Ein Plädoyer für die brauchbare Illegalität. Warum VW nicht überall ist


Akademische Arbeit, 2017

14 Seiten, Note: 1,7

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Informalität, die Kehrseite formaler Organisation
2.1. Brauchbare Illegalität als Teil der informellen Struktur

3. Stefan Kühls “VW ist überall. Die alltägliche Normalität der Regelabweichung“

4. Der Fall VW

5. Das klassische Beispiel, der Einsatz von Gewindebohrern in der Flugzeugfabrik

6. VW und die Airplane Factory von Bensman &Gerver – Ein Vergleich

7. Fazit

1. Einleitung

In den vergangenen Jahren sind immer wieder große deutsche Firmen, wegen ihrer unlauteren Machenschaften, in die Schlagzeilen geraten. Betrug, Korruption, Vetternwirtschaft und schwarze Kassen scheinen legales Geschäftsgebaren abgelöst zu haben. Zu Siemens mit seinen Schmiergeldzahlungen, zur CDU mit ihren schwarzen Kassen und zur FIFA mit ihrem gekauften Sommermärchen, reiht sich nun der VW-Konzern mit seinem Diesel-Gate ein. Dem unwissenden Laien mögen diese Entwicklungen schockieren und der Ruf nach Sanktionen, und spürbaren Konsequenzen für “die da oben “, die “tun was sie wollen “ richtet sich laut an Politik und Justiz.

Die Soziologie als Wissenschaft sieht das etwas anders als der Laie, oder zumindest der Soziologe Stefan Kühl tut das. Er bietet mit seinem Artikel “Volkswagen ist überall“ eine alternative Perspektive an, wie die medial vorgeführten Entwicklungen in vielen Organisationen zu bewerten sind. Hierfür bedient er sich des Begriffs der brauchbaren Illegalität von Niklas Luhmann und erklärt diese vielfachen Fälle von Korruption und Betrug in den genannten Beispielen für einen natürlichen Vorgang, der als Folge informeller Prozesse im Gewand der brauchbaren Illegalität auftritt.

Es ist sicherlich richtig, dass vieles zweifelhafte und auch weniger zweifelhafte Gebaren, das in Organisationen stattfindet, unter den Begriff der brauchbaren Illegalität subsumiert werden kann. Luhmann selbst beschrieb es als das „Grau einer Zwischenzone [in der] zahlreiche Figuren sichtbar [werden], die nicht eindeutig dem legalen oder dem illegalen Bereich zugeordnet werden können.“1 Diese Figuren handeln im Sinne Luhmanns zwar nicht im Auftrag der Organisation illegal, aber doch im Interesse der Organisation, denn wie der Begriff brauchbar impliziert, bringt dieses illegale Verhalten der Organisation einen Nutzen. Das werde ich weiter unten noch genauer erörtern.

Das Problem, welches ich hier sehe und das ich zum Thema dieser Hausarbeit machen möchte ist, die grenzen- und hemmungslose Anwendung des Begriffes brauchbare Illegalität. Illegales Verhalten per se ist immer für irgendwen brauchbar; auch ein Mord im Interesse einer bestimmten Organisation, kann für diese durchaus auch brauchbar sein. Aber ob das im Sinne Luhmanns ist und ob das dem Begriff brauchbare Illegalität gerecht wird, möchte ich hier in Frage stellen. In der Struktur einer jeden Organisation spielt informelles Verhalten, wozu auch die brachbare Illegalität gehört, eine tragende Rolle; sie mit Korruption und Betrug in einen Topf zu werfen vermittelt vor allem für einen Laien ein, wie ich finde, unzutreffendes Bild.

Um diesen Behauptungen gerecht zu werden möchte ich ganz zu Beginn meiner Ausführungen auf den Sinn und Zweck informeller Strukturen in Organisationen eingehen und dabei besonders auf den Begriff der brauchbaren Illegalität von Niklas Luhmann. Anschließend werden ich den Artikel von Stefan Kühl, von dem hier die Rede ist, vorstellen und seine Hauptaussagen herausarbeiten. Weiter werde ich den Fall VW skizzieren, wie er in der Zeitschrift Der Spiegel dargelegt wurde. Um Vergleichsmaterial zur Verfügung zu haben, werden ich anschließend das klassische Beispiel für Brauchbare Illegalität – den Einsatz von Gewindebohrern in einer amerikanischen Flugzeugfabrik – vorstellen. Daran anschließend werde ich zu guter Letzt die Fälle VW und Flugzeugfabrik unter dem Augenmerk der brauchbaren Illegalität vergleichen und die wesentlichen Unterschiede aufzeigen, um damit der Argumentation von Herrn Kühl widersprechen zu können.

2. Informalität, die Kehrseite formaler Organisation

Um auf den Begriff der Informalität zu kommen und damit zur brauchbaren Illegalität ist es notwendig erst einmal die formale Seite einer Organisation zu erläutern. Für Luhmann sind Organisation zuerst einmal immer soziale Systeme, wobei ein System aus Einheiten besteht, die durch Beziehungen (Kommunikationen) zu einem Ganzen verbunden werden.2 Luhmann lässt den Menschen an sich außen vor, er spricht von Einheiten und Kommunikationen, weil der Mensch selbst für seine Systemvorstellung irrelevant ist. Relevant ist hingegen was vom Menschen ausgeht und das System konstituiert. Erst durch diese Beziehungen wird das System zu einem Ganzen. Er sagt: „Die Art, wie die Teile zu einem Ganzen zusammengeordnet sind, macht die Struktur des Systems aus.“3 Aber, nicht jedes soziale System ist gleichzeitig eine Organisation. Eine formale Organisation zeichnet sich dadurch aus, dass sie „die Identität des Systems gegenüber wechselnden Personen und Orientierungsinhalten sichert.“4 Das heißt, sie ist ein in sich geschlossenes System, welches sich aus Mitgliedern zusammensetzt, zwischen denen ein Konsens darüber besteht was die Mitgliedsrolle innerhalb dieses Systems ausmacht und wer Nichtmitglied ist.5 Dieser Konsens sind formale Erwartungen/formalen Richtlinien der Organisation, die sie ihren Mitglieder aufträgt und die mit der Mitgliedsrolle verbunden sind. Das heißt „dass die Nichtanerkennung oder Nichterfüllung dieser Erwartungen mit der Fortsetzung der Mitgliedschaft unvereinbar ist.“6 Diese formale Organisationsidentität besteht unabhängig von wechselnden Mitgliedern und steht schwankenden Orientierungen nicht zur Disposition. Sie ist was die Organisation von außen betrachtet ausmacht und worauf man sich unabhängig von der Mitgliedschaft berufen kann. Ein Kunde oder Bürger kann sich zum Beispiel auf formale Strukturen berufen und sie auch als Nichtmitglied einfordern. Die formale Struktur verleiht der Organisation ihre Stabilität. Hinter dieser stabilen, moralisch einwandfreien und legalen Fassade existiert aber noch eine andere Seite: die informelle Organisation. Informelle Handlungsweisen sind die Rückseite der formalen Organisationsmedaille. Es sind regelmäßige Abweichungen von der festgesetzten Regelstruktur einer Organisation. Es ist nicht ausreichend, dass einzelne Mitglieder individuell von den Organisationsregeln abweichen, um von Informalität zu sprechen; Erst wenn sich unter mehreren Mitgliedern erwartbare Handlungsabläufe einschleichen und etablieren kann von informellen Strukturen die Rede sein.7 „Es ist die Rede vom „Unterleben“ einer Organisation, das sich jenseits der offiziellen Regeln ausbildet.“8 Mittlerweile besteht der wissenschaftliche Konsens, dass Informalität ein fester Bestand einer jeden Organisation ist. Mehr noch, eine Organisation würde ganz schnell an ihre Grenzen stoßen, wenn sich jeder einzelne Mitarbeiter zu hundert Prozent an die formalen Richtlinien halten würde. Nicht ohne Grund ist der “Dienst nach Vorschrift“ eine Bedrohung für den reibungslosen Ablauf in Organisationen.9 Aber obwohl die Informalität aus der Organisationsstruktur nicht wegzudenken ist, hat sie keinen rechtlichen Anspruch auf Gültigkeit. Während man sich auf formale Regeln berufen kann auch wenn sie nicht allgemein praktiziert werden, ist das Berufen auf informale Regeln nicht möglich, auch wenn sie allgemeinhin angewendet werden.10

2.1. Brauchbare Illegalität als Teil der informellen Struktur

Ein Teil dieser informellen Struktur ist die brauchbare Illegalität. Doch zunächst einmal ist es nötig eine Begriffsdefinition vorzunehmen. Das Wort Illegalität im Rechtssystem wie auch im Volksmund beinhaltet allgemein alle Verstöße gegen die geltenden Gesetze eines Landes - juristisch verankerte Gesetzt, die von Polizei und Gerichten durchgesetzt werden können und müssen. Diese volkstümliche Definition hatte Luhmann bei seinem Konzept der brauchbaren Illegalität nicht im Sinn. Nicht umsonst sagt er zu Beginn des Kapitels über selbige: „Illegal wollen wir ein Verhalten nennen, das formale Erwartungen verletzt.“11 Formale Erwartungen in Organisationen sind keine juristisch verankerten Gesetzt, es sind Satzungen, Ordnungen und Regelwerke, die eine Organisation sich selber gibt. Natürlich können juristische Gesetzt in solche Regelwerke aufgenommen werden, aber organisationseigene Regelwerke sind nicht per se Gesetze in rechtlichen Sinn. Vielmehr stellen sie Hausordnungen, Arbeitsschutzverordnungen, Produktionsrichtlinien, Verhaltenskodexe, Satzungen usw. dar, die wie bereits weiter oben beschrieben einen Konsens der Mitglieder widergeben und die formalen Strukturen und Erwartungen einer Organisation ausmachen. Luhmann verortet nun die brauchbare Illegalität im Gegensatz zu eben diesen formalen Erwartungen. Er nennt es wie folgt:

„Wenn ein System eine eigene, widerspruchsfreie Normordnung zu stabilisieren sucht gerät es dadurch in Anpassungsschwierigkeiten. Seine Erhaltung in einer wechselnden, unkontrollierbaren Umwelt wird zum Problem. Sich widersprechende Erwartungen werden an das System gerichtet; es kann nicht allen Erwartungen folgen, wenn es nach eigenen Normen leben will. In dem Maße, als dieses Problem an Schärfe gewinnt, werden Handlungen notwendig, die nicht im Einklang mit den eigenen Normen stehen, aber der Anpassung des Systems an Umwelterwartungen dienen.“12

Es sind unvermeidbare nichtlegitimierbare Handlungen, die ein System braucht, um nicht handlungsunfähig zu werden nach außen. In dem Fall des VW Abgas-Skandals interessieren aber viel mehr die normabweichenden Handlungen, die sich innerhalb des geschlossenen Systems ausbilden. Luhmann unterscheidet nämlich zwischen von außen herangetragenen Umwelterwartungen und den inneren. Ab einer bestimmen Größe differenzieren sich Organisationen nach innen aus und bilden Subsysteme – verschiedene Abteilungen – die „eine eigene Normordnung stabilisieren“13 Diese Subsysteme, „sollen sie Bestand und Grenzen ihrer Normorientierung wirksam konstant halten, [benötigen dazu Handlungen], die im Rahmen des globalen Systems nicht mehr zu rechtfertigen sind.“14 Natürlich unterliegen die einzelnen Abteilungen den formalen Richtlinien der Organisation, der sie angehören; die Abteilungen entstehen häufig aus Gründen der Arbeitsteilung, d.h. sie haben für sich genommen abgeschlossene Aufgabenbereiche mit wirtschaftlichen und zeitlichen Vorgaben, die erfüllt werden müssen und die in den anderen Abteilungen keine Rolle spielen. Mit anderen Worten, um Teil des Ganzen sein zu können, muss jede Abteilung erst einmal für sich ihre Aufgaben bewältigen. Für diese Bewältigung bilden sich eigene informelle Strukturen und mit ihnen brauchbare illegale Handlungsweise aus, die nur diesem speziellen Subsystem eigen sind und die gegenüber den anderen Abteilungen nicht kommuniziert werden können und dürfen. Luhmann schreibt dazu:

„[…], dass Illegalität latent bleiben muß. Die Verborgenheit des Illegalen bedeutet nicht nur, daß besondere Hilfshandlungen des Schützens und Versteckens notwendig werden, die den normalen Betrieb stören. Wichtiger ist ein zweiter Punkt: daß nicht nur das Handeln, sondern auch seine Funktion für das soziale System verborgen bleiben muß. Es kann nicht mit Gründen erwartet und gerechtfertigt werden und wird deshalb stets als individuell, persönlich, freiwillig erscheinen.“15

Das heißt, die illegalen Handlungen innerhalb der Subsysteme, wie brauchbar sie auch sein mögen, sind an die handelnden Personen gebunden. Entfällt eine oder mehrere Schlüsselpersonen, kann das illegale Handeln nicht ungestört fortgesetzt werden, weil von den Nachfolgern dasselbe Verhalten nicht erwartet werden kann.

Somit lässt sich zusammenfassend sagen, dass brauchbare Illegalität als Teil der informellen Struktur zunächst innerhalb gesteckter Systemgrenzen verortet werden kann; es ist nicht selbstverständlich, dass sie über Systemgrenzen hinweg oder in Hierarchien ohne weiteres praktiziert werden kann. Vielmehr ist sie ein Geflecht aus „zarten Fäden“16, welches an die Moral und Kosten-Nutzen-Einschätzung der einzelnen handelnden Personen gebunden ist.

3. Stefan Kühls “Volkswagen ist überall. Die alltägliche Normalität der Regelabweichung“

In seinem Artikel zeichnet Herr Kühl ein Bild, welches VW nahezu als Opfer moralischer Berichterstattung suggeriert. „Die Gesetzesverstöße von Volkswagen [sind] alles andere als überraschend.“17 Vergleichbares finde sich „[…] wenn man nur genau hinsieht – in jedem Unternehmen, jeder Verwaltung, Jedem Ministerium.“ Er subsumiert dieses „Vergleichbare“ unter den Begriff der brauchbaren Illegalität. Organisationen seien überhaupt erst durch das permanente Ausbalancieren von formalen und informalen Prozessen an eine sich ständig verändernde Umwelt, anpassungsfähig. Es klingt, als seien Gesetzesverstöße demnach etwas völlig Legitimes, um mit der Zeit zu gehen. Die Entwicklung krimineller Energie bezeichnet er als „Kreativität in den Entwicklungs- und Prüfabteilungen“18, die schmale Reifen für weniger Reibung aufziehen, die in hohen Gängen fahren um spritsparend zu fahren und die eigenmächtig manipulative Software entwickeln, um im Unternehmen gut dazustehen. Der Einsatz verbotener Mittel würde hierbei nicht formal beschlossen, sondern schleiche sich ein und sei plötzlich da. Die repräsentativen Fassaden von Unternehmen, wie auch von Verwaltungen, Hochschulen oder Armeen seien hergerichtete Schauseiten, die nach außen hin Legalität und eine Daseinsberechtigung attestieren, jedoch hätten diese Schauseiten nichts mit der Realität dieser Organisationen zu tun.19 Als Fazit resümiert Herr Kühl, dass VW lediglich mangelhaftes Management ihre illegalen Prozesse vorzuwerfen wäre. „Letztlich ist die Führung von Volkswagen nicht an ihren alltäglichen Regelabweichungen gescheitert, sondern an dem unprofessionellen Management ihrer brauchbaren Illegalität.“20

[...]


1 Luhmann, Funktion und Folgen formaler Organisation, S. 304

2 Luhmann, Funktion und Folgen formaler Organisation, S. 23

3 Luhmann, Funktion und Folgen formaler Organisation, S. 23

4 Luhmann, Funktion und Folgen formaler Organisation, S. 29

5 Tacke, Veronika, Formalität und Informalität, S. 58

6 Tacke, Veronika, Formalität und Informalität, S. 59

7 Kühl, Stefan, Maschinen, Spiele und Fassaden: Die drei Seiten der Organisation, S. 115

8 Kühl, Stefan, Maschinen, Spiele und Fassaden: Die drei Seiten der Organisation, S. 113

9 Kühl, Stefan, Maschinen, Spiele und Fassaden: Die drei Seiten der Organisation, S. 113

10 Kühl, Stefan, Maschinen, Spiele und Fassaden: Die drei Seiten der Organisation, S. 116

11 Luhmann, Funktion und Folgen formaler Organisation, S. 304

12 Luhmann, Funktion und Folgen formaler Organisation, S. 305

13 Luhmann, Funktion und Folgen formaler Organisation, S. 306

14 Luhmann, Funktion und Folgen formaler Organisation, S. 307

15 Luhmann, Funktion und Folgen formaler Organisation, S. 313

16 Luhmann, Funktion und Folgen formaler Organisation, S. 314

17 Kühl,Stefan, Volkswagen ist überall, S. 1

18 Kühl,Stefan, Volkswagen ist überall, S. 4

19 Kühl, Stefan, Volkswagen ist überall S. 5

20 Kühl, Stefan, Volkswagen ist überall, S. 7

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Ein Plädoyer für die brauchbare Illegalität. Warum VW nicht überall ist
Hochschule
Universität Bielefeld
Veranstaltung
Brauchbare Illegalität. Informalität und Regelabweichung in Organisationen
Note
1,7
Jahr
2017
Seiten
14
Katalognummer
V535310
ISBN (eBook)
9783346127174
ISBN (Buch)
9783346127181
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Soziologie, Systemtheorie, Brauchbare Illegalität, VW, Organisationssoziologie, Dieselskandal
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Anonym, 2017, Ein Plädoyer für die brauchbare Illegalität. Warum VW nicht überall ist, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/535310

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