Das Normalität produzierende Subjekt in der Novelle Klein und Wagner von Hermann Hesse


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

24 Seiten, Note: 1


Leseprobe


INHALT

1.Einleitung

2. der methodische Rahmen
2.1.Motivation der Herangehensweise
2.2. Protonormalismus und Flexibilitätsnormalismus
2.3. Die Diskursanalyse im methodischen Verhältnis
2.3.1. „Diskurs“
2.4.2. „normal“

3. Wandel und Auflösung
3.1. Klein und eine protonormalistische Strategie
3.2. Die Dynamik einer Ausgrenzung
3.3. Hauptsströmungen eines Auflösungsprozesses
3.4. Von Klein zu Wagner

4. Das Normalität produzierende Subjekt

5. Schlußbetrachtung

Literaturverzeichnis:

1.Einleitung

Die Novelle Klein und Wagner von Hermann Hesse setzt mit der Beschreibung einer erfolgten Grenzüberschreitung (7)[1] der Hauptfigur Klein ein. Es handelt sich hierbei wohl um das Passieren der italienischen Grenze auf einer Zugfahrt. Gleichzeitig markiert diese Grenzüberschreitung jedoch eine biographische Grenze im Leben Kleins, der sich auf einer Reise befindet, welche alle üblichen Anzeichen einer Flucht trägt. (8)

Ich möchte in dieser Arbeit die Novelle in den Kontext der Normalitätsproblematik stellen. Die Zuschreibung einer mehr als örtlich bestimmten Grenzüberschreitung im ersten Satz des Textes soll hierbei der Ausgangspunkt sein. Der Weg des Protagonisten, der sich von diesem Punkt aus fortsetzt, soll Gegenstand meiner Untersuchung sein, und zwar unter dem Aspekt und im Kontext von Normalitätsdiskursen. Dies bedeutet, dass die Vorstellungen und Praktiken von Ein- und Ausgrenzung in der Novelle, deren Zusammenhang mit dem diskursiven Kontext und deren Position in diesem Kontext Gegenstand meiner Überlegungen sind.

In einem ersten Schritt soll somit der Frage nach Möglichkeiten einer Zuordnung und einer Analyse der Systematik, deren Auflösung durch besagte Grenzüberschreitung beginnt, gestellt werden. Die Beantwortung dieser Frage gliedert sich erstens in die Erläuterung, worin die Motivation zur Beschäftigung mit dem Ansatz Jürgen Links zu normalisierenden Strategien gesehen wird[2]. Zweitens wird auf dessen Unterscheidung in Protonormalismus und Flexibilitätsnormalismus eingegangen. In einem dritten Schritt wird schließlich der Bezug zur Diskursanalyse im Allgemeinen hergestellt, wodurch die Erkenntnismöglichkeiten und Prinzipien des Vorgehens im weiteren auch auf diese Weise klar gefasst werden sollen, bevor die Entwicklung im Laufe der Novelle und deren Positionierung in einem Diskurs der Normalität behandelt werden kann.

In einem zweiten Schritt wird der Versuch unternommen, Parallelen im Denken Kleins zu Beginn der Novelle zum Protonormalismus Links aufzuzeigen. Daraufhin soll die Dynamik verfolgt werden, welche durch den bewussten Versuch, eine nicht nur physische sondern auch biographische Grenze zu überschreiten, entsteht. Hier stehen einerseits die unterschiedlichen Versuche Kleins im Vordergrund, welche dazu dienen soll den Platz eines vormals funktionierenden Selbst- und Weltverständnisses einzunehmen und anderseits die Dialektik der beiden Figuren Klein und Wagner. Durch das Aufzeigen der unterschiedlichen Aspekte des Spannungsverhältnisses der Normalitätsproblematik in der Novelle soll deren diskursiver Beitrag und die Entwicklung dieses Spannungsverhältnisses greifbar werden.

In einem letzten Schritt soll schließlich betrachtet werden, welche Vorstellung von Normalität am Ende der Novelle steht. Welcher Weg wird durch die geschilderte Grenzüberschreitung Kleins beschritten und wo endet dieser Weg?

2. der methodische Rahmen

2.1.Motivation der Herangehensweise

Jürgen Link entwickelt im Rahmen seiner Fragestellung, welchen Platz der Normalismus in modernen Kulturen einnehme, das Konzept zweier idealtypischer Begrifflichkeiten. Nennt diese protonormalistische und flexibilitätsnormalistische Strategie und betrachtet sie auf der Ebene gesellschaftlicher Diskurse in der Tradition Foucaults. Hierzu setzt er ein Kontinuum voraus, eine Art Normalitätsfeld, auf welches eine Normalitätszone eingestellt wird. Dies nennt er Normalisierung. Hierbei bezeichnen die beiden Idealtypen Protonormalismus und Flexibilitätsnormalismus zwei entgegen gesetzte Strategien: die der „maximalen Komprimierung oder der maximalen Expandierung der Normalitätszonen“[3].

Die Zuschreibung einer mehr als örtlich bestimmten Grenzüberschreitung in Klein und Wagner ist ein erster Hinweis auf ein solches Normalitätsfeld. Die Zuschreibung einer Grenze setzt die Vorstellung einer Lebenswelt, eines Systems oder allgemeiner gefasst eines Zusammenhangs voraus, aus dem ein sich heraus begeben möglich ist. In unserem Fall ist dies auf der Handlungsebene die durch den Erzähler kommentierte Einschätzung des Verhaltens Kleins, welchem er Unangebrachtheit zuschreibt: „es passte alles so gar nicht zu ihm“ (8). Zu Beginn steht somit der Kontrast eines bewaffneten Mannes (8)zu dessen früherem, angepassten Leben.

Die Analyse der Erinnerungen Kleins an dessen früheres Leben, welchem er sich durch den Grenzübertritt zu entziehen versucht, weist deutliche Parallelen zu der von Jürgen Link entworfenen protonormalistischen Strategie auf. Die Begrifflichkeit Strategie ist hier jedoch mit Vorsicht zu gebrauchen und darf nicht zu dem Missverständnis führen, das Verhalten Kleins sei auf dessen strategische oder gar zweckrationalen Beweggründe hin zu untersuchen. Vielmehr richtet sich unser Blick auf die Einschätzung Kleins, die gesellschaftlichen Zwänge betreffend, an denen er selbstverständlich auch Teil hat(te). Bei der Beantwortung der Frage, inwiefern der Entwurf Jürgen Links für unsere Arbeit von Nutzen sein kann, soll nun vor der genauen Erläuterung seiner Unterscheidung in zwei normalistische Strategien, vor allgemeinen Ausführungen zur Diskursanalyse und vor der anschließenden Analyse unserer Ausgangsposition nach protonormalistischen Gesichtspunkten, der explizite Hinweis auf die Begrifflichkeit des Idealtypus stehen.

Nach Max Weber, auf welchen diese Begrifflichkeit zurückzuführen ist, handelt es bei einem Idealtypus um ein wissenschaftliches Instrument, welches dazu dienen soll, Erscheinungen zu verorten. Nicht zuletzt sind somit die wissenschaftliche Herangehensweise und damit ein wissenschaftstheoretisches Konzept untrennbar mit dieser Begrifflichkeit verbunden. Die ursprünglich für den Bereich sozialwissenschaftlicher Fragestellungen entwickelte Konzeption ist geprägt durch ihren Modellcharakter: „[Der Idealtypus] wird gewonnen durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluss einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankenbilde.“[4]

Dieser kurze Exkurs zur Begrifflichkeit des Idealtypus soll uns dazu dienen, im Bewusstsein zu bewahren, wozu der Verweis auf die zwei normalistischen Strategien Links bei uns dienen kann und wo seine Grenzen liegen. Es besteht die Möglichkeit, den Charakter der Denkstrukturen Kleins zu charakterisieren und deren vermutete Nähe zur bereits erwähnten protonormalistischen Strategie zu untersuchen. Somit besteht die Chance auf eine Ausgangsposition um die Entwicklung dieser Vorstellung im Text und die Funktion des Textes in Zusammenhang der beiden sich ergänzenden Modelle Links zu erkennen.

Bewahren soll uns der Bezug zu Weber vor einer zu starken Schematisierung und schon allein vor dem Versuch, den Anspruch zu stellen, eine protonormalistische Strategie in literarischen Texten nach Art einer medizinischen Diagnose identifizieren zu wollen.

Nach dieser allgemeinen Erläuterung, aus welchen Gründen ein Heranziehen der Überlegungen Links motiviert wird, soll nun eine genauere Zusammenfassung der Überlegungen zu Flexibilitätsnormalismus und zu Protonormalismus folgen. Daraufhin wird es möglich sein, die vermutete Nähe zu protonormalistischen Charakteristika am Anfang der Novelle am Text zu überprüfen und zu charakterisieren.

2.2. Protonormalismus und Flexibilitätsnormalismus

In Jürgen Links Versuch über den Normalismus[5] soll der Frage nachgegangen werden, welchen Platz der Normalismus in modernen Kulturen einnehme. Die genaue Betrachtung seiner beiden aufgezeigten idealtypischen Normalisierungsstrategien, deren wechselseitige Spannung aus der Dynamik moderner Kulturen entsteht, soll nun erfolgen.

Auf der einen des Spannungsfeldes steht der Protonormalismus. Die bereits erwähnte Taktik der maximalen Komprimierung kann als übergreifende Kategorie verstanden werden, da diese ein Charakteristikum der Dominanz autoritär gestalteter Normierungspraktiken in Bezug auf die Dynamik ist. Im Einzelnen lässt sich dieses Charakteristikum protonormalistischer Strategien in die unterschiedlichsten Bereiche aufschlüsseln.

Für uns besonders entscheidend ist hierbei einerseits der Verweis auf Charakteristika der Strategie an sich und auf Auswirkungen auf die Subjektebene. Bei ersterem lässt sich die Konstruktion des Normalitätsfeldes und damit die Art der Grenzziehung als strikt und statisch bezeichnen. Dies bringt tendenziell sowohl eine symbolische Markierung der Grenzen mit sich, als auch die Anlehnung von Normalität an Normativität.

Auf der Subjektebene besteht ein Spannungsverhältnis zwischen der Außen-Lenkung in Form von autoritären Strukturen, welche die Normalitätsgrenzen statisch festsetzen und dem Einzelnen, welcher diesen unterworfen ist. Somit führt die Dominanz statischer Grenzziehung gegenüber dynamischer Entwicklung nach Link zur sog. Fassaden-Normalität.[6] Diese erscheint plausibel und aus der Grundüberlegung ableitbar, denn eine von oben herab festgelegte Einengung wirkt entgegen der Dynamik „tatsächlich“ vorkommender Ausprägungen. Subjekte präsentieren sich somit in der Öffentlichkeit als normal während sie im Geheimen „anormalen“ Taktiken frönen.

Der Flexibilitätsnormalismus lässt sich mit der übergreifenden Zuschreibung maximaler Expandierung fassen, welche sich an unterschiedlichen Anhaltspunkten festmachen lässt. Es handelt sich in gewissem Sinne um eine dem Protonormalismus entgegen gesetzte Strategie. Die einzelnen Anhaltspunkte allerdings sind weder als ausschließliche Kategorien noch als unbedingt nötig aufzufassen. Die Eigenschaft der Gegensätzlichkeit ihrerseits bezieht sich auf die Art der Grenzziehung, Normalitätsgrenzen an sich sind auch bei dieser Strategie vorhanden, sie unterliegen jedoch flexibleren Mechanismen. Somit tritt auf der Ebene des Subjekts an die Stelle der Fassaden-Normalität die Möglichkeit zur Authentizität. Ein Subjekt, welches sich im Bereich des Anormalen befindet wird in einem flexiblen System die Chance haben diesem Zustand eine andere Bedeutung zuzumessen. Die Stigmatisierung, welche durch normativ bestimmte fixe Grenzen im Protonormalismus wahrscheinlich erscheint kann unter Umständen umgangen werden. Die Möglichkeit der Einflussnahme auf das Normalitätsfeld und somit der Kernpunkt einer flexiblen Strategie wird durch offenes Bekenntnis bis dato abnormer Praktiken realistisch.

2.3. Die Diskursanalyse im methodischen Verhältnis

Die bisherigen Überlegungen haben sich vor allem mit dem Einstieg in die Novelle Klein und Wagner unter dem Aspekt des Normalitätsdiskurses und mit dem Anknüpfungspunkt zu einem theoretischen Konzept Jürgen Links befasst. Nun soll eine schematische Einordnung dieser Arbeit in den Begriff der Diskursanalyse und ihr methodisches Verhältnis zum Ansatz Links erfolgen. Dies soll dazu dienen, die Möglichkeiten aufzugeigen in deren Rahmen wir Aussagen in unserer Arbeit treffen können: worüber lassen sich in Bezug auf den Normalitätskomplex im Rahmen dieser Überlegungen Erkenntnisse gewinnen?

2.3.1. „Diskurs“

Grundsätzlich lässt sich der Wert der Literatur für Aussagen in der Diskursanalyse in zwei große Bereiche einteilen. Einerseits kann die Literatur als Ort angesehen werden, in welchem sich Diskurse vollziehen, also als Medium der Aussagen, welche nach einem bestimmten Regelsystem getroffen werden. Andererseits können in der Literatur Diskurse thematisiert werden. Hierbei kann die Spannweite von eher expliziten Ausprägungen, in denen Einordnungen zur Sprache gebracht und hinterfragt werden bis zu impliziten Formen, in denen verschiedene Diskurse weniger offensichtlich zum Gegenstand der Literatur werden, reichen: “ Literatur erscheint aus der Sicht der Diskursanalyse einerseits als Treff- und Kreuzpunkt der Diskurse, einer Art Interdiskurs, ein Ort der Inszenierung bzw. Dekonstruktion von Diskursen, anderseits als ein eigener Diskurs einer spezifischen Regelhaftigkeit(…)“[7].

Wir wollen uns vor allem mit der Möglichkeit befassen, in welcher Literatur als Reden über Diskurse zu verstehen ist, wobei dennoch niemals außer acht gelassen werden kann, dass ihrerseits die sprachliche Äußerung Einfluss ausübt und damit einen diskursiven Beitrag darstellt.[8]

Insofern muss sich unser Anspruch von dem der klassischen Diskursanalyse abspalten, bei der der Diskursbegriff entscheidend ist, nachdem Diskurse, „(…)historisch wirksame Aussagensysteme sind, die nach bestimmten Regeln funktionieren und sich dadurch von anderen Diskursen abgrenzen.“[9] Hierbei geht es üblicherweise darum, diese Regelsysteme aufzuzeigen. Unser Anspruch kann vielmehr der sein, die mögliche Nähe zu einer bestimmten Regelhaftigkeit zu betrachten und darzustellen inwiefern ein Diskurs der Normalisierung auf diese Art reflektiert wird. Der Begriff des Regelsystems ist entscheidend, insofern dieser die Möglichkeit unterschiedlichster Ebenen betont und somit die Berechtigung erhärtet, die normalistischen Strategien Jürgen Links in unserem Zusammenhang als Ausgangsbasis zu verwenden: „Es kann sowohl ein `verhaltensauffälliges Kind` mit bestimmten normalistischen Taktiken normalisiert wie das deutsche Volk dazu aufgerufen werden, sich nicht länger gegen die „Normalität“ zu sperren“.[10]

[...]


[1] Sämtliche Zahlenangaben in Klammern beziehen sich aufnangaben in Hesse (1998)

[2] Vgl. Link (1999)

[3] Vgl. Link (1999), S. 77

[4] vgl.: Weber, Max (1991), S.71

[5] Vgl. Link (1999)

[6] Vgl. ebd., S. 78

[7] vgl. Schweikle (1990), S. 103

[8] Vgl hierzu Frank (2004), S.20

[9] Vgl. Dürscheid (1994), S..321

[10] Vgl.Link (1999), S.75

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Das Normalität produzierende Subjekt in der Novelle Klein und Wagner von Hermann Hesse
Hochschule
Universität Konstanz  (Fachbereich Deutsch)
Veranstaltung
Seminar: Außenseiter der Gesellschaft
Note
1
Autor
Jahr
2005
Seiten
24
Katalognummer
V52110
ISBN (eBook)
9783638479035
ISBN (Buch)
9783656813118
Dateigröße
552 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Es geht um die Novelle Klein und Wagner von Hermann Hesse und um die Normalitätsproblematik in dieser Novelle. Die Arbeit ist ein Versuch, diese in ihren verschiedenen Ebenen zu erfassen, und bemüht sich um eine Diskursanalyse.
Schlagworte
Normalität, Subjekt, Novelle, Klein, Wagner, Hermann, Hesse, Seminar, Außenseiter, Gesellschaft
Arbeit zitieren
Andreas Schuster (Autor:in), 2005, Das Normalität produzierende Subjekt in der Novelle Klein und Wagner von Hermann Hesse , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/52110

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