"De heresi catharorum" - Ursprung, verbreitung und Untergang des abendländischen Katharismus - Eine Analyse seiner Anziehungskraft


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

37 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einführung

2. Die Bogomilen – ein Exkurs
2.1. Ursprung und Verbreitung
2.2. „Das alles will ich dir geben, wenn du dich vor mir niederwirfst und mich anbetest“[1] – Glaube und sakramentale Weiheakte

3. Der abendländische Katharismus
3.1. Expansion und Untergang
3.2. Von gefallenen Engelsseelen bis Consolamentum – Glaube und Rituale
3.3. Eine elitäre Gemeinschaft

4. Fazit

5. Literatur- und Quellenverzeichnis

1. Einführung

Mitnichten war der religiöse Kosmos des Mittelalters so homogen, wie man rückblickend womöglich glauben mag. Seit den ersten Tagen ihrer Gründung kannte die Amtskirche Warnungen vor „falschen Propheten“[2], also u.a. ketzerischen Bewegungen. Dies galt insbesondere für die Katharer, welche wie andere Häresien auch sich formierten, ihren Platz als „wahre Christen“ beanspruchten und zur elementaren Bedrohung der Orthodoxie erwuchsen, ehe sie gleichsam das selbe Schicksal wie manch andere Vereinigung ereilte, vor allem von der Inquisition vernichtet wurden. Nicht zuletzt geschah dies aufgrund des immensen Einflusses, welcher sich explizit in ihren Zentren (Languedoc/Lombardei) verfestigte und bald schon neben der religiösen sogar die weltliche Ordnung gefährdete. Rom galt vielerorts nicht mehr als alleiniger Garant jenseitigen Heils, zumal der Katholizismus durch schwerwiegende Verfehlungen, wie etwa Simonie mehr und mehr an Zuspruch verlor.

Die vorliegende Hausarbeit thematisiert neben Genese des westlichen Katharismus, dessen Expansion sowie Vernichtung weiterhin die verschiedenen dualistischen Schulen (radikal respektive moderat), ehe eine Analyse der Sektenstruktur erfolgt. Im Fokus der Beobachtung steht letztlich eine Bewertung in puncto Anziehungskraft. Diesem gilt vorauszuschicken, dass kein Prototyp eines Katharers existierte, weswegen im Grunde genommen auch individuelle Untersuchungen hinsichtlich sowohl sozioökonomischer als auch intellektueller Voraussetzungen gewissermaßen unnötig ist, sofern diese darauf abzielen, „typisch katharische“ Schemata zu erstellen. Die Attraktivität variierte vielmehr von Land zu Land in ihrer Zusammensetzung, konnte aber ebenfalls auf ähnlich gearteten Rückhalt zurückgreifen.

2.1. referiert zunächst über das Bogomilentum, welches als Keimzelle des späteren Katharismus gilt. „Eine Häresie, die ihre Lehrmeinung vereinfachte und eine Antwort auf das immerwährende Problem der Existenz des Bösen in einer Welt, die ein guter Gott geschaffen hat, zu geben schien, behauptete ihren Platz in einem eben erst bekehrten Volk.“[3] Jene Verbindung sollte sich vielgestaltig ausprägen, wie beispielsweise im Glauben, in Ritualen oder Organisationsstrukturen. Herkunft sowie spezielle Inhalte des Manichäismus, Paulikianismus und Messalianismus werden beleuchtet, werden sie angesprochene Häresie doch extrem beeinflussen, was um 1150 zu deren Schisma führte. Allerdings hatte sie schon ungefähr zu Zeiten des Ersten Kreuzzuges von Konstantinopel nach dem Okzident ausgegriffen, nachdem sie im Klima eines politisch sowohl sozial als auch religiös äußerst instabilen Bulgariens viele Anhänger in erster Linie ob des gepredigten „sozialen Anarchismus“ gewinnen konnte.

„Das alles will ich Dir geben, wenn Du Dich vor mir niederwirfst und mich anbetest“[4] – Glaube und Rituale behandelt Grundkomponenten des gemäßigten bogomilischen/katharischen Dualismus. Darüber hinaus wird neben der administrativen Abfolge, jene hatte sich unter dem Eindruck fortschreitender Expansion zunehmend formalisiert, von Lokalkirchen auch über die Geisttaufe als wichtigste Zeremonie beider Ketzereien berichtet, bevor das Verhältnis östlicher Häretiker gegenüber der Amtskirche zur Sprache kommt.

Im Anschluss an das 2. Kapitel, welches über die orientalischen Wurzeln der Katharer berichtet, erfolgt in 3.1. ein Überblick über deren Wegbereiter – hochmittelalterliche häretische Armutsbewegungen, die gleichsam spätere Auffassungen dargestellter Dualisten (z.B. Selbsterlösungsprinzip) forcierten sowie die Forderung nach der Vita Apostolica radikalisierten. Von Interesse ist überdies die Frage nach der katharischen Mutterkirche Westeuropas, bevor Organisation und kirchliche Gegenmaßnahmen weiter ausgeführt werden. Abschließend soll das Katharerkonzil von 1167 behandelt werden, beförderte es doch weitreichende sektenimmanente Spannungen, von denen speziell lombardische Gemeinden betroffen waren. Weiterhin erfolgt eine Untersuchung des französischen bzw. italienischen Katharismus, um Differenzen bzgl. Anziehungskraft und etwaigen Sanktionen weltlicher/geistlicher Herren aufzuzeigen. Letzten Endes skizziert dieser Unterpunkt die Bedeutung von Frauen als Träger der Häresie, was im Fazit spezifiziert wird.

Hernach gilt besonderes Augenmerk in 3.2. Von gefallenen Engelsseelen bis Consolamentum – Glaube und Rituale neben dem radikalen Dualismus auch signifikanten Bräuchen, wobei eine Konzentration angesichts der Quellen auf Endura sowie Geisttaufe besteht. Hierbei erläutert der Abschnitt sowohl Rahmen als auch Ablauf letztgenannter, nicht ohne Besonderheiten im Umgang mit zumindest theoretisch gleichgestellten (designierten) Perfectae darzulegen. Überdies wird jeweils ein Basiswerk beider Schulen angesprochen, was Einblicke in die katharische Polemik bietet, bevor das religiöse Klima beleuchtet wird, dessen man sich bediente, um neue Anhänger zu gewinnen. Darüber hinaus informiert dieser Punkt sowohl über Verdammung des Klerus als auch Schriftkanon der Ketzer, wiewohl der Reinkarnationsgedanke sich konkretisiert.

Vor allem im Sektenaufbau verdeutlichte sich der Dualismus, wo eine von der bösen Materie sich losgelöste Oberschicht von immer noch sündhaften Nicht-Initiierten unterschied. 3.3. soll die Hierarchie der Gemeinden hervorheben, welche einerseits das Resultat metapsychischer Differenzen andererseits wahrgenommener Aufgaben war. Des weiteren betrachtet jene Passage das Alltagsleben von Vollkommenen, ihre Nahrungsaskese sowie elitäre Selbstreferenz, ehe die Eheproblematik näher erläutert wird.

Das Fazit stellt den Zusammenhang zwischen damaligem religiösem Klima und dem Leben der Bonshommes als Pauperes Christi dar. Im Anschluss werden Faktoren, welche maßgeblich die Faszination begründeten, separat behandelt.

Generell greift die Hausarbeit auf typische Bibelinhalte zurück, derer sowohl Bogomilen als auch Katharer sich gezielt bedienten, um ihre „Wahrheit“ zu belegen. Woher hatten aber die westlichen Sektierer ihren Namen? Hierüber herrscht in der Fachliteratur kein allgemeingültiges Urteil, doch Tatsache ist, dass es sich um individuelle Fremdbezeichnungen ob regionaler Zugehörigkeit (z.B. Albigenser) oder Berufstätigkeiten (le texerant) handelt. Die Vollkommenen als eigentliche katharische Kirche begriffen sich lediglich als „boni Homines“, „veri Christiani“, „Perfecti“ oder „Bonshommes“, weshalb beide letztgenannten Begriffe synonym mit „Parfait“ oder eben „Vollkommener“ verwendet werden. Sollte es nicht eigens betont werden, sind exemplarisch mit Perfecti alle – also weibliche und männliche Vollkommene – oder nur die männlichen gemeint. Dies ergibt sich jeweils aus dem Zusammenhang, wohingegen „Katharer“ alle häretischen Personenkreise (Vollkommene, Electi, Credentes und Defensores) meint.

Womöglich griff die Amtskirche auf die Selbstbezeichnung einer Ecclesia catharorum zurück, um die Dualisten zu bezeichnen. Hierfür verantwortlich könnte das Selbstverständnis jener „Kirche der Reinen“ (Novatianer) sein, welche um 250 aktiv war. Denkbar wäre außerdem eine Verbindung zu „Catus“ (Katze) oder „Catarsis“ (Reinigung). Allerdings ist unbestritten, dass „Ketzer“ sich von „Katharer“ ableitet, so „verstand man [im Mittelalter unter Ketzerei] den beharrlichen Widerstand gegen die Lehre der Kirche, wenn der Eigensinnige, nachdem seine Abweichung erwiesen war, sich weigerte, zu gehorchen und zu widerrufen“[5] , was die Katharer bis zum Schluss häufig taten darob getötet und berüchtigt wurden.

Im Allgemeinen bediente ich mich während meiner Recherchen hauptsächlich Monographien anerkannter Autoritäten, da Internetpublikationen oftmals falsch[6] oder je nach Orientierung der Verfasser jeweilige Akteure diffamieren. Diese Angebote wurden nach sorgfältiger Prüfung höchstens ergänzend verwendet.

Betrachtet man die Quellenlage, ist zu sagen, dass das katharische Schrifttum durch das inquisitorische Wüten äußerst fragmentarisch ist, aber dennoch eine Rekonstruktion von Glauben sowie Ritualen erlaubt. En gros besteht es aus kleinen Fibeln mit Argumentationstheorien und aussagekräftigen Bibelpassagen. Die Mehrheit zeitgenössischer Kritiker, wie etwa der ehemalige Katharer und spätere Inquisitor Rainieri Sacconi (ca. 1200-1262), prangern die Häresie des öfteren als praktizierten Teufelsglauben an, doch haben solche Werke, wie z.B. Sacconis Summa de Catharis et Pauperibus de Lugduno (um 1250)[7], selbstredend eine große Bedeutung „, weil sie sich um genaue Definitionen bemühen, um ihren Widerlegungen ein entsprechendes Gewicht zu verleihen.“[8] Als wichtigste seinerzeit angefertigte Darstellungen gelten primär sozioökonomische Rahmenbedingungen konkretisierende Inquisitionsprotokolle, wie beispielsweise die im Druck 1.300 Seiten starke Sammlung des Bischofs Jacques Fournier, welcher von 1318 bis 1325 entsprechende kirchliche Behörde in Pamiers (Département Ariège) leitete und heute noch über das Alltagsleben von Katharern in den Pyrenäen des frühen 14. Jahrhunderts [im Folgenden: Jhs./Jh.] zu berichten weiß. Bücher der Häretiker geben neben einem tieferen Einblick in ihre dualistische Weltsicht auch noch Informationen über dogmatische Differenzen, welche zu schwerwiegenden Problemen führten. Die Quellenkritik wird im Fazit noch etwas erweitert.

„Der Glaube der Katharer stieß [...] das gesamte Gefüge des sakramentalen Lebens um zugunsten eines einzigen Ritus von höchster Bedeutung, nämlich des »consolamentum« [Hervorhebung im Original, D.M.]; er setzte an die Stelle der christlichen Moral ein erzwungenes Asketentum, sittliches Fehlverhalten sah er eher in der Befleckung durch die Materie als im Akt des Willens verwurzelt; er lehnte die christliche Erlösung ab, da er sich weigerte, die rettende Macht der Kreuzigung Christi gelten zu lassen; und er verwarf schließlich die [...] Dreifaltigkeit zugunsten einer Unterordnung der zwei anderen trinitarischen Personen unter den Vater.“[9]

Wie die Geschichte zeigt, vermochten die Bonshommes nicht ihre Ziele zu erreichen, jedoch wirkten ihre Gedanken noch lange Zeit nach, was gewissermaßen auch einen Anteil an der Reformation hatte. Durch ihr Wirken war die Amtskirche genötigt, die eigene Doktrin genauer zu umreißen, zu publizieren, sich letztlich zu modernisieren.

2. Die Bogomilen – ein Exkurs

2.1. Ursprung und Verbreitung

Der Bogomilismus stellte die größte Sekte im mittelalterlichen Balkanraum dar und wurde zur Zeit des bulgarischen Zaren Peter (927-969)[10] vom (makedonischen?) Dorfpriester Bogomil (in etwa: „würdig des Mitleid Gottes“) begründet. Erst um 1100 sollte Konstantinopel die Häresie als große Bedrohung zur Kenntnis nehmen. „Ein Exkurs in die Geschichte dieser Ketzerei im Osten, die sich von Bulgarien aus auf das ganze Byzantinische Reich ausdehnte, wurde für nötig befunden, um die Ursprünge der westlichen Ketzerei des Katharertums, das direkt vom Bogomilismus abstammte, zu erklären.“[11] Es existierte ergo eine direkte Verbindung zwischen beiden Ketzereien, die „intensiv rezipiert, ja erlebt, und wie eine Wahrheit verinnerlicht [wurden]“[12] ; doch was war als Anfang zu benennen?

Im Rahmen byzantinischer Bevölkerungspolitik wurden die Paulikianer um 870 von Kleinasien ins Randgebiet des Reiches (Thrakien) umgesiedelt, da man versuchte, hierdurch den dortigen wachsenden Einfluss religiöser sowie politischer Oppositionsbewegungen zu beenden. Diese Sekte, welche sich im Zweistromland des 7. Jhs. gründete, sollte sich schließlich für die Annahme eines radikalen Dualismus im Bogomilentum verantwortlich zeichnen, doch wird hierauf explizit an anderer Stelle näher eingegangen. Basis jener im Vorderen Orient verbreiteten Spiritualität war der vom persischen Adligen Mani 276 gepredigte Manichäismus, dessen Inhalte zunächst überliefert, dann ergänzt und schließlich abgewandelt generell in mediävistischen Häresien auftauchten. Jene Lehre „verschmolz die großen Mysterieninhalte Griechenlands, Ägyptens, Babylons, Persiens und Indiens miteinander im Läuterungsfeuer der Christusgeheimnisses.“[13] Dieses Mysterium stand im Zentrum angesprochener Synthese.

Auf dem Hintergrund eines von zunächst russischen dann byzantinischen Militärschlägen beinahe komplett entvölkertem Bulgarien, etablierte sich im frühmittelalterlichen Makedonien ein Teilreich, wo die Keimzelle des Bogomilismus verortet werden kann. Im Klima fortdauernder politischer sowie sozialer als auch religiöser Instabilität, gelang es der Häresie, schnell Fuß zu fassen, zumal eine große Kluft zwischen Hochklerus, niederer Geistlichkeit und einfachem Volk bestand. Außerdem wurde das Christentum erst um 850 angenommen, hatte ergo keine lange Tradition, weswegen noch nicht ein konkretes Bild der Orthodoxie existierte. Besagte Eliten weigerten sich beispielsweise, Slawisch zu sprechen, um hierdurch die Dorfpriester weiter/besser auszubilden. Da die Bogomilen ihre Botschaft als „wandernde[...] Eremiten, Pilger[...], Kaufleute[...], Handwerker[...]“[14] verbreiteten, konnten sie nicht zuletzt durch ihr „wirkliches“ apostolisches, also auch asketisches Leben die Menschen erreichen. Begünstigt wurde ihre Missionsarbeit außerdem durch eine weitreichende Klostergründungswelle im 10. Jh.: im Volk entwickelte sich breite Anerkennung gegenüber dem monastischen Leben, welche sich die Sektierer durch ihr offenkundig asketisches Dasein als z.B. Wanderprediger zu Nutze machen konnten, zumal viele orthodoxe Koinobiten durch ihr Verhalten öffentlich enttäuschten. Außerdem war das bogomilische Credo unter dem Eindruck einer feudalen Gesellschaftsordnung, wo eine „gebildete Aristokratie ein slawisches Kleinbauerntum beherrschte“[15] , leicht verständlich und im eigenen Alltag nachvollziehbar – der in der Volkssprache gepredigte „soziale Anarchismus“ war fähig, viele zu begeistern. Des weiteren griff man gezielt auf alte heidnische (dualistische) Vorstellungen im Rahmen der volkstümlichen Religiosität zurück, die immer noch weit verbreitet waren. „Das slawische Bauerntum war nur oberflächlich von Bulgaren und Griechen überschichtet, man lebte unwissend und fromm im kleinsten Lebensbereich; fern war der Hochklerus und das, was sich noch als Staatsgewalt bezeichnen konnte. In diesem Rahmen müssen wir das Bogomilentum sehen, mit seinen Unterschwingungen von Haß und Verzweiflung in einem halb verwüsteten Land.“[16]

Im 11. Jh. griff die Häresie schließlich nach dem gesamten Byzantinischen Reich aus. Allerdings konzipierte die Regierung keine sonderlich wirkungsvollen Verfahren gegen die Ketzer, sondern hatte sich anfangs vielmehr mit deren Existenz in einem Teil des Landes abgefunden. Weiterhin förderlich war ein gewisses patriotisches Element, das den Zorn der einfachen Leute gegenüber einer pro-byzantinischen Kirche sowie ihrem Lehnsherren in für die Sekte „förderliche“ Bahnen lenkte und hierdurch in Bulgarien eine gewissermaßen natürliche Plattform schuf. An dieser Stelle muss gesagt werden, dass der Glaube keine feste Form, sondern viele Abwandlungen kannte, jedoch zunächst eine gemeinsame Basis hatte, welche im folgenden Unterpunkt näher erläutert werden soll. Es existierten Lokalkirchen, die anfangs allesamt einem moderaten Dualismus anhingen. Außerdem entwickelte sich Sakramentspendung (z.B. Baptisma) und Organisationsstruktur erst später. Seinen Ursprung hatte besagtes gemäßigtes Prinzip wahrscheinlich im Messalianismus, welcher als „enthusiastisch-spiritualist.“[17] Sekte um 350 von Syrien und Mesopotamien nach dem süd-mittleren Kleinasien ausstrahlte, ehe seine Anhänger um 428 von Kaiser Theodosius II. (402-450)[18] aus dem Byzantinischen Reich vertrieben worden waren. Grundüberzeugung dieser Ketzer war es, dass das im Menschen innewohnende Böse durch ständiges Beten sowie strenge Askese ausgetrieben werden könne und man fortan im Zustand erreichter Vollkommenheit sich „ganz nach Belieben gehen lassen k[ö]nn[...]e[...] oder nicht ohne dass [...] [[jene geistigen Führer] dabei in irgendeiner Weise sündigten.“[19] Diesen Libertinismus jedoch lehnten die späteren Katharer ab, wie in 3.2. genauer nachzulesen ist. Spuren der Messalianer fanden sich bis ins 7. Jh. in Byzanz sowohl Persien als auch Ägypten.

Zu Beginn des 12. Jhs. expandierte die Lehre von Bulgarien aus bis nach Thrakien, ins westliche Kleinasien und Konstantinopel, wobei er auch Anhänger in oberen Bevölkerungsschichten fand, was einen Rückschluss sowohl auf eine soziale Mobilität als auch intellektuelle Wandlungsfähigkeit ermöglicht. Mittlerweile wurden fünf Bogomilenkirchen gegründet (Romania, Drughuntia, Melengia, Bulgaria und Dalmatia), welche sich aber hinsichtlich des propagierten dualistischen Verständnisses um 1150 trennten. Verantwortlich für dieses Schisma konnte der wohl in Thrakien erleichterte Kontakt mit dem bereits kurz angesprochenen Paulikianismus gemacht werden, der der Entwicklung einer radikalen Zweiheit Vorschub leistete. In besonderem Maße verehrten jene armenischen Häretiker den Apostel Paulus und gingen davon aus, dass der Dualismus „die Existenz und Gegnerschaft zweier Prinzipien zur Voraussetzung hat, so daß die Welt nicht allein das Werk eines guten Gottes ist, sondern ein Werk, das unter Mitwirkung einer Gott feindlichen Macht entstanden ist.“[20] Darüber hinaus waren kulturelle sowie sprachliche Unterschiede zwischen Slawen und Griechen von weiterer Relevanz. Als Zentren der extremen Interpretation galten Thrakien und Konstantinopel. Vor allem letzteres war für die Katharer von ausgewiesener Bedeutung, wie sich in 3.1. zeigen wird.

Angesichts etwaiger Verfolgungen konnten die Bogomilen ihren Glauben später nicht öffentlich praktizieren. Sie nahmen am „normalen“ Leben teil, zelebrierten die Heilige Messe und befolgten sonstige religiöse Rituale, wobei ihre quasigeistliche Oberschicht (Theotokoi) hinsichtlich der angestrebten/gelebten Weltflucht eine Ausnahme darstellte. Dies ist u.a. Gegenstand des kommenden Abschnittes. Letzten Endes wählte der Sektierer die „innere Emigration“, sofern er noch nicht zu besagter Elite gehörte. „So konnte die Lehre bis zum Ende des 14. Jahrhunderts unter den verschiedensten politischen Gegebenheiten eine Rolle spielen [, wurde sogar in „abgeschwächter Form“ der bosnischen Kirche um 1180 „Staatsreligion“]. Ihre letzten Spuren sind erst im 17. Jh., nach langer türkischer Herrschaft [seit 1463], verschwunden.“[21]

Wie gezeigt wurde, gab es eine Verbindung von Manichäismus, Messalianismus, Paulikianismus, Bogomilismus und schließlich Katharismus. Das Bogomilentum entwickelte sich zu einer eigenen Häresie mit speziellen regionalen Facetten, ehe es sich sowohl jeweils theologisch als auch strukturell verfestigt hatte und wahrscheinlich zur Zeit des Ersten Kreuzzuges (1095-1101) nach dem Westen als entsprechend okzidentales religiöses deviantes Verhalten ausgriff, von 1140-ca. 1170 eine beinahe gesamteuropäische Dimension erlangen sollte, welcher es seitens des Staates/der Amtskirche zu begegnen galt. Die Frage, auf welchen Wegen der schließlich „verwestlichte“ Bogomilismus als Katharertum in den Westen gelangte, wird u.a. in 3.1. näher behandelt. Von ausgewiesener Bedeutung war hierbei das aufblühende Stadtwesen, welches aber unterschiedlich stark die Gründung etwaiger Ketzergemeinden beeinflusste.

2.2. „Das alles will ich dir geben, wenn du dich vor mir niederwirfst und mich anbetest“ – Glaube und sakramentale Weiheakte

Beim Bogomilismus handelte es sich um eine gnostische Häresie, welche zentrale Punkte des orthodoxen Glaubens, wie etwa Fleischwerdung, Passion, Erlösung und Trinität verwarf bzw[22]. aushöhlte und durch eigene „logische“ Inhalte ersetzte. Der religiöse Mythos wurde ständig weiterentwickelt, so dass schließlich nur noch der Grundgedanke – sprich: Christus zeige als von Gott gesandter Lehrer den gefallenen Engelsseelen die Rückkehr aus der Gefangenschaft durch Satan – existierte, also wie schon erwähnt kein einheitliches Bekenntnis im Balkanraum gegeben war. Es wurde durch sagenhafte Erzählungen publiziert, verständlich gemacht, welche versuchten, den Makro- sowie Mikrokosmos zu erklären. Besondere Bedeutung genoss hierbei das Böse, welchem man anders als die Amtskirche große Macht zusprach. Jenes war gemäß dem Credo real auf der Erde/in der Materie erfahrbar. „Die Hauptlehre dieses Mythos war, daß der Teufel die Welt geschaffen habe und daß darum alles in der Schöpfung »schmutzig« [Hervorhebung im Original, D.M.] und abzulehnen sei.“[23]

Im Folgenden soll dargelegt werden, was ihre Botschaft u.a. im Zeichen eines Pelagianismus – hierunter versteht man weitestgehend die Leugnung einer essenziellen Notwendigkeit göttlicher Gnade – konkret aussagte, wie das Verhältnis zu kirchlichen Sakramenten respektive besagter Institution an sich war und in wiefern Organisationsstrukturen die Gemeinschaft bestimmten. Diesem gilt vorauszuschicken, dass die Häretiker die Heilige Schrift, primär das Neue Testament, umredigierten und allegorisch auslegten, um hierdurch die „Richtigkeit“ ihres Kerygmas zu beweisen; man begriff die „einzig korrekte“ Interpretation der Bibel als Monopol.

Zunächst prägte ein moderater Dualismus das Bogomilentum: „[D]er Teufel war neben Christus Gottes älterer [...] Sohn, der gegen den Vater revoltierte [...].“[24] Satanaēl saß zur Rechten Gottes und hatte das gleiche Gewand sowie die gleiche Gestalt, was nicht zuletzt seine Göttlichkeit verdeutlichen sollte. Schließlich übte er auf Gottes Geheiß die Regierung über die Engel aus, wobei er alsdann, von der gewonnen Macht begeistert, eine Rebellion mit Hilfe mancher Engel einleitete.[25] Aber der Vater erfuhr von diesem Vorhaben, weswegen er seinen Sohn samt Anhängern aus dem Himmel stürzte. Jedoch blieb dieser (zunächst noch) theomorph, so dass er die Schöpfung einleitete, wovon die Genesis erzählte. Außerdem machte Satanaēl weiterhin einen zweiten Himmel als Residenz für sich und die Seinen. „Den Leib Adams erschuf er aus Erde und Wasser, versuchte aber vergeblich, ihn zu beleben: aus der rechten großen Zehe floß Wasser und die Elemente [, aus denen der Körper bestand,] wollten einfach nicht zusammenhalten. Daraufhin blies er in den Körper, um ihn mit Leben zu erfüllen; aber auch der Atem entwich durch die Zehe und beseelte das Wasserrinnsal [...]; es wurde zur Schlange, der Gehilfin Satans.“[26] Nun gab es verschiedene Versionen, wie der unbeseelte Adam schließlich belebt wurde: entweder bat Satanaēl seinen Vater um dessen Pneuma, damit der Körper so eine Seele bekam, oder er stahl diese von Gott, steckte sie in Adam und erbrach nach dreihundert Jahren in dessen Mund, wodurch das Unsterbliche besudelt, für immer in angesprochene Materie gefesselt wurde. Zuvor hatte er sämtliche Öffnungen verstopft, was ein Austreten ergo Leblosigkeit verhindern sollte.

[...]


[1] Matthäusevangelium [im Folgenden:MT] 4,9.

[2] hiervon berichtet MT 7,15-23.: „Hütet euch vor den falschen Propheten; sie kommen zu euch wie (harmlose) [sic!] Schafe, in Wirklichkeit aber sind sie reißende Wölfe. An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Erntet man etwa von Dornen Trauben oder von Disteln Feigen? Jeder gute Baum bringt gute Früchte hervor, ein schlechter Baum aber schlechte. Ein guter Baum kann keine schlechten Früchte hervorbringen und ein schlechter Baum keine guten. Jeder Baum, der keine guten Früchte hervorbringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen. An ihren Früchten also werdet ihr sie erkennen. Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr! Herr!, wird in das Himmelreich kommen, sondern nur, wer den Willen meines Vaters im Himmel erfüllt. Viele werden an jenem Tag zu mir sagen: Herr, Herr, sind wir nicht in deinem Namen als Propheten aufgetreten, und haben wir nicht in deinem Namen Dämonen ausgetrieben und mit deinem Namen viele Wunder vollbracht? Dann werde ich ihnen antworten: Ich kenne euch nicht. »Weg von mir, ihr Übertreter des Gesetzes!« [Hervorhebung im Original, D.M.]“

[3] LAMBERT, Malcolm D.: Ketzerei im Mittelalter. Häresien von Bogumil [sic!] bis Hus. München 1981, S.125.

[4] MT, 4,9.

[5] LAMBERT: Hus, S.19.

[6] http://de.wikipedia.org/wiki/Katharer [view: 20/10/04] : „Da sie [, die Vollkommenen,] ihrer Auffassung nach keinen »gewöhnlichen« [Hervorhebung im Original, D.M.] Geschlechtsverkehr ausüben durften, betätigten sie sich ausgiebig im Analverkehr, denn dabei war eine Fortpflanzung ausgeschlossen.“

[7] vgl. für die verwendeten Daten http://www.mgh.de/~Poetae/Autorenliste/AutorenR.htm [view: 05/07/05]

[8] BARBER, Malcolm: Die Katharer. Ketzer des Mittelalters. Düsseldorf/Zürich 2003, S.71.

[9] LAMBERT, Malcolm D.: Häresie im Mittelalter. Von den Katharern bis zu den Hussiten. Darmstadt 2001, S.129.

[10] vgl. für verwendete Daten http://www.botschaft-bulgarien.de/BB/index.php?option=content&task=view&id=56&Itemid=53 [view: 08/07/05]

[11] LAMBERT: Hus, S.7.

[12] FICHTENAU, Heinrich: Ketzer und Professoren. Häresie und Vernunftglaube im Hochmittelalter. München 1992, S.145.

[13] VELTMANN, Willem, Frederik: Sänger und Ketzer. Troubadourkultur und Katharertum in der provenzalischen Welt des Mittelalters. Stuttgart 1997, S.51.

[14] FICHTENAU: Professoren, S.77.

[15] LAMBERT: Hus, S.28.

[16] FICHTENAU: Professoren, S.70.

[17] RAHNER, Hugo: s.v. Messalianismus. – In: Lexikon für Theologie und Kirche [LThK]. Bd.7. Sp. 319. Freiburg 1962.

[18] vgl. für verwendete Daten http://www.coinarchives.com/a/lotviewer.php?LotID=103678&AucID=111&Lot=1781 [view: 08/07/05]

[19] LAMBERT: Katharern, S.134.

[20] ROLL, Eugen: Die Katharer. Stuttgart 1979, S.66.

[21] FICHTENAU: Professoren, S.71.

[22] MT 4,9.

[23] FICHTENAU: Professoren, S.72.

[24] ebda, S.75.

[25] von diesem Ereignis sprach bildhaft laut den Sektierern beispielsweise das Lukasevangelium [im Folgenden: LK] 16,1-8.: „Jesus sagte zu den Jüngern: ein reicher Mann hatte einen Verwalter. Diesen beschuldigte man bei ihm, er verschleudere sein Vermögen. Darauf ließ er ihn rufen und sagte zu ihm: Was höre ich über dich? Leg Rechenschaft ab über Deine Verwaltung! Du kannst nicht länger mein Verwalter sein! Da überlegte der Verwalter: Mein Herr entzieht mir die Verwaltung. Was soll ich jetzt tun? Zu schwerer Arbeit tauge ich nicht, und zu betteln schäme ich mich. Doch – ich weiß, was ich tun muß, damit mich die Leute in ihre Häuser aufnehmen, wenn ich als Verwalter abgesetzt bin. Und er ließ die Schuldner seines Herrn, einen nach dem andern, zu sich kommen und fragte den ersten: Wieviel bist Du meinem Herrn schuldig? Er antwortete: Hundert Faß Öl. Da sagte er zu ihm: Nimm deinen Schuldschein, setz dich gleich hin, und schreib »fünfzig«. Dann fragte er einen anderen: Wieviel bist Du schuldig? Der antwortete: Hundert Sack Weizen. Da sagte er zu ihm: Nimm deinen Schuldschein, und schreib »achtzig« [Hervorhebungen im Original, D.M.].

Und der Herr lobte die Klugheit des unehrlichen Verwalters und sagte: Die Kinder dieser Welt sind im Umgang mit ihresgleichen klüger als die Kinder des Lichtes.“

[26] LAMBERT: Hus, S.38.

Ende der Leseprobe aus 37 Seiten

Details

Titel
"De heresi catharorum" - Ursprung, verbreitung und Untergang des abendländischen Katharismus - Eine Analyse seiner Anziehungskraft
Hochschule
Technische Universität Darmstadt  (Institut für Geschichte)
Veranstaltung
Magie und Aberglaube - Ketzer und Hexen: Magische Lebenswelten und religilse Devianz im vormodernen Europa
Note
1,0
Autor
Jahr
2005
Seiten
37
Katalognummer
V53679
ISBN (eBook)
9783638490580
ISBN (Buch)
9783656795919
Dateigröße
734 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Hausarbeit thematisiert Genese,Verbreitung und Untergang des abendl. Katharismus, wobei eine genaue Untersuchung seiner Kerygma erfolgt. Diese wird anhand signifikanter Bibelstellen erweitert, um somit die seine Faszination zu unterstreichen, welche von den Perfecti befördert wurde. Hierbei führt der Autor besonders detailliert katharische 'Sakramente' aus - die 'Nähe' zur Orthodoxie sollte hierdurch vorgegeben werden. Großes Interesse gilt dem Perfecta-Status und den unterschiedlichen dualist.Schulen
Schlagworte
Ursprung, Untergang, Katharismus, Eine, Analyse, Anziehungskraft, Magie, Aberglaube, Ketzer, Hexen, Magische, Lebenswelten, Devianz, Europa
Arbeit zitieren
Daniel Mielke (Autor:in), 2005, "De heresi catharorum" - Ursprung, verbreitung und Untergang des abendländischen Katharismus - Eine Analyse seiner Anziehungskraft, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/53679

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