AD(H)S und/oder Trauma? Überlegungen zur Differentialdiagnostik, Komorbiditäten und möglichen Konsequenzen für therapeutische Interventionen

TraumAD(H)S?


Hausarbeit (Hauptseminar), 2018

38 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Zusammenfassung

1.0 Einleitung
1.1 Von der generellen Notwendigkeit weiterführender Forschung über die Pathogenese von ADHS
1.2 ADHS und/ oder Trauma?
1.3 Der Fall Carla

2.0 ADHS, PTBS oder „entwicklungsbezogenes Trauma“?
2.1 ADHS
2.1.1 Erklärungsfaktoren - Wie ADHS entsteht
2.2 PTBS
2.2.1 Erklärungsfaktoren – Wie eine PTBS entsteht
2.3 Differentialdiagnostische Abgrenzbarkeit ADHS- PTBS
2.3.1 Das Konstrukt der PTBS und die Diskrepanz zur Natur psychischer Traumata
2.4 Das entwicklungsbezogene Trauma
2.4.1 Differentialdiagnostische Abgrenzbarkeit ADHS und Entwicklungsbezogene Traumafolgestörung

3.0 ADHS und/oder Trauma?
3.1 Der Fall Carla
3.2 Zusammenfassende Betrachtung

4.0 Mögliche Konsequenzen

5.0 Ausblick

6.0 Anhang
6.1 Diagnostische Leitlinien für Entwicklungsbezogene Traumafolgestörungen (van der Kolk, 2016)

7.0 Literaturverzeichnis

Zusammenfassung

Die vorliegende Abhandlung setzt sich mit möglichen Zusammenhängen zwischen psychischen Traumatisierungen und ADHS- Erkrankungen mit dem Schwerpunkt (vornehmlich bei Kindern) auseinander.

Grundlage hierfür bieten Untersuchungen, allen voran eine ADHS- Trauma – Studie, in der u.a. eine erhöhte Komorbidität zwischen ADHS und PTBS verzeichnet werden konnte, wie auch die Beobachtungen des Verfassers, die auf der Verhaltensebene eine frappierende Ähnlichkeit beider Störungsbilder erkennen lassen.

Ausgehend von dem Fallbeispiel eines 9- jährigen Mädchen mit einer vermeintlichen ADHS Diagnose werden die kindlichen Symptome hyperkinetischer Störungsbilder den Symptomen von Störungsbildern aus dem Trauma - Spektrum gegenübergestellt, sowie Erklärungsmodelle für die Entstehung sowohl von ADHS als auch von PTBS angeführt und erläutert und beide Störungsbilder auf ihre differentialdiagnostische Abgrenzbarkeit hin untersucht.

Nach einer Kritik des in den diagnostischen Manualen ICD -10 und DSM -IV verwendeten Traumabegriffs wird der von van der Kolk et al. eingeführte Begriff der Entwicklungsbezogenen Traumafolgestörung erläutert, als sinnvolle diagnostische Option diskutiert und ebenfalls hinsichtlich seiner differentialdiagnostischen Abgrenzbarkeit zu ADHS betrachtet.

Vor diesem Hintergrund wird der skizzierte Fallbericht erneut aufgegriffen und differentialdiagnostisch beleuchtet, bevor unter Zuhilfenahme aktueller Studienergebnisse allgemeine Rückschlüsse sowohl für die Genese, die Diagnostik, als auch die Therapie von und den Umgang mit Aufmerksamkeitsstörungen/ ADHS gezogen werden.

Der Begriff der Entwicklungsbezogenen Traumafolgestörung wird schließlich in den Kontext des multikausalen biopsychosozialen Erklärungsmodells eingebettet, bevor in Form eines abschließenden Ausblicks auf den großen Bedarf weiterführender Forschung im Bereich des vorgestellten Themenkomplexes hingewiesen wird.

1.0 Einleitung

1.1 Von der generellen Notwendigkeit weiterführender Forschung über die Pathogenese von ADHS

ADHS ist nach wie vor ein Thema, dass sowohl aufgrund der weltweiten epidemiologischen Prävalenz von (je nach Schärfe der zugrunde gelegten diagnostischen Kriterien) etwa 5,3% (Polanczcyk et al. 2007) bis 6,7% (Scahill& Schwab- Stone, 2000), der kontroversen Diskussion über den mittlerweile fast standardisierten Einsatz von Psychostimulanzien zur Behandlung des Störungsbildes wie auch aufgrund des damit einhergehenden hohen medialen Interesses polarisiert und noch immer kontrovers diskutiert wird.

Dabei reichen die Überzeugungen und Meinungen sowohl von Experten als auch von Laien und Betroffenen von einer generellen Leugnung der Existenz des Störungsbildes über die Vermutung einer ausschließlich biogenetisch bedingten Regulationsstörung bis hin zur Annahme komplexer, multikausaler Bedingungsgefüge, die für die Manifestation des Syndroms verantwortlich gemacht werden.

Zwar wurden bereits zahlreiche Forschungen angestellt, spezifische Wirksamkeitsstudien für unterschiedliche therapeutische Interventionen durchgeführt, mögliche Erklärungsmodelle und Therapiekonzepte entwickelt, evaluiert, die Störung schließlich in die diagnostischen Verzeichnisse ICD-10 und DSM-V aufgenommen und auf dieser Basis entsprechende diagnostische Leitlinien von verschiedenen Verbänden publiziert.

Allein aber die Tatsache, dass noch immer kein allgemeiner Konsens über die möglichen Erklärungsfaktoren für die Ausbildung einer ADHS besteht, der hohe Leidensdruck, der sowohl bei fast allen betroffenen Kindern, als auch bei ihren Eltern zu verzeichnen ist, wie auch die, im Widerspruch zu den aktuellen Leitlinien stehende (Deutsche Gesellschaft für Kinder und Jugendpsychiatrie et al., 2007), in der Praxis jedoch noch immer oftmals überwiegende und nicht selten sogar ausschließlich pharmakotherapeutische Behandlung, die bei 70- 85% der Kindern zwar zu einer effektiven kurzfristigen Linderung der Symptome führt (Swanson et al., 1995), von 40% der medikamentös behandelten Kinder bereits binnen der ersten 6- 12 Monate abgebrochen wird (Garbe et al. 2012), begründen eine anhaltende intensive Auseinandersetzung mit den möglichen Ursachen für die Ausbildung einer ADHS und den daraus ggf. ableitbaren Interventionsoptionen.

Auch die Tatsache, dass Längsschnittstudien zufolge bei 60% der Betroffenen Merkmale einer Aufmerksamkeitsstörung bis ins Erwachsenenalter fortbestehen (Vuksanovic, 2015), von denen darüber hinaus ein großer Teil weitere komorbide psychiatrische Störungen ausbildet, lassen eine intensive Weiterbeforschung des Themenkomplexes fast zwingend notwendig erscheinen.

Die Relevanz wird auch deutlich vor dem Hintergrund der noch nicht völlig abzusehenden und unter Umständen dramatischen Auswirkungen auf kommende Generationen, von damit zusammenhängenden volkswirtschaftlichen Schäden ganz abgesehen.

1.2 ADHS und/ oder Trauma?

Bereits seit mehreren Jahren arbeite ich verhaltens- und entwicklungstherapeutisch, auch unter dem Einsatz neuerer Therapieansätzen, wie etwa der Neurofeedbacktherapie, mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die an Störungen aus dem Aufmerksamkeitsspektrum bzw. dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (im Folgenden ADHS) leiden.

Doch durch ein Praktikum, das ich im Rahmen meines Studiums der Psychologie kindlicher Lern- und Entwicklungsauffälligkeiten an der TU Kaiserslautern abzuleisten hatte, wurde ich auf einen Aspekt des Störungskomplexes aufmerksam, mit dem ich mich bis dato lediglich oberflächlich auseinandergesetzt hatte, da er u.a. in der einschlägigen Literatur noch sehr stiefmütterlich behandelt wird. Ausgerechnet dieser Aspekt erscheint mir mittlerweile jedoch sowohl im Hinblick auf die Diagnostik, wie auch vor allem auf die Therapie von Aufmerksamkeitsstörungen, aus verschiedenen Gründen, auf die ich an späterer Stelle näher eingehen möchte, von entscheidender Bedeutung zu sein scheint.

So fiel mir, auch vor dem Hintergrund meiner damaligen Lektüre von Levine`s „Verwundete Kinderseelen heilen“ (Levine, 2015), im Rahmen der Verhaltensbeobachtung von Kindern mit einer bestehenden ADHS- Diagnose und bei der Sichtung der entsprechenden Schülerakten mit Berichten über die jeweiligen Lebens- und Entwicklungsverläufe auf, dass eine Vielzahl dieser Kinder in ihrer Vergangenheit bereits derart überwältigende und einschneidende Erlebnisse durchleben musste, dass diese allein von Levine und anderen Trauma- Forschern bereits als „traumagenerierend“ angesehen werden und somit für sich genommen den größten Teil der auf der Verhaltensebene manifestierten und von mir beobachteten Symptome erklären könnten (vgl. Levine, 2015; Scaer, 2014; Van der Kolk, 2016) .

Ebenso konnte ich Situationen beiwohnen, von denen ich an späterer Stelle eine exemplarisch schildern möchte, in denen „ADHS- Kinder“ in fast dissoziativ zu nennende Zustände verfielen und starke Affekte ausagierten, die mit der aktuellen, realen Situation kaum erklärbar erschienen.

Der oftmals ineffektive Umgang der eigentlich gut ausgebildeten Pädagogen mit solchen Vorfällen ließ mich nicht unbeeindruckt. So stellte sich mir neben der Grundfrage zwischen den Zusammenhängen von ADHS und traumatischen Lebensereignissen zunehmend die Frage, inwieweit der zwar größtenteils konsequente, aber allem Anschein nach häufig fruchtlose Umgang mit auftretenden Krisensituationen die Verhaltensproblematik bei betroffenen, eventuell im weitesten Sinne als traumatisiert zu bezeichnenden Kindern, nicht eher verstärkte, als diese auf lange Sicht in eine positive Richtung zu modifizieren.

Weitere Literaturrecherchen bestätigten nicht nur eine generell sehr hohen Komorbiditätsrate der ADHS von bis zu 80% (Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie [DGKJP] et al., 2007), sondern ebenfalls den Verdacht einer anscheinend ebenfalls erhöhten Komorbidität zwischen traumatischen Kindheitserlebnissen und der Ausbildung von ADHS- Symptomen (vgl. etwa Sanderud, Karoline; Murphy, Siobhan; Elklit, Ask, 2016;), ADHS und PTBS (Vuksanovic, 2015) bzw. ADHS und “entwicklungsbezogenen Traumata“ (vgl. Van der Kolk, 2015).

So fasst die Pädiaterin Nevena Vuksanovic die Ergebnisse einer ADHS- Trauma Studie im Rahmen eines Vortrags an der ärztlichen Akademie München folgendermaßen zusammen:

„Alle Eltern wurden unter anderem nach zwei Arten von potentiell traumatischen Ereignissen im Leben ihrer Kinder befragt: erstens nach den Ereignissen, die in der Beziehung passiert sind – »Interpersonal Events« (IPEs; z. B. geschlagen werden, bedroht werden, Zeuge körperlicher Gewalt in der Familie sein) –, und zweitens nach den »Non Interpersonal Events« (nIPEs), die nicht in der Beziehung stattfanden (z. B. Autounfälle, Feuer erleben, Todesfälle in der Familie). ADHS-Jungen hatten fast jede Art von traumatischen Ereignissen häufiger erlebt als gesunde Gleichaltrige. Sehr interessant war allerdings, dass der signifikante Unterschied zwischen den zwei Gruppen hinsichtlich der IPEs – der Ereignisse, die in der Beziehung erlebt wurden – bestand (p=.004). Über 40 % der ADHS-Jungen hatten mindestens eines dieser Ereignisse im Hintergrund, viele auch mehrere. Dagegen war der Unterschied bei den nIPEs nicht signifikant.[...] In unserer Stichprobe (N= 80) waren über 70% der ADHS- Kinder gleichzeitig hinsichtlich der PTBS klinisch auffällig gewesen.“ (Vuksanovic, 2015, S.1)

Umgekehrt konnten Abram et al. in einer Untersuchung von jugendlichen männlichen Häftlingen mit PTBS bei 43%, bei jugendlichen weiblichen Häftlingen mit PTBS bei 40% eine komorbide ADHS verzeichnen. (Abram et al., 2007)

Vor dem Hintergrund dieser erhöhten Komorbidität, die zwischen Traumatisierungen/PTBS und ADHS offenbar zu verzeichnen ist, aber auch aufgrund der großen Ähnlichkeiten im Verhalten traumatisierter und hyperkinetischer bzw. ADHS- Betroffener Kinder (vgl. hierzu auch Van der Kolk, 2016; Levine, 2015; Scaer, 2014) möchte ich mich im Rahmen dieser Arbeit mit den möglichen Zusammenhängen und Komorbiditäten zwischen psychischen Traumata und ADHS auseinanderzusetzen und der Frage nachgehen, inwieweit Zusammenhänge zwischen traumatisierenden Erlebnissen und dem häufig noch als primär biologisch verstandenen Störungsbild der Aufmerksamkeitsstörungen bestehen und welche Rückschlüsse sich daraus für den Umgang mit und die Therapie von betroffenen Kindern ableiten lassen.

Nach einer kurzen Vorstellung des bereits erwähnten exemplarischen Fallbericht möchte ich zu diesem Zweck zunächst die spezifischen Symptome traumatisierter Kinder den Kernsymptomen von Kindern mit Aufmerksamkeitsstörungen gegenüberstellen und die Erklärungsmodelle für die Ausbildung von ADHS und PTBS erläutern, um den geschilderten Fall im Rahmen differentialdiagnostischer Überlegungen näher zu beleuchten.

Auch anhand der Beschreibung aktueller Studienergebnisse hoffe ich, daran anschließend zeigen zu können, dass der Einfluss von im weitesten Sinne als traumatisch beschreibbaren Ereignissen in der individuellen Lebensbiografie von Kindern mit Aufmerksamkeitsstörungen in vielen Fällen weder im diagnostischen -, noch in der Folge im pädagogischen und therapeutischen Prozess ausreichende Berücksichtigung findet, obwohl er bei einigen Kindern maßgeblich an der Entstehung und Aufrechterhaltung der auffälligsten ADHS- Symptome beteiligt zu sein scheint und darüber hinaus, im Gegensatz zur Annahme einer ausschließlichen oder überwiegenden genetischen Verursachung, unter Umständen eine gute Möglichkeit bietet, die steigenden Prävalenzraten der ADHS zu erklären.

Abschließend hoffe ich, auf Grundlage der hier angestellten Überlegungen Rückschlüsse für die Diagnostik, Therapie und den pädagogischen Umgang mit aufmerksamkeitsgestörten Kindern ziehen zu können.

1.3 Der Fall Carla

In der Zeit meines Praktikums konnte ich zahlreiche wertvolle Erfahrungen sammeln und allein durch die intensivierte Auseinandersetzung mit der sonderpädagogisch - entwicklungstherapeutischen Förderdiagnostik viel dazulernen.

Eine Schülerin jedoch beeindruckte mich sowohl aufgrund ihrer Lebensgeschichte als auch aufgrund ihrer, selbst für diese Schulform extremen, Verhaltensweisen und den Reaktionen, die sie bei ihren Lehrern hervorzurufen im Stande war, ganz besonders:

Bei Carla handelt es sich um ein 8 jähriges, leicht adipöses, rothaariges Mädchen, das, trotz ihrer recht verwahrlost wirkenden äußeren Erscheinung, auf den ersten Blick einen nicht unzufriedenen Eindruck auf mich machte.

Die nähere Betrachtung der Unterrichtsphasen, aber auch des freien Spiels mit anderen Kindern ließen mich diesen Eindruck jedoch bald revidieren. So gelang es der kognitiv durchaus gut begabten Schülerin kaum eine Minute, ruhig auf ihrem Einzelplatz in der ersten Reihe sitzen zu bleiben. Stattdessen schien sie im stetigen verbalen, auditiven und visuellen Kontakt mit allem zu stehen, das sich hinter ihrem Rücken befand. Die meiste Zeit rutschte und robbte sie auf ihrem Stuhl hin und her, baute teilweise ohne ersichtlichen Auslöser mit Hilfe ihrer Jacke eine Höhle unter dem Tisch, in die sie sich zurückzog und stellte, auch bei den leichtesten an sie gestellten Anforderungen, sehr zeitnah die Mitarbeit ein, um stattdessen wahlweise in Form eines Wutausbruches ihre Materialien zu zerstören und die Klasse zu verlassen, oder um durch exzessives Schluchzen und Weinen den Anforderungen zu entgehen. Grundsätzlich war es ihr nur selten möglich, im „Hier und Jetzt“ zu verweilen, den Fokus ihrer Aufmerksamkeit gezielt auf Aufgabenstellungen zu richten bzw. die mühselig hergestellte Aufmerksamkeit länger als wenige Minuten aufrecht zu erhalten. Darüber hinaus schien die Schülerin ein schlechtes Körperempfinden zu haben. So verletzte sie sich meist mehrmals täglich, klagte über diffuse Schmerzen und lief mit einem T- Shirt und Sandalen bekleidet (und dennoch stark schwitzend) über den Schulhof, während andere Kinder trotz dicker Jacken froren.

Nach einem langen Wochenende erlebte ich schließlich folgende Situation:

Die Klassenlehrerin forderte die Schüler nach der Morgenrunde und der hier erfolgten Erklärung des Tagesablaufs auf, ihre Materialien aus den Taschen zu holen und mit der Arbeit an ihren Aufgaben zu beginnen. Als Carla nach wiederholter Aufforderung nicht damit aufhörte, mit ihrem Fidget - Spinner zu spielen, statt sich mit der Aufgabenstellung auseinanderzusetzen, nahm ihr die Klassenlehrerin diesen schließlich in Form eines noch „kleinen“ Zweikampfes gewaltsam aus der Hand. Ab diesem Augenblick veränderten sich die Mimik und das bis dahin zwar unaufmerksame, aber nicht aggressive Verhalten der Schülerin schlagartig. Mit fast glasigem Blick und unter wüsten Beschimpfungen griff sie die Lehrerin massiv körperlich an, schlug wiederholt auf sie ein, bis sie schließlich von einem dazu geeilten Integrationshelfer zu Boden gerungen und dort von ihm und der Lehrerin fixiert wurde, während die anderen Kinder an diesem Geschehen vorbei auf den Schulhof eskortiert wurden.

Auch am Boden schrie das Mädchen weiter, während ihr Tränen die Wangen hinunterflossen. Jeder Versuch, das Kind zu beruhigen und es wieder aufstehen zu lassen scheiterte, da die Klassenlehrerin sofort erneut angegriffen, geschlagen, getreten und sogar gebissen wurde. Dieser Zustand hielt gute dreißig Minuten an und endete damit, dass das nassgeschwitzte und nunmehr völlig erschöpfte Mädchen mit einem Rettungswagen in die Kinder- und Jugendpsychiatrie gebracht wurde.

Diesen für alle Beteiligten hochgradig verstörenden Vorfall nahm ich zum Anlass, Carlas Schülerakte genauer zu sichten und im Rahmen einer Nachbesprechung weitere Informationen über die Schülerin zu gewinnen. Bei Carla wurde zwar, genau wie bei ihren zwei älteren Brüdern, die Diagnose eines Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms bzw. einer hyperkinetischen Störung gestellt, jedoch fanden sich in der Familienanamnese zahlreiche belastende Ereignisse, die sich, wie ich an späterer Stelle hoffe zeigen zu können, durchaus dem „Trauma- Spektrum“ zuordnen ließen und zumindest den Verdacht einer „Mit- Verursachung“, wenn nicht sogar den einer überwiegenden Bedingtheit der extremen Verhaltensweisen durch ebendiese „ungünstigen“ psychosozialen Umstände bzw. „kleinen“ und u.U. kumulierten Traumatisierungen rechtfertigen.

Bevor ich mich wieder dem hier skizzierten Fall zuwende um zu überprüfen, inwiefern dieser Verallgemeinerungen in Bezug auf die Zusammenhänge zwischen psychischen Traumata und ADHS zulässt, ist es an dieser Stelle erforderlich, eine Zäsur zu machen und zunächst die Symptome traumatisierter Kinder den Symptomen von Kindern mit einer ADHS, sowie aktuelle Erklärungsmodelle für die Genese/Ätiologie der beiden Störungsbilder gegenüberzustellen. Eine ausführliche Beschreibung und Diskussion der diagnostischen Leitlinien ist im Rahmen dieser Abhandlung nicht möglich und erscheint auch für den weiteren Argumentationsverlauf nur in Auszügen erforderlich, so dass diese bei Notwendigkeit inhaltlich in die Arbeit eingewoben werden.

In Bezug auf die Differentialdiagnostik wie auch vor allem auf die Pathogenese der Störungsbilder PTBS und ADHS erscheint es außerdem notwendig, die Begrifflichkeit der „Traumatisierung“ auch jenseits der diagnostischen Kriterien für eine PTBS zu klären und in diesem Zusammenhang den, von Van der Kolk vorgeschlagenen Begriff der „Entwicklungsbezogenen Traumata“ (bzw. Developmental Trauma Disorder, Van der Kolk, 2015) zu erläutern und ihn als sinnvolle (differential-) diagnostische Option vor allem auch im Zusammenhang mit ADHS- Erkrankungen zu diskutieren.

2.0 ADHS, PTBS oder „entwicklungsbezogenes Trauma“ ?

2.1 ADHS

Auch wenn „die Gewichtung der einzelnen Symptome, der Grad der Generalisierung über verschiedene Lebensbereiche hinweg (Familie Schule, Gleichaltrigengruppe) und die Abgrenzung von Subkategorien in der Literatur und in den verschiedenen Diagnosesystemen kontrovers behandelt werden“ (Döpfner, Schürmann, Fröhlich, 2007, S.5), besteht ein allgemeiner Konsens darüber, dass die hyperkinetische Störung (ICD-10, F90) auf der Verhaltensebene durch Auffälligkeiten in den Bereichen Aufmerksamkeit, Aktivität und Impulskontrolle gekennzeichnet ist. So lassen sich als die drei Kardinalsymptome der ADHS Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität benennen, die für die Diagnose einer ADHS nach ICD-10 in mehr oder weniger starker Form parallel, anhaltend (6 Monate und mehr) und in verschiedenen Lebensbereichen auftretend vorhanden sein müssen. Darüber hinaus müssen Auffälligkeiten in den genannten Bereichen bereits vor Beginn des 6. Lebensjahres nachweisbar sein (Barkley, 2006).

Kinder mit ADHS fallen vor allem bei der Bearbeitung von Aufgaben, aber auch im Spiel mit anderen Kindern, durch eine mangelnde Ausdauer bei der Bearbeitung von Aufgaben oder der Beschäftigung mit handlungsrelevanten Inhalten auf. Darüber hinaus ist eine erhöhte Ablenkbarkeit durch neue, vermeintlich interessantere Reize zu beobachten, so dass es betroffenen Kindern oftmals große Probleme bereitet, Aufgaben zu Ende zu bringen. Diese Auffälligkeiten lassen sich am besten mit Störungen in den Bereichen der selektiven, wie auch der Daueraufmerksamkeit beschreiben: Aufgabenrelevante Reize können nicht oder nur unzulänglich fokussiert, irrelevante Reize dagegen nicht ausreichend ignoriert werden (selektive Aufmerksamkeit), die Aufmerksamkeit kann zu alledem nicht über einen längeren Zeitraum hinweg aufrecht erhalten werden (Daueraufmerksamkeit). (vgl. Döpfner et al., 2007)

Durch diese Probleme der Aufmerksamkeitsaktivierung und -steuerung wirken die Kinder oft sehr unstet, sprunghaft und desorganisiert. Aufgaben werden meist nur sehr oberflächlich und mit einer Vielzahl von „Flüchtigkeitsfehlern“ bearbeitet und in vielen Fällen gar nicht zu Ende gebracht.

Das impulsive Verhalten betroffener Kinder stellt diese vor allem im Klassensetting, aber auch im freien Spiel oder dem generellen sozialen Miteinander mit anderen Kindern vor große Herausforderungen. Durch die Schwierigkeit, eigene Bedürfnisse aufzuschieben und abzuwarten, bis sie an der Reihe sind, platzen sie häufig mit Antworten heraus, fallen anderen ins Wort, unterbrechen andere und werden zusammenfassend meist als sehr störend wahrgenommen.

Außerdem „kann die Impulsivität zu Unfällen führen(z.B. Gegenstände umwerfen, in Leute hineinlaufen, eine heiße Pfanne anfassen) sowie zur Beschäftigung mit potentiell gefährlichen Aktivitäten, ohne dass auf die möglichen Konsequenzen geachtet wird.“ (Döpfner et.al, 2007)

Ein anhaltendes Muster extensiver motorische Aktivität und exzessiver Ruhelosigkeit, vor allem bei Aktivitäten, die eigentlich Ruhe verlangen, sind ein weiteres Hauptmerkmal der hyperkinetischen Störungsbilder. Im ICD- 10 wird dieses Verhalten als „eine desorganisierte, mangelhaft regulierte und überschießende Aktivität“ beschrieben. (DIMDI, 2017)

Während das ICD-10 vier Subtypen unterscheidet (F90, F90.1, F90.8, F90.9) und für Aufmerksamkeitsstörungen ohne Hyperaktivität eine Codierung unter F98.8, in Form einer eigenständigen kinderpsychiatrischen Diagnose (Emotionale Störung des Kindesalters, nicht näher bezeichnet) vorsieht (DIMDI, 2017), differenziert das DSM- V zwischen ADHS bei vorherrschender Unaufmerksamkeit, bei vorherrschender Hyperaktivität / Impulsivität, ADHS als Mischtyp (bei dem Symptome in allen drei Bereichen auftreten und der am ehesten F90.0 im ICD- 10 entspricht), sowie der Restkategorie der nicht näher bezeichneten Aufmerksamkeitsdefizit- Hyperaktivitätsstörung. (Falkei, 2015)

2.1.1 Erklärungsfaktoren - Wie ADHS entsteht

Trotz vielseitiger Forschungsbemühungen sind die Ursachen und Entstehungsmechanismen einer ADHS bis heute nicht abschließend geklärt. Da im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht auf sämtliche Erklärungsversuche für die Entstehung einer ADHS ausführlich eingegangen werden kann, bietet sich das integrative Erklärungsmodell als Grundlage für die noch folgenden Überlegungen an, da hier die bis dato bekannten und für die Entstehung des Störungsbildes als elementar angenommen ätiologischen Faktoren nicht nur zusammengefasst, sondern auch in ihrer Interaktion berücksichtigt werden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Biopsychosoziales Modell zur Entstehung von ADHS (Döpfner, Fröhlich, Lehmkuhl, 2013, S.17)

Allgemeiner Konsens besteht in der wissenschaftlichen Forschung darin, dass es sich bei ADHS um ein multifaktoriell verursachtes Syndrom handelt, bei dem genetische, biologische und neurophysiologische Risikofaktoren eine erhöhte Vulnerabilität der Betroffenen bedingen, die unter dem Einfluss weiterer, z.B. psychosozialer Faktoren zur Ausbildung einer ADHS führen kann. Epigenetisch wird auf Grundlage aktueller Forschungsergebnisse (z.B. Renner et al., 2008) eine komplexe Gen- Umwelt Interaktion angenommen, durch die „eine Dysregulation verschiedener Neurotransmittersysteme und neuronaler Regelkreise entsteht.“ (Vuksanovic, 2015)

Diese Dysregulationen, z.B. Auffälligkeiten im dopaminergen Transmittersyste, manifestieren sich dem integrativen Modell folgend in

(1) einer beeinträchtigten Aktivierungssteuerung,
(2) einer unzureichenden Inhibitionskontrolle, sowie
(3) einer beeinträchtigten Reizverarbeitung

Aufmerksamkeitsgestörte Kinder haben aus dieser Perspektive zusammenfassend Probleme,

(1) zentralnervöse Aktivierungsmuster an Aufgabenstellungen adäquat anzupassen (Vgl. Monastra , 1999; Valera, 2007) ,
(2) Handlungsimpulse zu unterdrücken und ihr Verhalten situationsgerecht zu steuern (vgl. etwa Barkley, 2005) und
(3) Signale/ eintreffende Reize angemessen zu erkennen und zu verarbeiten.

Aus diesen biologischen Bedingtheiten ergeben sich in der Folge teils ausgeprägte Schwierigkeiten im Bereich der Selbststeuerung, was sich vor allem in Form einer mangelnden Verhaltensregulation, einer defizitären Verhaltensorganisation, wie auch in Form von Fertigkeitsdefiziten äußern kann. In diesem Zusammenhang konnte durch verschiedene Studien und Metaanalysen nachgewiesen werden, dass ADHS- Patienten sich bezüglich der Ausbildung exekutiver Funktionen signifikant von Nichtbetroffenen unterscheiden (Hervey, Eppstein, Curry, 2004), weshalb es vermutlich zu den beschriebenen zu Problemen in der Selbst- und Verhaltenssteuerung kommt.

Auf der Verhaltensebene lassen sich schließlich die in 2.1 geschilderten Symptome und Verhaltensschwierigkeiten in mehr oder weniger starker Ausprägung beobachten, die ihrerseits ebenfalls mehr oder weniger starke Reaktionen der Umwelt, z.B. in Form ungünstiger Verstärkermuster coersiven Erziehungsverhaltens hervorrufen können.

Diese im weitesten Sinne ungünstigen psychosozialen Einflüsse führen einerseits in den meisten Fällen zu einer Problemverschärfung durch die Ausbildung komorbider Störungsbilder, ein Fakt, der für die Klärung möglicher Zusammenhänge zwischen Traumata und ADHS nicht unbedeutend zu sein scheint. Andererseits wirken sie sich in Form eines Teufelskreises negativ sowohl auf der genetischen, als auch auf der neurophysiologischen Ebene aus.

[...]

Ende der Leseprobe aus 38 Seiten

Details

Titel
AD(H)S und/oder Trauma? Überlegungen zur Differentialdiagnostik, Komorbiditäten und möglichen Konsequenzen für therapeutische Interventionen
Untertitel
TraumAD(H)S?
Hochschule
Rheinland-Pfälzische Technische Universität Kaiserslautern-Landau  (Psychologie)
Note
2,0
Autor
Jahr
2018
Seiten
38
Katalognummer
V535089
ISBN (eBook)
9783346134967
ISBN (Buch)
9783346134974
Sprache
Deutsch
Schlagworte
ADHS, PTBS, Entwicklungstrauma, Developmental Trauma, Differentialdiagnostik, Problemverhalten, Verhaltensstörungen, Psychologie, Entwicklung, Schule, Unterricht
Arbeit zitieren
Simon Müller (Autor:in), 2018, AD(H)S und/oder Trauma? Überlegungen zur Differentialdiagnostik, Komorbiditäten und möglichen Konsequenzen für therapeutische Interventionen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/535089

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