Persönlichkeitsentwicklung in Pubertät und Adoleszenz als Kernproblem von inklusivem Unterricht in der Sekundarstufe


Examensarbeit, 2005

80 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Zum Begriff der Persönlichkeit

3 Die kulturhistorische Schule, das materialistische Menschenbild und das System Psyche

4 Die Entwicklung der Persönlichkeit und ihre Bedingungen
4.1 Der Prozess des kulturellen ‚Hineinwachsens’
4.1.1 Die Sprache als Hülle der Gesellschaftserfahrung
4.1.2 Zum Verhältnis von Sprache und Denken
4.1.3 Das Gesetz des Hineinwachsens
4.2 Die Dynamik der Altersstufen
4.3 Die Entwicklung im Jugendalter nach Vygotskij
4.4 Behinderung als Folge misslungener Enkulturation?

5 Ist die Entwicklung des Intellekts, höherer Abbildniveaus und einer reflexiven Persönlichkeit also nur über die Ausbildung wissenschaftlicher Begriffe möglich?

6 Die Bedeutung der Tätigkeit für die Entwicklung
6.1 Die Tätigkeitstheorie
6.2 Die Emotionen
6.2.1 Emotionen und Bindung
6.2.2 Emotionen und Bindungssicherheit haben Einfluss auf die Entwicklung
6.3 Die Folgen der Diagnose ‚Behinderung’ für die Bindungssicherheit

7 Das Konzept der dominierenden Tätigkeit

8 Die zweite soziale Geburt der Persönlichkeit
8.1 Wie sich die Veränderungen des Jugendalters im Alltag bemerkbar machen
8.2 Jugendliche mit Behinderung

9 Wie kann die Persönlichkeitsentwicklung zum Kern von inklusivem Unterricht werden?
9.1 Des Kaisers neue Kleider? - kritische Auseinandersetzung mit dem Inklusionskonzept
9.2 Abwertung und Ersetzung des Integrationsbegriffs
9.3 Das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern
9.4 Der Unterrichtsgegenstand
9.5 Das Verhältnis zwischen den Schülern

10 Fazit

11 Literaturverzeichnis

12 Anhang

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Übersicht Entwicklungstheorien

Abbildung 2: Die Dynamik der Altersstufen

Abbildung 3: Die Tätigkeitstheorie

Abbildung 4: Der Zusammenhang zwischen dem Zuwachs von Fertigkeiten und Unterstützung

Abbildung 5: Die Abfolge der dominierenden Tätigkeiten

Abbildung 6: Praxis der Integration und der Inklusion

1 EINLEITUNG

Interviewer 1 [I 1]: „Also S., es ist für uns ja eine ganz spannende Geschichte, weil es das in Deutschland nur ganz wenig gibt - Integrationsklassen in der Sekundarstufe. Und ich glaube bisher hat auch noch nie jemand die Kinder, oder man muss das ja schon besser sagen die Jugendlichen, befragt, wie sie das empfinden. Das finde ich, ist eine tolle Sache. […]

Du gehst ja in eine Integrationsklasse und meine erste Frage ist, was findest Du gut daran?“

S(w): „Ich finde in der Integrationsklasse gut, dass wir mit behinderten Kindern zusammen in einer Klasse sind. Weil ich denke mir, so lernen wir mit behinderten Kindern umzugehen. Oder überhaupt mit behinderten Menschen, dass wir die respektieren und nicht immer auslachen oder so. Und so dass die auch was von uns lernen. Wir können denen was beibringen. Mal so!“

Interviewer 1 [I 1]: „Hmhm. Gut. Könnt ihr auch was von denen lernen?“

S(w): „Ja ich denke schon. Ich sage also, dass sie auf diese Schule gehen, dass erfordert ziemlich viel Mut von denen. Weil ich denke mir, dass einige Kinder sich auf dieser oder einige Jugendliche sich auf dieser Schule ziemlich lustig über die machen. Und das erfordert ziemlich viel Mut, dann in die Pausen und so zu gehen1.“

Der Schulversuch 140 begleitete eine Integrationsklasse am Schulzentrum Helsinkistraße in Bremen von der Grundschule über die Orientierungsstufe bis zum Ende der Sekundarstufe I. Sie umfasste 6 Haupt-, 9 Real- und 6 behinderte Schülerinnen und Schüler. Von der Orientierungsstufe bis zur Entlassung wurde die Klasse von einem Team aus zwei Lehrerinnen geführt. Außerdem begleitete der Filmemacher JÖRG STREESE den gesamten Schulversuch mit der Kamera und sorgte damit für eine ausgezeichnete filmische Dokumentation, die eine hervorragende Ausgangssituation für die Auswertung bietet.

Er dokumentierte auch zwei Interviewsituationen in den Jahren 1999 und 20012, die in Einzelgesprächen mit allen Schülerinnen und Schülern der Klasse geführt wurden und als Ausgangspunkt für diese Examensarbeit dienen. Aus diesen Aufnahmen stammt auch das einleitende Gespräch.

Den besonderen Wert der Aussagen von Schülerinnen und Schülern bzw. der Betroffenen über ihre Situation wird in neueren Arbeiten mehrheitlich hervorgehoben (vgl. BOBAN/HINZ 2003). So betonen KÖBBERLING und SCHLEY, dass im Mittelpunkt ihrer Betrachtungen zur Sozialisationsgeschichte Jugendlicher deren eigene Wahrnehmungen und Bewertungen stehen: „Sie sind Experten und authentische Zeugen des eigenen Entwicklungsprozesses“ (KÖBBERLING/SCHLEY 2000, S.70).

JANTZEN ergänzt mit FRÜHAUF (1999), dass die Aussagen der betroffenen Menschen - selbst wenn diese als geistigbehindert bezeichnet werden - unverzichtbare Einblicke in die Selbstwahrnehmung der Betroffenen ermöglichen, denn sie „stellen möglicher- weise ein Korrektiv dar zu den Konzepten die bisher von den ‚Fürsprechern’ (Eltern, Angehörige, Pädagogen/Therapeuten, Verbandsvertreter und Wissenschaftlern) entwickelt wurden. Gleichzeitig entbinden sie Fachleute von der alleinigen konzeptio- nellen Verantwortung. Den Trialog zu suchen, bedeutet mit geistig behinderten Menschen zu sprechen, nicht über sie“ (FRÜHAUF nach JANTZEN 2002, S.7f). Die Interview- aussagen der Schüler werden die gesamte Arbeit in Sprechblasen3 begleiten und die Theorie ergänzen.

Die zentrale Fragestellung für die Arbeit in der Sekundarstufe I war für das Schulbegleitforschungsteam: „Welche Inhalte und Methoden in der gemeinsamen Beschulung fördern die emotional-soziale Persönlichkeitsentwicklung von behinderten und nichtbehinderten Schülerinnen und Schülern in der Sekundarstufe I? […]4 “. Die bisherige Forschung zur Integration zeigt nämlich, dass durchaus die Gefahr besteht, dass Differenzierungsprozesse, die in diesem Alter stattfinden, zu großen Konflikten innerhalb der Klasse führen, die die Gefahr neuer Ausgrenzung von behinderten Schülern5 in sich tragen, was sich negativ auf deren weitere Persönlich- keitsentwicklung auswirken kann.

MARKOWETZ (1998) beschreibt die Situation mit treffenden Worten: „Eine Integrations- klasse ist kein sozialromantischer Aufenthaltsort des sofortigen Verstehens, Verzeihens, Verharmlosens, der neue, verfeinerte Formen des Mitleids, der Fassaden- haftigkeit und geschickt maskierter Vorurteile hervorbringt, sondern eine soziale Werkstatt, in der ‚die Fetzen fliegen’, einige Prisen Polemik, heftige Vorwürfe und Konflikte nicht ausbleiben dürfen, ja gar pädagogisch erzeugt werden müssen. Eine solche Baustelle fordert zum Formen, Gestalten, Konstruieren, Einreißen, Neuaufbauen, Restaurieren, Zementieren und Ausstellen auf. An Gelegenheiten für reichhaltige und vielfältige individuelle und kollektive Erfahrungen und Erkenntnisse wird es in Integrationsgruppen und -klassen nicht fehlen“ (MARKOWETZ 1998, o.S.).

Ziel dieser Examensarbeit ist es, einen Aspekt der bisherigen Auswertung durch das Schulbegleitforschungsteam weiter zu vertiefen: Die Entwicklung der Persönlichkeit soll in ihren Facetten dargestellt und es soll beleuchtet werden, wie und wodurch dieser Prozess in Integrationsklassen beeinflusst wird. Aus den gewonnenen Erkenntnissen sollen danach überblicksartig erste Konsequenzen für die Unterrichtspraxis abgeleitet werden.

Zunächst soll es um die Frage gehen, was eine Persönlichkeit ausmacht und über welche Entwicklungslinien ihre Entstehung in der Ontogenese verfolgt werden kann. Das Augenmerk liegt dabei im Folgenden auf der Pubertät, als entscheidende Phase in der Persönlichkeitsentwicklung. Die Bedingungen einer unbeeinträchtigten Entwicklung sollen genauso aufgezeigt werden, wie die Auswirkungen von Beeinträchtigungen, als Folgen „behinderter“ Entwicklung. Dazu bietet sich die kulturhistorische Schule der sowjetischen Psychologie in besonderer Weise an, da sie die menschliche Entwicklung als einen aktiven Prozess der Aneignung von Welt im System Psyche erkannt und Gesetzmäßigkeiten bestimmt hat, die geeignet sind, die ablaufenden Prozesse zu beschreiben und zu analysieren. Der Wert dieser Theorie liegt in der Analyse der Bedingungen für eine unbeeinträchtigte Entwicklung und der Auswirkungen verschie- denster Entwicklungsbeeinträchtigungen (FEUSER 1999, S.218).

Zur späteren didaktischen Berücksichtigung der gewonnenen Erkenntnisse im inklusiven Unterricht in der Sekundarstufe I soll eine kritische Positionierung dieses relativ jungen Konzeptes im Kontrast zum Konzept der Integration erfolgen.

2 ZUM BEGRIFF DER PERSÖNLICHKEIT

„Das Wort Persönlichkeit wird von uns nur in bezug auf den Menschen verwendet und dabei nur von einer bestimmten Entwicklungsetappe an. Wir sprechen nicht von der ‚Persönlichkeit des Tieres’ oder der ‚Persönlichkeit des Neugeborenen’. Niemand hat jedoch Bedenken, von einem Tier oder einem Neugeborenen als Individum, von seinen individuellen Eigenschaften zu sprechen (LEONT’EV 1982, S.168). Die Persönlichkeit ist deshalb keine im Genom festgehaltene und vorgefestigte Eigenschaft, die bei der Geburt voll entfaltet ist, sondern sie entwickelt sich erst im Verlauf der Ontogenese (ebd.).

Nach BUJEWA (1986) lassen sich drei Hauptgruppen von Persönlichkeitsdefinitionen unterscheiden: Bei der ersten Gruppe, die besonders in pädagogischer Literatur zu finden ist, liegt der Aufmerksamkeitsschwerpunkt auf dem Wertaspekt der Persönlich- keit als einer Gesamtheit von positiven Eigenschaften. Ein Ansatz, der die Gefahr einer Einteilung in ‚Persönlichkeiten’ und ‚Nicht-Persönlichkeiten’ in sich trägt (BUJEWA 1986, S.316).

Für die zweite Gruppe ist typisch, „daß die Persönlichkeit als ‚Träger’ verschiedener sozialer Rollen aufgefasst wird, als Repräsentant sozialer Gemeinschaften, als Objekt der sozialen Einwirkung, als eine Art Personifizierung von Funktionen, die in der unpersönlichen Struktur der Arbeitsteilung fixiert sind“ (BUJEWA 1986, S.317). Ansatzpunkt für Kritik an diesem Persönlichkeitsverständnis ist die Tatsache, dass der Mensch fähig ist, die Bedingungen seines Daseins zu verändern. Seine Entwicklung ist ein komplizierter, widersprüchlicher sozialer und individueller Prozess, der mit der Entwicklung der menschlichen ‚Gattung’ (repräsentiert in konkreten sozialen Gruppen und Gemeinschaften) nicht zwangsläufig zusammenfällt. In gleicher Weise spricht auch eine unterschiedliche Entwicklung unter annähernd gleichen Bedingungen für eine aktive Rolle des Individuums in diesem Prozess. Gerade aus der Dialektik zwischen Sozialem und Individuellem entstehen Entwicklungsaufgaben und die nötigen Entwick- lungsanreize (ebd., S.317f).

Die dritte Hauptrichtung kommt aus der Tradition der Sozialpsychologie. Im Zentrum stehen die Strukturen der inneren, subjektiven Welt des Individuums - insbesondere die Wertorientierung und die sozialen Einstellungen (ebd., S.317).

Zusammenfassend lassen sich drei Grundprinzipien festhalten, die von der Mehrheit der Theorien unterstützt werden:

1. Das soziale Wesen der Persönlichkeit.
2. Die soziale Determination ihrer subjektiven Eigenschaften.
3. Der Mensch als Subjekt der gesellschaftlichen Beziehungen und Tätigkeit (BUJEWA 1986, S.319).

BUJEWA charakterisiert das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Persönlichkeit wie folgt: „Die Beziehungen jedes Individuums zur Gesellschaft sind vermittelt durch sein Einbezogensein in die reale Lebenstätigkeit verschiedener sozialer Gemeinschaften. Die Zugehörigkeit des Individuums zu diesen Gemeinschaften, der Grad der Annahme und Realisierung ihrer Interessen in der individuellen Tätigkeit, ist wiederum der Indikator für das Niveau der Gesellschaftlichkeit der Persönlichkeit, in gewissem Maße auch für die Maßstäbe ihrer Tätigkeit, ihres aktiven Einflusses auf die sozialen Prozesse“ (ebd., S.320).

Nachdem nun in Ansätzen die Determinanten der Persönlichkeit in ihrer entfalteten Form bestimmt sind, wende ich mich ihrer Entwicklung und den Bedingungen dieser Entwicklung zu.

3 DIE KULTURHISTORISCHE SCHULE, DAS MATERIALISTISCHE MENSCHENBILD UND DAS SYSTEM PSYCHE

Der Ansatz der kulturhistorischen Schule zu lebenden Systemen bezieht sich nicht ausschließlich auf den Menschen, vielmehr soll der Begriff ‚System’ darauf aufmerksam machen, dass es sich hierbei um fundamentale Gesetze des Lebens handelt (FEUSER 1995, S.85). Eine zentrale Stellung kommt der Theorie der funktionellen Systeme nach ANOCHIN (1978) zu. Diese eröffnet Einblicke in die Selbstorganisation und Selbstregulation eines lebenden Organismus. Dazu gehört die dynamische Reaktion und Anpassung an Veränderungen. Gehirn und Peripherie sind an diesem Prozess gleichermaßen beteiligt und beeinflussen sich über Reafferenzen gegenseitig. Über Orientierungsreaktion und Afferenzsynthese fällt der Organismus Entscheidungen über die Tätigkeit, diese werden durch den Aktionsakzeptor auf ihre Tauglichkeit überprüft und so lange angepasst, bis das Ergebnis mit dem geplanten Ziel übereinstimmt (LANWER 2001, S. 19ff).

Eine Grundvoraussetzung dafür ist die Selbstorganisation des Systems. „Es handelt sich dabei um Gesetzmäßigkeiten und Bedingungen von räumlich-zeitlichen Struktur- bildungsprozessen, innerhalb derer die Erzeugung von Information im System als das zentrale Moment der Wechselwirkung von lebenden Systemen mit ihrer jeweiligen Umwelt zu charakterisieren ist“ (LANWER 2001, S.26). Diese Strukturen sind aufgrund ihres hohen Organisationsgrades und ihrer Komplexität gegenüber der Umwelt stabil. Dieser Prozess ist irreversibel. Dabei muss davon ausgegangen werden, dass lebende Systeme prinzipiell offen sind und sich im Austausch mit der Umwelt befinden. Dieser umfasst Energie-, Stoff- und Informationsaustausch und findet fernab vom thermodynamischen Gleichgewicht statt.

Gleichzeitig ist es für ein System lebensnotwendig, trotz des intensiven Austauschs mit der Umwelt stabil und autonom gegenüber dieser Umwelt zu sein, da es sonst die Integrität seiner Gesamtstruktur aufs Spiel setzen würde. Diese Prozesse der Selbstherstellung und Selbsterhaltung bezeichnet man nach EIGEN, MATURANA und VARELA als Autopoiese (ebd. S.26ff).

Die Informationen, die das System an seinem Rand erfährt, sind jedoch nur indirekt, das heißt vermittelt über die Wahrnehmung, zugänglich (JANTZEN 2001a). Sie werden als Fluktuationen oder äußere irreversible Zeitereignisse beschrieben, die mit den inneren Strukturen oder reversiblen, zyklischen Systemzeiten synchronisiert bzw. miteinander in Resonanz gebracht werden. Dadurch entstehen nach PRIGOGINE dissipative Strukturen, die die inneren zyklischen Zeiten irreversibel machen und dadurch den Aufbau von Erfahrung, Gedächtnis und damit Entwicklung ermöglichen (LANWER 2001, S.27ff).

Dieses ‚In-Beziehung-setzen’ von inneren und äußeren Prozessen geschieht durch Selbstregulation. Voraussetzung dafür ist eine Entsprechung der äußeren Welt im Inneren, die als Abbild bezeichnet wird. Ein Abbild ist jedoch kein Bild im herkömm- lichen Sinne, sondern die komplexe Repräsentation des gegenständlichen Bezugs jenseits der bloßen Sinnlichkeit (Wahrnehmung) (LEONT’EV 1982). Dieses Abbild wiederum ist die Basis der vorgreifenden Widerspiegelung, bei der Vergangenes und Gegen- wärtiges genutzt wird, um Vorhersagen über kommende Ereignisse machen zu können (FEUSER 1999, S.219).

Für den Aufbau von Strukturen durch Fluktuation kommt damit der Umwelt eine entscheidende Bedeutung zu. „Unterbrechung bzw. Einschränkung der Umweltbezieh- ungen führt dabei unweigerlich zu einer reduzierten Selbstorganisation. […] Die bei einem Menschen möglichen Entwicklungsräume können sich demgemäß nicht für sich alleine entfalten, sondern sind nur über die Beziehung zur Außenwelt zu realisieren“ (LANWER 2001, S.32).

Der Mensch ist grundsätzlich nur als eine Einheit aus Biologischem, Psychischem und Sozialem denkbar. „Die biologische und die psychosoziale Ebene charakterisieren die Bereiche, die unsere menschliche Existenz absichern. Sie stellen in der genannten Reihenfolge die Hierarchien dar, deren Beziehungen untereinander darin bestehen, daß die jeweils höhere Ebene stets die führende bleibt, sie sich aber nur mit Hilfe der tiefer liegenden Ebenen […] realisieren kann“ (FEUSER 1995, S.89).

Gerade die höheren psychischen Funktionen des Menschen wie z.B. Emotion, Bedürfnis, Motiv und Wille, Denken, Sprache und Bewusstsein sind in diesem Kontext als funktionelle Systeme zu begreifen und damit Ergebnis der Austauschbeziehungen mit der Umwelt, was eine entsprechende körperliche Organisation, d.h. die soziale Biologie des menschlichen Gehirns voraussetzt.

Die materialistische Psychologie geht davon aus, dass das Bewusstsein eine neue Form und Qualität des Psychischen darstellt. „Das Bewußtsein in seiner Unmittelbar- keit ist das sich dem Subjekt darbietende Bild von der Welt, welches auch das Subjekt selbst, seine Handlungen und Ziele einschließt“ (LEONT’EV 1982-2, S.515). Das individuelle Bewusstsein ist ein subjektives Produkt der Beziehungen, die das Individuum mit seiner sozialen Umwelt realisieren kann und spiegelt die objektive und die subjektive Realität in der Tätigkeit als subjektives Abbild wider. Außerhalb der sozialen Beziehungen kann es keine individuelle Psyche in Form eines Bewusstseins geben. Die psychologischen Besonderheiten dieses Bewusstseins der Individuen erge- ben sich aus den verschiedenen gesellschaftlichen Verhältnissen, in die sie einbezo- gen sind (LEONT’EV 1982, S.97 u. 34f und 1982-2, S.517ff). Ursprünglich existiert das Bewusst- sein nur in Form der psychischen Abbilder von realen Gegenständen, während die Tätigkeit nach wie vor praktisch und im Umgang mit den Gegenständen realisiert wird. In einer späteren Etappe, wird dann die Tätigkeit selbst zum Gegenstand des Bewusst- seins: Über die bewusste Erfassung der Handlungen anderer Menschen geraten auch die eigenen Handlungen ins Blickfeld. Durch die wachsenden sprachlichen Möglichkeiten kann die Sprache als eigene Ebene des Austauschs benutzt werden, zuerst noch in Funktion des Werkzeugs. Sie bilden die Voraussetzung dafür, dass bewusste innerpsychische Handlungen und Operationen entstehen können, indem sich die Sprache emanzipiert und die führende Ebene der Tätigkeit wird, auf der - unabhängig von den äußeren Gegebenheiten in der Gegenwart und des Subjekts - gehandelt werden kann. Auf dieser Stufe entsteht der Eindruck, als sei das Bewusst- sein von der äußeren praktischen Tätigkeit unabhängig, als würde es diese Tätigkeiten lenken (LEONT’EV 1982-2, S.519).

Den Knotenpunkt des Bewusstseinsproblems bildet nach marxistischer Auffassung deshalb die Dialektik von Persönlichem und Gesellschaftlichem. „Ein Charakteristikum des bewussten Aktes besteht darin, daß er nicht nur Widerspiegelung eines Objektes, sondern auch Reflexion (Widerspiegelung dieser Widerspiegelung) ist“ (DUBROWSKI/ TSCHERNOSWITOW 1980, S.965).

Die Bimodalität ist Ausdruck dieser Fähigkeit zur Reflexion und beinhaltet eine gleichzeitige Widerspiegelung dessen, was zum ‚ICH’ und dessen, was zum ‚NICHT-ICH’ gehört. Die genannten Modalitäten sind relativ, das heißt, jede von ihnen macht nur Sinn in Bezug auf ihren Gegensatz. Das ‚NICHT-ICH’ kann innerhalb dieser Beziehung sowohl als der eigene Körper, als ein äußerer Gegenstand, das eigene ‚ICH’, als auch als anderes ‚ICH’ (‚DU’) auftreten. Die Beziehung zum eigenen ‚ICH’ ist dabei ein Sonderfall, der als Bidominanz bezeichnet wird und die innere Kommunikation mit sich selbst ermöglicht. „Im Prozeß der inneren Kommunikation verwirklicht sich die wertorientierte Regulation des Inhalts der ‚fließenden Gegenwart’ und es bilden sich die Aktivitätsvektoren des Bewußtseins heraus“ (DUBROWSKI/ TSCHERNOSWITOW 1980, S.967). In der Bidominanz zeigt sich außerdem deutlich die soziale Natur des Bewusstseins. Die gleichzeitige Einheit und Gegenüberstellung von ‚ICH’ und ‚DU’ in der Struktur des individuellen Bewusstseins ist nach DUBROWSKI und TSCHERNOSWITOW Ausdruck der notwendigen Verbindung des Individuums mit dem sozialen Ganzen der Gesellschaft (ebd.).

Die subjektive Realität wird auch als das Ideelle bezeichnet. Sie realisiert sich in der fließenden Gegenwart als aktuelles, bewusstes Erleben. Jeder Bewusstseinsakt existiert für das Individuum nur in der Gegenwart, sein Inhalt kann sich jedoch auch auf Vergangenheit und Zukunft beziehen (ebd., S.966).

Sprache und Arbeit (als Basis des Prozesses der Symbolbildung bzw. Zeichenbildung) sind notwendige Voraussetzungen für die Entstehung des Bewusstseins, denn im Arbeitsprozess ist es unumgänglich, das Tätigkeitsprodukt von seinen stofflichen Eigenschaften zu abstrahieren, es sich bewusst zu machen. Nur dann ist die Koordination verschiedenster Arbeitsschritte und die Beteiligung mehrerer anderer zu einem gemeinsamen Ziel leistbar (LEONT’EV 1982, S.33 u. 1982-2, S.518 und JANTZEN 1987, S.126).

Die besondere Bedeutung der sozialen Umwelt für die Ausbildung der höheren psychischen Funktionen betont das Materialistische Menschenbild. Es zeichnet sich dadurch aus, dass die soziale Entwicklungssituation bzw. die Tatsache sozialer Veränderungen und deren Einfluss auf den Lebensprozess der Menschen im Zentrum stehen. Dies zeigt sich im Aufgreifen und Vertiefen der Kategorie „Dialog“ durch JANTZEN (1990; 2001).

Die Möglichkeiten der Entwicklung eines Menschen werden maßgeblich durch die Vielzahl seiner sozialen Bezüge und wechselseitigen sozialen Vermittlungen, die BUBER (1984) als dialogisch bezeichnet, bestimmt (LANWER 2001, S. 34ff). Im Dialog, der nach BUBER im Bereich des ‚Zwischen’ stattfindet, erfolgt die Ich-Werdung in Abgrenzung zum Du in der Spannung zwischen Urdistanz und ‚In-Beziehung-Treten’. Wesentliche Momente dieses ‚In-Beziehung-Tretens’ sind die personale Vergegen- wärtigung und die Realphantasie, die es den Dialogpartnern ermöglichen, sich in den Gegenüber mit all seinen Möglichkeiten und Grenzen hineinzuversetzen. Durch die Realphantasie entstehen Möglichkeitsräume der Entwicklung im Bereich des Zwischen (LANWER 2001, S.34ff).

Begreift man Behinderung als sozialen Begriff, so bezieht sie sich zum Einen auf einen Prozess sozialer Ausgrenzung und Segregation, hinter dem sich nach JANTZEN unterschiedliche ökonomische, soziale, historische und normative Interessen verbergen. Zum Anderen auf individuelle Biographien und ihre speziellen Erschwer- nisse und Probleme, die häufig überlagert werden durch „naturalisierende oder indivi- dualisierende Ideologien, deren Bezugspunkt Abweichungen von der fiktiven Norm des mitteleuropäischen oder nordamerikanischen Menschen mittleren Alters, mit guter Schulbildung, angemessenem Einkommen und männlichen Geschlechts sind“ (JANTZEN 2002, S.4). Da über die personale Vergegenwärtigung in jeden Dialog diese Einstellung der Beteiligten z.B. über Behinderung mit einfließen, transportieren sie direkt oder verschlüsselt über die negativen sozialen Rückmeldungen ein Stigma, durch das dem Behinderten negative Eigenschaften zugeschrieben werden. Behinderung ist nach GOFFMAN (1967) originär nichts Negatives, erst durch die negative Definition eines Merkmals wird es zum Stigma (MARKOWETZ 1998, o.S.). Die Auswirkungen des Stigmas auf die Interaktion mit den Bezugspersonen, werde ich später ausführlicher aufgreifen.

4 DIE ENTWICKLUNG DER PERSÖNLICHKEIT UND IHRE BEDINGUNGEN

Im Folgenden konzentriere ich mich auf die Persönlichkeitsentwicklung in der Sekundarstufe I. Ich werde jedoch Vergleiche zu früheren Entwicklungsstufen ziehen, um den qualitativen Sprung der Entwicklung in dieser Altersstufe zu verdeutlichen. Für einen besseren Überblick über die Begrifflichkeiten der verschiedenen Theorien, die im folgenden angesprochen werden, und der einfacheren Zuordnung zu den Altersstufen habe ich diese - basierend auf den Ausführungen von JANTZEN (1987) - in einer Tabelle zusammengestellt (siehe Tabelle, S.14). (Die für die Sekundarstufe relevanten Bereiche sind in der Tabelle grau hinterlegt.)

Zuerst wende ich mich der von VYGOTSKIJ und LURIJA erkannten Bedeutung des kulturellen Hineinwachsens in eine Gesellschaft zu. Ein Prozess, der wesentlich über die Sprache vermittelt wird und zur Entfaltung der höheren psychischen Funktionen beiträgt.

4.1 Der Prozess des kulturellen ‚Hineinwachsens’

Die soziale Entwicklungssituation ist das besondere Ausgangsmoment für alle dynamischen Veränderungen, die in einer bestimmten Altersperiode auftreten. „Sie bestimmt voll und ganz die Art und Weise, den Weg, wie das Kind immer neue Persönlichkeitseigenschaften erwirbt, indem es sie aus der sozialen Wirklichkeit, der Hauptquelle der Entwicklung, schöpft, dem Weg, auf dem Soziales zu Individuellem wird“ (VYGOTSKIJ 2003, S.301). Den ‚Ort’, an dem aus interpsychischen Prozessen intrapsychische werden, hat VYGOTSKIJ als ‚Zone der nächsten Entwicklung’ definiert. Sie beinhaltet jene Funktionen, die noch nicht vollständig entwickelt sind, sich im Prozess der Reifung befinden. Allein kann das Kind über diese noch nicht verfügen, jedoch unter Anleitung oder in Kooperation mit andern Personen ist es dazu schon in der Lage (VYGOTSKIJ 2003, S.83 und JANTZEN 2001b, S.106).

Innerhalb der Zone der nächsten Entwicklung verbinden sich die psychischen Prozesse der Beteiligten mit den sozialen Prozessen. Diese sind immer präsent und umfassen die kulturelle und historische Erfahrung der Gesellschaft (VYGOTSKIJ 2003, S.226). Zum ‚Prozess des kulturellen Hineinwachsens’ in eine Gesellschaft gehören nicht nur bestimmte Denkinhalte, sondern auch die schrittweise Aneignung bestimmter Denk- formen. Diese Entwicklung der historisch entstandenen Formen und Verfahren der Tätigkeit sind eine notwendige Bedingung für das Hineinwachsen in eine Kultur (ebd., S.370). Dabei ist die Beziehung des Kindes zur Welt von Anfang an vermittelt.

Abbildung 1: Übersicht Entwicklungstheorien (eigene Darstellung C.D.; vgl. JANTZEN 1987)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

„Kurzum, die Tätigkeit des Kindes realisiert seine Beziehungen zu den Dingen über die Menschen. Diese Entwicklungssituation führt dazu, daß dem Kind die Dinge nicht nur in ihren physischen Eigenschaften entgegentreten, sondern auch in jenen besonderen Eigenschaften, die sie in der menschlichen Tätigkeit erlangen - in ihren funktionellen Bedeutungen“ (LEONT’EV 1982, S.197). Die Menschen erscheinen dem Kind zunehmend als ‚Gebieter’ der Dinge, weil von ihnen seine Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit den Dingen abhängt. Im Laufe der Entwicklung erweitert sich die gegenständliche Tätigkeit des Kindes durch die Nutzung von Werkzeugen. Die Funktion der Wörter wird in gleicher Weise als Zeichen angeeignet. Sie tragen eine Bedeutung und sind damit auch Werkzeuge für einen bestimmten historisch gewordenen Zweck (JANTZEN 1987, S.124).

4.1.1 Die Sprache als Hülle der Gesellschaftserfahrung

Die natürlichen Sprachen sind also Zeichensysteme, die der Gesellschaftserfahrung als Hülle dienen. Dadurch können diese Erfahrungen in das individuelle Abbild der einzelnen Gesellschaftsmitglieder vermittelt werden (JANTZEN 1987, S.233). Die Sprache ist aufgrund ihrer syntaktischen Struktur hervorragend für die Vermittlung von abstrakten Denkinhalten und Operationen geeignet, mit denen es möglich ist, Kategorien und Hypothesen zu bilden oder logische Probleme zu lösen. Ihre besonderen Möglichkeiten zeigt sie jedoch in der Metakommunikation, in der Aussagen selbst zum Gegenstand von anderen Aussagen gemacht werden können (LURIJA 1972, S.10). Der operative Aspekt von Sprache als symbolische Repräsentation eines Kulturobjekts wäre damit erkannt, bleibt der kommunikative Aspekt, der vor allem in ihrer Möglichkeit zum Handeln zu motivieren zu sehen ist (ebd., S.12).

4.1.2 Zum Verhältnis von Sprache und Denken

„Indem der Erwachsene Gegenstände benennt und auf diese Weise deren Verknüpf- ung und Beziehung definiert, schafft er neue Formen der Reflexion der Wirklichkeit im Kinde, die ungleich tiefer und komplexer sind, als jene, welche es durch individuelle Erfahrung hätte bilden können. Dieser ganze Vorgang der Übertragung von Wissen und der Bildung von Begriffen, worin ja der grundlegende Weg der Beeinflussung des Kindes durch Erwachsene besteht, konstituiert den zentralen Prozeß der intellektuellen Entwicklung des Kindes“ (LURIJA 1972, S.40). Ein echter Begriff ist das Abbild eines objektiven Gegenstandes, der dessen gesamte Kompliziertheit im Verhältnis zum han- delnden Subjekt wiedergibt und sich in der Bedeutung ausdrückt. Würden die Gegenstände im Denken starr und isoliert bleiben, wäre dieses Abbild tatsächlich ärmer als die Realität, doch die Gegenstände werden in all ihren Verbindungen und Beziehungen mit der übrigen Wirklichkeit und zum Subjekt der Handlung selbst erkannt. Diese Vielfältigkeit wird in der Entwicklung - in Form der Sprache bzw. Arbeit und damit (semantisch) - zu einem ganzheitlichen Abbild synthetisiert. Es entsteht Ebene für Ebene, wobei die jeweils höhere die jeweils niedere aufhebt bzw. umschreibt. Diesen Vorgang nennt man repräsentionale Redeskription. Dieser Prozess schließt - gemäß der dialektischen Logik - nicht nur das Allgemeine, sondern auch das Einzelne, das Spezielle ein. Ein echter Begriff ist angereichert mit den Determinationen des Gegenstandes, Ergebnis rationaler Verarbeitung von Erfahrung, vermittelt über die Sprache, und bildet ein System von Urteilen (VYGOTSKIJ 2003, S.408f u. 458).

Besondere Bedeutung kommt der Interaktion und Kommunikation mit Erwachsenen zu, weil die Aneignung eines Sprachsystems die Reorganisation sämtlicher grundlegender geistiger Leistungen des Kindes einschließt. Das Wort in seiner semantischen Funktion wird so zu einem extrem wichtigen Gestaltungsfaktor der geistigen Aktivität, der die Reflexion der Wirklichkeit vervollkommnet und neue Formen der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses und der Einbildungskraft, des Denkens und Handelns hervorbringt. „Das Wort hat nicht allein deshalb eine grundlegende Funktion, weil es ein entsprechendes Objekt in der Außenwelt bezeichnet, sondern auch, weil es das not- wendige Signal abstrahiert und isoliert, die wahrgenommenen Signale verallgemeinert und auf bestimmte Kategorien bezieht“ (LURIJA 1972, S.41). Dadurch ist das Kind in der Lage, die wesentlichen Merkmale eines Gegenstandes zu unterscheiden, außerdem wird seine Objektwahrnehmung allgemeingültig und dauerhaft, was die Grundvoraus- setzung für die Entwicklung differenzierter Gedächtnisinhalte bildet. Die Sprache wird über die Kommunikation hinaus zu einem Instrument der Analyse und Synthese der Wirklichkeit und zu einem ‚höheren Regulator des Verhaltens’ (ebd. S.43 u. 46).

Gehörlose Menschen, die ohne eine entsprechende sprachliche Förderung aufwach- sen, sind nach LURIJA außerstande, Eigenschaften oder Handlungen vom aktuellen Gegenstand zu abstrahieren, also abstrakte Begriffe zu bilden oder anhand von abstrakten Signalen zu systematisieren. Ganz offensichtlich - so schlussfolgerte LURIJA - sind diese Signale den Gegenständen nicht von Natur aus eigen, sondern sprachlich vermittelt (ebd. S.54).

Um sich Sprache anzueignen, bedarf es zunächst der gemeinsamen kooperativen Tätigkeit. In diesem interindividuellen Prozess wird die Bedeutung der Zeichen/ Worte erfahren. Zuerst sind sie Werkzeuge der sozialen Sprache (für andere) bevor sie dann intraindividuell als egozentrische Sprache und später intrapsychisch benutzt werden. Die Sprache wird damit - im Laufe der Ontogenese - zum Strukturprinzip des individu- ellen Denkens (LURIJA 1972, S.28 und JANTZEN 1987, S.124), denn die Sprache ist keineswegs nur ein Mittel um einen bereits fertigen Gedanken auszudrücken, sondern ein Mittel, um diesen Gedanken erst zu erschaffen. Sie spiegelt die Welt nicht einfach wider, sondern ist am Aufbau der Widerspiegelung aktiv - das heißt als Tätigkeit - beteiligt (VYGOTSKIJ 2003, S.400).

VYGOTSKIJ folgerte daraus, dass das Wort durch seinen Signalcharakter zugleich Quelle des Bewusstseins ist. Indem die Sprache unabhängig vom Augenblick macht und als eigenständige Ebene der Realität benutzt werden kann, auf die sich Denkprozesse beziehen (JANTZEN 1987, S.124). Dabei sind die Wörter nicht einfach Stellvertreter der Dinge, sondern stellen die Verbindung zur gesellschaftlichen Praxis und damit zur den kristallisierten Tätigkeiten her, mit denen der Mensch die Welt entdeckt hat (LEONT’EV 1982, S.34).

4.1.3 Das Gesetz des Hineinwachsens

Die realen Beziehungen zwischen Menschen sind die Vorlage für die Beziehungen zwischen den höheren psychischen Funktionen. Aus sozialen Verhaltensweisen werden Verfahren für die individuelle Anpassung, Verhaltens- und Denkformen des Individuums. Diese Übertragung der äußeren zwischenmenschlichen Beziehungen nach innen ist die Grundlage für den Aufbau der Persönlichkeit. „Menschliches Lernen findet in einem Individuationsfeld statt, dass der Entwicklung stets eine Stufe voraus ist. Indem es die soziale Entwicklung hervorbringt, bringt es auch die psychische Entwicklung hervor […]“ (JANTZEN 2001b, S.106). „Das Anfangsstadium in der Entwicklung jeder höheren Funktion ist also das Stadium der Operation, die mit Hilfe äußerer Mittel vollzogen wird. Dann wird die Operation vom Kind allmählich so angeeignet, daß sie […] den Charakter von etwas Äußerem verliert […] und zunehmend mit Hilfe innerer Mittel vollzogen wird. Diesen Prozeß des Übergangs der Operationen von außen nach innen bezeichnen wir eben als Gesetz des Hineinwachsens“ (VYGOTSKIJ 2003, S.508).

Gestützt auf das Prinzip der Selbstoranisation und -regulation lebendiger Systeme, die nur im Kontext der permanenten Austauschbeziehungen mit der Umwelt existieren können, wird Entwicklung vor diesem Hintergrund als Koontogenese oder Koevolution erfahrungsbildender Systeme erkannt (FEUSER 1999, S.218).

4.2 Die Dynamik der Altersstufen

Die inneren Veränderungen und Entwicklungen sind ein guter Indikator zur Bestim- mung der Hauptetappen der Persönlichkeit beim Kind, die VYGOTSKIJ als ‚Alterstufen’ bezeichnet. Zuverlässiger Indikator für jede Alterstufe sind die Neubildungen. „Sie kennzeichnen das Wesen jeder Altersstufe. Unter den alterspezifischen Neubildungen sind ein neuer Typ der Struktur und der Tätigkeit der Persönlichkeit, sind die psychi- schen und sozialen Veränderungen zu verstehen, die auf der jeweiligen Altersstufe erstmals auftreten und die in aller erster Linie das Bewußtsein des Kindes, seine Beziehung zur Umwelt, sein Innen- und Außenleben, den gesamten Verlauf seiner Entwicklung in der jeweiligen Periode bestimmen“ (VYGOTSKIJ 2003, S.59).

Allerdings ist dieser Aufbau nicht kontinuierlich und tritt nur in den stabilen Altersstufen deutlich zutage, dazwischen liegen Krisenperioden. In den Vordergrund treten dann Prozesse des Absterbens, des Zusammenbruchs, des Zerfalls und der Zerstörung dessen, was zuvor aufgebaut wurde.

Vygotskij unterscheidet innerhalb der Ontogenese fünf Krisen. Auf jede dieser Krisen folgt eine stabile Altersstufe6 (VYGOTSKIJ 2003, S.64):

Abbildung 2: Die Dynamik der Altersstufen (eigene Darstellung, C.D.)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Mit dem Einsetzen der jeweiligen Krisenperioden verliert das Kind seine bisherigen Interessen, auch die äußeren Beziehungen und das Innenleben des Kindes sind davon betroffen (ebd. S.64). Doch die Involutionsprozesse der kritischen Alterstufen zerstören das Vorhandene nur in dem Maße, wie es notwendig ist, damit sich bestimmte Persönlichkeitsmerkmale entwickeln können. Sie sind den positiven Prozessen unter- geordnet, von ihnen abhängig und bilden mit ihnen zusammen ein unlösliches Ganzes. Die sich abwechselnden kritischen und stabilen Stufen zeigen die Dialektik jedes Entwicklungsprozesses, in dem der Übergang von Stufe zu Stufe auf revolutionäre Art vor sich geht (ebd. S.66f).

Der positive Einfluss der Krisen zeigt sich beim Kind unmittelbar nach der erfolgreichen Überwindung: „[…] ein Zustrom neuer Kraft, eine rasche Aneignung neuer Tätigkeits- gebiete, die Erhöhung der Leistungsmotivation und die Ausbildung neuer Fähigkeiten. Hier tritt die Harmonie der gegenseitigen Ergänzung der Motive, Fähigkeiten, Möglich- keiten, des eigenen Leistungsstrebens und der sozialen Anforderungen als Triebkraft der Entwicklung, als Mechanismus der Entstehung neuer Widersprüche und der Vorbe- reitung eines neuen Entwicklungsstadiums auf“ (ANZYFEROWA 1978, S.930).

Die Neubildungen der Krisen treten zu Beginn der neuen Alterstufe in den Hintergrund und tragen zur spontanen Entwicklung von Neubildungen bei.

Die Dauer der stabilen Altersstufen kann am besten anhand der Grenzen zu den kritischen festgemacht werden. Die kritischen Alterstufen lassen sich besser bestim- men, weil sie einen anderen und deutlicheren Verlauf haben. Am besten geht man vom Kulminationspunkt der Krise aus, dann liegt der Anfang etwa ein halbes Jahr zurück und ihr Ende im folgenden Halbjahr. Es ist demnach von einem dreigliedrigen Aufbau - vorkritische, kritische und postkritische Phase - auszugehen. Die stabilen Phasen weisen dagegen nur zwei Stadien auf (VYGOTSKIJ 2003, S.69). VYGOTSKIJ begründet dies aus der Tatsache heraus, dass die Neubildungen, die am Ende einer Altersstufe in entwickelter Form vorliegen, zu einer Umgestaltung der gesamten Bewusstseinsstruk- tur des Kindes geführt haben, was gleichzeitig die Struktur seiner Beziehungen zur äußeren Realität und sich selbst verändert. Das bewirkt den Übergang zu einer neuen Altersstufe und einer neue Ebene des Funktionierens der Persönlichkeit (ANZYFEROWA 1978, S.926).

Der Entwicklungsprozess stellt auf jeder Stufe ein einheitliches Ganzes dar, dem jeder Teilprozess untergeordnet ist. VYGOTSKIJ unterscheidet innerhalb der Struktur des Ganzen zwischen zentralen und partiellen Neubildungen. Die zentrale Neubildung führt die Wandlung der gesamten Persönlichkeit an, darum ordnen sich die partiellen Neu- bildungen, die einzelne Seiten der Persönlichkeit und Neubildungen vorangegangener Altersstufen betreffen (VYGOTSKIJ 2003, S.72).

„Das primäre und wesentliche Moment für eine allgemeine Bestimmung der Dynamik einer Alterstufe ist die Erfassung der Beziehung zwischen der Persönlichkeit des Kin- des und seinem sozialen Milieu auf jeder Altersstufe als veränderliche Beziehung“ (ebd. S.75).

Das Jugendalter zählt nach VYGOTSKIJ zu den stabilen Altersperioden, denn es ist eine Altersstufe, in der der Heranwachsende, wie ich noch zeigen werde, riesige Fortschritte macht und die wesentlichen Synthesen in der Persönlichkeitsentwicklung stattfinden (ebd., S.71).

4.3 Die Entwicklung im Jugendalter nach VYGOTSKIJ

Der Jugendliche geht vom Komplexdenken des jüngeren Schulkindes zum begrifflichen Denken über. Damit entsteht eine völlig neue Form von Beziehungen zwischen dem abstrakten und den konkreten Momenten des Denkens (VYGOTSKIJ 2003, S.375ff). Die Begriffe des jüngeren Schulkindes enthalten zwar schon eine gewisse Verallge- meinerung und Zusammenfassung verschiedener Merkmale, aber dem Kind ist die Verallgemeinerung noch nicht bewusst geworden. Außerdem fehlt seinen Begriffen noch eine logische Hierarchie und die Synthese seiner verschieden Elemente. Es be- greift das Wort als eine Eigenschaft des Gegenstandes neben anderen. VYGOTSKIJ bezeichnete diese Art des Begriffs als ‚Pseudobegriffe’, PIAGET als ‚Konglomeratbeg- riffe’ (ebd., S.444 u. 446). Auf dieser Basis kann schon eine rein sprachliche Orientierung erfolgen, aber noch ist die innere Sprache dem praktischen Denken gleichgesetzt und zeigt eine deutliche Diskrepanz zu den Möglichkeiten der äußeren Sprache (ebd., S.527). Das Kind ist nicht in der Lage, den Weg, den seine Gedanken genommen haben zu rekonstruieren, weil es sich seiner Operationen nicht bewusst ist. Folglich ist es auch nicht fähig, diese zu steuern, worauf seine Unfähigkeit beruht, logisch zu denken. Nach VYGOTSKIJ sind Anlässe in der Umwelt des (etwa 12-jährigen) Kindes die Ursa- che der Entwicklung immer neuer und höherer Denkformen. Neue Probleme verlangen von ihm eine geistige Anpassung und schaffen die Notwendigkeit, sich der Inhalte des eigenen Denkens bewusst zu werden. Als Beispiel nennt er Auseinandersetzungen in der Kindergruppe. „Hierbei besteht die Notwendigkeit, zu beweisen, zu argumentieren, die eigenen Gedanken zu begründen, zu rechtfertigen; und dazu bedarf es der Ent- wicklung des formal-logischen Denkens“ (VYGOTSKIJ 2003, S.430).

[...]


1 (Quelle: Interviews 2001, Zeile 3089ff).

2 Interviewleitfaden (siehe Anhang, S.80), die CD-ROM mit allen Interviews liegt bei.

3 In der gesamten Examensarbeit finden sich in Sprechblasen Ausschnitte aus den Interviews. Die Interviewer sind durch „I1“ oder „I2“ gekennzeichnet, die Schüler durch den Anfangsbuchstaben des Vornamens, gefolgt von einem „w“ für weiblich bzw. „m“ für männlich, um die Anonymität der Person zu wahren. Die Aussagen der Haupt- und Realschüler sind durch die Farbe Blau, die der behinderten Mitschüler durch die Farbe Rot zu erkennen

4 (JANTZEN u.a. 2003, S.1; Hervorhebung im Original)

5 Aus Gründen einfacherer Schreibweise und besserer Lesbarkeit verwende ich im Text überwiegend die grammatikalisch übliche, männliche Sprachform, wenn es der unterschiedliche Blickwinkel der Geschlechter erfordert, werde ich dies durch die Verwendung „Schülerin/ Schüler“ deutlich machen – gleiches gilt für „Lehrerinnen/ Lehrer“, usw.

6 Es stellt sich an dieser Stelle die Frage, wie zutreffend der von VYGOTSKI bestimmte Zeitpunkt für den Beginn der einzelnen Krisen noch ist. Die Untersuchungen von TANNER (1990) belegen eindeutig, dass z.B. die Pubertät bei Mädchen heute schondeutlich früher (oft schon am Ende der Grundschulzeit) einsetzt.

Ende der Leseprobe aus 80 Seiten

Details

Titel
Persönlichkeitsentwicklung in Pubertät und Adoleszenz als Kernproblem von inklusivem Unterricht in der Sekundarstufe
Hochschule
Universität Bremen
Note
1,0
Autor
Jahr
2005
Seiten
80
Katalognummer
V53587
ISBN (eBook)
9783638489966
Dateigröße
810 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Auswertung eines integrativen Schulversuchs in der Sekundarstufe 1
Schlagworte
Persönlichkeitsentwicklung, Pubertät, Adoleszenz, Kernproblem, Unterricht, Sekundarstufe
Arbeit zitieren
Cora Ditter (Autor:in), 2005, Persönlichkeitsentwicklung in Pubertät und Adoleszenz als Kernproblem von inklusivem Unterricht in der Sekundarstufe, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/53587

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