Wirkung religiösen Sektentums auf die Entwicklung der 'kranken Seele' in Karl Philipp Moritz Roman 'Anton Reiser'


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

44 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhalt

I. Einleitung

II. Analyse
1. Frühe Kindheit
a) Quietistische Einflüsse in diesem Zeitabschnitt
b) Weitere Einflüsse auf Antons „kranke Seele“ in der frühen Kindheit
2. Jugend und die Begegnung mit dem Lesen
a) Quietistische Einflüsse
b) Einflüsse außerhalb des Quietismus’
3. Außerhalb seiner häuslichen Umgebung
a) Aufenthalt in Pyrmont: soziale Anwendung / Er-Leben des Quietismus (Jahre 9-10)
b) die Zeit nach dem ersten Aufenthalt bei Herrn von Fleischbein (11 Jahre)
c) die Schulzeit
d) Die Lehre bei Herrn Lobenstein
e) Die Kirche, die Predigten und die Person des Pastors Paulmann

III. Résumée

IV. Anhang

V. Literaturverzeichnis

I. Einleitung

Karl Philipp Moritz’ Werk „Anton Reiser“ als erster deutscher psychologischer Roman konfrontiert den Leser mit den starken Kräften einer menschlichen Seele, die in der Figur des Anton Reiser konzentriert werden. Diese Kräfte, die sich als Zerrissenheit, Unsicherheit, Angst und Misstrauen einem starken Lebenswillen, der Suche nach Glück, Geborgenheit und Sicherheit entgegenstellen, sezieren dem Leser die Psyche des ‚Vehikels’ Anton Reiser.

Dieser wird durch Moritz anstatt Seiner eingesetzt, sodass der Autor durch Anton von seinem Leben berichtet; den Lebensumständen und den Fügungen, die teilweise schicksalsgebunden, aber teilweise auch selbstverschuldet in seelische Miseren führen.

Das Werk erscheint durch die allgemein gültigen Erwägungen jedoch nicht autobiographisch, sondern vermittelt dem Leser eine konzentrierte und umfassendere Sicht in Seelenzustände eines jeden Menschen, weniger um eine therapeutische Maßnahme zum Ziel dieser Bemühung anzubieten, als viel mehr dem Leser durch die chronologische Reise in das Seelenleben des Reisers Anhaltspunkte der Selbstanalyse aufzuzeigen. Dabei ist zu vermuten, dass das Schreiben des Romans für Moritz alleine schon seine Art der Therapie erfüllte, um die eigene Kindheit aufzuarbeiten und eine Anleitung zur Genese anzubieten.

Die Veränderung eines Seelenzustands ist ‚die Triebkraft’ des Romans. Die Schilderung unterschiedlicher Einflüsse von Erfahrungen und Erziehung auf die Gedankenwelt des Anton Reiser ist der Weg der autobiographischen Selbstanalyse bzw. der Therapie. Die „Verarbeitung“ beim Protagonisten dieses Werks erfolgt aus der Perspektive des allwissenden Betrachters, der seine Biographie rückwirkend durch eine zweite Person erzählen lässt. Dieser vermag demnach den Lebens- und Leidensweg der Psyche der Romanfigur zu überblicken, da sie seine eigene ist. Die Betrachtung des Seelenzustands ist ebenso gegenwärtig wie die Einordnung verschiedener Schlüsselerlebnisse oder -ereignisse in den Lebensweg der Romanfigur.

Der Zeitabschnitt der noch kindlichen Entwicklung des „Anton Reiser“ wird stark durch die Konfrontation mit der sektenähnlichen Bindung des Vaters geprägt. Der „wie ein Heiliger“ verehrte Guru dieser Sekte, Herr von Fleischbein“[1], verkörpert eine Funktion als ‚Seelenführer’ für Antons Vater. Dessen Lehren begründen sich auf die führende französische Vertreterin des Quietismus, Jean-Marie Bouviéres de la Mothe Guyon.

Die Auseinandersetzung Antons mit dieser ‚Religion’, deren Lehrern und den Einflüssen auf eine noch kindliche Psyche werden in dieser Arbeit untersucht. Dabei steht im Vordergrund, dass die Romanfigur aus den zerrissenen Gedanken einer „kranken Seele“ durch obige Personen und Ideologien außerordentlich bewegt wird.

Die „Krankheit“ der Seele Antons darf nicht einem pathologischen Zustand gleichgesetzt werden. Es handelt sich nicht um eine geistige Behinderung oder Geisteskrankheit. Eine temporäre Unausgeglichenheit oder Unsicherheit der menschlichen Psyche, die ein Abwägen und ein Auseinandersetzen mit Furcht vor Nachteilen als natürlichen Prozess versteht und bei jedem Menschen auftaucht, ist jedoch auch nicht gemeint. Ausgangspunkt der Arbeit Moritz’ ist eine herausgelöste, besondere Analyse von Angst, Misserfolg, Schelte, Isolation und Unsicherheit. Die Person Anton Reiser vereint diese Aspekte in sich stark konzentriert. Selbstsicherheit, Zuneigung und Erfolg fallen Anton Reiser nicht zu und behindern in starkem Maße seine Entwicklung.

Karl Philipp Moritz galt als Erfahrungsseelenkundler, Spezialist für Selbstbeobachtungen[2] und Experte auf dem Gebiet der Diagnose einer erkrankten Seele; er schuf mit seinem ‚Magazin zur Erfahrungsseelenkunde’ ein Werk, in welchem Medizinern, Psychologen, Gelehrten und Ungelehrten ein Forum geboten wurde, in dem Erfahrungen, Bemerkungen und Beobachtungen ausgetauscht und anhand von Fallbeispielen diskutiert werden konnten. Dabei bemerkt Moritz, die Erfahrungsseelenkunde sei eine Wissenschaft, die in gleichem Maße sowohl den Gelehrten, als auch den Ungelehrten zur Ausübung und Anwendung zur Verfügung steht, soweit diese die Fähigkeit zu schriftlicher Kommunikation besitzen und das nötige Interesse an dem jeweiligen Gegenstand mitbringen.

Auf Antons Psyche sind mehrere Einflüsse zu verzeichnen, die zum Teil aus dem Bereich des Quietismus stammen, zum Teil darauf zurückzuführen sind und wieder zu einem anderen Teil einem Bereich außerhalb des Quietismus zuzuordnen sind. Da jedoch die Einflüsse in ihrer Gesamtheit auf das Wesen Antons und dessen Psyche wirken und so die „kranke Seele“ formen, ist es unerlässlich, auch diese nicht-quietistischen Einflüsse näher zu untersuchen. Erst diese Herleitung ermöglicht es herauszufinden, welche Faktoren die „kranke Seele“ begründen und ob wirklich das religiöse Sektentum für die Leiden Antons verantwortlich gemacht werden kann.

Um die Einflüsse aufarbeiten zu können, lassen sie sich den Entwicklungsstufen Antons nach den Lebensstufen zuordnen und gliedern, so dass angefangen in der frühen Kindheit nach und nach ein chronologisches Bild der „kranken Seele“ aufgebaut werden kann, in welchem sich die verschiedenen Einflüsse gegenüberstehen.

II. Analyse

1. Frühe Kindheit

a) Quietistische Einflüsse in diesem Zeitabschnitt

Antons Vater, der „immer ein ziemlich wildes herumirrendes Leben“[3] führte, erfährt nach dem Tod seiner ersten Frau einen starken Wandel der Gemütslage. Er beendet abrupt das wechselhafte, herumtreiberische Leben einer unruhigen Seele, geht plötzlich in sich, wird tiefsinnig und führt quasi ein anderes Leben. Die durch den Tod seiner Frau stark beeinflusste seelische Verfassung Antons Vaters, dessen biographische Bezugsperson Johann Gottlieb Moritz, der Vater des Autors ist[4], führt ihn in den Kreis um Herrn von Fleischbein[5], einen überzeugten Quietisten[6] und Schüler des aus Frankreich emigrierten Quietisten Charles Hector Marquis St. Georges de Marsay[7]. Durch die grübelnde und denkende Art seines Zustands unterstützt, schließt der Vater sich dieser Glaubensrichtung des Herrn von Fleischbein an und pflegt die Lebensgewohnheiten und Verhaltensweisen dieser sektenartigen[8] Religionsgemeinschaft, welche er sich durch ihm ausgehändigte Schriften aneignet und für sich gut heißt.

Der Quietismus prägt das Denken Antons Vaters und wird für ihn zum Instrument, sich erstmals seine Gefühle und Wünsche zu vergegenwärtigen und neue Ziele im Leben zu definieren. Begünstigt durch die Verfassung, in der er sich nach dem Tod seiner ersten Frau befindet, reflektiert er sein bisheriges Leben als geistige und körperliche Qual und empfindet den Quietismus als Erlösung. Seine seit jeher „harte und unempfindliche Seele“ findet nunmehr in dem Medium der „Lehre der Mad. Guion von der gänzlichen Ertötung und Vernichtung aller, auch der sanften und zärtlichen Leidenschaften“[9] eine neue Bestätigung.

Der Begriff Quietismus leitet sich von dem lateinischen Wort ‚quietus’ ab, welches so viel heißt wie ruhig, still. „Der Quietismus ist eine in allen Hochreligionen vorkommende mystisch-religiöse Haltung, die die Vereinigung mit der Gottheit in passiver Gelassenheit und im Verzicht auf die eigene Initiative erstrebt.“[10] Der Anfang des europäischen Quietismus ist im 17. Jahrhundert zu finden. Er bezeichnet eine Bewegung der Spiritualität, die grundsätzlich katholischen Ursprungs ist, jedoch durch die Kirche verurteilt wurde und der in der Öffentlichkeit negativ beurteilt wurde. Der Begriff Quietismus erscheint in den schriftlichen Nachlässen 1687 zum ersten Mal; dabei in Verbindung mit einem gewissen Miguel de Molinos (1627-1696)[11]. Dieser lebte seit 1664 in Rom und galt als Seelenführer der römischen Gesellschaft. Die wichtigste Forderung seiner Schriften bestand darin, den eigenen Willen völlig aufzugeben (‚quietas’), so dass diese Aufgabe die mystische Vereinigung mit Gott ermöglichen sollte. Aus dieser Veröffentlichung zogen manche Leser schwerwiegend falsche Schlüsse, sodass die Ansichten und Theorien Miguel de Molinos’ verurteilt wurden und dementsprechend auch der durch ihn geprägte Begriff des Quietismus stark in Verruf geriet. Molinos wurde nach seiner Verurteilung, welche durch Staat und Kirche gleichermaßen vollzogen wurde, verhaftet.[12]

Einen kleinen Aufschwung erlebte der französische Quietismus durch den savoyardischen Priester La Combe, den religiösen und seelischen Führer der Mme. J.-M. Guyon. Dieser stellte das Gottgefällige des geistigen Lebens, das „laissez faire Dieu“, aus den Lehren und Theorien in den Mittelpunkt, was die Eigeninitiative untersagte und die Menschen dazu anhielt, auf Gottes Walten zu warten und sich diesem völlig hinzugeben.[13]

Bald schon stellte die ehemalige Schülerin Guyon den Lehrer in den Schatten und gelangte als Schriftstellerin zu großer Berühmtheit. Dabei erwies sie sich als äußerst asketisch; sie lebte im Gebet, entsagte allen weltlichen Freuden, fastete viel und geißelte sich bis aufs Blut. Diese Opfer erduldete sie im Namen Gottes, dem sie sich durch ein Schriftstück anverlobte und dieses mit Unterschrift und Siegel versah.[14]

Eine Kommission, die sich mit der Analyse der Guyon’schen Schriften befasste, verurteilte 30 dieser Glaubens-Sätze, woraufhin Madame Guyon als Urheberin 1695 auf Betreiben der Jesuiten und des Hofes inhaftiert wurde. Fénelon, der Erzbischof von Cambrai, Autor der „Les aventures de Télémaque“, welche auch Anton später lesen sollte, und Seelenfreund der Madame Guyon, versuchte ihr mit seiner Schrift „Maximes des Saints“ zu helfen, indem er darin das ‚Gebet der Ruhe’ zu einem Bestandteil der katholischen Frömmigkeit zu propagieren versuchte. Im April des gleichen Jahres, nur einen Monat später, leistete Mme. Guyon den geforderten Widerruf bezeichneter Sätze und kam frei.[15]

Es ist daher nicht richtig, von ‚dem’ Quietismus zu sprechen, der eine übergreifende Religion oder geistlich inspirierte Ideologie betrifft. Wenn hier ‚der Quietismus’ angeführt wird, gründet er sich über alle dargestellten Erscheinungen und Lehren hinweg auf der Auffassung, dass Ausgangspunkt und Motivation ein seelischer Leidensdruck menschlich unvollkommenen Verhaltens ist, während das Ziel das des Suchens und Findens einer höchsten Nähe zu Gott ist. Den Weg dahin soll der möglichst umfassende Verzicht auf menschliche Bedürfnisse nach Lust, Leidenschaft, schlichtem Frohsinn und der gesellschaftlichen Äußerung dieser Bedürfnisse sein. Das „systematische Ersterbenlassen aller Lebenstendenzen in der Seele“[16] führt nach Madame Guyon als letztem Glied der langen Entwicklungsgeschichte des Quietismus’ „aus dem gewöhnlichen Wachzustande heraus zu überwachen Bewusstseinzuständen, zur vollen Abgeschiedenheit und Innerlichkeit, zur erhebenden Freiheit, zum tiefen Frieden, zur beseligenden Ruhe, zur begierlosen Gelassenheit, zur sancta indifferentia“[17]. Dies basiert darauf, dass „der Geist Gottes […] nichts Stürmisches und Ungestümes an sich [hat], [da] seine Mitteilung […] im Innersten der Seele [geschieht]“[18]. Madame Guyon bittet selbstverachtend Gott, „ihre Seele in die Hölle zu werfen, dass sie nicht länger gegen ihn sündige“.[19]

Herr von Fleischbein gehörte weder den geistlichen Theoretikern, noch den Theologen an. Er war auch kein Quietist im engeren Sinne. Er vermochte das Ziel der quietistischen Bewegung auch gar nicht zu erreichen. Er scheitert aus quietistischer Sicht bereits in dem Versuch, durch das strenge Befolgen der von Madame Guyon vorgegebenen Verhaltensmuster und Maßregeln, der höchsten Nähe zu Gott nahe zu kommen. Herr von Fleischbein lebte in Selbstzufriedenheit den möglichst umfänglichen Verzicht. Dies erfüllte ihn der Überzeugung, der Gottesfindung allein hierdurch nahe zu kommen. Hiermit lebte Herr von Fleischbein einen laienartigen Teilaspekt der quietistischen Heilsfindung (in der Isolation und dem stillen Gebet), ohne dem eigentlichen Theorem des Quietismus’ hiermit gerecht zu werden. Durch seine ‚Lehre’, mit schlichtem Verzicht auf menschliche Bedürfnisse und Freude an sich allein das Ziel bereits zu erreichen, begeisterte er Antons Vater, dessen Isolationsbedürfnis durch diese Art des Verzichts und der Einschränkung erfüllt wurde. Herr von Fleischbein lebte in seiner isolierten Gesellschaft eher den Stoizismus, also der Beherrschung der Leidenschaften an sich. Ihm ging es mehr um die Bewahrung seines eigenen Selbst (Stoizismus), als um die völlige Preisgabe des eigenen Selbst an Gott (Quietismus).[20]

Antons Vater reichte bereits der Gedanke an Verzicht zu einer persönlichen Heilsfindung aus, kombiniert „mit der harten und unempfindlichen Seele“, die mit den Errungenschaften des Quietismus korreliert. Er lebte insoweit ebenfalls keinen strengen Quietismus, so dass das Ziel des eigentlichen Quietismus’ auch hier zurück tritt. Er glaubte an die Selbstpeinigung an sich, mit dem Ziel, unkörperlicher Verzichtsempfindung als Selbstzweck.

Diese Isolationslust des Vaters wird Anton in seinen frühen Kinderjahren vorgelebt, die wohl auf eine gewisse introvertierte und zweifelnde Grundveranlagung bei Anton traf. In dieser frühen Entwicklungsphase bis ungefähr zum achten Lebensjahr ist Anton wie jedes andere Kind in diesem Alter auch sehr prägbar und nimmt das ihm Vorgelebte und die Äußerungen des Vaters in einer Art und Weise auf, die einem lernenden Verhalten gleichkommt. Er adaptiert das Verhalten seines Vaters, der ihm in dieser Zeit als Lehrer wirkt. Mehr noch als die Mutter, welche in diesem Zusammenhang selten Erwähnung findet, wirkt der Vater auch in der Wahl der Bücher, welche er ihm bald nachdem Anton lesen gelernt hat, zur Lektüre gibt. Bevor jedoch Anton das Lesen erlernt, liest der Vater aus den Guyon’schen Schriften vor und wann immer sich die Gelegenheit darbietet, betet er mit der Familie oder erzählt von Herrn von Fleischbein und dessen vorbildlicher Lebensart.

Demnach ist Anton zu dieser Zeit ein Abdruck seines Vaters, einschließlich den von Herrn von Fleischbein adaptierten Allüren. Dabei eignet Anton sich lediglich einen Teil dessen an, was der Vater schon unvollständig aus dem Quietismus angeeignet hat. Dieser Teil, den Anton sich verinnerlicht, bezieht sich im Allgemeinen auf die Isolation, welche schon der Vater für sich aus dem großen Repertoire der Theorien zu befolgen ausgewählt hat.

Anton hat ein gestörtes Verhältnis zu sich selbst und zu seiner ihn umgebenden Gesellschaft. Er nimmt sein soziales Umfeld als große Belastung wahr. Seine Seele wird weniger von den äußeren Umständen seiner Umgebung beeinflusst, als von seiner isolierenden Haltung diesen gegenüber und seiner Reflexion derselben, wie schließlich von seinen Interpretationen und abwägenden, z.T. gegen sich gerichteten Überlegungen. Er empfindet in seiner gegen sich selbst gerichteten, depressiven Wahrnehmung eine Art „Krankheit“, die er meint, von seiner Mutter geerbt zu haben, „sich oft für beleidigt, und gern für beleidigt“ zu halten und „auch wo sie es wirklich nicht war, um nur Ursach [sic] zu haben, sich zu kränken und zu betrüben, und ein gewisses Mitleid mit sich selber zu empfinden, worin sie eine Art von Vergnügen fand“.[21]

Anton ist bedingt durch den Streit der Eltern „beständig zwischen Hass und Liebe, zwischen Furcht und Zutrauen zu seinen Eltern“ hin und her gerissen und mochte sich nicht für ein Elternteil entscheiden. Er liebte beide Eltern auf verschiedene Weise, sodass er keinem der Eltern, weder dem Vater, „den er bloß fürchtete“ oder seiner Mutter, „die er liebte“[22], Recht oder Unrecht in ihrem Streit geben wollte.

So beraubte im mittelbaren Sinne der Quietismus Anton von Geburt an der familiären Freuden und Harmonie, welche für ein sorgloses und freudiges Aufwachsen eines kleinen Kindes essentiell sind. Ohne diese Gefühle des freudigen Zusammenhalts und der familiären Bindung erfahren zu haben, fehlt der familiäre Rückhalt und das soziale Verhalten des Kindes leidet zwangsläufig.

In der Zeit der frühkindlichen Entwicklung Antons ist der Quietismus zwar auch im weitesten Sinne ursächlich für die negative Entwicklung Antons: Allein der elterliche Streit, der aus dem durch den Vater sektenähnlich gelebten Quietismus herrührt, beeinflusst Anton negativ in seiner Entwicklung.

b) Weitere Einflüsse auf Antons „kranke Seele“ in der frühen Kindheit

Im Zustand der Zerrissenheit und der sektenartigen Einflüsse des Fleischbein’schen angewandten Quietismus’ lernt der Vater die künftige Mutter Antons kennen und heiratet sie. Unter den Einflüssen „der gänzlichen Ertötung und Vernichtung aller, auch der sanften und zärtlichen Leidenschaften“[23] war es dementsprechend lieb- und freudlos um die Ehe bestellt, sodass sich Antons Mutter der Liebe und Geborgenheit, die sie sich in der Ehe erhofft hatte, beraubt glaubt.

[...]


[1] Schrader in: Lehmann, Schrader, Schilling, S. 189, 193.

[2] Lothar Müller. S. 12.

[3] Ich zitiere im Folgenden, wenn nicht anders ausgewiesen, nach der Reclam-Ausgabe, Karl Philipp Moritz: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. Stuttgart 2001, die den kryptonymen Namen-Abkürzungen der Originalausgabe die von der Forschung ermittelten realen Personennamen substituiert. S. 11.

[4] Johann Gottlieb Moritz wurde am 10. Mai 1724 in Halle an der Saale als Sohn eines einfachen preußischen Soldaten geboren. Zunächst arbeitete er als Oboist im Unteroffiziersrang in hannoverschen Diensten. Seit 1771 arbeitete er als Lizentschreiber in Erichshagen (Krs. Nienburg). Seine erste Frau starb 1753. Karl Philipp Moritz wurde aus der zweiten Ehe des Vaters mit Frau Dorothee Henriette König (vermutl. 1721 – 1783) am 15.9.1756 geboren, er starb am 26.6.1793 im Alter von 36 Jahren.

[5] Herr Johann Friedrich von Fleischbein ist eine reale Person, die von 1700 – 1774 als Hausherr in einem streng quietistischen sektenartigen Hauswesen lebte. Im Raum Hannover galt er als Quietist und Seelenführer (Eybisch, zitiert in: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. Reclam Verlag. S. 7, Fn. „Fleischbein“).

[6] Anhänger des Quietismus, s. u.

[7] Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. Verlag C.H. Beck. S. 416.

[8] Definition Sekte:

„Eine Sekte (lat. sequi , Folge, Richtung, Denkweise, Partei, Schule) bezeichnet eine religiöse Gruppierung, die im Widerstreit mit ihrer Umgebung sowie insbesondere etablierter Religionen steht. Sekten sind weniger aufgrund des Inhalts ihrer Lehre als solche definiert, als vielmehr aufgrund des Konfliktpotentials, das sie in ihrer Umgebung begründen.“ (www.Netlexikon.de)

„Ursprünglich wertungsfreie Bezeichnung politischer, philosophischer und religiöser Einzelgruppen, bald abwertend für Sondergemeinden, die sich von größeren religiösen Gemeinschaften lösten und von ihnen in Lehre, Kultus und Brauch abweichen. Kennzeichnend ist das Gefühl der Auserwählung gegenüber der Umwelt.“ (DTV-Brockhaus-Lexikon. S. 288.)

[9] Moritz: Anton Reiser. S. 11.

[10] Sacramentum mundi. S. 1426.

[11] In seinem 1675 erschienenen „Guía espiritual“ stellte er sich als großen Befürworter der Techniken und der grundsätzlich passiven Haltung gegenüber der ‚contemplatio acquisita’ dar.

[12] Diese Verurteilung blieb nicht ohne Folgen, da deren Auswirkungen die Auseinandersetzung in Bezug auf den Quietismus in Frankreich entfachte. Der Kapuziner Benedikt von Canfield und der Oratorianer Bérulle waren es, die den französischen Quietismus gesellschaftsfähig machten und ihn popularisierten, wenn auch unter italienischen Einfluss. Der Quietismus in Frankreich unterschied sich jedoch in zwei wesentlichen Punkten von dessen durch Molinos gegründeten ‚Prototypen’.

Punkt eins betraf die Lehre der Vernichtung des Willens in Gott („anéantissement“) und der zweite die Lehre der reinen, ungelenkten und unbeschränkten Liebe zu Gott („pur amour“) (Sacramentum mundi. S. 1428). Bereits zu diesem Zeitpunkt stand der Quietismus nicht ohne Makel da, sodass u.a. Richelieu den Quietismus als Vehikel benutzte, um Aufständler, die zwar aufrechte Katholiken waren, sich aber seiner Politik widersetzten, dessen zu bezichtigen und sie somit auf der Ebene des Glaubens und der Kirche als Institution unschädlich zu machen.

[13] www.bautz.de/bbkl/g/guyon_j_m.shtml

[14] www.bautz.de/bbkl/g/guyon_j_m.shtml

[15] www.bautz.de/bbkl/g/guyon_j_m.shtml

[16] Heiler, S. 19; Eckhardt, S. 6

[17] Heiler, S. 251 f.; Eckhardt, Martin. S. 6

[18] Eckhardt, Martin. S. 14.

[19] Heiler S. 343, Eckhardt, Martin. S. 6

[20] Moritz: Anton Reiser. S. 10.

[21] Moritz: Anton Reiser. S. 32.

[22] Moritz: Anton Reiser. S. 14.

[23] Moritz: Anton Reiser. S. 11.

Ende der Leseprobe aus 44 Seiten

Details

Titel
Wirkung religiösen Sektentums auf die Entwicklung der 'kranken Seele' in Karl Philipp Moritz Roman 'Anton Reiser'
Hochschule
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Veranstaltung
Beginn der Moderne
Note
2
Autor
Jahr
2004
Seiten
44
Katalognummer
V52969
ISBN (eBook)
9783638485395
ISBN (Buch)
9783656773450
Dateigröße
645 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Wirkung, Sektentums, Entwicklung, Seele, Karl, Philipp, Moritz, Roman, Anton, Reiser, Beginn, Moderne
Arbeit zitieren
Phillip Gläsel (Autor:in), 2004, Wirkung religiösen Sektentums auf die Entwicklung der 'kranken Seele' in Karl Philipp Moritz Roman 'Anton Reiser', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/52969

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