Determiniert zu Mord und Wahn? Zur Figurenkonstellation in Hauptmanns Bahnwärter Thiel


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

21 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Naturalistische Elemente im Bahnwärter Thiel

3. Die Figurenkonstellation
3.1 Die Frauenfiguren
3.2 Der Bahnwärter Thiel

4. Ausblick auf den Schluss der Handlung und zusammenfassendes Fazit

5. Bibliographie

1. Einleitung

Das ausgehende 19. Jahrhundert war eine Zeit der extremen sozialen und wirtschaftlichen Widersprüche. Das schnelle Anwachsen der Bevölkerung, der Aufstieg der exakten Naturwissenschaften und der Technik, die fortschreitende Industrielle Revolution und die mit der Landflucht einhergehende Verstädterung schufen ungeahnten Reichtum Weniger, während die Masse der Bevölkerung in sozialem Elend lebte. Immer deutlicher kristallisierte sich ein Gegensatz zwischen den Interessen der Großkapitalisten auf der einen Seite und denen des stetig wachsenden Proletariats auf der anderen Seite heraus. Trotz dem Einfluss der Gewerkschaften und der Sozialdemokratischen Partei verhallten die Forderungen dieser untersten Bevölkerungsschicht allzu oft ungehört.

Zugleich findet der Lebensbezirk des „Vierten Standes“ erstmals Eingang in die gehobene Literatur. Ein frühes Beispiel dafür in der deutschen Literatur ist die Novelle Bahnwärter Thiel, welche 1887 in Erkner bei Berlin während der Schaffensjahre Hauptmanns entstand, die er später als die vier Ecksteine seines ganzen Werkes[1] bezeichnen sollte. Ein Jahr später erschien Bahnwärter Thiel in der von Michael Georg Konrad herausgegebenen Zeitschrift Die Gesellschaft. Realistische Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben, dem Organ der Münchner Naturalisten. Dem der Öffentlichkeit zu dieser Zeit noch unbekannten fünfundzwanzigjährigen Autor gelang mit seiner Novelle der literarische Durchbruch: „Damit war ich als Schriftsteller in die Welt getreten.“[2] Bahnwärter Thiel folgten alsbald mehrere erfolgreiche Dramen wie Vor Sonnenaufgang, Die Weber oder Der Biberpelz, die Gerhart Hauptmann zum führenden Vertreter des Naturalismus in Deutschland machten.

Was aber ist das Außergewöhnliche an Bahnwärter Thiel, dass Literaturwissenschaftler wie Fritz Martini zu dem Urteil gelangen, die novellistische Studie habe „anspruchslos, im schmalen Format, den Rang von Weltliteratur“[3] ? Warum urteilte Hauptmanns Zeitgenosse Conrad, man habe seit Zola keine bessere Novelle in Deutschland gesehen?[4] Einen ersten Eindruck davon zu vermitteln, was den Bahnwärter Thiel so außergewöhnlich macht, wie meisterhaft Hauptmann es versteht auf gedrängtem Raum seine Erzählkunst zu entfalten, ist Ziel der vorliegenden Arbeit. Damit der Nachweis in angemessener Ausführlichkeit geführt werden kann, beschränkt sich die Interpretation aufgrund von Platzgründen vorwiegend auf einen exemplarisch gewählten Analysepunkt und vernachlässigt andere, potentiell ebenfalls äußerst ergiebige Problemstellungen.

Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit ist die eingehende Analyse der Figurenkonstellation mit besonderem Schwerpunkt auf dem Charakter des Protagonisten und den gegensätzlich ausgestalteten Frauenfiguren. Ziel dieser Interpretation ist es, vor allem die Ausgangsbedingungen minutiös herauszuarbeiten, die zu Beginn der Novelle herrschen, also noch weit vor der Katastrophe, der Auslöschung der Familie Thiel. Diese Fragestellung scheint insofern besonders relevant, da im naturalistischen Kontext, dem der Bahnwärter Thiel weitgehend zugeschrieben wird, die Ausgangsbedingungen im Rahmen eines deterministischen Menschenbilds von außerordentlicher Wichtigkeit sind.

Zunächst sollen deshalb einleitend die Annahmen der naturalistischen Strömung skizziert werden und, in einer ersten, vorwiegend auf der Makroebene operierenden Annäherung an die Novelle nach naturalistischen Elementen im Bahnwärter Thiel geforscht werden. Auf dieser Grundlage wird dann der Hauptteil, die Beleuchtung der Figurenkonstellation, in einem Schwenk auf die Mikroebene angegangen.

2. Naturalistische Elemente im Bahnwärter Thiel

Worauf gründet sich die Zuschreibung des Bahnwärter Thiel zum naturalistischen Kontext? Zur Beantwortung dieser Frage bedarf es zu allererst einem gesicherten Verständnis darüber, was ‚Naturalismus’ eigentlich meint. Im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft bestimmt Peter Sprengel, eine ausgewiesene Autorität auf diesem Gebiet, ‚Naturalismus’ als „radikale Form des Realismus […], die vom Weltbild des Positivismus beeinflusst war.“[5] Weiter heißt es dort:

Der Naturalismus als historische Bewegung zieht die Konsequenzen aus den Einsichten, die Biologie und Soziologie des 19. Jhs. in die Bedeutung von Erbanlagen und sozialem Milieu gewonnen haben. Indem er die Abhängigkeit des Menschen von genetischen und gesellschaftlichen Faktoren darstellt, korrigiert er den epigonalen Idealismus der Gründerzeit und meldet Protest gegen konkrete gesellschaftliche Verhältnisse an (Arbeiterelend, Prostitution, Alkoholismus, etc.). (Sprengel 2000: 684)

Weiter weist Sprengel auf Analogien zwischen den Malern des französischen Impressionismus und den Naturalisten hin und nennt als „übermächtiges Vorbild“[6] auch der deutschen Literaten das Romanschaffen und die Literaturtheorie Emile Zolas.[7] Neben der wichtigsten literarischen Form der Naturalisten, dem Drama, erwähnt Sprengel explizit auch die „Novelle bzw. novellistischen Studie oder Skizze“[8], in deren Darstellungstechnik das soziale Drama schon angelegt sei.[9] Als maßgeblichen Vertreter des deutschen Naturalismus nennt der Artikel schließlich in Übereinstimmung mit der literaturwissenschaftlichen Forschung Gerhart Hauptmann und erwähnt ferner auch Conrads Zeitschrift Die Gesellschaft. Welcher der genannten allgemeinen Merkmale lassen sich nun konkret im Bahnwärter Thiel nachweisen? Gibt es darüber hinaus noch weitere, für den Naturalismus typische Elemente?

Eine Zuordnung der Novelle zur naturalistischen Literatur legt bereits der Titel nahe. Titelheld ist ein einfacher ungebildeter Eisenbahnarbeiter, der dem ländlichen, kleinbürgerlichen Milieu entstammt. Seine Arbeit ist einfach und monoton, die Hauptbeschäftigung besteht im Herunter- und Herauflassen der Schranke beim Vorbeifahren der Züge; damit ist der Beruf des Bahnwärters in etwa mit einer herkömmlichen Botentätigkeit zu vergleichen.

Ebenso als Anhaltspunkt für eine Einordnung in die naturalistische Literatur zu werten ist der Untertitel Novellistische Studie aus dem märkischen Kiefernforst. Hauptmann nennt sein Werk nicht einfach nur Novelle, sondern eine Novellistische Studie. Das Wort ‚Studie’ legt einen Bezug zu Wissenschaft und akademischer Auseinandersetzung mit einem Thema nahe, indem eine genaue und ernsthafte Beschäftigung mit einem Gegenstand versucht wird. Dies wird auch durch einen Eintrag im Grimmschen Wörterbuch untermauert, das für ‚Studie’ unter anderem die Bedeutung ‚wissenschaftliche oder literarische Vorarbeit als eigenständige Darstellungsform’ angibt. Martini[10] schlägt zur Herkunft des Begriffs ‚Studie’ vor, dass Hauptmann den Begriff aus der zeitgenössischen impressionistischen Malerei übertragen habe, „in deren künstlerischem Programm die Freiluftstudie eine beherrschende Rolle“[11] gespielt hat.

Wie bereits kurz angeklungen ist, spielt Bahnwärter Thiel im kleinbürgerlichen Milieu. Der Ort der Handlung ist eine unbedeutende Siedlung, Neu-Zittau, im märkischen Kiefernforst. Die zweite Ehefrau des Thiel, Lene, entstammt ebenfalls einfachsten Verhältnissen und wird einleitend als eine „Kuhmagd aus Alte-Grund“[12] charakterisiert. Wollte man die Handlung der Novelle prägnant wiedergeben, könnte man folgendermaßen zusammen: Ein ungebildeter, phlegmatischer aber gutmütiger und gewissenhafter Bahnwärter geht an dem Einfluss der Umwelt auf seine Psyche und seinen Schuldgefühlen zu Grunde und wird zum Mörder.

Folgt man dieser Interpretation des Plots, so werden die Einflüsse der einflussreichen Milieutheorie Hippolyte Taines[13] deutlich, einem Positivist in der Nachfolge Auguste Comtes, der Erkenntnisverfahren der Naturwissenschaften auf den Menschen übertrug und davon ausging, dass der Mensch durch seine äußeren Umstände, vor allem durch Rasse und Milieu, in seinem Verhalten determiniert sei. Weitere Kennzeichen eines deterministischen Menschenbilds, die sich im Bahnwärter Thiel verfolgen lassen, sind die durch den Lauf der Handlung belegbaren Annahmen, dass der Mensch aus seinem Milieu nicht ausbrechen kann, keine Willensfreiheit oder innere Weiterentwicklung durchmacht, von unterbewussten / sexuellen Trieben gelenkt ist und daher nicht selbstbestimmt leben kann[14].

Auch sprachlich wird das Herkunftsmilieu des Bahnwärters detailgetreu abgebildet. In der Novelle finden sich viele Wendungen, die der Umgangssprache bzw. dem Dialekt entstammen, zuweilen finden sich gar Ausdrücke der herberen Art. Einige dieser Stellen, deren Vorkommen ein typisches Merkmal naturalistischer Literatur ist, seien hier zitiert:

Die Leute verübelten ihm seine Läppschereien; es war ihnen unerfindlich, wie er sich mit den Rotznasen so viel abgeben konnte.[15] (BT: 669)

Was, du umbarmherziger, herzloser Schuft! soll sich das elende Wurm die Plautze ausschreien vor Hunger? … Du erbärmlicher Grünschnabel… Halt’s Maul! (BT: 671)

[...]


[1] Vgl. Martini 2001: 47.

[2] Hauptmann 1956: 579.

[3] Martini 2001: 55.

[4] Vgl. Conrad 1901: 78.

[5] Sprengel 2000: 684.

[6] Sprengel 2000: 685.

[7] Vgl. ebd.

[8] Sprengel 2000: 686.

[9] Ebd.

[10] 1954: 59.

[11] Ebd.

[12] Bahnwärter Thiel (im Folgenden: BT): 664.

Ich zitiere hier und im Folgenden nach der Ausgabe Hauptmann, Gerhart: „Bahnwärter Thiel“. In: Biedrzynski, Effi: Das große deutsche Novellenbuch. Düsseldorf 2004. [Der Text folgt der Ausgabe: Gerhart Hauptmann, Sämtliche Werke. Herausgegeben von Hans-Egon Hass / Martin Machatzke / Wolfgang Bungies. Band 6. Berlin: 1963.]

[13] Die über den Umweg der französischen naturalistischen Literatur auch in Deutschland sehr einflussreich wurde.

[14] Diese Annahmen bestätigt Thiel durch sein Verhalten und in letzter Konsequenz durch seine Morde. Vgl. zu diesen Thesen auch Ordon 1951 und Hodge 1976.

[15] Hervorhebungen M.L.

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Determiniert zu Mord und Wahn? Zur Figurenkonstellation in Hauptmanns Bahnwärter Thiel
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Institut für deutsche und niederländische Philologie)
Veranstaltung
Erzählungen um 1900
Note
2,0
Autor
Jahr
2005
Seiten
21
Katalognummer
V53418
ISBN (eBook)
9783638488778
ISBN (Buch)
9783656812425
Dateigröße
431 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit ist die eingehende Analyse der Figurenkonstellation mit besonderem Schwerpunkt auf dem Charakter des Protagonisten und den gegensätzlich ausgestalteten Frauenfiguren. Ziel dieser Interpretation ist es, vor allem die Ausgangsbedingungen minutiös herauszuarbeiten, die zu Beginn der Novelle herrschen, also noch weit vor der Katastrophe, der Auslöschung der Familie Thiel. Außerdem werden einleitend zunächst naturalismustypische Elemente der analysiert.
Schlagworte
Determiniert, Mord, Wahn, Figurenkonstellation, Hauptmanns, Bahnwärter, Thiel, Erzählungen
Arbeit zitieren
Martin Lehmannn (Autor:in), 2005, Determiniert zu Mord und Wahn? Zur Figurenkonstellation in Hauptmanns Bahnwärter Thiel, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/53418

Kommentare

  • Gast am 12.4.2008

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Titel: Determiniert zu Mord und Wahn? Zur Figurenkonstellation in Hauptmanns Bahnwärter Thiel



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