Formen des Offenen. "Der Zauberberg" von Thomas Mann, die "Oxen of the Sun"-Episode im "Ulysses" von James Joyce und "Rayuela" von Julio Cortázar (Band 1)

Notwendigkeit weltanschaulicher Bezugsrahmen


Doktorarbeit / Dissertation, 1988

72 Seiten, Note: magna cum laude


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

1. Notwendigkeit weltanschaulicher Bezugsrahmen
1.1 Formen des Offenen und evolutionierende Struktur
1.2. Komparatistischer Bezugsrahmen

2. Thomas Mann, Der Zauberberg
2.1. Dynamisierung der Struktur
2.1.1.Das Dreigestirn Richard Wagner, Artur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche
2.1.2. Musikalisches und literarisches Leitmotiv
2.1.3. Magisches nunc stans und Kreisstruktur des Romans
2.2. Castorps Flucht ins Metaphysische
2.2.1. Castorps Erkrankung
2.2.2. Eros und Todessympathie
2.3. Der Zauberberg als Initiationsroman

3. Die Episode Oxen of the Sun im Ulysses von James Joyce
3.1. Beziehungen zwischen Mann und Joyce
3.2. Metempsychose, Parallaxe und Unbestimmtheit
3.3. Mythologische Bezugsrahmen
3.4. Dialog der Texte
3.5. Analogie Stilgenese - Ontogenese

4. Julio Cortázar, Rayuela
4.1. Physikalisches Weltbild und Unbestimmtheit
4.2. Fiktionalisierung der Romantheorie
4.3. Aleatorische Poetik der Kapitelkombinatorik
4.3.1. Dialektik von Form und Offenheit
4.3.2. Oliveiras Bildungsreise
4.3.3. Kapitelkombinatorik als destrucción de formas

5. Tradition, Moderne, Postmoderne: statt einer Zusammenfassung

6. Literaturverzeichnis

Literaturverzeichnis

Einleitung

Das wachsende Misstrauen moderner Autoren in die epische Abbildbarkeit der empirischen Wirklichkeit führte in der neueren Gattungstradition des Romans zu einem immer stärkeren Vordringen offener, alinearer Erzählschemata. Gründe für dieses Abrücken von der kausallinearen Struktur des realistischen Erzählens liegen in einer zum Teil historisch bedingten weltanschaulichen Verunsicherung, die beispielsweise Thomas Mann während der Entstehungszeit des Zauberbergs die Unangemessenheit des traditionellen Formkanons als Mittel einer epischen Wirklichkeitsdarstellung häufig schmerzlich ins Bewusstsein rief. Die widerstrebenden Kräfte des historischen Kontextes während der Zauberberg - Produktion bewirkten – nach Thomas Mann - in künstlerischer Hinsicht eine Erschütterung aller kulturellen Grundlagen. Mit Blick auf das historische Umfeld während der Entstehungszeit des Ulysses von Joyce spricht auch Hermann Broch von der Epoche im Zustand der organischen Unbekanntheit. Dementsprechend wandelt sich auch die Erzählform. Die realistische Schreibweise mit ihren teleologischen Implikationen scheint jede Bedeutung verloren zu haben. Was den Prozess einer erzähltheoretischen Umorientierung noch zusätzlich beschleunigt, ist das Interesse der Autoren für ideologisch-weltanschauliche Denkmodelle, Leitbilder und Theoreme, die die wachsende Bedeutung offener, alinearer Erzählstrategien fördern.

Die Arbeit will demnach mehr als nur die strukturelle Beschaffenheit der jeweiligen Texte zu analysieren. Sie stellt auch Fragen nach den weltanschaulich-ideologischen Hintergründen, die von Fall zu Fall einen nicht geringen Einfluss auf das Erzählverfahren des Zauberbergs von Thomas Mann, der Oxen of the Sun -Episode im Ulysses von Joyce und Rayuelas von Julio Cortázar ausgeübt haben. Auf die Bedeutung der schopenhauerschen Metaphysik für die strukturelle Beschaffenheit des Zauberbergs hat Thomas Mann in einigen kommentierenden Begleittexten wie Tagebucheinträge, Briefe und Essays häufig selbst hingewiesen.

Von nicht geringem Interesse ist in diesem Zusammenhang auch die besondere Vermittlungsstruktur dieser Aneignung der Metaphysik Schopenhauers. So hat die Nietzsche-Kritik der Musikkomposition von Richard Wagner und ihrer Verwendung des musikalischen Leitmotivs dem Epiker Mann erst auf Möglichkeiten einer literarischen Verarbeitung der Schopenhauerschen Auffassung vom wahren Sein der Dinge als zeitlose ewige Gegenwart und stehendes Jetzt im Roman hingewiesen. Die Konzeption einer literarischen Leitmotivtechnik erlaubt es, die Schreibweise des realistischen Romans abzulösen und durch ein paradigmatisches, d. h. themenkombinierendes Konstruktionsprinzip zu ersetzen. Die Kohärenz des Zauberbergs ergibt sich nicht allein durch die Linearität der in Raum und Zeit sich entwickelnden Handlungsereignisse der Geschichte Hans Castorps. Die durch die Leitmotivik ermöglichte wechselseitige Bezogenheit der unterschiedlichen Themaebenen erzeugt eine Zirkelstruktur, die den linearen Ablauf der traditionellen Erzählung nach und nach zu verdrängen beginnt. Die wesentliche Funktion des Leitmotivs ist in dieser Hinsicht die Aktualisierung von Vergangenem und die Antizipation von Zukünftigem, die Aufhebung des Nacheinanders des Handlungsablaufs, die mythische Ansicht der Simultaneität des zeitlich Aufeinanderfolgenden und die Identität des Vielförmigen im magischen nunc stans, einer der wesentlichsten Berührungspunkte zwischen der Romanästhetik Manns und der Metaphysik Schopenhauers.

Die Segmentstruktur der Oxen- Episode unterstreicht die wachsende Skepsis gegenüber der mimetischen Funktion des Romans realistischer Prägung. Die einzelnen Segmente bieten lediglich komplementäre, sich widersprechende, aber koexistierende Teilaspekte der dargestellten epischen Welt. Bei Joyce dominiert das Interesse an einer ästhetischen Wahrnehmung der empirischen Wirklichkeit und ihrer künstlerischen Gestaltung, nicht die Suche nach Möglichkeiten der epischen Umsetzung eines philosophischen Modells. Die Oxen -Episode scheint keine Wirklichkeitstotalität, wenn auch metaphysisch begründet, zu kennen. Die einzelnen Segmente betreiben die perspektivische Brechung des Erzählgegenstands, sie erzählen keine Geschichte, sondern variieren vielmehr ein Thema. Die Variation besteht in einer Reihe von literaturhistorisch nachvollziehbaren Nachahmungen unterschiedlicher Prosastile, die sich in thematischer Hinsicht auf die Komplexe Geburt, Fruchtbarkeit, Sexualität beziehen und zugleich die gattungsgeschichtliche Genese des modernen Erzählens implizieren: embryonale Entwicklung und literarische Evolution durchdringen sich ständig.

Die perspektivische Brechung des Erzählgegenstands durch die Facetten- und Segmentstruktur dieser Episode des Ulysses scheint in erkenntnistheoretischer Hinsicht schon naturwissenschaftliche Theoreme zu antizipieren, die später explizit in den weltanschaulichen Horizont Rayuelas von Julio Cortázar eindringen: jede Wahrnehmung - auch die des Verhältnisses Fiktion-Wirklichkeit - ist standortgebunden, d. h. nicht fähig, den Gegenstand vollkommen zu bestimmen.

Die Heisenbergsche Unbestimmtheitsrelation und der Entropiesatz sind - nach den immanent poetologischen Reflexionen Rayuelas - als die anregenden Momente zu sehen, denen direkte Bedeutung für die Beschaffenheit der Struktur des Romans zukommt. Es findet ein Transfer statt, der diese naturwissenschaftlichen Theoreme sowohl in thematischer als auch struktureller Hinsicht für den Roman fruchtbar macht. Die für Rayuela charakteristische Kapitelkombinatorik scheint Cortázars Versuch einer Literarisierung des naturwissenschaftlichen Entropiesatzes darzustellen: Er unterzieht die zunächst linear angelegte Geschichte Horacio Oliveiras einem immer intensiver wirkenden Zerstörungsprozess, so dass die Lektüre letztlich nicht abschließbar und ausweglos in einer Art Endlosschleife im Labyrinth des Textes herumgeführt wird.

Die Heisenbergsche Unbestimmtheitsrelation ist in zweifacher Hinsicht von Bedeutung. Wie das naturwissenschaftliche Theorem die Auffassung nahelegt, der Beobachter stelle ein integriertes Element des Beobachtungsvorgangs und des beobachteten Phänomens dar, scheint auch die Romanpoetik Rayuelas davon auszugehen, dass der Romanautor als Schöpfer des Werkganzen in der immanent agierenden Figur Morellis dauernd präsent zu sein habe. Der hohe Anteil an immanent poetologischen Reflexionen zur Werkgenese Rayuelas stützt diese Auffassung: die Relation Ich und Welt, Beobachter und Beobachtetes, Fiktion und außer literarische Wirklichkeit sind erkenntnismäßig nicht endgültig zu bestimmen. Unbestimmtheit prägt nicht nur das Verhältnis Roman - Wirklichkeit, sondern auch das Verhältnis Roman - Leser. Der durch die Kapitelkombinatorik zügig vorwärtsschreitende Zerstörungsprozess der Romanstruktur signalisiert dem Leser, dass sich die Struktur des Romans wegen der unüberschaubaren Vielzahl möglicher Kombinationen des Textmaterials wie die Realität einer eindeutigen Objektivation entzieht. Zwischen dem Leser-Ich und der Werk-Welt bleibt ein erkenntnismäßig nicht auszurottender Unbestimmtheitsbetrag bestehen.

Eine komparatistische Perspektive am ehesten in der Lage, Zusammenhänge der literarischen Evolution des modernen Romans verstehen zu lernen. Da zwischen den hier in Frage stehenden Vergleichstexten keine konkreten Wirkungen von einem auf den anderen Roman nachzuweisen sind, demnach auch genetische und kontaktologische Bezüge fehlen, empfiehlt die komparatistische Methodenlehre als einzig adäquate Untersuchungsmethode die Gattungsphänomenologie mit der Betonung typologischer Zusammenhänge. Die wachsende Distanz des neueren Romans zur Tradition: von der Zirkelstruktur des Zauberbergs über die Segment Struktur der Oxen -Episode zur Kapitelkombinatorik Rayuelas - erweist sich dabei nicht allein als innerliterarisches Phänomen. Die Bereitschaft zu interdisziplinärem Denken kann den Interessenten durch die Berücksichtigung der philosophischen, metaphysischen oder naturwissenschaftlichen Orientierungspunkte der einzelnen Autoren in die Lage versetzen, Kräfte nachzuweisen, die in nicht geringem Maß Einfluss auf die literarische Entwicklung des modernen Romans nehmen. Die folgende Untersuchung will diese Zusammenhänge aufdecken. Es scheint sich dabei eine Tendenz abzuzeichnen, die die Auffassung nahelegt, dass ein Zweig des modernen Romans zu einer immer weiter fortschreitenden Auflösung des traditionell geschlossenen Erzählkontinuums strebt.

1. Theoretischer Teil

1.1. Notwendigkeit weltanschaulicher Bezugsrahmen

In der Geschichte des Romans haben vorwiegend das 18. und 19. Jahrhundert, besonders Realismus und Naturalismus, die Gattungstypen geprägt, die in der akademischen Kritik, aber auch im Bewusstsein des Lesers paradigmatische Geltung als Repräsentanten der Gattung an sich erlangt haben. Trotz einiger Abweichungen, die in diesem Zeitraum zu verzeichnen sind, es sei hier nur an Sternes Tristram Shandy erinnert, gelten je nach erzähltheoretischer Perspektive Fieldings Tom Jones und die Romanzyklen Balzacs und Emile Zolas als die Vorbilder und typischen Vertreter der Gattung.

Zur Einführung in die Gattungsproblematik skizzieren einschlägige theoretische Schriften die strukturellen Umrisse des geschlossenen Gattungstyps als die kanonische Form des Romans. Die bedeutendsten Vertreter der werkimmanenten Romantheorie1 kanonisieren weitestgehend die Romanproduktion dieses gattungsgeschichtlichen Abschnitts. Die erzähltheoretischen Modelle dieser Autoren orientieren sich an der Vorstellung von der vernünftigen, wertorientierten Ordnung der Welt, und sie bestätigen diese theoretischen Modellvorstel1ungen gattungsgeschichtlich durch eine Textauswahl, die der realistisch-naturalistischen Schreibweise eine gewisse Vorrangstellung einräumt. Die geschlossene Form, d. h. die kausal lineare Episodenfolge, die den Stoff strukturierende und vereinheitlichende Kraft der Erzählperspektive, die zeitliche Abfolge der erzählten Ereignisse und Handlungselemente stehen im Zentrum des analytischen Interesses dieser theoretischen Schriften. Auch Stanzels erzähltypologische Variationen2 - die typologischen Differenzierungen ergeben sich aus der jeweiligen Nähe oder Distanz der Erzähl- oder Vermittlungsinstanz zum Erzählgegenstands3 - ändern wenig an dieser statischen und dogmatischen Auffassung. Innerhalb dieser erzähltheoretischen Unterscheidungen sieht Stanzel sogar in der 'personalen Erzählsituation', die typologisch weitestgehend auf den assoziativ und alinear arbeitenden Vermitt1ungsvorgang des Bewusstseinsromans gemünzt ist, auch jene Stoff strukturierende und kohärenzstiftende Funktion des Vermittlers, Mediums oder Reflektors verwirklicht:

Bei der Darstellung mit personaler Erzählsituation geht die illusionsschaffende und ordnende, weltdeutende Kraft einer Gestalt des Romans von dem personalen Medium aus.4 "

Die Aufgabe der Vermittlungsinstanz ist die einer ordnenden, weltdeutenden Kraft. Die Erzähltypologie lässt keinen Zweifel daran, wie diese Ordnung auszusehen hat: Bereits die rudimentären Aufbauelemente wie Anfang und Schlussbildung, Kapiteleinteilung, Auswahl des Dargestellten durch Sprung und Raffung, Standpunktwahl usw. zwingen der dargestellten Wirklichkeit ein Sinngefüge auf, das auf das Vorstellungsbild des Lesers deutend einwirkt.5 In Stanzels Erzähltypologie bildet im Wesentlichen die Erzählperspektive - Standpunktwahl - den eigentlichen kohärenzbildenden Faktor. In Wolfgang Kaysers erzähltheoretischem Modell ist es die Dominanz der Strukturelemente Figur, Geschehen oder Raum 6 die von Fall zu Fall in unterschiedlicher Massivität hervortreten. In der Erzähltheorie Rafael Koskomies' liefert die Vorstellung von der anthropologischen Ursituation des Erzählens ein wesentliches Argument für die These von der geschlossenen Form des Romans: das Erzählen von Geschichten gehöre zum Repertoire menschlichen Urverhaltens, und verständlich konnten Erzähler aller Zeiten nur sein, wenn ihre Episoden plausibel, d. h. kausal linear miteinander verknüpft waren. Ein weiteres Argument für die Linearität des Erzählten bezieht der Autor aus der Etymologie des Verbs 'erzählen'. Es entstamme derselben Wortfamilie wie zählen: die Linearität und das Nacheinander sowohl der gezählten als auch der erzählten Elemente sind die wesentlichsten Merkmale beider Sachverhalte.

Die Auffassung von der hierarchischen Anordnung der Episodenfolge und vom Systemcharakter der Erzählung, in der Episoden, Haupt- und Nebenhandlungen in den übergeordneten narrativen Zusammenhang integriert werden, ist ein Topos, der historisch in die frühesten Phasen romantheoretischer Überlegungen zurückreicht. Die Auffassung von einer hierarchischen Ordnung der Erzählung findet sich bereits in dem im 17. Jahrhundert entstandenen Traktat über den Roman von Pierre Daniel Huet, demzufolge die Romanhandlung durchleuchtig muß seyn, d. h., sie muss nach Raum, Zeit und Kausalität geordnet sein:

... so folgt daraus/dass die vornehmste That oder Handlung/welche gleichsam das Haupt des Romans ist/ einig/und in Vergleichung der andern/durchleuchtig muß seyn/und das die unterhoerige Thaten oder Handlungen/so gleichsam die Glieder sind/sich nach diesem Hauptrichten/demselben in Schönheit und Würdigkeit weichen/es zieren/sich ihme unterwerffen und mit aller Zubehör das- selbe vergesellschaften mussen/sonsten würde es ein Leichnam und von vielen Hauptern/ein Monstrum und garstig sein.7

Es ist gerade das Verdienst des Realismus und der naturalistischen Schreibweise des Romans, in der kausal linearen Struktur die adäquate epische Beschreibungsmöglichkeit des außerliterarisch Vorgegebenen zu sehen. Das Ziel, das Zola den Darstellungsmöglichkeiten des naturalistischen Romans gesetzt habe, sei in erster Linie auf dessen Fähigkeit zur Erfassung konkret historischer Situationen gerichtet. Der epischen Gattung sei ein objektiver Wert als Geschichtsquelle zuzumessen.8 Schon vor der Jahrhundertwende stießen die Thesen von Zolas Roman expérimental, die dem Romanschriftsteller die Pflicht auferlegten, zur Objektivierung seines Erzählgegenstands nach den Methoden der exakten Wissenschaften zu verfahren, auf Widerstand.9 Trotz der Kritik waren jedoch die realistische und die naturalistische Schreibweise und die damit zusammenhängenden romantheoretischen Reflexionen überzeugend genug, später als die Paradigmen des traditionellen im Gegensatz zum modernen Roman zu gelten.

Mit Begriffen wie realistischer und naturalistischer oder traditioneller Roman assoziieren theoretische Schriften zum modernen Gattungstyp des 20. Jahrhunderts: Mimesis, Abbildbarkeit des objektiv Vorgegebenen durch die epische Form, kausal motivierte Antriebe der Heldenpsychologie, Anfang, Mitte und Ende des linear Strukturierten narrativen Zusammenhangs, zielgerichtet sein der Handlungs- und Episodenfolge, konstante Erzählperspektive u. ä. Mit dem Misstrauen in die Abbildbarkeit der empirischen Wirklichkeit durch den traditionellen Formkanon des Romans schwindet unter den modernen Romanautoren auch die Zuversicht in die darstellungstechnischen Möglichkeiten der von Realismus und Naturalismus geprägten objektivierenden Erzählformen. Richteten die Realisten und Naturalisten ihr Interesse auf die empirische Wirklichkeit, scheinen die Modernen das Interesse an der Alltagswelt beinahe vollkommen verloren zu haben. Die empirische Wirklichkeit erscheint dem modernen Roman, er reicht in unserem Fall von Manns Zauberberg, über Joyces Oxen of the Sun zu Julio Cortázars Rayuela, als das Banale, das Triviale, das Oberflächliche, hinter dem sich der Beziehungsreichtum der eigentlichen Wirklichkeit verbirgt.

Mit dieser Verschiebung der Perspektive wuchs auch das Misstrauen in die objektivierenden Erzählformen. Raum, Zeit, Kausalität und die konsequent durchgehaltene Erzählperspektive empfindet der moderne Autor als Einschränkung seiner darstellungstechnischen Möglichkeiten, er hält die geschlossene Form des Romans für historisch unangemessen. Historische, gesellschaftliche, ideologische und kulturelle Veränderungen, auf die wir später noch zu sprechen kommen, tragen zu einer Art weltanschaulichen Verunsicherung bei, die tradierte Wertvorstellungen fundamental in Frage stellen.

Sie evozieren nach Lukács das Bild einer Welt, die aus den Fugen geraten 10 ist. Vor allem die historische Erfahrung des ersten Weltkrieges schlägt sich in einer Art pessimistischen Grundstimmung nieder, die sich bei Thomas Mann hemmend auf die Produktion des Zauberbergs auswirkt, dessen Entstehen er schließlich während der Kriegsjahre unterbrechen muss. In zahlreichen begleitenden Schriften, besonders in den Betrachtungen eines Unpolitischen, formuliert Mann diese pessimistisch-nihilistische Stimmung als eine Art Leiden an der Welt, das unmittelbar auf die Entstehung und den Produktionsprozess des Zauberbergs einwirkt. Der Riesenessay ist ein Dokument der weltanschaulichen Konsolidierung, in dessen Zentrum sich immer stärker drei Namen herauskristallisieren: Schopenhauer, Wagner und Nietzsche. Die Aufgabe der Betrachtungen sei das Suchen, Ringen und Tasten nach dem Wesen, den Ursachen einer Pein, dieses dialektische Fechten in den Nebel hinein gegen solche Ursachen.11 Wie stark dieses Spannungsfeld zwischen Individuum und sinnleerer Welt vom Autor empfunden wurde, zeigt sich im Zauberberg - Kapitel Bei Tienappels - und von Hans Castorps sittlichem Befinden. Auch der Romanheld stellt sich, wenn auch unbewusst, die Frage nach den Möglichkeiten einer sinnhaften Existenz:

Dem einzelnen Menschen mögen mancherlei persönliche Ziele, Zwecke, Hoffnungen, Aussichten vor Augen schweben, aus denen er die Impulse hoher Anstrengung und Tätigkeit schöpft; wenn das Unpersönliche um ihn her, die Zeit selbst der Hoffnung und Aussichten bei aller äußeren Regsamkeit im Grunde entbehrt, wenn sie sich ihm als hoffnungslos, aussichtslos und ratlos heimlich zu erkennen gibt und der bewusst oder unbewusst gestellten ... Frage nach dem letzten mehr als persönlichen, unbedingten Sinn aller Anstrengungen und Tätigkeiten ein hohles Schweigen entgegensetzt.12

Das Missverhältnis zwischen seiner inneren, fragenden Disposition und den äußeren Bedingungen - dem hohlen Schweigen - prägt das generelle Lebensgefühl Castorps. In diesem Missverhältnis liegt der wesentliche, noch unbewusste Impuls für seine Abreise, die Flucht in die eisige Öde des Davoser Gebirges. In dem historischen Moment der Vorkriegszeit entsteht für das Gattungsverständnis eine Wirklichkeitsproblematik, die dem realistischen Roman nahezu unbekannt ist. Das objektiv Vorgegebene ist für den traditionellen Roman eine kaum hinterfragenswerte Größe, die mit den geeigneten erkenntnistheoretischen Methoden auch für die epische Darstellung erschlossen werden kann. Die Irritationen, die von dem historisch-gesellschaftlichen Kontext vor und während der ersten Kriegsjahre ausgingen, brachten letztlich den Produktionsprozess des Zauberbergs zum Stehen:

Denn in Wahrheit hätte ein Fortarbeiten an jenen Dingen sich als ganz unmöglich erwiesen und erwies sich, bei wiederholten Versuchen, als gänzlich unmöglich: dank nämlich den geistigen Zeitumständen, der Bewegtheit alles Ruhenden, der Erschütterung aller kulturellen Grundlagen, kraft eines künstlerisch heillosen Gedankentumultes, der nackten Unmöglichkeit, auf Grund eines Seins etwas zu machen, der Auflösung und Problematisierung dieses Seins selbst durch die Zeit und ihre Krisis, der Notwendigkeit, dies in Frage gestellte, in Not gebrachte und nicht mehr als Kulturgrund fest, selbstverständlich und unbewusst ruhende Sein zu begreifen, klarzustellen und zu verteidigen ; der Unabweisbarkeit also einer Revision aller Grundlagen dieses Künstlertums selbst, seiner Selbsterforschung und Selbstbehauptung, ohne welche seine Betätigung, Auswirkung und heitere Erfüllung, jedes Tun und Machen fortan als ein Ding der Unmöglichkeit erschien". 13

Der historisch-gesellschaftliche Kontext während der Entstehungszeit des Romans - die Zeit und ihre Krisis - wertet Mann in künstlerischer Hinsicht als Erschütterung aller kulturellen Grundlagen, die alles Tun und Machen, d. h. die Vollendung des Zauberbergs als ein Ding der Unmöglichkeit erscheinen lassen. Der beschwörende, fast larmoyante Ton dieser Ausführungen verdeckt dabei eher die direkten, widrigen Auswirkungen des historischen Moments auf die künstlerische Produktivkraft des Romanautors. Parallel zu den Betrachtungen entsteht Lukacs' Theorie des Romans, die das problematische Verhältnis zwischen dem geschichtsphilosophischen Moment der Moderne und den Möglichkeiten des Romans abstrakter und nüchterner betrachtet. Wenn Lukács auch die romanästhetischen Konsequenzen, die er aus seiner geschichtsphilosophischen Analyse zieht, im Vorwort zur Neuauflage seiner Theorie (1964) selbst kritisiert, ist doch die eigentliche Einschätzung des historischen Moments der Moderne als negative Plattform und ungünstiges Milieu für Kunst bis heute von unbestrittener Gültigkeit: Die Problematik der Romanform, schreibt Lukács, ist hier das Spiegelbild einer Welt, die aus den Fugen geraten ist ... Darum ist die künstlerische Abrechnung mit den geschlossen totalen Formen ..., mit jeder in sich immanent vollendeten Formwelt, das Zentralproblem der Romanform.14 Die Theorie grenzt den Roman vom antiken Epos einerseits und vom Drama und Lyrik andererseits ab. Das Epos Homers ist das Paradigma einer Epoche - des mythischen Zeitalters -, das den ihr vorgegebenen totalen und selbstevident - sinnhaften Wirklichkeitszusammenhang lediglich abbilden musste. Die Antike ist das Zeitalter, in der die Gegenwart des Sinnes noch greifbar ist. Der Kreis, das gültige Symbol der antiken Weltbeschreibung, versinnbildlicht die Geschlossenheit der transzendenten Wesensart des Lebens: im Epos gilt die Totalität als formendes Prius - ihr liegt die Auffassung zugrunde, etwas könne geschlossen, vollende" und sinnvoll sein. Im Gegensatz dazu sei der Roman die geschichtsphilosophisch adäquate Form der Moderne, für die eben die Totalität der Welt problematisch geworden ist: Epopöe und Roman, die beiden Objektivationen der großen Epik, trennen sich nicht nach der gestaltenden Gesinnung, sondern nach den geschichtsphilosophischen Gegebenheiten, die sie zur Gestaltung vorfinden. Der Roman ist die Epopöe eines Zeitalters, für das die extensive Totalität des Lebens nicht mehr sinnfällig gegeben ist, und das dennoch die Gesinnung zur Totalität hat.15 Konnte das Epos eine vorgegebene Wirklichkeitstotalität übernehmen, d. h. nachahmen, ist der Roman aufgrund seiner mimetischen Funktion auf die Darstellung einer Wirklichkeitstotalität fixiert, die in geschichtsphilosophischer Hinsicht nicht mehr vorgegeben ist. Den Verlust der ganzheitlichen Wirklichkeitsauffassung begründet Lukács mit der Entfaltung und der Entwicklung des Subjekts in der nachmythischen Ära, einer Emanzipation also, die nur um den Preis seiner metaphysischen Geborgenheit eingelöst werden konnte: zwischen Ich und Welt, Individuum und Gesellschaft klafft ein Abgrund, innere und äußere Wirklichkeit treten auseinander. Die Spaltung lässt die Substanzialität jenseits des Abgrundes in Reflexivität zerflattern.

Die Konsequenzen, die Lukács aus diesen geschichtsphilosophischen Analysen für die Poetik des Romans zieht, führen nicht aus dem traditionellen Formkanon heraus, sondern nur noch tiefer in ihn hinein. Lukács' Kanonisierung der biographischen Form als Gattungstyp, der diesem geschichtsphilosophischen Kontext der Moderne angemessen ist; die starke Pointierung des Zeitfaktors als Ereignis- und Handlung strukturierendes Element, die handlungsethische Verpflichtung des Romanhelden zur Tat als eine den Abgrund zwischen kontemplativer Innerlichkeit und sinnleerer Außenwelt überbrückende Größe und die normative Geltung der romantischen Ironie als objektivitäts- und totalitätsstiftendes künstlerisches Verfahren sind Anzeichen dafür, dass Lukács den modernen Roman gegen die Gegebenheiten des geschichtsphilosophischen Moments als Instrument der Sinnsuche umdeutet. Die utopische Hoffnung, die die Theorie mit dem modernen Roman verknüpft, nämlich zur Selbst-Korrektur der Brüchigkeit der Welt beizutragen, sie zu antizipieren, führt notwendigerweise dazu, die geschlossene Form des linearen Erzählens erneut gegen die eigentlich bis heute gültige geschichtsphilosophische Analyse des Wirklichkeitskontextes des modernen Erzählens durchzusetzen. Das vom Autor in der Vorrede zur Neuauflage der Theorie formulierte Zentralproblem der Romanform - die Abrechnung mit geschlossen - totalen Formen - markiert dabei im Rahmen der späten Selbstkritik eine Art Selbstkorrektur der Thesen von 1915.

Das geschichtsphilosophische Theorem, wonach es keine spontane Seinstotalität mehr gibt, hätte die Chance geboten, statt der normativen Setzung der geschlossenen Form, die erzähltheoretische Perspektive in Richtung auf offene, alineare Erzählschemata zu öffnen.16 So blieb nicht nur die Kategorie des Lesers, die die modernen Romanpoetiken in wachsendem Maß integrieren, außerhalb des Blickfeldes der Theorie. Durch ihren notorischen Klassizismus17 theoretisierte sie auch zudem an der modernen Romantradition vorbei. Der Pessimismus18, aus dem heraus der Impuls zur Theorie und zur These von der utopischen Verpflichtung des modernen Romans kommt, ist in jenen Jahren ein offenbar zeittypisches Phänomen. Robert Musil spricht nicht vom Verlust der spontanen Seinstotalität, sondern von der historisch sich vollziehenden Mobilisierung, die Welt und Denken so zerreißt, daß sie bis heute nicht geflickt werden konnte, sie beendete auch den Roman 19. Und Hermann Broch mit Blick auf Joyces Ulysses spricht von der Epoche des Wertzerfalls oder von der Epoche, die sich im Zustand der organischen Unbekanntheit befinde.20 Thomas Mann konnte sich mit dem geschichtsphilosophischen Anteil21 der Theorie sicher identifizieren. Auch die Betrachtungen eines Unpolitischen entstanden als eine Art weltanschaulicher Konsolidierungsversuch22, der sich auf die Suche nach Orientierungshilfen macht. Seine aus heutiger Sicht kaum zu vertretenden Attacken gegen das international Zivilisation propagierende Lumpenpack23 bekämpfen Utopien: er favorisiert das 19. gegenüber dem 18. Jahrhundert, letzteres glaubt - oder es lehrt doch, man müsse glauben. Es sucht zu vergessen, 'was man von der Natur des 24 Menschen weiß', um ihn an seine Utopien anzupassen.24 Die Betrachtungen formulieren Manns Hinwendung zur Willensphilosophie Schopenhauers (der niemals geneigt war zu vergessen, was man von der Natur des Menschen weiß), (sie) war ohne jeden Willen im Dienste der Wünschbarkeit, durchaus ohne jedes soziale und politische Interessement. Sein Mitleid war Erlösungsmitleid, nicht Besserungsmitleid in irgendeinem der Wirklichkeit opponierenden, geistespolitischen Sinn.25

Was Mann mit Lukacs verbindet, ist die zeittypische pessimistische Grundhaltung und die Auffassung vom Verlust der spontanen Seinstotalität, die sich naturgemäß auch auf das gattungspoetologische Selbstverständnis des Romanautors auswirkte. Meinungsverschiedenheiten gab es vorwiegend in Bezug auf die Anwendung der geschichtsphilosophischen Analyseergebnisse auf die Gattung. Ist die Seinstotalität spontan nicht mehr gegeben, dann muss das nachmythische, moderne Zeitalter sie suchen.26 Der Roman ist nicht die ästhetische Form einer utopischen Hoffnung. Durch die Erweiterung seiner darstellungsästhetischen Mittel soll er in die Lage versetzt werden, die in der Sphäre der empirischen Wirklichkeit verlorene Seinstotalität im Metaphysischen wiederzufinden. Die Referenzpunkte, die zur darstellungstechnischen Annäherung der Gattung an diese metaphysische Totalitätsvorstellung ermutigen, sind in den Betrachtungen und anderen Schriften Manns vorwiegend Schopenhauer, Wagner und Nietzsche.27 Schopenhauer stellt das Weltbild, Wagner öffnet Perspektiven auf die mögliche künstlerische Umsetzung, und Nietzsches Décadence - Kritik an der Musik Wagners erläutert die kunsttheoretischen Details dieser Umgestaltung. Nietzsche vermittelt. Um die traditionelle Romanform auf die Darstellung dieser metaphysischen Seinstotalität hin zu öffnen, wehrt Mann zunächst die These Lukacs' ab, wonach die Moderne im Zustand einer negativen Mystik der gottlosen Zeit: einer docta ignorantia dem Sinn 28 gegenüber verharre. Erkenntniskritische Einwände des Romantheoretikers - über der Moderne wölbe sich der Sternenhimmel Kants, der die Wirklichkeit unüberbrückbar in eine phänomenale und eine unzugängliche noumenale Sphäre teile - lässt er nicht gelten. Solche Einwände gegen ein totales Wirklichkeitsverstehen schreibt er in dem Essay Schopenhauer dem cholerisch-polemischen Temperament der erkenntniskritischen Schule 29 zu. Im Gegensatz dazu empfindet der Schopenhauer-Leser Mann ästhetisches Vergnügen an Schopenhauers metaphysischem System, einer geistigen Organisation der Welt in einem logisch geschlossenen, harmonisch in sich ruhenden Gedankenbau.30 Manns Schopenhauer - Essay gibt Auskunft über die Entgrenzung und Erweiterung seines Wirklichkeitsverständnisses über die empirische Realität hinaus in den Bereich des Metaphysischen. Der Essayist grenzt dabei deutlich die erkenntniskritische Schule Kants von der Schopenhauerschen Möglichkeit des metaphysischen Erkennens ab. Das Schopenhauer- Philosophem von der Erschaubarkeit des An-sich-Seins der Welt formuliert und paraphrasiert der Essayist Mann folgendermaßen:

Was er (Schopenhauer) nahm, waren die 'Ideen' und das 'Ding an Sich'. Mit dem letzteren aber stellte er etwas sehr Kühnes, fast Unerlaubtes, wenn auch tief und bis zur zwingenden Überzeugungsgewalt Empfundenes an: Er definierte es, er nannte es beim Namen, er behauptete - obgleich man doch nach Kant gar nichts davon wissen konnte - zu wissen, was es sei. Es war der Wille.31

Schopenhauers Willensphilosophie erlaubt es Mann, Lukács' These vom chaogenen Weltzustand durch die metaphysisch begründete Vorstellung von dem übergeordneten wahren Zusammenhang der Welt zu widerlegen und abzulösen. Die Bedeutung weltanschaulicher Bezugsrahmen, d. h., den c haogenen Weltzustand innerhalb eines hier metaphysischen Denksystems transparent zu machen, liegt für den Romanautor Mann nur zum Teil darin, nach der Krisen-Stimmung nun der großen epischen Form wieder ihren Totalitäts - und Objektivitätsanspruch zurückgeben zu können. Mann hatte auch außerliterarische, d. h. individualpsychologisch motivierte Gründe, die ihn zu Schopenhauer führten. Und - er ging frei um mit dieser Metaphysik, d. h., er auferlegte sich nicht den Zwang zur Exaktheit. Seine Rezeption war eklektisch, selektiv und inkonsequent.

Betrachtet man die Forschungssituation zur Frage der Modalitäten der Schopenhauer-Aneignung Manns, dann zeigt sich ein ganz uneinheitliches Bild. Einige Autoren gehen, schon aufgrund der häufigen Anspielungen auf den Philosophen in Manns Tagebüchern, Briefen und Essays, davon aus, dass er Schopenhauer gekannt hat, ohne daß es aber zu einer nennenswerten Wirkung auf das literarische Werk gekommen wäre. Andere gehen davon aus, dass beispielsweise der Zauberberg nur im Horizont der Schopenhauerschen Metaphysik die vom Autor intendierte Botschaft sichtbar mache. Zwischen beiden Positionen scheint es keinen vermittelnden Standpunkt zu geben. Eberhard Hilscher spricht mit Blick auf die Bewertung des Verhältnisses Mann-Schopenhauer von Laxheit 32 und Unbekümmertheit, mit der der Künstler Überliefertes übernahm. Von einer produktiven, im Werk nachweisbaren Rezeption ist nicht die Rede.

Die neuere Forschung schwankt mit Blick auf den Zauberberg beinahe unversöhnlich zwischen Schopenhauer-Kritik und Schopenhauer-Affirmation.33 Kristiansen vertritt die Auffassung, dass im Zauberberg Schopenhauers Willens-Bereich als die objektive Wahrheit bejaht werde. Zeichen dafür seien Castorps Sympathie mit dem Tode, seine latente Bereitschaft zur Entindividuation und seine unbewusste Neigung zur Negation und Verneinung des Lebens. Koopmann hält dagegen, dass im Zusammenhang von Castorps Initiation der Tod nicht das Ziel seiner unbewusst-metaphysischen Neigungen, sondern der Initiator eines Umorientierungsprozesses bilde, der den Bildungsreisenden von seiner Todessympathie befreie und läutere: die Todeserfahrung als Weg zum Leben.34 Diese Formel markiert nach Koopmann die positive, d. h. Schopenhauer-kritische Entwicklungsrichtung dieses Bildungserlebnisses.

Diese starren Positionen berücksichtigen kaum, dass das Verhältnis zwischen Mann und Schopenhauer eine komplexere Beziehung darstellt, die unter sich ständig wandelnden Vorzeichen und unter permanenten Veränderungen in Bewegung gerät. Im Zentrum der Annäherung an Schopenhauer steht mal der Künstler, dann der Romanautor, das Individuum in einem besonderen historisch-gesellschaftlichen Kontext oder der Verfasser einer Streitschrift, gemeint sind die Betrachtungen, deren Funktion er in der Einführung in den Zauberberg als geistigen Dienst mit der Waffe35 näher bestimmt. Mal legimitiert Schopenhauer in der Perspektive Manns die kulturgeschichtliche Überlegenheit Deutschlands36 gegenüber Europa, dann dient dieses Denkmodell als Instrument der Sinnsuche in einer historischen Epoche der Wertzersplitterung, ihm kann aber auch ausschließlich ästhetische Bedeutung zukommen, insofern es die strukturelle Beschaffenheit des Erzählwerks mitbestimmt. Das metaphysische Denksystem ist dabei immer dasselbe, das Interesse wechselt, es konzentriert sich auf unterschiedliche Aspekte.

So, beschreibt Mann die Art der Aneignung weltanschaulicher Denkmodelle, gehen Künstler mit der Philosophie um, - sie 'verstehen' sie auf ihre Art, eine emotionale Art: denn nur zu emotionellen, zu Leidenschafts-Ereignissen 37 braucht die Kunst zu kommen.37

Es können hier nicht alle Impulse aufgezeigt werden, die zur Aneignung der Schopenhauersehen Philosophie führten. Beschränken möchte ich mich auf die, die vom historischen Moment ausgingen und die die Poetik des Romans direkt berühren. An dieser Stelle ist es notwendig, erneut auf den oben hergestellten Zusammenhang zwischen dem nihilistischen Wirklichkeitsverständnis und der Notwendigkeit zur Selbsterforschung und Selbstbehauptung des Künstlers, der sich über die Bedingungen der Möglichkeiten der Gattung zunächst Rechenschaft ablegen will, zurückzukommen.

Betrachtet man den Rezeptionsmodus, über den Mann im Aufsatz Lebensabriß berichtet, dann kann man zu der Auffassung gelangen, dass die Wirkung dieses Denkmodels deshalb so intensiv war, weil der Künstler Mann die vom historischen Moment ausgelöste nihilistische Grundstimmung, diese psychische Disposition, als wesentliches Moment der pessimistischen Philosophie Schopenhauers vorformuliert findet. Er erkannte nur das, was er bisher unbewusst empfand. Inneres und äußeres Bild verschmelzen im Moment der Lektüre - im metaphysischen Rausch - zu einer erotisch-einheitsmystischen Vorstellung. Die Empfänglichkeit für die Philosophie Schopenhauers beschreibt er als seelisches Erlebnis ersten Ranges und unvergesslicher Art:

Es ging mir mit diesen Büchern ein wenig so, wie ich es meinem Thomas Buddenbrook dann mit dem Bande Schopenhauer ergehen ließ ... Aber die Stunde kam, die mich lesen hieß, und so las ich denn. Tage und Nächte lange, wie man wohl nur einmal liest. An meiner Erfülltheit, meiner Hingerissenheit hatte die Genugtuung über die machtvolle sitt1ich-geistige Verneinung und Verurteilung der Welt und des Lebens in einem Gedankensystem, dessen symphonische Musikalität mich im tiefsten ansprach, einen bezeichnenden Anteil ...: was es mir antat auf eine sinnlich - übersinnliche Weise, war das erotisch - einheitsmystische Elemente dieser Philosophie.38

Auf die Dispositionsabhängigkeit der Schopenhauer-Aneignung geht Mann auch in den Betrachtungen ein. Er spricht von der ethischen Luft, dem moralischen Pessimismus ... den ich von Schopenhauer und Wagner empfangen zu haben angab, er war es vielmehr, was ich bei diesen europäischen Deutschen als mein 39 Selbst und Eigen vorfand, was mich zu ihnen zog und führte.39 In den kunst- und romantheoretischen Äußerungen im Schopenhauer-Essay und beispielsweise in dem Aufsatz die Kunst des Romans werden zentrale Philosopheme der Metaphysik Schopenhauers implizit immer mitgedacht.Mann reiht sich durch diesen Vorstoß in die Mystik in die Reihe derjenigen Romanautoren des ersten Drittels dieses Jahrhunderts ein - wie Hermann Broch, Robert Musil u. a. -, die in der mystischen Erfahrung die Möglichkeit eines Erkenntnisvorstoßes 40 erproben zu können glauben. Mann erschließt dem Roman durch diesen Mut zur Mystik die in ihrer Ganzheit verloren gegangene

Wirklichkeit wieder als objektive, distanziert zu betrachtende Totalität: phänomenale und noumenale Sphäre, Erscheinungen und Ideen, die Vielheit der Erscheinungen in der Vorstellungwelt und die Einheit des Willens-Bereiches sind nach der "erkenntniskritischen Schule" unüberbrückbar voneinander getrennt, durch die metaphysische Rolle von Kunst und Künstler sind die gegensätzlichen Sphären aufeinander beziehbar geworden. In dem Aufsatz Die Kunst des Romans geht Mann am Beispiel des Gegensatzes von Roman und Epos auf die Notwendigkeit metaphysischer, philosophischer u. a. weltanschaulicher Bezugsrahmen ein: "Der Roman repräsentiert als modernes Kunstwerk die Stufe der 'Kritik' nach derjenigen der Poesie. Sein Verhältnis zum Epos ist das Verhältnis des 'schöpferischen Bewusstseins' zum 'unbewussten Schaffen'.41

Wie Lukacs stellt sich auch Mann auf den gattungsgeschichtlich begründeten Standpunkt, wonach das antike Epos einen vorgegebenen Sinn lediglich abzubilden, nachzuahmen brauchte, während im nachmythischen Zeitalter die Konstruktion des Wirklichkeitszusammenhanges der fiktiven Welt dem schöpferischen Bewußtsein des Autors überlassen bleibt. Das erotisch-einheitsmythische Element der Schopenhauerschen Philosophie ist in einer ganzen Reihe von kunst- und romantheoretischen Begriffen und Vorstellungen des Romantheoretikers Mann dauernd präsent: Kunst und Künstler, Ironie, Objektivität, Totalität, epischer Kunstgeist, Geist der Erzählung oder Genius der Epik. Nach der Schopenhauerschen Metaphysik steht der Künstler im Range eines Philosophen. Gerade dieses anteilsmäßige Übergewicht der Ästhetik im Denksystem dieser Philosophie begründete auch ihre hohe Anziehungskraft und Wirkung auf den Künstler Mann. Er lobte sie als Künstlerphilosophie par excellence und als k ü n s t 1 e r i s c h e Weitkonzeption.42 Der Darstellungsgegenstand von Kunst sind die ewigen metaphysischen Wahrheiten, die der Künstler auf dem Weg der intuitiven Anschauung erfasst:

[...]


1 Zu nennen sind in diesem Zusammenhang Wolfgang Kaysers Aufbauformen der Epik, Das sprachliche Kunstwerk, 201-214, der bekannte Aufsatz des Autors zur Entstehung und Krise des modernen Roman, Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 8 (1964), 417-474, Stanzels erzähltypoIogische Untersuchungen in Die typischen Erzählsituationen im Roman. Wien 1963 und die älteren Arbeiten von Forster, Ansichten des Romans, übers. Walter Schürenberg. Frankfurt 1949 ( 1927 ), Koskimies' Theorie des Romans. Darmstadt 1966 (1936), und Muir, The Structure of the Novel. London 1949 ( 1927).

2 Vgl. Meindl, Zur Problematik des Erzählerbegriffs. Dargestellt anhand einiger neuerer deutscher Erzähltheorien, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 8 (1978), 206-230.

3 Stanzel, Typische Formen des Romans, 39.

4 Stanzel, Die typischen Erzählsituationen im Roman, 8.

5 Die erzähltheoretischen Modelle dieser Autoren ziehen in struktureller Hinsicht Parallelen zwischen dem alltäglichen, nicht 1iterarisehen Geschichtenerzählen und dem literarischen Erzählen. Vgl. hierzu: Koskimies, Theorie des Romans, 83. Diese Auffassung findet sich in anekdotischer form schon in der frühen Erzähltheorie von Forster: "Schon die Neandertaler hatten, aus der Form ihres Schädels zu schließen, Sinn für Geschichten. Das primitivste Auditorium war eine Schar von Strubbelköpfen, müde vom Kampf gegen das Mammut oder das wollhaarige Rhinozeros ums Lagerfeuer lungernd und nur durch die Ungewissheit wach gehalten: was würde nun kommen?" Vgl. Ansichten des Romans, 35.

6 Kayser , Das sprachliche Kunstwerk, 201-214.

7 Pierre-Daniel Huet, Traité de l'origine des romans (1670), übers. Eberhard Werner Happel (16Ö Z ) . Stuttgart 1966, 127.

8 Vgl. hierzu den Abschnitt Zola als Befreier, als Weiterer des Romans, bearb. Hartmann Eggert, Romantheorie, hg. Eberhard Lämmert. Königstein 1984, 31-33.

9 Schon der naturwisenschaftlich versierte Wilhelm Bölsche gab in der zeitgenössischen erzähltheoretischen Diskussion der künstlerischen gegenüber einer naturwissenschaftlichen oder historisch ermittelten 'Wahrheit' im Werk Zolas den Vorzug. Vgl . Zur Naturgeschichte des modernen Romans (1896), Romantheorie, 41.

10 Lukács, Theorie des Romans, 12.

11 Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, Gesammelte Werke in 13 Bänden. Frankfurt, 974, XII, 12, Im Folgenden nennt die römische Ziffer den Band und die arabische die Seitenzahl dieser Ausgabe.

12 Mann, Zauberberg, III, 50.

13 Mann, Betrachtungen, XII, 12.

14 Lukács, Theorie, 12.

15 Ebd., 47.

16 Vergl. hierzu auch Demetz, Marx, Engels und die Dichter, 263.

17 Janz , Zur Historizität und Aktualität der 'Theorie von Georg Lukács, Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, 22 (1978), 684:

18 Nach Lukács entstand die Theorie in einer Stimmung der permanenten Verzweiflung über den Weltzustand. Vgl. dazu das Vorwort zur Theorie, 6.

19 Musil, Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden, 755.

20 Vgl. hierzu Brochs Rede zu Joyces 50. Geburtstag, die 1936 als Essay erschien: James Joyce und die Gegenwart, 14.

21 Zu dem problematischen Verhältnis Mann - Lukács, vgl. Judith Marcus-Tar , Thomas Mann und Georg Lukács. 1982.

22 Ein Satz aus Thomas Carlyles Französische Revolution beschreibt das Motto der Betrachtungen: Wisse, daß das Universum das ist, was es zu sein v o r g i b t: ein Unendliches. Versuche nie im Vertrauen auf deine logische Verdauungskraft, es zu verschlingen; sei vielmehr dankbar, wenn du durch geschicktes Einrammen dieses oder jenes Pfeilers in das Chaos verhinderst, daß es dich verschlinge. Mann, Betrachtungen, XII, 14.

23 Gemeint sind Politik, Demokratie, die Zivilisationsliteraten, sozial und technologisch ermutigter Fortschrittsglaube u. ä. Vgl. Mann, Betrachtungen, XII, 59. Im Gegensatz zu Lukacs, der die Utopie einer zukünftigen sinnhaften Welt in den Romanen Dostojewskis schon vorweggenommen sah, bekämpfte der konservative Romanautor alle Formen utopischer Hoffnungen

24 Mann, Betrachtungen, XII, 24.

25 Ebd, 23.

26 Wenn sich Mann auch der zeittypischen These von der Krise des Romans anschließt, dann ist mit dieser Wertung gleichzeitig die Hoffnung verbunden, dass der moderne Gattungstyp als etwas Neues, Unbekanntes und Geistiges aus dieser Krise hervorgehen wird. Vgl. Mann, Rede zu Ehren Ricarda Huchs, X, 433.

27 Mann, Betrachtungen, XII, 319.

28 Lukacs, Theorie, 79.

29 Mann , Schopenhauer, IX 528.

30 Ebd., 535.

31 Ebd.

32 Vgl. Hilscher, Thomas Manns Beziehungen zur Philosophie und Naturwissenschaft, Neue Deutsche Hefte, 23 197), 41. Von Laxheit im Umgang mit den Quellen spricht auch Berger. Der Autor des Schopenhauer-Essays habe den ganzen über Platon handelnden Passus ... größtenteils aus der Welt als Wille und Vorstellung abgeschrieben. Manns Umgang mit den Quellen billigt Berger allerdings schöpferischen Dilettantismus und artistische Virtuosität zu. Vgl. Berger, Thomas Mann und die antike Literatur, Thomas Mann und die Tradition, 98. In diesem Band geht Helmut Koopmann auf das Verhältnis zwischen Romanautor und Philosoph ein. Der Autor sieht im Werk Manns keine Zeichen, die eine außergewöhnliche Intensität der Begegnung mit Schopenhauer bezeugen könnten. Vgl. Thomas Mann und Schopenhauer, Thomas Mann und die Tradition, 180.

33 Vgl. hierzu die Kontroverse zwischen Kristiansen und Koopmann. Während Kristiansen von der Bedeutsamkeit der Schopenhauer- Rezeption für die strukturelle Beschaffenheit des Zauberbergs ausgeht, deutet Koopmann den Roman mehr unter inhaltlichen Gesichtspunkten als Stellungnahme gegen die pessimistische Philosophie Schopenhauers. Vgl. hierzu Kristiansens Nachschrift Der Zauberberg': Schopenhauer-Kritik oder Schopenhauer-Affirmation? zu seiner großen Monographie Kristiansen Thomas Manns Zauberberg und Schopenhauers Metaphysik. Bonn 1986, und Koopmann , Der klassisch-moderne Roman in Deutschland. Thomas Mann-DöbIin-Broch. Stuttgart 1983.

34 Koopmann, Der Klassisch-moderne Roman in Deutschland, 49.

35 Mann, Einführung in den Zauberberg, IX, 608.

36 In Deutschlands Seele werden die geistigen Gegensätze Europas ausgetragen, heißt es in den Betrachtungen, XII, 54.

37 Mann, Schopenhauer, XII, 513.

38 Mann, Lebensabriß, XI, 111.

39 Mann, Betrachtungen, XII, 106.

40 Schramke, Zur Theorie des Romans, 48.

41 Mann, Die Kunst des Romans, X, 358.

42 Mann, S chopenhauer, IX, 529.

Ende der Leseprobe aus 72 Seiten

Details

Titel
Formen des Offenen. "Der Zauberberg" von Thomas Mann, die "Oxen of the Sun"-Episode im "Ulysses" von James Joyce und "Rayuela" von Julio Cortázar (Band 1)
Untertitel
Notwendigkeit weltanschaulicher Bezugsrahmen
Hochschule
Universität des Saarlandes  (Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft)
Note
magna cum laude
Autor
Jahr
1988
Seiten
72
Katalognummer
V537671
ISBN (eBook)
9783346129727
ISBN (Buch)
9783346129734
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Joyce, Cortázar, Thomas Mann
Arbeit zitieren
Dr. Paul Forssbohm (Autor:in), 1988, Formen des Offenen. "Der Zauberberg" von Thomas Mann, die "Oxen of the Sun"-Episode im "Ulysses" von James Joyce und "Rayuela" von Julio Cortázar (Band 1), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/537671

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