Verbrechen als Pflichtverletzung - Die Theorie vom Verbrechen als Pflichtverletzung


Seminararbeit, 2006

26 Seiten, Note: 16 Punkte


Leseprobe


Gliederung

A. Einleitung

B.Das Rechtsgutsverletzungsdogma und seine Kritik
I.Zeichen der Zeit
II.Die Kieler Schule
III.Carl Schmitts Lehre vom konkreten Ordnungsdenken
IV.Rechtsgutsverletzung und Pflichtverletzung
1)Der Beginn des Streites
2)Antiliberale Kritik an der Rechtsgutslehre
3)Das Verbrechen als Pflichtverletzung
a)Theoretische Argumente
b)Dogmatische Argumente
4)Kritik an der Theorie vom Verbrechen als Pflichtverletzung
5)Die Beilegung des Streites
V.Nach 1945

C.Fazit

Verbrechen als Pflichtverletzung

A. Einleitung

Die Theorie vom Verbrechen als Pflichtverletzung ist im Vergleich zum Rechtsgutsverletzungsdogma weitestgehend nur in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland vertreten worden. Schon aufgrund der zeitlichen Einordnung ist auf die große Kritikwürdigkeit dieser Theorie zu schließen. Im Folgenden werden Inhalte, Rückschlüsse und Konsequenzen der Theorie sowie ihre Befürworter und Gegner und deren Argumente näher beleuchtet

B. Das Rechtsgutsverletzungsdogma und seine Kritik

I. Zeichen der Zeit

Die Aufklärung war, vor allem aus Gründen der Rechtssicherheit, geneigt, die Straftat einseitig nach ihren Auswirkungen zu beurteilen. Diese Tendenz kennzeichnete auch die gegen Ende des 19. Jahrhunderts zur Herrschaft gelangte Lehre vom Verbrechen als kausaler Rechtsgutsverletzung, in der die Vorstellungsgehalte des Spätliberalismus mit dem naturalistischen Kausaldenken zu einer fast untrennbaren Einheit verschmolzen.[1] Die doppelte Wurzel dieses Dogmas verlieh ihm eine solche Widerstandskraft, dass es sich auch noch eine Weile behaupten konnte, nachdem man erkannt hatte, wie wenig es mit dem positiven Recht übereinstimmte.[2] Grundlage waren vor allem die im 18. und 19. Jahrhundert vom Bürgertum in schweren Kämpfen durchgesetzten Vorstellungen über die Behauptung des Einzelnen gegenüber dem Staat, die auch die Grundidee des Weimarer Verfassungssystems bildeten.[3]

Die Lehre vom strafrechtlichen Schutzobjekt, die in der 1920er Jahren mit dem teleologischen Rechtsgutsbegriff einen Höhepunkt erreichte, beruhte auf dem Vertrauen in die Vernunft eines dem Volke verantwortlichen Gesetzgebers.[4] Diesem aufklärerisch-liberalen Gedankengut aber war im Nationalsozialismus ein Feind entstanden. Die Nationalsozialisten sahen es als ihre Aufgabe an, die Errungenschaften der Französischen Revolution auszulöschen, die in Europa die politische Emanzipation des Menschen eingeleitet hatte.[5]

So kam es, dass die Lehre vom Sinn der strafrechtlichen Verbote von der Staatsidee her neue Impulse empfing. Die formalen Bindungen des positivistischen Rechtsbegriffs waren dem Machtstreben der NS-Bewegung lästig.[6] Die offenkundig nationalsozialistischen Juristen, die sich aus dem Kreis der Spitzenfunktionäre und zum Teil aus den Reihen jüngerer Rechtswissenschaftler rekrutierten, legten ihrer Argumentation jedoch eine Art politische Theorie des nationalsozialistischen Staates zu Grunde.[7]

Demnach bildete den höchsten Wert für das nationalsozialistische Denken nicht der Einzelne, sondern das Volk.[8] Seine Erhaltung wurde die oberste Aufgabe des Strafrechts.[9]

Der Nationalsozialismus bekämpfte neben dem Individualismus der Aufklärung auch ihren Rationalismus.[10] Um die Gesellschaft begreifen zu können, zerlegten die Aufklärer den Sozialkörper in seine kleinsten Bestandteile, die Individuen. Den Nationalsozialisten war dieses analytische Verfahren zu mechanistisch, denn es verfehlte ihrer Meinung nach das Methapysische, das über die Gesamtheit der Einzelmenschen höhere Wesen des Volkes. Die westeuropäische Soziologie wurde verworfen, weil ihre Methode den Menschen und die Gesellschaft analysierte und nicht die Blutsgemeinschaft des arischen Volkes.[11]

Mit der Erhebung der Volksseele zum eigentlichen Quell des Rechts[12] entstand die nationalsozialistische Forderung nach der Ethisierung des Strafrechts.[13] Da das Gewissen des Volkes sagt, was anständig ist, sind die Gebote des Rechts notwendig, auch die „Gebote der Anständigkeit“.[14]

Maßgeblich für den Erlass eines strafrechtlichen Verbotes war danach nicht mehr die Auswirkung einer Handlung auf ein einzelnes Individuum, sondern die Beziehung einer Tat zur völkischen Sittenordnung.[15]

Mit der Ethisierung des Strafrechts im Sinne der Nationalsozialisten verschob sich das Schwergewicht der strafrechtlichen Bewertung des Verbrechens von seinen Folgen auf andere Elemente, welche die Straftat als verwerfliche Handlung charakterisieren.

II. Die Kieler Schule

Schon kurz nach der nationalsozialistischen Machtergreifung rückte die Rechtsgutslehre in das Blickfeld der Kritik an den Denkweisen der überkommenen Strafrechtswissenschaft. Zu den jungen Repräsentanten der nationalsozialistischen Kieler Schule gehörten neben Georg Dahm und Friedrich Schaffstein auch Huber, Larenz, Michaelis und Siebert.[16] Schaffstein und Dahm zählten zu den größten Kritikern des Rechtsgutsbegriffs und gleichzeitig zu den Vertretern der Theorie von dem Verbrechen als Pflichtverletzung.

Der Name „Kieler Schule“ steht für das Experiment, eine ganze Fakultät, ja versuchsweise eine ganze Universität, geschlossen in den Dienst der Ideologisierung und Politisierung der Wissenschaft zu stellen.[17] Die Kieler Juristenfakultät nahm nach 1933 unter den deutschen Rechtsfakultäten eine Sonderstellung ein.[18] Von ihr sollten nach den Plänen der NS-Machthaber die herrschenden Impulse zur nationalsozialistischen Rechtserneuerung ausgehen, so dass sich insgesamt die Kieler Schule als die kämpferische akademische Vorhut der völkischen Rechtserneuerung in Form von einer Elite junger nationalsozialistischer Professoren und Dozenten verstand.[19]

1933 erlebte die juristische Fakultät in Kiel einen totalen personellen Umbruch.[20] Von den früheren Lehrstuhlinhabern wurde nur einer in Kiel belassen.[21] Der ehemalige Radbruch-Schüler Georg Dahm, der sich mit seinem Lehrer zerstritten hatte, erhielt ein strafrechtliches Ordinariat[22], sowie auch Friedrich Schaffstein.

Die juristische Fakultät in Kiel bot sich nach diesem personellen Kahlschlag für die Bindung eines Zentrums der Rechtserneuerung im nationalsozialistischen Sinne geradezu an, ohne dass neue Planstellen geschaffen werden mussten. Personelle Probleme hatte man dabei nicht. Dies galt besonders für die jüngere Dozentenschaft, die sich von den nationalsozialistischen Ideen über die Studentenschaft anstecken ließen.

Es waren daher gerade jüngere Dozenten wie Dahm und Schaffstein, die kaum 30 Jahre alt, in Kiel an die Stelle der aus ihren Ämtern vertriebenen Ordinarien traten.[23] Sie sollten die Kieler Juristenfakultät nach den Plänen der Partei zu einer Aufzuchtstation für junge, dem Regime bedingungslos ergebene Rechtslehrer machen, von der aus die anderen deutschen Universitäten mit nationalsozialistisch zuverlässigen Nachwuchskräften versorgt werden konnten.[24] Die Kieler Juristenfakultät sollte somit die „politische Stoßtruppfakultät“ bilden.[25]

Nirgendwo in Deutschland waren die noch jungen Professoren weltanschaulich derart aufeinander und auf die gemeinsame Aufgabe der völkischen Rechtserneuerung abgestimmt wie in Kiel. Es bestand sowohl hinsichtlich der Ansatzpunkte, von denen ausgegangen werden sollte, als auch hinsichtlich der Arbeitsmethoden eine weitgehende Übereinstimmung.[26]

Die Aufgabe der jungen Rechtslehrer war es, ein Beispiel für die völlige nationalsozialistische Durchdringung der Rechtswissenschaft zu geben[27] und die Bestrebungen des Regimes nach einer umfassenden völkisch-rassisch inspirierten nationalsozialistischen Rechtserneuerung voranzutreiben[28].

Charakteristisch für die Denkweise der Kieler Schule war ihre ausgesprochene Abneigung gegen begriffliche und formale Unterscheidungen und ein Misstrauen gegen Abstraktionen überhaupt.[29] Die neue Rechtswissenschaft sollte konkret und ganzheitlich zugleich sein.[30] Dazu bediente man sich im Anschluss an Carl Schmitt des Denkens in „konkreten Ordnungen“.[31] Die Kieler Schule zeichnete sich in der Folgezeit durch eine vollständige Ideologisierung und Politisierung des Rechts bei gleichzeitiger Entrechtung des Individuums und seiner Würde gegenüber dem Staat aus.[32]

III. Carl Schmitts Lehre vom konkreten Ordnungsdenken

Die Repräsentanten der Kieler Schule orientierten sich bei den Entwicklungen ihrer Theorien gerne an Carl Schmitts Lehre vom konkreten Ordnungsdenken. Schmitt prägte mit seinen Theorien die nationalsozialistische Lehre in der Rechtswissenschaft und ist einer der bekanntesten NS-Juristen überhaupt.

Die Lehre vom konkreten Ordnungsdenken verkündete den Vorrang der konkreten Lebensordnung vor der abstrakt-allgemeinen Rechtsnorm, der Gesetzesordnung im Sinne eines formalistischen Normativismus.[33]

Für das konkrete Ordnungsdenken ist „Ordnung“, auch juristisch, nicht in erster Linie Regel oder Summe von Regeln, sondern ungekehrt, die Regel ist nur ein Bestandteil und ein Mittel der Ordnung.[34] Die Norm oder Regel schafft nicht die Ordnung; sie hat vielmehr nur auf dem Boden und im Rahmen einer vorgegebenen Ordnung eine gewisse regulierende Funktion mit einem relativ kleinen Maß in sich selbstständigen, von der Sache her unabhängigen Geltens.[35]

[...]


[1] Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 233.

[2] Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 233.

[3] Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 216.

[4] Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 216.

[5] Schaffstein, Politische Strafrechtswissenschaft, S. 16; Dahm/Schaffstein, Liberales oder autoritäres Strafrecht, S. 37/38.

[6] Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 104.

[7] Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 217.

[8] Siegert, Grundzüge des Strafrechts im neuen Staate, S. 8.

[9] Freisler, in: Gürtner, Das kommende deutsche Strafrecht BT, S. 47.

[10] Freisler, Nationalsozialistisches Recht und Rechtsdenken, S. 24; Siegert, Grundzüge des Strafrechts im neuen Staate, S. 8.

[11] Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 218.

[12] Freisler, Nationalsozialistisches Recht und Rechtsdenken, S. 28.

[13] Freisler, in: Gürtner, Das kommende deutsche Strafrecht AT, S. 17/18; Frank, Nationalsozialistische Strafrechtspolitik, S. 23/24; Mittasch, Wertbeziehenden Denken, S. 99.

[14] Freisler, Nationalsozialistisches Recht und Rechtsdenken, S. 56.

[15] Frank, Nationalsozialistische Strafrechtspolitik, S. 34.

[16] Säcker, Recht und Rechtslehre, S. 54.

[17] Säcker, Recht und Rechtslehre, S. 37.

[18] Säcker, Recht und Rechtslehre, S. 37; Rüthers, Entartetes Recht, S. 45.

[19] Rüthers, Entartetes Recht, S. 47.

[20] Rüthers, Entartetes Recht, S. 42.

[21] Rüthers, Entartetes Recht, S. 42.

[22] Säcker, Recht und Rechtslehre, S. 49.

[23] Säcker, Recht und Rechtslehre, S. 47.

[24] Säcker, Recht und Rechtslehre, S. 47.

[25] Säcker, Recht und Rechtslehre, S. 48.

[26] Säcker, Recht und Rechtslehre, S. 54.

[27] Rüthers, Entartetes Recht, S. 43.

[28] Rüthers, Entartetes Recht, S. 43.

[29] Säcker, Recht und Rechtslehre, S. 64.

[30] Säcker, Recht und Rechtslehre, S. 64.

[31] Säcker, Recht und Rechtslehre, S. 64.

[32] Rüthers, Entartetes Recht, S. 45.

[33] Rüthers, in: Nationalsozialismus und Recht, S. 8.

[34] Carl Schmitt, Die drei Arten, S. 13.

[35] Carl Schmitt, Die drei Arten, S. 13.

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Verbrechen als Pflichtverletzung - Die Theorie vom Verbrechen als Pflichtverletzung
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Veranstaltung
Seminar: Kriminalisierungsprinzipien
Note
16 Punkte
Autor
Jahr
2006
Seiten
26
Katalognummer
V52560
ISBN (eBook)
9783638482394
ISBN (Buch)
9783638659109
Dateigröße
492 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Theorie vom Verbrechen als Pflichtverletzung ist im Vergleich zum Rechtsgutsverletzungsdogma weitestgehend nur in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland vertreten worden. Schon aufgrund der zeitlichen Einordnung ist auf die große Kritikwürdigkeit dieser Theorie zu schließen. Im Folgenden werden Inhalte, Rückschlüsse und Konsequenzen der Theorie sowie ihre Befürworter und Gegner und deren Argumente näher beleuchtet.
Schlagworte
Pflichtverletzung, Theorie, Pflichtverletzung, Seminar, Kriminalisierungsprinzipien
Arbeit zitieren
ref. dipl. jur. Stefanie Colin (Autor:in), 2006, Verbrechen als Pflichtverletzung - Die Theorie vom Verbrechen als Pflichtverletzung , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/52560

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