Der "Just Community" Ansatz Lawrence Kohlbergs und seine Implikationen für die pädagogische Praxis


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

22 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung

2. Der Ansatz Lawrence Kohlbergs
2.1 Die Begünstigung der moralischen Entwicklung
2.2 Der Übergang zur Errichtung einer Gerechten Gemeinschaft in
Schulen

3. Theorie vs. Praxis einer Schule der Gerechten Gemeinschaft
3.1 Das Hauptprinzip der Gerechten Schulgemeinschaft
3.2 Die Struktur einer Gerechten Schulgemeinschaft

4. Gerechte Schulgemeinschaft und Demokratie

5. Kritische Bemerkungen

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Betrachtet man heute junge Menschen in Bezug auf ihr Moralverständnis, gilt der kalkulierte Regelverstoß unter vielen als akzeptabel und angemessen. Darf man sich beispielsweise ein fremdes Fahrrad aneignen, das seit Jahren im Keller verstaubt? Die junge Generation hat sich ein völlig neues Wertesystem aufgebaut. Zu diesem Ergebnis kommt die Studie „Sozio-historischer Wandel in der Struktur moralischer Motivation“. Gertrud Nunner-Winkler hat die moderne Moralvorstellung junger Erwachsener untersucht und festgestellt, dass die junge Generation überwiegend den Prinzipien Gleichheit, Unparteilichkeit, Schadensvermeidung und Achtung der Menschenwürde folgt. Dagegen werden religiöse Argumente oder überlieferte Traditionen mehrheitlich abgelehnt. „Bei schwierigen Entscheidungen treten junge Menschen in einen inneren Dialog. Sie wägen ab: moralisch sein oder den Profit genießen“, so die Expertin. Nunner-Winkler bewertet diese Entwicklung nicht als unmoralischer. Im Gegenteil, das moderne Moralverständnis erfordere sogar ein höheres Urteilsvermögen.[1]

Wie kommt es zu einem solchen Wandel?

Zu Beginn der 70er Jahre fing eine Gruppe von Lehrern um Lawrence Kohlberg an, in Unterrichtsversuchen intensive Dilemmadiskussionen einzubringen. Diese Versuche standen unter dem Konzept „Entwicklung als Ziel der Erziehung“, welches Kohlberg prägte. Man wollte eine höhere Stufe des moralischen Urteils stimulieren, was jedoch bald als zu eng empfunden wurde. Da dieser Prozess meist anhand hypothetischer Dilemmata ablief, sah man diesen Ansatz als zu kognitiv an. Eine Forderung nach moralischer Entwicklung anhand echter Konflikte wurde immer lauter. Als erzieherisches Problem wurde zudem der mangelnde Handlungsbezug empfunden.[2]

Die rein kognitive Anregung ist für Kohlberg zwar ein notwendiger Hintergrund der Moralentwicklung, bringt diese jedoch nicht unmittelbar hervor. Von größerer Bedeutung sind die Rollenübernahme-Gelegenheiten genannten Faktoren der generellen sozialen Erfahrung und Anregung. Bei der sozialen Erfahrung wird die Handlung anderer nachvollzogen, ihre Gedanken und Gefühle vergegenwärtigt und sich in ihre Lage versetzt. Wenn die emotionale Seite der Rollenübernahme hervorgehoben wird, nennt man sie auch Empathie.

Moralische Urteile erfordern also auch Rollenübernahme, um sich in die Lage der am Konflikt beteiligen Leute hineinzuversetzen.[3]

Ende der 60er Jahre zeigte Blatt, ein Schüler Kohlbergs, dass es möglich ist, durch kontroverse Diskussionen moralischer Dilemmata ein höheres Niveau des moralischen Urteils zu erreichen. Im Zeitraum von 1969 bis 1973 führten Kohlberg schließlich Erfahrungen, wie die Auseinandersetzung mit den Werken Deweys und Durkheims sowie die intensive Beschäftigung mit der Frage des hidden curriculums, in die Richtung eines umfassenden moralischen Erziehungskonzepts, das er mit dem Namen „Just Community“ bezeichnete. Eine sinngemäße Übersetzung ins Deutsche ist nicht einfach. „Gerechte Gemeinschaft“ drückt zu wenig aus, dass Gerechtigkeit erst durch den Prozess des Aushandelns entsteht und dass Gemeinschaft nicht nur bloßes Beisammensein zum Ziel hat. „Gerechte Gruppe“ hingegen würde zu sehr an Gruppendynamik erinnern, und „Demokratische Erziehung“ gibt nicht wieder, was die strukturale Veränderung der Schule von innen her zur Gemeinschaft betrifft.[4] Kohlberg selbst begründet die Übersetzung des Ansatzes mit „Gerechter Gemeinschaft“,

„weil er den Akzent nicht nur auf Demokratie und Fairness legt, sondern auch auf das Gefühl der Fairness füreinander und auf den Sinn dafür, Teil einer Gruppe zu sein, die stolz auf sich sein will – wir sprechen zusammenfassend von echtem Gemeinschaftssinn.“ (Kohlberg, 1987b, S. 39f).[5]

Kohlberg wollte die versteckten moralischen Werte des Schullebens durchschaubar machen und sie für das kritische Lernen öffnen. Damit leistet er einen wichtigen Beitrag zu den Hauptergebnissen der empirischen Moralforschung. Sie lauten, dass sich moralische Urteile im Laufe des Lebens ebenso verändern wie die Begründungen von Normen und moralische Motivation. Außerdem verfeinern sich Urteile über Verantwortlichkeit und die Konsistenz von Urteil und Handeln nimmt zu.[6]

In dieser Arbeit soll nun zunächst der Ansatz Lawrence Kohlbergs im Hinblick auf moralische Entwicklung und der Übergang zu den ersten Just Community Schulen vorgestellt werden. Anschließend wird die Theorie der Praxis gegenübergestellt, indem am Beispiel der Johannes-Gutenberg-Realschule in Langenfeld (NRW) Hauptprinzipien und Struktur einer Gerechten Schulgemeinschaft analysiert und schließlich noch das Element der Demokratie näher beleuchtet wird. Zum Schluss folgen kritische Bemerkungen zum Modell der Just Community, ebenso wie ein Fazit.

2. Der Ansatz Lawrence Kohlbergs

Lawrence Kohlberg wird am 25.09.1927 in Bronxville, New York, geboren. Mit fünf Jahren trennen sich seine Eltern und er bleibt mit drei Geschwistern bei seinem jüdischen Vater. Nach dem High School Abschluss führt der Wehrdienst ihn 1945 nach Europa. Nach dem Wehrdienst beteiligt sich Kohlberg daran, jüdische Flüchtlinge illegal durch die britische Blockade nach Palästina zu bringen; sein Schiff wird jedoch mit Waffengewalt gestellt und er selbst auf Zypern interniert. Von der Hagana befreit verbringt er einige Zeit in einem Kibbuz, kehrt dann jedoch mit gefälschten Papieren in die USA zurück. Er beginnt sein Psychologiestudium an der University of Chicago. Als Praktikant im Klinischen Jahr seiner Therapieausbildung muss er miterleben, wie ein Chefarzt eine aufsässige Patientin mit Elektroschocks bestraft, was sein Empfinden für moralisches Handeln sensibilisierte. 1955 beginnt Kohlberg, angeregt durch John Dewey und Jean Piaget, mit der Arbeit an seiner Entwicklungstheorie des moralischen Urteils. 1958 erscheint seine Dissertation „Die moralische Entwicklung des Menschen“. Von 1968-1987 war Kohlberg Professor an der Harvard University in Cambridge, Massachusetts. 1973 steckt er sich mit einer Tropenkrankheit an, die seine Arbeitskraft schwächt und schwere Krankheitsschübe, Behinderungen und Depressionen verursacht. Am 17. Januar 1987 wird er als vermisst gemeldet; man findet seine angetriebene Leiche später an der Küste von Massachusetts. Kohlberg hat vermutlich Selbstmord begangen.[7]

Historisch gesehen reiht sich Kohlberg mit seinem wissenschaftlichen Selbstverständnis als kognitiv orientierter Entwicklungspsychologe in zwei akademische Traditionslinien ein. Die erste dieser Linien ist der Chicagoer Funktionalismus, entwickelt von John Dewey, James Rowland Angell und Harvey A. Carr, der zur Zeit von Kohlbergs Ausbildung angesehener psychologischer Denker in den USA war. Die zweite Linie geht zurück auf den von Darwin populär gemachten Entwicklungsgedanken, der sowohl auf psychologischer als auch auf philosophischer Seite eine wichtige Rolle spielte, aber erst in den Untersuchungen zu den Stufen der kognitiven Entwicklung von Jean Piaget (1896 bis 1980) seine systematische Ausprägung fand.[8]

Um die These der „Entwicklung als Ziel der Erziehung“ vertreten und ihre Überlegenheit im Vergleich zu anderen Ansätzen verteidigen zu können, diskutierte Kohlberg 1972 den progressiven Entwicklungsansatz mit zwei anderen Konzepten, die als romantisch bzw. kulturübertragend bezeichnet werden. Diese drei großen Strömungen pädagogischer Ideologien schließen zusätzlich zu theoretischen Behauptungen, wie Kinder lernen oder sich entwickeln, Wertannahmen darüber ein, was pädagogisch gut oder wertvoll ist. Der von Kohlberg in Anlehnung an Dewey progressiv genannte Ansatz beruht auf der Förderung der Interaktion zwischen Individuum und Gesellschaft, wobei der Erwerb von Wissen eine aktive Änderung in den Denkmustern darstellt. Bei der Erklärung einer „aktiven Änderung“ formuliert Kohlberg sehr präzise:

„Die organisierende und sich ausbildende Kraft in der kindlichen Erfahrung ist das aktive Denken des Kindes, und das Denken wird durch die Problematik, durch den kognitiven Konflikt, stimuliert […]. [Dazu] bedarf es einer pädagogischen Umwelt, die die Entwicklung aktiv durch die Bereitstellung von lösbaren, aber echten Problemen oder Konflikten stimuliert.“[9]

Mit Hilfe seiner sechs Stufen der Entwicklung des moralischen Urteils entwickelte Kohlberg drei Ebenen, denen jeweils zwei Stufen zugerechnet werden: Die präkonventionelle Moral, die konventionelle Moral und die postkonventionelle Moral. Nach Kohlberg kann man keine Stufe überspringen; jeder durchläuft sie. Allerdings ist das Erreichen der höheren Stufen nicht jedem Menschen garantiert.

Die Metapher der kognitiven Theorie bezeichnet keine Inhalte, sondern einen Prozess. Die kognitive Entwicklung ist nicht gleichzusetzen mit der emotionalen oder der des Handelns. Ausschlaggebender Punkt ist der Fortschritt. Zudem setzt der progressive Ansatz Wissen nicht mit innerer Erfahrung oder äußerer Sinneswahrnehmung gleich, sondern mit einer „ins Gleichgewicht gebrachten oder aufgelösten Beziehung zwischen einem fragenden menschlichen Aktor und einer problematischen Situation.“[10] Auf der einen Seite sind die Übergänge von Stufe zu Stufe also Schritte, die jeder individuell vollzieht, auf der anderen Seite aber teilt das Subjekt die Richtung der Entwicklung mit allen anderen Menschen.[11]

Der Anstoß zur Neuformulierung des Kohlbergschen Erziehungsziels entspringt wenig später den Erfahrungen in einigen Just Community Schulen, in denen Kohlberg seit 1974 forschte und mitarbeitete.

[...]


[1] Vgl. FOCUS Magazin 33/2005: Jung und moralisch flexibel. S. 11

[2] Vgl. Oser, F./ Althof, W.: Moralische Selbstbestimmung: Modelle der Entwicklung und Erziehung im Wertebereich. Stuttgart 1994², S. 339.

[3] Kohlberg, L.: Die Psychologie der Moralentwicklung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 164f.

[4] Oser/ Althof: Moralische Selbstbestimmung, S. 341.

[5] Ebd., S. 342.

[6] Oerter/ Montada: Entwicklungspsychologie, 2002, S. 622.

[7] Oser/ Althof: Moralische Selbstbestimmung, S. 83ff.

[8] Garz, D.: Lawrence Kohlberg zur Einführung. Hamburg 1996, S. 25.

[9] Garz, D.: Lawrence Kohlberg zur Einführung, S. 111.

[10] Ebd., S. 113f.

[11] Ebd., S. 109ff.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Der "Just Community" Ansatz Lawrence Kohlbergs und seine Implikationen für die pädagogische Praxis
Hochschule
Universität Münster  (Institut für Soziologie)
Veranstaltung
Seminar Schule und Moralerziehung
Note
1,7
Autor
Jahr
2005
Seiten
22
Katalognummer
V53024
ISBN (eBook)
9783638485838
ISBN (Buch)
9783656780946
Dateigröße
696 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Just, Community, Ansatz, Lawrence, Kohlbergs, Implikationen, Praxis, Seminar, Schule, Moralerziehung
Arbeit zitieren
Wiebke Vieljans (Autor:in), 2005, Der "Just Community" Ansatz Lawrence Kohlbergs und seine Implikationen für die pädagogische Praxis, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/53024

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