Das Ehepaar Balint. Eine "Pharmakologie der Droge Arzt"

Theoretische und historische Hintergründe der Balint-Gruppe


Ausarbeitung, 2019

66 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Zusammenfassung

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1 Ein Referat zum Thema Gruppentheorien

2 Schriftsprachliche Rekonstruktion eines gehaltenen Vortrages: Vorüberlegungen

3 Theoretische und historische Hintergründe der BG
3.1 Die Triebtheorie Siegmund Freuds und die Objekt-Beziehungs- theorie (Melanie Kleins)
3.1.1 Die Freud’sche Triebtheorie
3.1.2 Melanie Klein und die Objekt-Beziehungstheorie
3.1.3 Verstehen vs. Einfühlen: PA in ihrer Anwendung
3.2 Geschichtliche Darstellung der Psycho-Analyse in England
3.3 Michael Bergsmann: der Sohn eines ungarisch-jüdischen Allgemein-Arztes
3.4 Enid Balint
3.5 Das Ehepaar Balint

4 Die Balint-Gruppe: eine therapiewissenschaftliche Studie
4.1 Theoretischer Hintergrund und Forschungsfragen
4.2 Methodisches Vorgehen
4.3 Studien-Ergebnisse und Balints Fazit
4.3.1 Die pathologischen Arzt-Patienten-Interaktionsprozesse
4.3.1.1 Interaktionsstruktur der Schulmedizin
4.3.1.2 Sprache der Schulmedizin
4.3.1.3 Kulturelle Prägung der Ärzte und der Patienten!
4.3.1.4 Mangelnde Selbstprüfung und apostolischer Eifer oder Das Dilemma mit der richtigen Lebensführung
4.3.1.5 Beruhigungen und Ratschläge: die meist verwendeten Therapiemethoden der Droge Arzt
4.3.2 Die übrigen Ergebnisse
4.3.2.1 Früherkennung pathologischer Interaktionsprozesse
4.3.2.2 Therapeutische Möglichkeiten
4.3.2.3 Lösungen: recht mager. Richtung: tritt klar heraus
4.3.3 Balints Fazit
4.4 Abschließende Betrachtungen

5 Appendix: Diskussionen während des Vortrages und ein Eklat!
5.1 Fall 2 von Dr. G
5.2 Fall 1 von Dr. M

Literaturliste

Anhänge

Zusammenfassung

Die vorliegende Arbeit stellt die schriftsprachliche Transponierung eines mündlich gehaltenen Vortrages in das Medium Schriftsprachlicher Text sowie eine weiterführende wissenschaftliche Ausarbeitung des Themas dar Der gehaltene Vortrag mit dem Titel Michael Balint – Die Pharmakologie der Droge Arzt fand im Rahmen eines akademischen Blockseminars zum Thema Gruppentheorien statt und bemühte sich – gleichsam wie die vorliegende Arbeit – die Forschungsarbeit Michael Balints gestalthaft zu rekonstruieren. Hierfür werden die theoretischen Hintergründe und geschichtlichen Horizonte rund um die Balint-Gruppe einander zugestellt, um dadurch eine hermeneutische Übersumme des Verstehens zu schaffen.

Die Balint-Gruppe war ein vom Ehepaar Balint entwickeltes Forschungsdesign, welches ärztliches Interaktionsverhalten mit Hinblick auf seine psycho-somatische Heilwirkung untersuchte. Ziel war eine Standardisierung der Droge Arzt, wie Balint es nannte.

Die vorliegende Arbeit deckt in ähnlicher Weise wie der gehaltene Vortrag historische Bedingungen auf, die zum Phänomen der Balint-Gruppe führten. So wird die Biographie der Eheleute Balint vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts bis zum Ende des zwanzigsten vorgestellt, die mit der Geschichte Mitteleuropas verwoben ist. Fachspezifisch werden die Geschichte der Medizin und v.a. der Psychoanalyse, die sich vor allem in England ereignete, nachgezeichnet. Wissenschafts-theoretisch werden die Einflüsse der Psychoanalyse, der Medizin, der Pharmakologie und der Sozialarbeit – als Wurzel der heutigen Supervision in Deutschland – auf die Balint-Gruppe dargelegt. Anschließend wird die Balint-Gruppe als Studie vorgestellt, d.h. ihr Forschungsdesign wird mit Hinblick auf die ihr zu Grunde liegenden Forschungsfragen analysiert und ihre Forschungsergebnisse vor dem historischen Horizont der Gegenwart diskutiert.

Den Abschluss der vorliegenden Arbeit bildet eine Skizze der Gruppendiskussionen, die sich während des Vortrages ergaben und die unbeabsichtigt in einem Eklat mündeten.

Tabellenverzeichnis

Tab.1 Zusammenhang zwischen Studientypen, Güte der Evidenz und Empfehlungsgrade

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1 Historische und theoretische Hintergründe zur Entstehung des Phänomens BG

Abb. 2 Die im Vortrag ausführlich behandelten historischen und theoretischen Hintergründe

Abb. 3 Freuds Modell der Psyche als systemischer Apparat

Abb. 4 Die BG und ihre Horizonte, erweitert

Abb. 5 Die BG und ihre Horizonte, vollständig

Abb. 6 Die ICF als Modell eines neuen Gesundheits- und Krankheitsverständnisses

Abb. 7 Balints Vorstellungen objektiver Psycho-somatischer Klassifikation und linearer Psychotherapie

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Ein Referat zum Thema Gruppentheorien

Die vorliegende Arbeit ist eine schriftsprachliche Aus- bzw. Umgestaltung eines Vortrages, der im Rahmen eines viertägigen Blockseminars zu Gruppentheorien gehalten wurde: das Seminar fand im Mai 2019, im dritten Semester des Weiterbildenden Maserstudiengangs Supervision und Beratung (vgl. Uni Bielefeld, 2019) unter Leitung von Professorin Dr. Elisabeth Rohr statt. Die Leiterin hatte im Vorfeld den teilnehmenden Studierenden das Halten von Referaten angeboten, wobei sie hierzu mehrere der vielen psychoanalytischen Ansätze zum Verstehen von Gruppen als Thema angeboten hatte. Für die Vorbereitung der Referate war es verpflichtend, Primärliteratur des jeweiligen Wissenschaftlers bzw. des Gruppen-theoretischen Ansatzes zu sichten und dieses auch innerhalb des Referates vorzustellen.

Die folgende Arbeit stellt nun die Transponierung eines dieser Ende Mai 2019 gehaltenen Referate dar, das den Titel „Michael Balint. Die Pharmakologie der Droge Arzt“ trug (s. Anhang I).

2. Schriftsprachliche Rekonstruktion eines gehaltenen Vortrages: Vorüberlegungen

»Der Horizont der Gegenwart bildet sich also gar nicht ohne die Vergangenheit. Es gibt so wenig einen Gegenwartshorizont für sich, wie es historische Horizonte gibt, die man zu gewinnen hätte. Vielmehr ist Verstehen immer der Vorgang der Verschmelzung solcher vermeintlich für sich seiender Horizonte.“

(Gadamer 1990, S. 311)

Der vorliegende Text versucht – wie der Vortrag am 31.05.2019 – das Phänomen Balint-Gruppe (BG) gestalthaft zu rekonstruieren: Das Phänomen im Jetzt des frühen 21. Jahrhunderts soll sich dabei plausibel aus seinen historischen Wurzeln des frühen neunzehnten Jahrhunderts und gleichsam aus den damals zu Grunde gelegten Theorien (s. Abb.1) erklären. Hierbei wird die gegenseitige Bedingtheit der theoretischen Hintergründe und der historischen Horizonte verdeutlicht.

Abbildung 1

Historische und theoretische Hintergründe zur Entstehung des Phänomens BG

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Bei dem Versuch, ein solches Bedingungsgefüge im Medium Schriftsprachlicher Text (ST) darzustellen, erscheinen nun drei Punkte vorab beachtenswert:

1. Die der BG zu Grunde gelegten Theorien haben sich in dem vergangenen Zeitraum von beinahe siebzig Jahren weiterentwickelt und teils gewandelt und weisen unentwegt eine Abhängigkeit zwischen den wissenschaftlichen Protagonisten zu ihren jeweiligen historischen Horizonten auf (vgl. Nitzschke 2011, S. 10).
2. Bei den in dieser Arbeit vorgelegten Skizzen der historischen Ereignisketten handelt es sich um Geschehnisse, die in verschiedenen Feldern und verschiedenen Ländern dieser Welt gleichzeitig nebeneinander her stattgefunden haben und sich in vielfacher und von daher unüberschaubarer Weise gegenseitig in ihrem Werden beeinflusst haben müssen. Die Rekonstruktion dieser parallelen Ereignisketten im Medium ST und vor allem ihre gegenseitigen Wechselwirkungen können auf Grund der gegebenen Linearität des Mediums ST nur bedingt gelingen: Gleichzeitigkeiten können ausschließlich nach-zeitig im Medium ST dargestellt bzw. rezipiert werden!
3. Die dargestellten Theorien und Ereignisse müssen als Fragmente eines holistischen Weltgeschehens erachtet werden, die im Medium ST wiederum in sich nur fragmentiert, ja, Skelett-haft dargestellt werden können. Der Gestaltschluss ist folglich Teil der Rezeption. Zwar kann er in der Produktion eines ST technisch unterstütz werden, doch erfolgt diese Hilfestellung in einer anderen Weise als sie in einem mündlichen Vortrag erfolgt, wo man sich der darstellenden Möglichkeiten des sprechenden Körpers sowie der direkten Interaktion mit dem Publikum bedienen kann.

Es sind nun einige Unterschiede zu benennen, die zwischen der Vorstellung des Themas durch den stattgefundenen Vortrag und dem vorliegenden Text bestehen. Die dem Vortrag vom Mai 2019 zu Grunde gelegte Didaktik bestand darin, sich aus Zeitgründen vorerst auf verschiedene Hintergründe/Horizonte zu beschränken und diese dann ausführlich zu behandeln (vgl. Abb.2; Anhang I). Hierbei wurde auf eine sinnvolle Auswahl und anschließend auf einen folgerichtigen didaktischen Aufbau geachtet:

1. Die Historie der Psychiatrie wurde vorab referiert, damit sie kontrapunktisch als historisches Bühnenbild dient, um davor
2. die Protagonisten Michael und Enid Balint auftreten zu lassen, d.h. ausführlich wurde Michael Balints Biographie vorgetragen und seiner dritten Ehefrau Enid ein besonderes Kapital darin gewidmet, da sie einen Schlüsselmoment bei der Entstehung der BG darstellt (vgl. Kap.3.3 – 3.5).
3. Zuletzt wurde die therapiewissenschaftliche Forschungsarbeit Balints, aus der sich die BG unserer Tage entwickelt hat (vgl. DocCheck, 2019; Kap.4), ausführlich vorgestellt.

Zu den ausgelassen Fragmenten (vgl. Abb.1 u. 2) wurde während des Vortrages, wo immer es für ein plastischeres Verständnis nötig war, theoretische oder historische Querverbindungen referiert, doch die jeweiligen Fragmente dabei nur soweit es notwendig war, skizziert.

Abbildung 2

Die im Vortrag ausführlich behandelten historischen und theoretischen Hintergründe

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Anm.: Orange markierte Horizonte und Hintergründe wurden im Vortrag ausführlich behandelt, während die hellblau belassenen, nur soweit es für Querverbindungen nötig war, skizziert wurden.

3. Theoretische und historische Hintergründe der BG

Die vorliegende schriftsprachliche Ausgestaltung des Vortrages wird nun jedoch um einige (der ausgesparten) Horizonte erweitert, sodass Querverbindungen im Folgenden durch zitierende Bezugnahme auf die entsprechenden Kapitel hergestellt werden können und somit der mündlich gehaltene Vortrag adäquat in das Medium ST transponiert wird. Zudem wird die Analyse einzelner Horizonte deutlich vertieft. Durch diese Erweiterung ist zwangsläufig eine strukturelle Veränderung bei der Transponierung des Vortrages in das Medium ST notwendig: nämlich der, den didaktischen Aufbau anzugleichen. Deshalb wird: von der Triebtheorie Siegmund Freuds und die Objekt-Beziehungstheorie (Melanie Kleins) (s. Kap. 3.1) ausgehend, die Geschichtliche Darstellung der Psycho-Analyse (PA) in England (s. Kap. 3.2) skizziert. Es folgen Michael und Enid Balints Biographien (s. Kap. 3.3 u. 3.4). Diese Biographien werden verschmolzen (s. Kap. 3.5) und in die Forschungsarbeit des Ehepaares Balint übergeleitet, die Hauptuntersuchungsobjekt sowohl des Vortrages vom Mai 2019 als auch der vorliegenden Arbeit darstellt: Die Balint-Gruppe als Therapiewissenschaftliche Studie (s. Kap. 4).

Der kontrapunktische Aspekt Historie der Psychiatrie entfällt in der Transponierung. Sicherlich ist es in einem Vortrag reizvoll, dargelegte Horizonte ineinander spiegelnd zu verzerren und dadurch eine interpretatorische Übersumme zu generieren. Für das wissenschaftstheoretische Verständnis der BG ist dies jedoch nicht notwendig. Stattdessen werden in einem abschließenden Kapitel (s. Kap. 5) die Diskussionen nachgezeichnet, die während des Vortrages entstanden sind und die unerwartet und unbeabsichtigt in einem Eklat endeten.

3.1 Die Triebtheorie Siegmund Freuds und die Objekt-Bezieh-ungstheorie (Melanie Kleins)

Siegmund Freuds Drei-Instanzen-Modell des ICH, ÜBERICH und ES (s. Abb. 3) ist gemeinhin bekannt und soll hier keine differenzierte Beschreibung finden. Um eine Abgrenzung zu Melanie Klein bzw. vielmehr zur Objekt-Beziehungstheorie vornehmen zu können, soll die freudsche Triebtheorie stattdessen im Licht der Systemtheorie (vgl. Luhmann in Gerth, 2019) beleuchtet werden, um hierdurch einen griffigen konnotativen Unterschied zur Objekt-Beziehungstheorie herauszuarbeiten.

3.1.1 Die Freud’sche Triebtheorie

Von den biologischen Trieben (v.a. Sexualtrieb und Aggressionen) ausgehend, entwickelte Freud ein psychisches Modell, das das Individuum als Regulationsapparat (vgl. Freud 1923, S. 8 u. 11) mit unterschiedlichen psychischen Subsystemen (ebd. S.8 – 13, S.17 u. S. 42f.) darstellte, um sich den Bedingungen und Anforderung der äußeren Realität (Kultur) anzupassen, in die dieser Apparat hineingeboren wird. Die Technisierung des Individuums ist anhand der Termini (Apparat/System) offensichtlich; tatsächlich verwendet Freud in seiner Schrift „Das Ich und das Es“ (1923) siebzehn Mal den Begriff „System“! Auch Harald Wasser stellt in seiner Schrift „Psychoanalyse als Theorie autopoietischer Systeme“ (1995), die Teil seiner Dissertation ist, fest, dass „ Freud die Psyche stets als ein System angesehen [hat] und nicht etwa als Erlebnissphäre eines (transzendentalen oder empirischen) Subjekts, zweitens tritt bei Freud der Erfahrungsbegriff in einer Weise auf, die den Gedanken einer Autopoiesis des Erlebens von sich aus nahelegt, drittens beschrieb Freud das psychische System stets als ein Sinnsystem und viertens hat er die von ihm entworfene Theorie der Differenzierung in Subsysteme mit einer Theorie der Codierung verbunden.“

Abbildung 3

Freuds Modell der Psyche als systemischer Apparat (Freud (1944) in Elgeti 2004, S. 7)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Anm.: Freuds psychischer Apparat: Das ES generiert mit seinen beiden Haupttrieben Libido und Tanatos das ÜBERICH und das ICH, welches die Schnittstelle zur äußeren Realität managt (vgl. Elgeti 2004, Kap. 2).

Gilt also die Anschlussfähigkeit bzw. die Konformität der freudschen Psycho-Analyse mit Niklas Luhmanns Systemtheorie (vgl. Luhmann in Gerth, 2019), gilt auch – wie Gröning in einem Artikel, der sich kritisch mit der Systemtheorie auseinandersetzt, schreibt – dass die Systemtheorie „ technische und naturwissenschaftliche Grundlagen betont “ (vgl. Gröning 2007, S. 77); Werte, Moral, Konsens, Vernunft und Verantwortung kommen nach ihrer Meinung in einer systemischen Welt nicht mehr vor (ebd.).

Die Konnotation der freudschen Triebtheorie speist sich folglich durch ein biologisch determiniertes ES, dem der Wunsch aggressiver Einverleibung als zentraler Motivator dient (vgl. Spektrum.de, 2019) und das durch flankierende psychische Subsysteme seine sozialverträgliche Regulation mit Hinblick auf andere Köper- und Psychosysteme erhält. Die intrapsychische Isoliertheit dieses „Apparates“ bzw. „Systems“ wird mit dem Begriff der „One-body-Pysochologie“ (vgl. Elgeti 2004, S. 7) zum Ausdruck gebracht.

3.1.2 Melanie Klein und die Objekt-Beziehungstheorie

Mertens (2004, S. 24f.) zeigt auf, dass Melanie Klein bei vorsichtiger Betrachtung zwar als Wegbereiterin der Objekt-Beziehungstheorie erachtet werden muss. Sie mit dieser Theorie gleich zu setzen, sei jedoch wegen vieler von unterschiedlichen Forschern und Autoren (u.a. Balint, Bion, Winnicott, Mahler, Kernberg) eingebrachten Unterschiede und Weiterentwicklungen jedoch falsch. Melanie Klein soll dennoch wegen ihrer historischen Bedeutung (vgl. Kap. 3.2) hier gesonderte Benennung finden, wenngleich im Folgenden die Objekt-Beziehungstheorie von einer allgemeineren Perspektive aus referiert wird.

Die Objekt-Beziehungstheoretiker stellten der One-body-Psychologie Freuds die Zwei - bzw. Mehr-Personen-Psychologie gegenüber, indem sie die primären Triebe und deren Erfüllung mit den tatsächlichen Interaktionen, die zwischen dem Kind und seiner sozialen Mitwelt (meist mit der Mutter) verknüpften (vgl. Elgeti 2004, S. 7) und nun diesen Interaktionen, ihren Auswirkungen und Funktionen besonderes Augenmerk schenkten. Hierdurch entdeckten sie, dass Mutter und Kind scheinbar biologisch determiniert ein aufeinander abgestimmtes Wechselspiel miteinander durchleben, das optimal auf die Entwicklungsbedürfnisse des Kindes in allen Dimensionen ausgerichtet ist (vgl. Klann-Delius 1999, S. 136 – 182). U.a. erwirbt das Kind hierdurch eine mentale Selbstrepräsentanz (Selbstbild), da es durch die Mutter lernt, wie es sich selbst sehen soll/darf: im besten Fall als ein Wesen, dessen Bedürfnisse wichtig sind und die deshalb schnell und liebevoll gestillt werden und auf dessen Interaktionswünsche einfühlsam-responsiv eingegangen wird. Hierbei sind natürlich auch die Gegenteiligen Erfahrungen möglich, aus denen sich wenig günstige Selbst- (und Fremd-) Repräsentanzen ausbilden und aus denen sich im schlechtesten Fall schwere psychiatrische Störungen entwickeln können.

Mit der Entwicklung der Selbstrepräsentanz ist eine Vorstellung von den Beziehungen zu seinen Interaktionspartnern (Objektrepräsentanz) gekoppelt: Subjekt und Objekt sind voneinander abhängige Größen und entwickeln sich mental interdependent. Für die psychische Entwicklung und Dekodierung von Störungen ist diese Interdependenz zentral. So Schreibt Balint, dass so „tief wir auch mit unserer analytischen Technik bzw. mit unseren Beobachtungen in die Geschichte eines Menschenlebens vordringen können, haben wir immer, ohne Ausnahme, Objektbeziehungen vorgefunden“ (Balint in Falzeder 1989, S. 51).

In einem auf Interaktion basierten Theoriekomplex spielen die von Freud entwickelten psychischen Instanzen keine Rolle mehr, und es ergibt sich theoretisch eine gänzlich andere Konnotation als die der Triebtheorie Freuds, nämlich die von trans-generational aufeinander abgestimmte Menschen, die sich entwicklungspsychologisch interdependent zu ihrer sozialen Intelligenz verhelfen und später, wenn sie reife Spieler im gesellschaftlichen Bühnenstück geworden sind, im Sinne von Foulkes und Elias weiterhin interdependent aufeinander bezogen bleiben: „ Letztendlich ist der Mensch nur im Plural denkbar (Norbert Elias) und […] Foulkes Grundhaltung, „daß menschliche Psychologie niemals auf das isolierte Individuum beschränkt bleiben darf“ (Roth-Vormann 2019, S. 33) bestätigt, dass Elias „die theoretische Trennung von Individuum und Gruppe“ (ebd.) gänzlich aufhebt und somit auf sozial-theoretischer bzw. sozial-psychologischer Ebene dem Menschenbild der Objekt-Beziehungstheoretiker folgt.

3.1.3 Verstehen vs. Einfühlen: PA in ihrer Anwendung

Um die BG im Folgenden zu verstehen, ist es nun wichtig zu beschreiben, dass sich aus den beiden beschriebenen Theorien unterschiedliche Notwendigkeiten in der Interaktion mit Patienten bzw. Klienten ergeben. So hat Freud, der sich mit seiner Ich-Psychologie der Heilung des Psychischen Apparates widmete, darauf bestanden, dass der Therapeut/Arzt in der Beziehung abstinent bleibt und sich von den Versuchen des Klienten/Patienten, ein früh erlerntes Beziehungsmuster, also seine Selbst- und Objektrepräsentanz zu aktualisieren (Übertragung und Gegenübertragung), nicht einnehmen lässt. Der Therapeut solle einen verstehenden und keinen empathischen Zugang zum Patienten finden. Im Sinne seines Therapieansatzes hat der psychische Apparat vormals unbewältigte Entwicklungsaufgaben (für sich alleine) noch einmal nachzubearbeiten (vgl. Tibone & Schmieder-Dembek 2015, S. 2 – 5) und gerät durch die Abstinenz des Therapeuten in einen pertubativen Zustand (vgl. S. 6f.), durch den dies gelingen soll.

Die Objekt-beziehungstheoretischen Praktiker ließen sich dagegen empathisch auf ihre Patienten ein und nutzten die Übertragungseffekte, um ihre Patienten mit ihren sozialen Lernerfahrungen zu verstehen und diesen ggf. mit einer therapeutischen Beziehung heilend zu begegnen (vgl. Tibone & Schmieder-Dembek 2015, S. 2 – 5). Psychische Auffälligkeiten wie Neurosen bis hin zu psychiatrischen Erkrankungen (bipolare Störungen, Psychosen, Schizophrenie) wurzelten aus ihrer Perspektive heraus stets in traumatischen Beziehungserfahrungen. Die entwickelten Selbst- und Objektrepräsentanzen, so die Erkenntnis der Objekt-Beziehungstheoretiker, bestehen ein Leben lang und zwar als wirkmächtige Einflussfaktoren, sofern sie nicht bewusst gemacht werden (vgl. Elgeti 2004, S. 7 – 10). Michael Balint definierte hierzu die primäre Liebe (vgl. Portwich 2014, S. 5f.), eine bindungstheoretische Grundemotionalität, die der Mutter-Kind-Beziehung inhärent ist. Wenn diese durch eine ungünstige Interaktion seitens der Mutter (oder von engen Bezugspersonen insgesamt) gestört wird, führt dies, nach Balint, zu einem oknophilen (klammernden) oder philobaten (unnahbaren) Beziehungstypus, die Teil der Persönlichkeitsstruktur wird und sich im späteren Leben in entsprechenden Beziehungsangeboten bzw. Übertragungs- und Gegenübertragungseffekten zeigt (ebd.). Diese Objekt-beziehungstheoretischen Zusammenhänge sind im Folgenden grundlegend für ein Verständnis von Balints Forschungsarbeit bzw. der BG als Forschungsmethode (s. Kap. 4).

3.2 Geschichtliche Darstellung der Psycho-Analyse in England

Da Balints Arbeit zu einem großen Teil in England stattfand und er auch dort durch die Interdependenz mit den historischen Ereignissen die BG entwickelte (vgl. Kap. 3.3), soll hier nun ausführlich die PA, wie sie sich in England entwickelt hat, vorgestellt werden.

Nach Nölleke (2019a) ist die wichtigste Gründerfigur der britischen Psychoanalyse der aus Wales stammende Psychiater Ernest Jones. Dieser traf 1908 auf Sigmund Freud und machte auf dessen Rat hin 1913 eine Analyse bei Sándor Ferenczi in Budapest, bei dem auch Michael Balint (vgl. Kap. 3.3) und Melanie Klein (vgl. S. 5, 7 & 10) ihre Lehranalysen machten.

Im Oktober desselben Jahres gründete Jones die London Psycho-Analytical Society (LPS), die zu diesem Zeitpunkt aus nur vierzehn Mitgliedern bestand (vgl. Nölleke, 2019a). Die LPS war jedoch von Beginn an in der Art gespalten, wie sich auch Schüler Freuds (z.B. C. G. Jung) theoretisch von den Theorien ihres Mentors entfernt hatten. Und so wie es 1913 zum Bruch zwischen Freud und Jung kam, löste sich auch die LPS 1919 auf (ebd.).

Jones gründete jedoch im selben Jahr zusammen anderen Psychoanalytikern die British Psycho-Analytical Society (BPAS), deren Präsident er bis 1944 war.

1925 hatte die BPAS 54 Mitglieder. Unter feministischen Gesichtspunkten ist es erwähnenswert, dass hierunter bereits ein relativ großer Teil an Frauen war, was in anderen Berufsgruppen damals nicht üblich war: letzthin waren es in dieser Disziplin, die später zur Profession aufsteigen sollte, sogar zwei Frauen, die einen der größten innerdisziplinären Streits ausfochten (s.u.).

1917 wurde die Hogarth Press gegründet, wo u.a. Freuds Gesamtwerk ins Englische übersetzt wurde und als 24-bändige Standard Edition (1953 – 1974) veröffentlicht wurde (vgl. Nölleke, 2019a).

1920 erschien in London mit dem International Journal of Psychoanalysis die erste englischsprachige psychoanalytische Zeitschrift und damit ein offizielles Organ der International Psychoanalytical Association (ebd.).

Seit 1920 existierte in London die Tavistock Square Clinic for Functional Nervous Disorders (TC), eine psychotherapeutische Einrichtung, die anfangs zur Behandlung von sogenannten Kriegsneurosen errichtet wurde. Die TC sollte später vor allem durch W. R. Bion und Michael Balint (vgl. Kap.3.3) zu einem wichtigen Ort für die Weiterentwicklung psychoanalytischer Theorien werden (vgl. Kap. 3.1).

Ende der 1920er Jahre wurde am University College London J. C. Flügel zum Psychologie-Dozenten ernannt und später ein Lehrstuhl für PA eingerichtet. Dieser Lehrstuhl ist auch heute noch einem Psychoanalytiker vorbehalten (vgl. Nölleke, 2019a).

Die Psychoanalyse in Großbritannien, die sich hauptsächlich auf London konzentrierte, zeichnete sich schon früh in ihrer Ausbildungspolitik und Behandlungstechnik durch eine Eigenständigkeit gegenüber der deutschen und der Wiener psychoanalytischen Schule aus. Hierdurch entstand schon früh eine Kontroverse zwischen neueren Theorien und denen Freuds (ebd.). Die Spannungen innerhalb der PA spitzten sich zu, als 1926 Melanie Klein nach England übersiedelte und ihre Objekt-beziehungstheoretischen Theorien und Methoden, die sie vor allem im Bereich der Kinderanalyse einsetzte, positiv in der BPAS aufgenommen wurden. Als die Wiener Gruppe um Sigmund Freud und dessen Tochter Anna 1938 wegen der Ausdehnung der NS -Bewegung in Europa nach England emigrierten, mündeten die fachlichen Differenzen in einem etwa zehnjährigen Streit zwischen Melanie Klein und Anna Freud, die das Lebenswerk ihres Vaters nach dessen Tod 1939 vertrat (ebd.).

Der Konflikt zwischen den Ansätzen Anna Freuds und Melanie Kleins entzündete sich vor allem am Konzept des Über-Ichs (vgl. Kap. 3.1). Anna Freud vertrat eine klassisch freudianische Position der Ich-Psychologie mit ihrer Akzentuierung des Ichs und seiner Abwehrmechanismen. Melanie Klein und ihre Anhängerinnen richteten ihre Aufmerksamkeit auf die archaische Mutterbeziehung und die Analyse früher Objektbeziehungen (ebd.).

Um einer Spaltung der BPAS entgegenzuwirken, entschloss sich die britische PA während des Zweiten Weltkriegs, die unterschiedlichen theoretischen Standpunkte im Rahmen einer Reihe von wissenschaftlichen Diskussionen (Controversial Discussions) zu erörtern. 1946 führte dieser Prozess zur offiziellen Etablierung von drei Strömungen innerhalb der BPAS: Kleinianer (A Group), Annafreudianer (B Group) und die – von der A-Gruppe abgespaltenen – Unabhängigen (Middle Group), der sich auch Michael und Enid Balint zuordneten (vgl. Kap. 3.3 u. 3.4).

Nach Kriegsende zog sich Melanie Klein weitgehend aus der BPAS zurück und gründete 1955 die Melanie Klein Trusts zur Förderung und Verbreitung ihrer Lehre. Anna Freud gründete 1947 bzw. 1952 die Hampstead Child Therapy Course and Clinic (seit 1984 Anna Freud Centre), dessen Leiterin sie bis zu ihrem Tod 1982 war. Nach Melanie Kleins Tod im Jahr 1960 gab es größere Anstrengungen für eine bessere Zusammenarbeit innerhalb der BPAS, so dass sich in den 1980er Jahren eine Integration der unterschiedlichen Ansätze zunehmend durchsetzte (vgl. Nölleke, 2019a).

3.3 Mihály Maurice Bergsmann: der Sohn eines ungarisch-jüdischen Allgemein-Arztes

Michael Balint wird am 03.12.1896 als Mihály Maurice Bergsmann als Sohn jüdischer Eltern der ungarischen Mittelschicht in Budapest geboren. Sein Vater ist praktischer Arzt, den Balint als Kind und Jugendlicher häufig bei dessen Hausbesuchen begleitet (vgl. Deutsche Balint-Gesellschaft e.V. [dbg], 2019).

Auf Wunsch seines Vaters beginnt Balint 1914 ein Medizinstudium, obgleich er lieber Biochemie bzw. Pharmakologie studiert hätte (vgl. Elzer, 2014), was er später auch tat (s.u.). In diesem Kompromiss/Konflikt, durch den Balint Medizin und Pharmakologie vereinte, scheint eine der wichtigsten biographischen Gestalten auf, die in Balints Berufsbiographie und später in seiner Forschungsarbeit seinen Ausdruck finden soll (s. S. 13f. & 16). Eine zweite biographische Gestalt, die sich durch Balints Leben hindurch zu ziehen scheint, ist die der Eigensinnigkeit: So wie Balint nach dem Ersten Weltkrieg seinen deutschstämmigen Namen später gegen den Willen des Vaters in die ungarische Form umändert (vgl. Michael-Balint-Klinik.de, 2019), er kurz darauf seine Religionszugehörigkeit ändert (er wird Unitarier), später mehrfach seinen Wohnort wechselt und schließlich die englische Staatsbürgerschaft annimmt, so scheint es retrospektiv, dass ihm diese Neigung, eigene Wege zu gehen und sich (zwangsläufig) selbst zu er-finden, ebenfalls beruflich dazu verhalf, neue Konzepte zu wagen und zu erproben, was sich ebenfalls in seiner Arbeitsbiographie niederschlug (s.u.; vgl. Elzer, 2014). Portwich (2014) bemerkt in diesem Zusammenhang, dass Balint „sicherlich als ein Migrant in mehrfacher Hinsicht bezeichnet werden darf“.

Während des Ersten Weltkriegs wird Balint zum Militär eingezogen. Auf Grund einer Verletzung am Daumen wird er jedoch kurze Zeit später nach Hause entlassen, wo er sein Medizinstudium fortsetzt. Hier kommt er erstmalig in Berührung mit der PA: 1917 liest er auf Anraten seiner Gefährtin Alice Freuds Drei Abhandlungen zur Sexualtherapie und Totem und Tabu. Ab 1919 besucht Balint Vorlesungen und Seminare von Sandor Ferenczi, dem ersten Universitätsprofessor für PA in Europa, dem Gründer der Budapester Schule für PA und dem Lehr-Analytiker von Melanie Klein und Ernest Jones (s. S. 9). Ferenczi entwickelte bereits weiterführende Theorien, die sich wie bei Melanie Klein in Richtung der Objekt-Beziehungstheorie entwickelten und später auch Balints Arbeit und Denken als Arzt stark beeinflussten (vgl. Kap. 3.5; 4; Elzer, 2014; dbg, 2019).

1920 beendet Balint sein Medizinstudium in Budapest. Er und Alice sind inzwischen verheiratet, und sie gehen nach Berlin, wo Balint seiner eigenen Neigung nachgeht und im biochemischen Labor des späteren Nobelpreisträgers Otto Warburg arbeitet. Neben seiner Arbeit bei Warburg macht er sein Doktorat in Biochemie und arbeitet halbtags am Berliner Institut für Psychoanalyse, wo er bei Hanns Sachs seine analytische Ausbildung macht. Sachs ist es auch, der Balint erstmalig mit den Konzepten der Psychosomatik bekannt macht, sodass Balint bald an der Charité psychosomatische Patienten behandelt und erste Psychoanalysen mit solchen Patienten durchführt (vgl. Michael-Balint-Klinik.de, 2019). 1924 promoviert Balint in Berlin in Chemie und Physik und kehrt anschließend mit Alice nach Budapest zurück.

Zwei weitere Jahre geht er zu Sandor Ferenczi in Analyse und wird anschließend zum ordentlichen Mitglied der Budapester Psychoanalytischen Vereinigung (BPV) gewählt. 1931 wird er Vizepräsident und Mitglied der Unterrichtskommission der BPV. Seine ersten Vorträge behandeln psycho-somatische Themen wie: "Analytische Deutung von Magensymptomen", "Ein Fall von psychischer Impotenz" oder "Fälle aus einem Ambulatorium für Magenkranke". Medizin und PA sind also bereits gänzlich in Balints Arbeit miteinander verschmolzen (vgl. Abb. 1 u. 2; dbg, 2019).

1935 stirbt Balints Mentor Ferenczi, und er übernimmt dessen Posten als Direktor der BPV; gleichzeitig wird er Gründungsmitglied einer Psychoanalytischen Poliklinik (vgl. dbg, 2019). In diesen frühen 30er Jahren initiiert Balint die ersten Gruppensitzungen mit Allgemeinmedizinern, um das allgemein-medizinische Potenzial der PA zu erörtern. Die Gruppensitzungen misslingen jedoch, da im damals faschistischen Ungarn stets ein Polizist mit anwesend ist (ebd.), der die Sitzung protokolliert. Diese gruppendynamisch dysfunktionale Anwesenheit eines fremden Dritten wird später in Balints Studiendesign berücksichtigt (und fand auch im Falle des Vortrages, der Grundlage für die vorliegende Arbeit ist, einen evidenten Nachhall in dem in Kapitel 1 erwähnten Eklat (vgl. Kap. 5.2). Auf Grund der gruppendynamischen Dysfunktionalität wird das Budapester Seminar von Balint bald wieder aufgelöst.

1939 emigrieren Balint, seine Frau Alice und ihr gemeinsamer Sohn John als Reaktion auf die politischen Entwicklungen auf dem europäischen Kontinent nach Manchester, wo Alice kurz darauf im Alter von 40 Jahren verstirbt. Balint bleibt vorerst in Manchester und wird psychiatrischer Berater am Northern Royal Hospital und Direktor zweier Erziehungsberatungsstellen. Seine ungarischen Abschlüsse werden als solche in England nicht anerkannt (vgl. Portwich, 2014; Elzer, 2014).

1945 siedelt er nach London um, um dort eine Anstellung an der renommierten TC und am Tavistock Institute of Human Relations (TI) anzunehmen, unter anderem als Kollege des bekannten Gruppentheoretikers Wilfred R. Bion, der ebenfalls wissenschaftstheoretisch intensiv der Objekt-Beziehungstheorie nachforscht. Im gleichen Jahr erfährt Balint vom Suizid seiner Eltern, die durch ihren Freitod vor den Nazis flohen (ebd.).

1948 wird Balint englischer Staatsbürger (vgl. Elzer, 2014). Ein Jahr später erlangt er den Master of Science für Psychologie mit einer Dissertation über Individual differences of behaviour in early infancy (vgl. dbg, 2019). Und 1949 lernt er im TI Enid Flora kennen.

3.4 Enid Flora

Enid Flora kommt am 01.12.1903 in London als geborene Albu zur Welt. Sie besucht das Cheltenham Ladies' College und absolviert von 1922 bis 1925 ein Studium an der London School of Economics (vgl. Nölleke, 2019b).

1926 heiratet sie den Philologen Robert N. Eichholz, mit dem sie zwei Töchter bekommt (ebd.).

Während und nach dem Zweiten Weltkrieg organisiert Enid in London die Family Welfare Association (später Institute of Family Relations) zur Unterstützung ausgebombter und obdachlos gewordener Familien. 1948 wird sie Mitgründerin des Family Discussion Bureau, das sich später in das Tavistock Institute of Martial Studies weiterentwickelt. Dort bildet sie Sozialarbeiter für die Familien- und Eheberatung aus und führt mit ihnen u.a. Fallsupervision durch. Bei John Rickman und später Donald W. Winnicott macht sie parallel bis 1952 eine Lehranalyse und wird vorerst außerordentliches Mitglied, 1954 dann ordentliches Mitglied der BPAS (ebd.), nachdem sie ihren Vortrag Drei Phasen einer Übertragungsneurose gehalten hat.

Während ihrer Arbeit am TI lernt Enid Michael Balint kennen, den sie 1953, nach der Scheidung von Eichholz heiratet (ebd.). Enid ist es, die ihren Mann mit der Fall-orientierten Case-Work-Technik vertraut macht, die sie bei der Ausbildung von Sozialarbeitern und Psychologen einsetzt. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass die Fallarbeit in der Sozialarbeit die Wurzel der heutigen Supervision in Deutschland darstellt (vgl. Althoff, 2018), sodass die in Abbildung 1 und 2 aufgefächerten Horizonte einer Erweiterung bedürfen (vgl. Abb. 4).

Aus heutiger Sicht kann folglich behauptet werden, dass die BG eine Transponierung von ursprünglicher Supervision aus der Sozialarbeit in das Feld der Allgemeinmedizin mit Hinblick auf psycho-somatische Erkrankungen darstellt, was in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts eben durch das Ehepaar Balint seine Mensch-gewordene Basis fand.

3.5 Das Ehepaar Balint

Zwischen 1949 und 1954 entwickeln Michael und Enid die BG (vgl. Kap. 4), bei der eine psychoanalytisch supervidierte Gruppe von Ärzten Fallberichte aus ihrer allgemeinmedizinischen Praxis durch Übertragung und Gegenübertragung zu dechiffrieren versucht (vgl. Nölleke, 2019b), mit dem Ziel einer Standardisierung ärztlichen Interaktionsverhaltens zur Heilung psycho-somatischen Leids. Als das erste Seminar 1950 startet, ist es als Discussion Group Seminar on Psychological Problems in General Practice betitelt. Des Weiteren entwickelt das Ehepaar Balint die Methode der Fokaltherapie, eine auf einen einzelnen innerseelischen Konflikt fokussierte Kurzzeit-Psychotherapie (vgl. Nölleke, 2019b; Casper & Kächele, 2019) sowie die sogenannte Flash-Technik für den Allgemeinarzt (vgl. Wiener-Barraud, 2019; Nölleke, 2019b), wobei Technik ein irreführender Begriff ist: Balints Forschungsgruppe erfand hierbei nicht eine Methode, sondern benannte mit diesem Begriff einen Moment, in dem bei Arzt und Patient gleichzeitig ein Gestalt-haftes Verständnis über den Zusammenhang einer Erkrankung und eines lebensweltlichen oder biographischen Moments aufblitzt.

Abbildung 4

Die BG und ihre Horizonte, erweitert

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Anm.: Die BG heute kann nach Durchleuchtung ihrer wissenschaftstheoretischen und historischen Hintergründe als eine Feld-spezifische Form der Gruppensupervision verstanden werden.

[...]

Ende der Leseprobe aus 66 Seiten

Details

Titel
Das Ehepaar Balint. Eine "Pharmakologie der Droge Arzt"
Untertitel
Theoretische und historische Hintergründe der Balint-Gruppe
Hochschule
Universität Bielefeld  (Zentrum für wissenschaftliche Weiterbildung (ZWW))
Note
1,0
Autor
Jahr
2019
Seiten
66
Katalognummer
V520910
ISBN (eBook)
9783346120403
ISBN (Buch)
9783346120410
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die wissenschaftliche Arbeit Michael Balints wird im Kontext seiner Zeit reflektiert und mit modernen Therapiewissenschaftlichen Methoden neu beleuchtet.
Schlagworte
ehepaar, balint, eine, pharmakologie, droge, arzt, theoretische, hintergründe, balint-gruppe
Arbeit zitieren
Sascha Kaletka (Autor:in), 2019, Das Ehepaar Balint. Eine "Pharmakologie der Droge Arzt", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/520910

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