner Erinnerung bestätigen zu wollen.

Was im Parzival -Prolog zunächst erinnert wird, sind literarische Vorbilder. Zu diesem Schluss gelangt auch Joachim Bumke, wenn er die Auffassung vertritt, „dass die Unterscheidung der drei Menschentypen – der schwarz-weisse, ambivalente Typ, der mit der schwarzen Farbe symbolisierte „unstaete geselle“ (I, 10) und „der mit staeten gedanken“ (I, 14), dem die weisse Farbe zukommt - eine poetologische Bedeutung hat, dass es um literarische Anthropologie geht, um die Menschendarstellung in der Dichtung; und dass der dritte Typ, der elsternfarbene Mensch, ein literarisches Programm darstellt, dass damit die besondere Art der Menschendarstellung im Parzival gemeint ist: der „gemischte (parrieret 1,3) Mensch, der zweideutige Mensch, der zugleich „beschimpft und gefeiert“ (gesmehet unde gezieret I,3) wird.“(Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach. Stuttgart: Metzler, 2004). Wir gelangen also hiermit zurück auf unser Ausgangszitat von T.S. Eliot: „Mixing memory and desire“, um zu fragen, wie dieser Rückbezug auf literarische Vorbilder gleichzeitig vom Begehren nach neuen literarischen Menschentypen geprägt ist. Wolfram von Eschenbach kombiniert in seinem Text Erinnerung und Begehren zu einer literarischen Neuschöpfung - dem Parzival – und offenbart sich damit gleichzeitig als Dichter und als Leser. In der literarischen Kreativität artikuliert sich somit das Begehren, erinnerte literarische Vorbilder neu- bzw. umzuschreiben.

[10] Girard, René: Mensonge romantique et vérité romanesque. Paris: Hachette Littératures, 2004.

[11] “Because Ovid does not present the body and its desires so much as he represents their textuality, he removes his poems from the orbit of any ethics that supports or differentiates actions based on gender. [...]. The scandal of Ovid’s amatory poems for the exegetical project in general [...] lies less in their content than in their manner. [...] If Ovid pretended to make love intelligible, in the exegete’s hands the Ars did indeed become rational; by reading the glossed version of it, a man vould find a model of that self-control that transforms him into a more perfect image of his Maker.” Ginsberg, Warren: “Ovidius ethicus? Ovid and the Medieval Commentary Tradition”. in: Paxson [et al.] 1998: 62-71; hier: S. 67.

[12] Wir schreiben hier das Neuhochdeutsche Lexem, um uns auf das Konzept der Begierde zu beziehen, das freilich auch für Hadewijchs begheerte Gültigkeit hat. Das nachfolgende Kapitel dreht sich nicht spezifisch um Hadewijchs Begriff, sondern ist als allgemeine Annäherung auf die von ihm bezeichnete Idee gemeint. Ziel wird die Aufrollung des poetologischen Aspekts der Begierde sein.

[13] vgl. u. a.: Lübben, August: Mittelniederdeutsches Handwörterbuch. [nach dem Tode des Verfassers vollendet von Christoph Walther]. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1990; Cox, Heinrich L.. Veen [et. al.]: Etymologisch woordenboek: de herkomst van onze woorden. Utrecht; Antwerpen: Van Dale Lexicografie, 1989; Wolters Handwörterbuch Deutsch-Niederländisch; [begr. von Icarus van Gelderen]. Berlin: Langenscheidt, 1999.

[14] Mittelniederdeutsches Handwörterbuch 1990: 31.

[15] vgl. Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache; bearb. von Elmar Seebold. Berlin: W. de Gruyter, 2002.

[16] Lexer, Matthias: Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch; mit den Nachträgen von Ulrich Pretzel. Stuttgart: S. Hirzel, 1992, S. 73.

[17] Lexer 1992: 11.

[18] Luther signalisiert das Sem der Masslosigkeit mit folgender Aussage. „schlemmen ist nüt anders, dan ein unordenliche begird zuo essen und zuo trinken.“ Grimm 1854: 1292.

[19] Etymologisches Wörterbuch des Deutschen; erarbeitet unter der Leitung von Wolfgang Pfeifer. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2003: 449.

[20] Bulitta, Erich: Wörterbuch der Synonyme und Antonyme: sinn- und sachverwandte Wörter und Begriffe sowie deren Gegenteil und Bedeutungsvarianten. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verl., 2003, S. 409.

[21] vgl. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen 2003: 449.

[22] van Veen 1989: 92.

[23] Zum Unterschied zwischen Emotion und Gefühl vgl. S. 21 der vorliegenden Arbeit.

[24] Über den Zusammenhang zwischen der Hadewijchschen begheerte und dem Motiv der Liebeskrankheit bei mulieres religiosae sagt Hofmann: „Dass man an der als übermässig empfundenen Liebe Gottes und an der Erfahrung, dieser nicht adäquat entsprechen zu können, liebeskrank würde, war noch vorstellbar und besonders den Biographen der ‘mulieres religiosae’ wohl auch nachvollziehbar; die Ursache aber, die hier in den Schriften Hadewijchs und Beatrices authentisch überliefert ist, war es wohl nicht mehr. Mag sie den Vitenautoren auch etwas anrüchig erschienen und aus diesem Grund bei anderen ‘mulieres religiosae’ sonst nicht mehr erwähnt worden sein, so gilt es dabei aber doch zu berücksichtigen, dass mit dieser Sichtweise auch bei Hadewijch und Beatrice ein extrem mystischer Gottesbeziehung erreicht ist, das nicht allen frommen Frauen ihres Umfeldes automatisch zugesprochen wurde.“ Hofmann 1998 II: 112. Wie wir weiter unten zeigen werden, gibt es bei Hadewijch einige Bilder, die die Thematik der Liebeskrankheit und ihren direkten Zusammenhang zur begheerte andeuten.

[25] Das etymologisch minutiöse Unterfangen, alle erwähnten Seme zu systematisieren und sie im folgenden auf die Hadewijchsche begheerte zu beziehen, muss im folgenden ausbleiben, weil unser Anliegen ein anderes ist. Zu erwarten wäre aber ein Stellenkommentar der Hadewijchschen Visionen, der diese semantischen Feinheiten mitberücksichtigt Auch Hofmans Anliegen ist ein anderes, auf die Leserfreundlichkeit der mnl. Texte ausgerichtetes. vgl. Hofmann 1998 I: 37. Die Tatsache, dass Hofmann in seiner Übersetzung Leserfreundlichkeit statt wissenschaftliches Detail anstrebt, ist verständlich, wenn man sich die Unschärfe vor Augen führt, mit der das Wortfeld der Liebessprache historisch untersucht wurde.

[26] Einen historischen Überblick über die Handhabung dieses Topos in den europäischen Literaturen gibt Stemmler, Theo [hrsg.]: Liebe als Krankheit: 3. Kolloquium der Forschungsstelle für europäische Lyrik des Mittelalters. Mannheim: Forschungsstelle für europäische Lyrik des Mittelalters an der Universität Mannheim, 1990. Detaillierter ausserdem: Matejovski, Dirk: Das Motiv des Wahnsinns in der mittelalterlichen Dichtung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1996.

[27] Kor I 13,4

[28] vgl. Matejovski 1996.

[29] Beachtet man die Synonyme und Antonyme zu nhd. Liebe so erweist sich das semantische Feld dieses Begriffs ist dementsprechend diffuser als im Falle von caritas, amor und cupiditas. Vielmehr treffen wir für Liebe auf folgende Synonyme: „Amor, Anhänglichkeit, Herzenswärme, Herzlichkeit, Hingabe, Hingebung, Hingezogenheit, Hinneigung, Innigkeit, Leidenschaft, Liebesgefühl, Schwäche (für), Verbundenheit, Verliebtheit, Zärtlichkeit, Zuneigung.“ Als Antonyme kommen vor: „Ablehnung, Abneigung, Abscheu, Feindseligkeit, Gehässigkeit, Hass(gefühl), Hassliebe Desinteresse, Gleichgültigkeit, Teilnahmslosigkeit, Angst(gefühl), Aengstlichkeit, Furcht.“ Bulitta 2003: 543-44.

[30] Haage, Bernhard D.: „‘Amor hereos’ als medizinischer Terminus technicus in der Antike und im Mittelalter.“ in: Stemmler 1990: 31-74, hier: S. 57, Anm. 2.

[31] Haage 1990: 57, Anm. 2.

[32] vgl. in diesem Zusammenhang auch 1. Joh 4, 16, wo caritas mit Gott gleichgesetzt wird. Diese Gleichsetzung verweist darauf, dass caritas mit einer Erkenntnisdimension zu tun hat, also nicht primär in Verbindung zur Faszination für einen Menschen steht. „Et nos cognovimus, et credidimus charitati quam habet Deus in nobis. Deus charitas est, et qui manet in charitate, in Deo manet, et Deus in eo.“

[33] Etymologisches Wörterbuch des Deutschen 2003: 798

[34] In Andreas Capellanus‘ De amore können wir nachlesen, dass Liebe etwas ist, das man erleidet; die dem subjektiven Fühlen inhärente Aktivität wird somit weniger stark betont als die Ohnmacht des Liebenden in Bezug auf die Erwiderung seiner Liebe. amor hereos, der bei Constantinus Africanus erstmals entdeckte Begriff für die Liebeskrankheit bezeichnet im Grunde nichts anderes als ein Beherrscht-werden von der Liebe. Dies lässt sich auch aus den in der Forschung postulierten etymologischen Herleitungslinien schliessen. Zusätzlich zum griechischen eros umfasst der Begriff amor hereos zwei weitere Bedeutungsschichten: diejenige des arabischen al-isq sowie jene des lateinischen herus (- dominus). Der Liebende empfindet sowohl caritas als auch cupiditas, wobei letztere in einem engeren Bezug zum amor hereos steht als die caritas. Grundsätzlich resultiert die Zerrissenheit des Liebenden in der Formlosigkeit seiner Liebe, während er zwischen caritas als moralisch angesehene und cupiditas als moralisch verwerfliche Liebe hin- und hergerissen ist. Die Ehe ermöglicht es, caritas und cupiditas in gesellschaftlich approbierter Form zu vereinen und den Liebenden damit aus seiner Zerrissenheit zu befreien. Insofern als die Eheschliessung institutionell eine neue Lebensform ins Leben ruft, ist sie auch moralisch formgebend; man kann aufgrund dieses formgebenden Aspekts sagen, die Ehe ästhetisiere die cupiditas und damit auch den amor hereos auf gesellschaftlich approbierte Weise, nämlich so, dass dabei von amor als mittlerer Form zwischen caritas und cupiditas gesprochen werden kann. Der quasi euphemistische Ausdruck amor hereos ästhetisiert die moralisch verwerfliche cupiditas, somit auch als Lexem, denn als heterosexuelle Liebe steht amor für eine gemässigte Liebesform.

[35] Die Hadewijchforschung beschäftigt sich vorwiegend mit dem Motiv des Seelenaufstiegs, ohne über die Nuancen der Hadewijchschen Terminologie zu reflektieren (vgl. den Forschungsüberblick bei Hofmann 1998 II). Daraus ergeben sich unreflektierte Diskrepanzen in den jeweiligen Texteditionen und –übersetzungen. Hofmann, z.B., verwendet in der Übersetzung der VII. Vision ausschliesslich den Begriff Verlangen. Plassmann (1923) setzt ab und an Begehren oder Verlangen ein, wo Hadewijch ausdrücklich von begheerte also von nhd. Begierde spricht. Man kann nun die Kritik der Übersetzung in eine neutrale Feststellung umwandeln und sagen, sowohl Hofmann als auch Plassmann hätten in ihre Übersetzungen ihre jeweiligen Vorstellungen von Gottessehnsucht hineinprojiziert und dementsprechend mit dem Wortfeld der Lust gearbeitet, anstatt die begherte vor der Übersetzung auf ihre semantischen Implikationen bei Hadewijch zu untersuchen.

[36] Der Vergleich zwischen mittelalterlichen Ovid-Kommentaren und heutiger Hadewijchforschung zeigt, dass das Verhältnis der Menschen zu dem, was in vorangegangenen Epochen unsagbar war, sich über die Jahrhunderte nicht entscheidend verändert hat. Unser Anliegen ist es, die in begheerte enthaltenen Konnotationen zur Erotik weg von der Inhalts- hin zu einer performativen Textebene zu verschieben. Dabei verfahren wir zweifellos in ähnlicher Weise wie die geistlichen Ovid-Kommentare, allerdings mit dem Unterschied, dass wir eine poetologische und keine moralisierende These beweisen wollen.

[37] vgl. Anm. 8.

[38] Ringler, Siegfried: „Die Rezeption Mittelalterlicher Frauenmystik als Wissenschaftliches Problem, dargestellt am Werk der Christine Ebner.“ in: Dinzelbacher, Peter; Bauer, Dieter R. [hrsg.]: Frauenmystik im Mittelalter. Ostfildern bei Stuttgart, Schwabenverlag 1985, S. 178-200.

[39] Gsell 1994: 475.

[40] Gsell 1994: 475

[41] Ringler 1993: 192

[42] Ringler 1993: 193

[43] Ringler 1993: 193

[44] Ringler 1993: 193

[45] Ringler 1993: 193.

[46] Die Textlinguistik selber scheint sich in neuerer Zeit zunehmend vom Bemühen um eine einheitliche Definition des Textbegriffes zu distanzieren und spricht im linguistischen Sinne nunmehr von Textsorten anstatt von Text, wobei Text dann eher kulturwissenschaftlich geprägt erscheint und insofern eine Bedeutungserweiterung erfährt.[46] Literaturwissenschaftliche Lexika reihen sich in diese Tendenz ein. Auch sie paraphrasieren den Begriff Text eher als ihn zu definieren.[46] Diese Definitionsfragen werden mit der Analyse mystischer Texte aktuell, insbesondere was die erwähnte Beziehung zwischen ihrer vermeintlich konventionellen Sprache und der Gefühlswelt angeht. Vgl. hierzu auch: Haas, Alois M.; von Garewicz, Jan [hrsg.]: Gott, Natur und Mensch in der Sicht Jacob Böhmes und seiner Rezeption. Wiesbaden: Komm. Harrassowitz, 1994, S. 21.

[47] Frank, Manfred: Das Sagbare und das Unsagbare: Studien zur deutsch-französischen Hermeneutik und Texttheorie. Frankfurt a.M. : Suhrkamp, 1989.

[48] Frank 1989: 141.

Ende der Leseprobe aus 43 Seiten

Details

Titel
Der Begriff begheerte in Hadewijchs Visionen: Aspekte einer poetologischen Erotik
Hochschule
Universität Basel  (Deutsches Seminar)
Note
5,5 (CH)
Autor
Jahr
2005
Seiten
43
Katalognummer
V53868
ISBN (eBook)
9783638492003
ISBN (Buch)
9783656779629
Dateigröße
627 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Entspricht Note 1,5 nach deutscher Bewertungsskala.
Schlagworte
Begriff, Hadewijchs, Visionen, Aspekte, Erotik
Arbeit zitieren
Maria Sandra Carrasco (Autor:in), 2005, Der Begriff begheerte in Hadewijchs Visionen: Aspekte einer poetologischen Erotik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/53868

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