Das Obszöne im Lied 'Ain graserin' von Oswald von Wolkenstein - Eine Interpretation


Seminararbeit, 2004

18 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Übersetzung

3. Kritischer Kommentar

4. Interpretation
4.1 Inhaltswiedergabe
4.1.1 Bestimmung des räumlichen und zeitlichen Rahmens
4.1.2 Die Figurenkonstellation
4.1.3 Die Frage nach dem lyrischen Ich
4.2 Aufbau der Doppeldeutigkeit
4.2.1 „Obszön“ – Versuch einer Begriffsklärung
4.2.2 Die Rolle der Metapher
4.2.3 Oswalds Spiel mit dem Obszönen

5. „Ain graserin“ – eine Pastourelle ?

6. Fazit

7. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Für ihn ist Liebe immer leibhaftig, irdisch, das ursprüngliche Naturverhältnis wird nachdrücklich in seine Rechte eingesetzt und emanzipiert sich von gesellschaftlichen Tabus.“[1] Diese Behauptung soll die folgende kurze Abhandlung einleiten, welche sich ebenfalls mit Oswald von Wolkensteins Verhältnis zu Sexualität, Natürlichkeit und Gesellschaft in seiner Zeit und dessen dichterischer Umsetzung auseinander setzt. Am Beispiel des um 1408[2] entstandenen Liedes „Ain graserin“[3] soll ein Aspekt dieser Beziehung herausgearbeitet und auf Tauglichkeit geprüft werden: das Obszöne.

Zu Beginn erfolgt eine eigenständige Übersetzung des Liedes. Dabei auftretende Probleme und Sonderheiten werden danach diskutiert. In wieweit die von Oswald verwendeten Stilmittel, welche für die Wirkung der graserin evident sind, mit in die Übertragung einfließen konnten, wird ebenfalls besprochen. Die interpretatorische Annäherung beschäftigt sich zunächst mit der räumlichen und zeitlichen Disposition, sowie mit der Figurenkonstellation, bevor der Aufbau der Zweideutigkeiten des Liedes erkundet wird. Dazu gehört eine Bestimmung des Obszönitätsbegriffes und die Darlegung der Rolle des Metaphorischen. Anschließend erfolgt die Untersuchung am Text. Die Frage, welcher Gattung das Lied zugeordnet werden kann, soll in einem gesonderten Kapitel thematisiert werden. Den Abschluss bilden eine Einordnung des graserin – Themas in das Oeuvre des Wolkensteiners, sowie ein Fazit dieser Arbeit.

Im Rahmen der Abhandlung steht stets das Textwerk der Handschrift B im Fordergrund. Ein Vergleich mit den Handschriften A, c, F, welche das Lied ebenfalls beinhalten, kann nicht stattfinden. Auch die musikalische Ausformung wird vernachlässigt.

2. Übersetzung

Eine Graserin

I.

Eine Graserin [lief] durch kühlen Tau

mit weißen, nackten, zarten Füßlein

[und] hat mich erfreut in einer grünen Aue;

das bewirkte ihre Sichel, braun behaart,

5 als ich ihr half, das Gatter zu rücken,

es fest gegen die Verschränkungen zu drücken,

es zu lenken, zu versenken in den Pfriem,

gut bewährt, damit das Fräulein

fortan ohne Sorge [sei], ihre Gänschen nicht zu verlieren.

II.

Als ich die Schöne beim Steigen über den Zaun erblickte,

wurde mir eine kurze Weile zu lang,

bis ich ihr den Verdruss

zwischen zwei Gatterschranken abwenden konnte.

5 Mein kleines Äxtlein hatte ich ihr zuvor

hoch zu Dienste gewetzt,

angetrieben, befeuchtet, wie dem auch gewesen sei,

aufhäufen half ich ihr das Gras.

„Reiß´ Dich nicht los, mein Schatz !“ „Oh! Das werd´ ich nicht, lieber Jensel.“

III.

Als ich den Klee abgemäht hatte

und all ihre Lücken gut verschloss,

gierte sie dennoch, dass ich jäte

erneut im unteren Feld;

5 zum Lohn wollte sie mir aus Rosen flechten

und binden ein Kränzlein.

„Schwenke, schwinge mir den Flachs!

Hege ihn, wenn Du willst, dass er wächst!“

„Herzliebe Gans, wie herrlich steht Dir Dein Schnäbelchen.“

3. Kritischer Kommentar

In der vorliegenden Übersetzung wurde versucht, den mittelhochdeutschen Text möglichst präzise in Wortwahl und Satzstruktur ins Neuhochdeutsche zu übertragen und ihn dennoch dem heutigen Textverständnis anzupassen. Einige kritische Anmerkungen sind dazu erforderlich. So findet die Arbeitsbezeichnung graserin, also eine jener „Mägde, die frühmorgens das damals wertvolle, weil rare Futtergras rupften oder mit der Sichel schnitten“[4], heute keine Entsprechung mehr. „Das Wort ist mit der Tätigkeit historisch geworden“[5] und wurde daher unverändert wiedergegeben. In (I;1) wurde anstelle der Elision ein passendes Verb der Fortbewegung einsetzt.[6] Eine zusätzliche Konjunktion ist in (I;3) eingefügt worden. Die Herleitung des Nomens seul von sûl wurde mit Verweis auf Marold verworfen, welcher siuwele als Ursprung bevorzugt und mit „Holzstöpsel, der zur Befestigung des Gatters in eine Krampe gesteckt wird“ übersetzt.[7]

Die doppelte Verneinung in (I;9) an sorg nicht fliesen ist für die Übertragung etwas problematisch, was vermutlich an zwei Inhaltsebenen der Wendung gensel fliesen liegt. Auf der wörtlichen Ebene ergäbe sie wenig Sinn, sollte die Gänsehüterin doch darauf bedacht sein, ihre Gänse nicht zu verlieren. Auf metaphorischer Ebene, welche auf den Verlust der Jungfernschaft anspielt[8], erschließt sich der Zweck dieser Doppelnegation. Eine ähnliche Ambiguität bildet zeunen in (II;1): Das Verb ziunen steht für die Handlung des Zäunens an sich ebenso wie für den bildhafteren Vorgang des Steigens über den Zaun.[9] Hier wurde sich für die zweite Variante entschieden, denn sie erhöht das visuell-erotische, voyeuristische Spannungsmoment, welches für den Handlungsverlauf grundlegend ist, denn „Oswald liebt die Frau mit den Augen, ehe er ihr mit allen Sinnen begegnet, schildert ihre erregende Wirkung auf Seele und Leib.“[10]

In III;4 der niedern peunt wurde sich abermals an Marold orientiert, der die vermutlich süddeutsche Wendung mit „untere Wiese“ vorschlägt.[11]

Schade ist, dass teils durch die artifizielle Wortstellung des Wolkensteinliedes, teils durch den Wandel in der Wortbedeutung ein Großteil stilistischer Raffinessen der Übertragung zum Opfer fiel. So konnten beispielsweise die Endreime kaum beibehalten werden, gleiches gilt für den strophenabschließenden Kornreim. Da die Schlagreime, vor allem in (I;5,6,7), (II;6,7) und (III;6,7) mit ihrer onomatopoetischen Funktion den doppeldeutigen Handlungsablauf unterstreichen, ist deren Wegfall in der Übersetzung besonders bedauerlich, denn „Oswald war ein unersättlicher Abschmecker und Feinschmecker von Reimen.“[12]

4. Interpretation

4.1 Inhaltswiedergabe

In diesem Lied reflektiert das lyrische Ich eine Begegnung mit einer Gras mähenden Magd, welche auch mit dem Hüten von jungen Gänsen beschäftigt ist und dafür Sorge zu tragen hat, „die für die Fluren schädlichen Tiere in engen Räumen einzuzäunen“.[13] Der Erzähler oder Sänger ist dem Mädchen beim Herrichten der Umzäunungen und beim Gras Schneiden behilflich. Bei dessen Schilderung entsteht schon nach kurzem ein Bild von landwirtschaftlich-sexueller Doppeldeutigkeit.

4.1.1 Bestimmung des räumlichen und zeitlichen Rahmens

„Insgesamt waren Grasschneiden und Reparieren der Zäune Tätigkeiten im Frühling, die bis spätestens Anfang Mai durchgeführt sein sollten.“[14] Die Beschreibung, dass es in grüner au (I;3) zu dieser Begegnung kommt, dass ein Rosenkranz geflochten wird (III;5,6) und Flachs gehegt werden muss, um gut zu gedeihen (III;7), intensiviert die „elementare Lebendigkeit der Jahreszeit, zu der sich Sexuelles als elementare Lebensäußerung sehr natürlich gesellt.“[15] Und mit dem külen tau (I;1) lässt sich eine morgendliche Tageszeit annehmen.[16] Vielleicht kann die räumliche Umgebung am besten in Anlehnung an Goheen als „locus amoenus mit Minimum an Ausstattung“[17] beschrieben werden. Oswald setzt die landwirtschaftlichen Verpflichten der Magd in eine scheinbar abgelegene Auengegend. Durch kurze Andeutungen wie tau und kle wird die Naturumgebung zusätzlich idyllisiert und erotisiert. Zeyen verweist in dem Zusammenhang auf die „erotische Konnotation des Taus in antiker und christlicher Tradition, wie auch [auf] die Verwurzelung im Volksglauben, der dem Tau verschiedene Fruchtbarkeit fördernde Eigenschaften zusprach“[18]. Geläufig ist zudem die im Mittelalter geltende Gleichsetzung des Taus mit dem „beim Liebesakt gespendeten Samen“.[19] So gibt Oswald dem an sich rein auf Anstrengung bezogenen Arbeitsraum einen amourösen Hintergrund und macht ihn zur „Stätte sexuellen Sinnenglücks“[20] und in Bezug auf die reflektierende Erzählweise des männlichen Protagonisten zu einem „Fokus der Erinnerung“[21].

[...]


[1] Wolkenstein, Oswald v.: Leib- und Lebenslieder. Ausgewählt und übertragen von Hubert Witt. Leipzig 1982

( = Sammlung Dieterich, Bd. 397), S. 195 (Nachwort).

[2] Vgl. Wolkenstein, Oswald v: Die Lieder. Mittelhochdeutsch – Deutsch. 2.Auflage. In Text und Melodien neu übertragen und kommentiert von Klaus J. Schönmetzler. Essen 1990, S.442 (Kommentar).

[3] Klein, Karl Kurt (Hrsg.): Die Lieder Oswalds von Wolkenstein. 3., neubearb. u. erw. Auflage. Tübingen 1987

( = Altdeutsche Textbibliothek, Nr.55), S. 202-203. In dieser Arbeit in Klammern vorkommende Verweise beziehen sich auf diese Quelle.

[4] Kühn, Dieter: Ich Wolkenstein. Eine Biographie. Frankfurt am Main 1988, S. 206.

[5] Ebd.

[6] Vgl. Marold, Werner: Kommentar zu den Liedern Oswalds von Wolkenstein. Bearbeitet und herausgegeben von Alan Robertshaw. Innsbruck 1995 (= Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe, Bd.52), S.203.

[7] Vgl. Ebd.

[8] Vgl. Lexer, Matthias: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Zugleich als Supplement und al­phabetischer Index zum Mittelhochdeutschen Wörterbuch von Benecke-Müller-Zarncke. 3 Bde. 1872–1878; Nachdruck mit einem Vorwort von Kurt Gärtner. Stuttgart 1992, Band 1, S.863.

[9] Vgl. ebd., Bd 3, S. 1143.

[10] Wolkenstein, Oswald v. 1982: S.197.

[11] Vgl. Marold, S. 203.

[12] Kühn, S. 214.

[13] Müller, Ulrich: Oswald von Wolkenstein: Ain graserin durch kúhlen tau. In: Gedichte und Interpretationen. Mittelalter. Hrsg. von Helmut Tervooren. Stuttgart 1999 ( = Universal-Bibliothek, 8864), S. 338-352. Hier S. 342

[14] Ebd., S. 343.

[15] Goheen, Jutta: Mittelalterliche Liebeslyrik von Neidhart von Reuental bis zu Oswald von Wolkenstein: eine Stilkritik. Berlin 1984 ( = Philologische Studien und Quellen, Heft 110), S. 64.

[16] Vgl. Müller, S. 340.

[17] Goheen, S. 22.

[18] Zeyen, Stefan: ...daz tet der liebe dorn: erotische Metaphorik in der deutschsprachigen Lyrik des 12.-14. Jahrhundert. Essen 1996 ( = Item Mediävistische Studien, 5), S. 49.

[19] Ebd.

[20] Goheen, S. 23.

[21] Ebd.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Das Obszöne im Lied 'Ain graserin' von Oswald von Wolkenstein - Eine Interpretation
Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Veranstaltung
Proseminar Oswald von Wolkenstein
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
18
Katalognummer
V52103
ISBN (eBook)
9783638478984
ISBN (Buch)
9783638598378
Dateigröße
577 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Obszöne, Lied, Oswald, Wolkenstein, Eine, Interpretation, Proseminar, Oswald, Wolkenstein
Arbeit zitieren
Thomas Schiller (Autor:in), 2004, Das Obszöne im Lied 'Ain graserin' von Oswald von Wolkenstein - Eine Interpretation, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/52103

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