Martin Heideggers Bestimmung der Aufgabe des Denkens im Ende der Philosophie


Magisterarbeit, 2006

69 Seiten, Note: sehr gut (1.0)


Leseprobe


Inhalt

Vorrede

Ansichten und Anklänge: Vom Sehen und Hören

I. Eröffnung: Vom Ende und Anfang der Philosophie
1.1 Das Ende der Philosophie. Im Ende fügt sich…
1.2 … was im Anfang gestiftet worden ist. Die Leit- frage der Philosophie und ihre Beantwortung

II. Grenzgänge: „Wo Gefahr ist…“ - Zur Sache des Denkens: Aletheia, Zeit und Sein
2.1 Das Wesen der Wahrheit
2.2 Zeit und Sein

III. „ … wächst das Rettende auch.“ – ÜbergÄnge: Das Sein als Ereignis und Aletheia als Lichtung
3.1 Das Ereignis
3.2 Die Lichtung

IV. Die Aufgabe des Denkens und die Zukunft des Denkens

Dichter Hören

Eine kleine Nachrede

Literaturverzeichnis

Vorrede

Heideggers Denken ist ein Denken des Überganges. Es erfährt seine Impulse und Motive aus dem Bewusstsein einer sich selbst fragwürdig gewordenen Epoche, der ausgehenden Moderne. Eine Epoche, die sich selbst unheimlich und suspekt geworden ist. Es sind vor allem Nietzsche, Marx und Freud, die das neuzeitliche Projekt der Aufklärung und ihren zentralen Akteur, das vernünftige, autonome Subjekt in Zweifel gezogen haben. Heideggers Bezugspunkt ist vor allem Nietzsche.

Aus der Perspektive Heideggers markiert die Philosophie Nietzsches eine tiefgreifende Zäsur: In dem Moment, da der Mensch sich anschickt, die endgültige Herrschaft über die ganze Erde zu übernehmen, habe Nietzsche als erster danach gefragt, ob der Mensch dafür überhaupt bereit sei. Offensichtlich nicht. Der bisherige Mensch, der „letzte Mensch“ sei noch gar nicht in sein volles Wesen eingegangen. Gerade in seiner Wesensbestimmung als das animal rationale, das vernünftige Lebewesen, das vernehmen kann, was ist und was sein soll, sei der Mensch das „noch nicht festgestellte Tier.“[1] Erst der „Übermensch“ vermag in sein volles Wesen zu kommen: „Der Über-Mensch ist derjenige, der das Wesen des bisherigen Menschen in seine Wahrheit überführt und diese übernimmt.“[2] Allerdings, so Heidegger, musste Nietzsche scheitern, weil er, obgleich er den bisherigen Menschen in seiner Art und Weise des Denkens in den Blick bekommen hat, diese Art und Weise selbst nicht überwinden konnte. Indem Nietzsche den Willen zur Macht als eine causa prima und eine in allem waltende Kraft identifiziert[3], zeige Nietzsche, dass er letztendlich „nur metaphysisch denkt.“ Die inhaltliche Kritik an der Metaphysik vermag Metaphysik nicht aufzuheben, sie betreibt vielmehr deren Affirmation, solange sie der Form nach einem metaphysischen Denken verhaftet bleibt. Hier versucht Heidegger über Nietzsche hinauszukommen, indem er einem ganz anderen Denken, - einem „nachmetaphysischen Denken“ - auf der Spur ist.[4] Ein Denken, das sich auf den Weg gemacht hat, unterwegs ist.

Heideggers Denken ist ein Denken des Überganges, und das nicht nur dort wo es an Motive anknüpft, sondern darüber hinaus sich selbst stets in Frage gestellt und problematisiert hat. Während in Sein und Zeit das Dasein noch das ausgezeichnete Seiende ist, dem es um den Sinn von Sein geht und durchaus in der Tradition der Subjektphilosophie lesbar bleibt, ist Heidegger zunehmend um eine immanente Kritik der Fragestellung nach dem Sinn von Sein bemüht. Auch Sein und Zeit scheint rückblickend noch metaphysisch verhaftet.[5] Der Ansatz Heideggers ändert und wandelt sich. Anstatt primär nach dem Dasein zu fragen, gerät die Beschäftigung mit dem Sein selbst zunehmend in den Vordergrund. Das äußert sich vor allem in einer Hinwendung zur Geschichte der Philosophie.

Heidegger destruiert die Geschichte der Philosophie als Geschichte der Seinsvergessenheit. Seinsvergessen ist die Philosophie insofern, dass sie zwar immer über das Sein des Seienden nachgedacht hat, während ihr das Sein, als vom Sein des Seienden Unterschiedenes selbst verborgen und daher ungedacht bleiben musste. Heidegger prägt für diese Unterschiedenheit des Seins als Sein gegenüber dem Sein des Seienden den Terminus der ontologischen Differenz. Und doch: Der Begriff der ontologischen Differenz bewegt sich noch innerhalb eines metaphysischen Denkens, einem Denken für das die Differenz konstitutiv ist. Als ein Denken von etwas, setzt es ein denkendes Subjekt und ein Objekt des Denkens voraus. Das Sein soll sich aber jeder begrifflichen Bestimmung entziehen. Letztlich gerät man hier an das grundsätzliche Dilemma des Sprechens und des Denkens, das Heidegger nicht einfach umgehen kann: „[Das Sein] muss differenzlos gedacht werden, kann aber nur in Differenz gedacht werden. Heidegger hat auf die ontologische Differenz rekurriert. (…) Nun schlägt diese aber Differenz auf das Sein zurück. Denn wenn das Sein nicht Seiendes sein darf, wird – zwar nur über die Negation, aber doch – eine Bestimmung des Bestimmungslosen gegeben.“[6] Vor diesem Hintergrund muss jeder Versuch der Bestimmung des Seins fraglich sein. Die vielfachen sprachlichen und sprachbildlichen Veränderungen, die Heidegger vornimmt, etwa die alte Schreibweise Seyn, die kreuzweise Streichung des Seins, die Nennung des Seins als Ereignis, schließlich der Verzicht auf das „Sein als“, sind nur die äußerlichen Symptome dieser Schwierigkeit. Eine Schwierigkeit, die kenntlich gemacht worden und der sich Heidegger durchaus bewusst gewesen ist.[7] Gleichwohl stößt Heideggers Denken in diesem Punkt an ein unübergehbares formales Hindernis, die Art und Weise, wie etwas sagbar und denkbar sein soll, das sich dem Denken und Sagen zu entziehen scheint. Die Metaphysik lässt sich nicht willentlich überwinden oder gar beseitigen, wohl aber, so Heidegger, gehört es zum Grundzug der Metaphysik, sich selbst zu verwinden. Darin ist durchaus das Moment des Wegkommens von der Metaphysik mitgedacht, zugleich aber ist die Metaphysik unhintergehbar. Sie vollzieht ihre Wesensvollendung in der Verwindung: „Das Denken muß, um der Verwindung der Metaphysik zu entsprechen, zuvor das Wesen der Metaphysik verdeutlichen. Einem solchen Versuch erscheint die Verwindung der Metaphysik zunächst wie eine Überwindung, die das ausschließlich metaphysische Vorstellen nur hinter sich bringt […]. Aber in der Verwindung kehrt die … Wahrheit … der Metaphysik als deren nunmehr angeeignetes Wesen eigens zurück.“[8] – Von wessen Denken, dass der Verwindung der Metaphysik entspricht, hier die Rede ist? Spricht Heidegger nicht vielleicht unbemerkt von seinem eigenen Denken. Vielleicht ist im Begriff der Verwindung ein angemessenerer Lektürezugang zum Denken Heideggers zu suchen, eine Interpretation, wie sie etwa Gianni Vattimo vorschlägt, anstatt wie üblich dieses vor dem Hintergrund von Früh- und Spätwerk zu diskutieren.[9]

Und doch, in einem Punkt ist Heideggers Denken kein Denken des Überganges. Wo das Denken an seine Grenze gestoßen ist, die Sagbarkeit eines Unsagbaren, dort wo es sich verwunden hat in der Metaphysik, - dort muss es letztlich bereit sein zu springen, weil kein Weg hinüber führt. Ein Sprung in einen anderen Anfang des Denkens, das bereit ist dem Ereignis zu gehören.[10]

Diese Arbeit trägt den Titel: Die Bestimmung der Aufgabe des Denkens im Ende der Philosophie. Sie zeigt sich orientiert an Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens einem Vortrag, der von Martin Heidegger Ende April 1964 in Paris gehalten und dann 1969 als Text in den Sammelband Zur Sache des Denkens aufgenommen worden ist.[11] Darin charakterisiert Heidegger die gegenwärtige Zeit, als eine Zeit, in der die Philosophie fragwürdig geworden ist und in ihr Ende einkehrt. In der die Technik und die Wissenschaft in alle Lebensbereiche eingedrungen sind und eine ungeheure Macht über den Menschen beanspruchen. Diese Zeit wird von Heidegger notwendig gedacht als eine Zeit des Überganges, des Überschreitens einer Schwelle. Der Mensch steht in der Schwelle zu einem neuen Zeitalter. Ein solcher Schwellenstand erlaubt zum einen den Blick nach vorne, wie auch den zurück. In der Rückschau, blickt er auf die Geschichte der Philosophie, der Metaphysik, blickt er voraus, dann eröffnet sich ein Weg in ein anderes Denken, das nicht mehr Metaphysik sein kann.

Mit der sogenannten „Kehre“, der kritischen Infragestellung von Sein und Zeit seit etwa 1930,[12] hat die Thematisierung des Denkens bei Heidegger an maßgebender Bedeutung gewonnen, und sich in einer Vielzahl von Vorlesungen, Vorträgen und Publikationen niedergeschlagen. Die Beschäftigungen gipfeln in einer ungemein scharfen Provokation, dass der Mensch noch gar nicht angefangen habe zu denken: „Das Bedenklichste ist, daß wir noch gar nicht denken.“[13] Man fragt sich zu Recht, ob das überhaupt stimmt. Einerseits wird man schwerlich abstreiten können, dass es doch die Philosophie ist, die sich mit dem, was wesentlich Denken heißt, auseinander gesetzt hat. Dem würde Heidegger entgegnen: „Man denkt nicht mehr, sondern man beschäftigt sich mit Philosophie.“[14] Darauf mag man wiederum erwidern, ob das Denken nicht dasjenige ist, was den Menschen in ganz besonderem Maße auszeichnet. Es ist eine Konstante, die sich durch die abendländischen Geschichte zieht, den Menschen als das sprechende und insofern auch denkende Lebewesen vorzustellen: das animal rationale. In dieser Vorstellung begründet der Mensch seine herausgehobene Stellung innerhalb der Natur begründet. Unbewusst habe ich im Zusammenhang mit Denken von stellen, von vorstellen gesprochen und mich, für Heidegger, endgültig disqualifiziert. Auch ich denke nicht, weil ich vorstelle. Es ist das vorstellende und berechnende Denken, das Heidegger zurückweist, wenn er sagt, der Mensch denkt nicht. – Es scheint, dass gerade dort wo sie in ihr Ende (eschatos) kommt, der Philosophie dennoch eine letzte ‚Aufgabe des Denkens’ vorbehalten ist: Einer anderen Art und Weise des Denkens, wie der Mensch vielleicht doch noch einmal zu denken vermag, soll der Weg gewiesen werden. Dieser Weg führt keineswegs und schon gar nicht geradewegs an ein Ziel. Vielmehr in eine Irrnis, die ‚Sachen’ des Denkens, in das, was in der Philosophie strittig und verwirrend geblieben ist. Von dort erst kann sich der Blick dem zuwenden, was die Philosophie nicht erfahren konnte: Das Ereignis.

Das Denken muss bereit sein, sich zu ändern, im Vergleich zum vorstellenden Denken, schwächer, machtloser und wesentlich wirkungsloser, zugleich aber empfänglicher werden. Hölderlin spricht in seinem Gedicht Patmos davon, dass wo die Gefahr am größten ist, das Rettende wächst.[15] In der Not vermag sich etwas zu wenden. Das Rettende wächst. Nicht aber wächst das Rettende deshalb, weil der Mensch es will oder zu erzwingen versucht. Auch Heidegger kann letztlich nur etwas ankündigen, das noch im Kommen ist. Das Rettende selbst kommt dem Menschen zu: Ob überhaupt, und was der Mensch noch einmal denkt, liegt nicht mehr im ‚Ermessen’ des Menschen, sondern wird ihm gewährt und geschenkt. Dafür muss er zu allererst bereit sein zu vernehmen und zu empfangen. Nur so besteht die Hoffnung, dass das Rettende, wenn es erscheint, dem Menschen einen Weg aus der Seinsvergessenheit weist.

Diese Arbeit will über Heideggers Denken nicht urteilen, sondern strebt an, etwas herauszuarbeiten. Zunächst, inwiefern die Philosophie ihr Ende findet in den technischen Wissenschaften, dieses Ende selbst aber schon im Anfang der Philosophie angelegt ist in der Frage nach ihrem Gegenstand, dem Sein des Seienden. Daher ist bei aller Wandlungsfülle, der verschiedentlichen Auslegung des Seins des Seienden in der Seinsgeschichte vor allem auf die anfängliche metaphysische Position bei Platon und besonders bei Aristoteles einzugehen (I.). Dasjenige, was das Seiende hinsichtlich seines Seins auslegt, wird als Denken bestimmt. Auf dieser Grundlage, Gegenstand und Instrument der Philosophie, ist eine Problematisierung vorzunehmen. Anhand des „doppelten Leitmotivs“ im Denken Heideggers,[16] der Seinsfrage und der Wahrheitsfrage, soll das Strittige des Denkens (die Sachen des Denkens, II.) herausgestellt werden, das schließlich auf ein Ungedachtes hinweist. In den Worten Heideggers sind das, das Ereignis und die Lichtung (aletheia) (III).

Zu einigen formalen Gesichtspunkten ist folgendes zu vermerken: Griechische Termini sind in Umschrift wiedergegeben. Da meine Kenntnisse der altgriechischen Sprache nicht so gut sind, als dass sie mir Freiheit und Unabhängigkeit erlauben, ergaben sich in zweifacher Hinsicht Schwierigkeiten: Erstens musste ich auf traditionelle Übersetzungen der Werke Platons und Aristoteles’ zurückgreifen, die ihrerseits erheblich von Heideggers eigenen Übersetzungen abweichen. Zweitens pflegt Heidegger zentrale Begriffe und zum Teil ganze Textabschnitte in altgriechischer Sprache wiederzugeben. Hier blieb nur die Möglichkeit auf ein Altgriech-Lexikon zurückzugreifen,[17] die traditionellen Übersetzungen zu Rate zu ziehen oder auf Heideggers Paraphrase zu hoffen. Dies galt in ähnlicher Weise auch für die angemessene Überprüfung der Etymologien einiger zentraler Begriffe des Denkens Heideggers. Alles in allem eine unbefriedigende Situation, gerade dort, wo Heidegger ein (zumeist) außergewöhnliches Gespür für Sprache zeigt.

Die Arbeit selbst ist der äußerlichen Gestaltung nach eingelassen in eine Rahmung: Eine erste Annäherung an das Thema erfolgt über die kontrastierende Skizze verschiedener, aber konstitutiv wirkender Leitsinne. Für das abendländische Denken ist das vor allem das Sehen. Dagegen betont Heidegger das Hören. Das Motiv des Hörens ist abschließend wieder aufgenommen, vor dem Hintergrund eines grundsätzlichen Problems: das Problem der Sprache.

Ansichten und Anklänge: Vom Sehen und Hören.

„Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen“,[18] heißt es im ersten Satz der Metaphysik des Aristoteles. – Nach Wissen? Dann, wenn man den gängigen Übersetzungen folgt. Wie selbstverständlich wird dort der griechische Infinitiv eidenai ins Wortspektrum des Wissens und der Erkenntnis verortet. Das ist verwunderlich, denn der Satz geht ja weiter mit einem ausdrücklichen Verweis auf den menschlichen Augensinn: „dies beweist die Freude an den Sinneswahrnehmungen... und vor allen anderen [den] Wahrnehmungen der Augen.“Eidenai bedeutet ursprünglich nichts anderes als ‚sehen’, den ‚Anschein haben’ oder ‚sichtbar werden’, wie bei Homer, wenn er sagt „die Sterne werden sichtbar“.[19] Liegt es nicht näher, den Eröffnungssatz der Metaphysik mit „im Sinne des Menschen liegt wesenhaft die Sorge des Sehens“, wiederzugeben?[20]

Wie das eidenai, sind auch eine ganze Reihe anderer zentraler Begriffe der antiken Philosophie des Erkennens und Wissens, man denke etwa an Begriffe wie theoria, oder eidos und die idea – ihrer Herkunft nach im Bereich der Verba vivendi, der Worte des Sehens angesiedelt.[21]

Nun ist das Sehen eines Philosophen von anderer Art und Weise als das eines gewöhnlichen Menschen. In Platons Theaitetos wird von Thales berichtet, dass er während er in den Himmel schaut, um die – sichtbar gewordenen - Sterne zu beobachten, in einen Brunnen stürzt, worauf hin er, so wird weiter berichtet, von einer thrakischen Magd verspottet und mit den Worten getadelt worden ist, er wolle die Dinge am Himmel zu wissen bekommen, obwohl ihm schon das, was vor seinen Füssen liege, verborgen bleibe.[22] Interessant ist diese anekdotenhafte Erzählung deshalb, weil sie arche- und prototypisch auf die Hauptbeschäftigung des Philosophen verweist, sein Vermögen und eigentliches Können: Das theorein, das „eigentlich hinsehende Verstehen“[23], von dem sich unser Wort der Theorie ableitet. Es steht mit einem anderen griechischen Wort in engem Zusammenhang, dem thaumazein, das soviel bedeutet wie ‚sich wundern, staunen’, wenn man etwas anschaut.[24] Bei Aristoteles heißt es: „Denn die Verwunderung veranlasste zuerst wie noch jetzt die Menschen zum Philosophieren, indem man sich anfangs über die sich unmittelbar darbietenden unerklärlichen Erscheinungen verwunderte.“[25] Etwa die Gestirne, über deren Anblick Thales wohl so ins Staunen geriet, dass er dabei in den Brunnen fiel. Entscheidend geworden ist aber nicht allein das, ‚was es zu sehen gibt‘, die Natur, physis, so wie sie in ihrer Mannigfaltigkeit erscheint, sondern auch das, was eigentlich im und mit dem Augensinn nicht mehr sichtbar ist. Theorein bedeutet dann soviel wie das eingehende Hinschauen, das, weil es Verwunderung hervorruft, übergeht in ein gründliches Untersuchen und Überlegen. Das, was nicht mehr visuell, aber geistig zu sehen ist, sind eidos und idea bei Platon; bei Aristoteles die ousia. - „Die Einzeldinge kann man sehen, aber nicht denken, die Ideen jedoch denken, aber nicht sehen“, spätestens mit Platon ist der semantische Wechsel hin zum ‚geistigen Schauen‘ entschieden. Es überrascht allerdings nicht einmal, dass dieser eingeschlagene Weg vom Sehen (Wahrnehmen) zum Denken (Erkennen und Wissen) mittels einer Analogie der Sichtbarkeit begründet worden ist: das Sehen der augenscheinlichen, sinnlichen Welt wird die ‚geistige Schau’ der Vernunft, das Denken der ‚unsichtbaren‘ Welt der Ideen gegenüberstellt und in ihrer Wertigkeit dem Logos untergeordnet. Sprachlich bleibt auch Platons Ideenlehre an das Sehen gebunden und ihm verhaftet, den wie „alle Aufklärung will [sie] ‚zur Einsicht bewegen‘ und ‚die Augen öffnen‘ für das, was eigentlich und was essentiell ist.“[26] Für die Philosophie ist, - und gerade dies beweist sie in ihrer langwierigen Auseinandersetzung und zu meist vehementen Kritik der bloß sinnlichen Erfahrung, - vielleicht sogar für die gesamte abendländische Kultur, das Sehen konstitutiv gewesen und bis heute auch geblieben ist.

Eine ganz andere Fährte und Spur ist in Heideggers Besinnung auf die Frage, was das heiße, das Denken, in einer kleinen episodenhaften Anekdote angelegt: „Warte, ich werde dich lehren, was gehorchen heißt. – ruft die Mutter ihrem Buben nach, der nach Hause will. (…) Sie wird den Sohn in das Gehorchen bringen. Es glückt, umso einfacher, je unmittelbarer die Mutter den Sohn ins Hören bringt. (…) So, daß er vom Hörenwollen nicht mehr lassen kann. Weshalb nicht? Weil er hörend geworden ist für das, wohin sein Wesen gehört.“[27] – Gehorchen, ins Hören bringen, vom Hörenwollen nicht mehr lassen, hörend, gehören – kurz, es kommt auf das Hören an, wenn es um das Denken geht. Das Bedenklichste unserer Zeit sei nämlich, so diagnostiziert Heidegger hintergründig, dass der Mensch noch gar nicht denkt. Wohl dem, der da eine fürsorgliche Mutter hat, die es versteht, das zu Lernende, das Hören zu lehren. – Selbstverständlich ohne Schelte und Prügel. – Die Betonung des Hörens mutet in einer Zeit der Hegemonie des Visuellen befremdlich und geradezu anachronistisch an. Einerseits werden massenhaft Bilder produziert, transportiert und konsumiert. Andererseits hat sich eine Art der Forschung etabliert, für die Operationalisierung kein Problem der ‚Übersetzung‘ von Unsichtbarem in Sichtbares, sondern eine Selbstverständlichkeit ist. Erst was sichtbar ist, kann auch gemessen werden.

Dennoch, der Gedanke daran, dass das Hören dem Sehen gleichwertig, wenn nicht sogar überlegen sei, ist nicht neu. Heidegger reiht sich in eine lange, von ihm aber kaum erwähnte Tradition ein. Vielleicht ist sein Verschweigen darauf zurückzuführen, dass er eine allzu offenkundige Affinität zu dieser Tradition vermeiden wollte, - es ist nämlich die des Glaubens. ‚Gehorsam‘ gegenüber Gott und das Vernehmen des göttlichen Wortes prägen einerseits die althebräische Überlieferung, andererseits die christliche. Heißt es nicht zu Beginn des Johannesevangeliums: „Am Anfang war das Wort.“ Nicht zuletzt Martin Luther bringt dem Sehen, dem Sichtbaren, Bildhaften wenig Vertrauen entgegen. In der Merseburger Predigt vom 6. August 1545 lehrt er, das Reich Gottes sei „ein hör Reich, nicht ein sehe Reich. Denn die augen leiten und führen uns nicht dahin... die ohren müssen das thun.“[28]

Diese vorbereitenden Bemerkungen müssen an dieser Stelle andeutend und allenfalls skizzenhaft bleiben, sie müssen verzichten auf Vollständigkeit, weisen jedoch in eine Richtung: Die Philosophie hat es wesenhaft mit dem Sehen zu tun, wenn auch mit einer besonderen Art des Sehens, dem geistigen Schauens. Ein Denken, dass dagegen ausgerichtet ist auf ein hörendes Vernehmen, kann schwerlich mit der Philosophie übereinkommen: Der Mensch hat noch gar nicht angefangen zu denken. Wenn aber Denken nun heißt, hören zu lernen, bleibt die Frage:

Wem zuhören, vor allem was? – Was hört Heidegger?

[...]


[1] Was heißt Denken? Stuttgart 1992 (nachfolgend WD abgekürzt), S. 38 f. Heidegger bezieht sich auf eine Textstelle aus Jenseits von Gut und Böse, 62. In: Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. Hrsg. von Karl Schechta. München 1954, Bd. 2, S. 623.

[2] WD, S. 39.

[3] „Und wißt ihr auch, was mir ‚die Welt’ ist? Soll ich sie euch in meinem Spiegel zeigen? Diese Welt: ein Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang, ohne Ende, eine feste, eherne Größe von Kraft … diese meine dionysische Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstörens, diese Geheimnis-Welt der doppelten Wollüste, dies mein ‚Jenseits von Gut und Böse’, ohne Ziel, wenn nicht im Glück des Kreises ein Ziel liegt, ohne Willen, wenn nicht ein Ring zu sich selber guten Willen hat – wollt ihr einen Namen für diese Welt? Eine Lösung für alle ihre Rätsel? Ein Licht auch für euch, ihr Verborgensten, Stärksten, Unerschrockensten, Mitternächtlichsten? – Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem!“ (F. Nietzsche: Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre. In: Werke in drei Bänden. Hrsg. von Karl Schechta. München 1954, Bd. 3, S. 916 ff.)

[4] Vgl. J. Habermas: Nachmetaphysisches Denken. Frankfurt a. M. 1992. Siehe auch G. Vattimo: Das Ende der Moderne. Stuttgart 1990.

[5] Vgl. Über den Humanismus. In: Wegmarken. Frankfurt a. M. 1967. 32004 (nachfolgend WM abgekürzt), S. 337.

[6] O. Jahraus: Martin Heidegger. Stuttgart 2004, S. 205

[7] Diesem Drang fallen auch andere Begrifflichkeiten zum Opfer. Zu erwähnen ist, das es oftmals gerade die Termini sind, die das vorherrschende Heideggerbild ausmachen: Seinsvergessenheit, ontologische Differenz, Seyn, Sein. Sie werden im späten Denken von Heidegger wieder zurückgezogen und vermeiden, weil sie missverständlich und mehrdeutig bleiben. So ist beispielsweise in Zur Sache des Denkens nur noch vom Ereignis die Rede, das Sein als Anwesenheit gibt, nicht mehr von Sein als Ereignis, wie etwa in den Beiträgen zur Philosophie.

[8] Vorträge und Aufsätze. Pfullingen 1954. 51985 (nachfolgend VA abgekürzt), S. 74. Vgl. Beiträge zur Philosophie. (Vom Ereignis). 2. durchges. Aufl. 1994 (nachfolgend BZP abgekürzt) S. 182; Zur Sache des Denkens. Tübingen 1969. 31988 (nachfolgend ZSD abgekürzt), S. 25: „Sein ohne das Seiende denken heißt: Sein ohne Rücksicht auf die Metaphysik denken. Eine solche Rücksicht herrscht nun aber auch noch in der Absicht, die Metaphysik zu überwinden. Darum gilt es vom Überwinden abzulassen und die Metaphysik sich selbst zu überlassen.“

[9] G. Vattimo: Heideggers Verwindung der Moderne. In: Martin Heidegger: Denker der Post-Moderne, S. 49 – 66. Ders.: Das Ende der Moderne. Stuttgart 1990.

[10] Vgl. BZP, IV. Sprung, S. 227 – 289.

[11] Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens. In: ZSD, S. 61 – 80.

[12] Vgl. ZSD, S. 61; Über den Humanismus. In: WM, S. 327 f. - Die genaue zeitliche Einordnung und Datierung der sogenannten Kehre bleibt allerdings problematisch und umstritten, sogar, ob es überhaupt eine, oder nicht mehrere Kehren gegeben hat. Vgl. Dieter Thomä: Stichwort: Kehre. In: Heidegger-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Hrsg. von Dieter Thomä. Stuttgart 2003, S. 134 – 141. Sehr interessant ist der Vorschlag Thomäs zur Semantik der Kehre (Vgl. ebd. S. 135 f.) Von Heidegger ist bekannt, dass er passionierter Skifahrer war. Bei dem Wort Kehre sei nicht an die Kehre einer Bergstraße zu denken, sondern an ein schwieriges Manöver beim Skifahren. Kehre meint eine sprungartige 180-Gradwendung in abschüssigem Gelände, die zur Folge hat, dass der Fahrer, in die Sicht bekommt, was seinem Blick entzogen gewesen ist. Analog dazu versucht Heideggers Denken, das in den Blick zu bekommen, was dem Blick der Philosophie entzogen bleibt.

[13] WD, S. 4.

[14] Über den Humanismus. In: WM, S. 317.

[15] F. Hölderlin: Patmos. In: Sämtliche Gedichte und Hyperion. Hrsg. von J. Schmidt. Frankfurt a. M./Leipzig 1999, S. 350 ff.

[16] Walter Biemel: Martin Heidegger. Reinbek b. Hamburg 1973, S 35 f. Vgl. dazu kritisch Oliver Jahraus: Martin Heidegger. Stuttgart 2004, S. 155: „Diesen Begriff der Doppelung muss man relativieren, denn es handelt sich bei der Frage nach dem Sein und der Frage nach der Wahrheit eigentlich nicht um zwei Fragen, die eng miteinander zusammenhängen, sondern um eine einzige, für die die andere jeweils das Interpretament abgibt. Die begriffliche Differenzierung von Sein und Wahrheit löst sich auf.“

[17] Handwörterbuch der griechischen Sprache. Hrsg. von Wilhelm Pape, bearbeitet von Max Sengebusch. Braunschweig 1914. Wahrscheinlich handelt es sich um das Wörterbuch, das Heidegger auch benutzt haben dürfte. Vgl. Christian Iber: Interpretationen zur Vorsokratik. Frühgriechisches Denken und Heideggers Projektionen. In: Heidegger-Handbuch. Leben–Werk–Wirkung. Hrsg. von Dieter Thomä. Stuttgart 2003, S. 236.

[18] Aristoteles: Metaphysik, I 1, 980 a 21.

[19] Homer: llias 5, 556

[20] M. Heidegger: Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs. Zit. nach Blumenberg: Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie. Frankfurt a. M. 1987, S. 152.

[21] Vgl. Ralf Konersmann: Die Augen des Philosophen. Zur historischen Semantik und Kritik des Sehens. In: Kritik des Sehens. Hrsg. von Ralf Konersmann. Leipzig 1997, S. 9 – 47. Vgl. entsprechende Artikel im Handwörterbuch der griechischen Sprache hrsg. von Wilhelm Pape, bearbeitet von Max Sengebusch. Braunschweig 1914. – Theoria, das (unbeteiligte) Zuschauen und Anschauen eines Schauspiels (Theater); eidos, das in die Augen fallende, das Ansehen, die Gestalt; eidenai, sehen; idea, das Ansehen, die Gestalt und überhaupt die äußere Erscheinung. Diese Begriffe unterliegen im 5. Jahrhundert v. u. Zeit sukzessiv einer Bedeutungserweiterung – und Verschiebung und Unterordnung unter den Logosbegriff.

[22] Platon: Theaetet 147 b.

[23] Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Stuttgart 2002, S. 45.

[24] Vgl. Handwörterbuch der griechischen Sprache. Hrsg. von Wilhelm Pape, bearbeitet von Max Sengebusch. Braunschweig 1914, Bd. 1, S. 1188.

[25] Aristoteles: Metaphysik, I 2, 982 b 12. Vgl. Platon: Theaitetos, 155 d: „Denn dies ist der Zustand eines gar sehr die Weisheit liebenden Mannes, das Erstaunen; ja es gibt keinen anderen Anfang der Philosophie als diesen.“

[26] R. Konersmann: Die Augen des Philosophen, S. 20.

[27] WD, S. 29 f.

[28] Zit. nach R. Konersmann: Die Augen des Philosophen, S. 18.

Ende der Leseprobe aus 69 Seiten

Details

Titel
Martin Heideggers Bestimmung der Aufgabe des Denkens im Ende der Philosophie
Hochschule
Universität zu Köln  (Philosophisches Seminar)
Note
sehr gut (1.0)
Autor
Jahr
2006
Seiten
69
Katalognummer
V53505
ISBN (eBook)
9783638489430
ISBN (Buch)
9783638693196
Dateigröße
700 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Martin, Heideggers, Bestimmung, Aufgabe, Denkens, Ende, Philosophie
Arbeit zitieren
Nils Ramthun (Autor:in), 2006, Martin Heideggers Bestimmung der Aufgabe des Denkens im Ende der Philosophie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/53505

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