Die Empty Goal-Taktik im modernen Handball. Wirkung und Erfolg im Profisport


Bachelorarbeit, 2019

62 Seiten, Note: 2,6

Anonym


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Empty Goal Regeländerung
2.1 Spieltaktische Veränderungen

3. Wahrnehmung der Trainer und Spieler
3.1 Interviews
3.2 Einordnung der Meinungen in das Thema

4. Mögliche Faktoren und Fähigkeiten für das erfolgreiche Spiel mit der EG Taktik
4.1 Koordinative Fähigkeiten
4.2 Athletische Fähigkeiten
4.3 Spieltaktische Fähigkeiten
4.4 Psychologischer Faktor

5. Analysekriterien und Erhebungsart der empirischen Untersuchung
5.1 Positionsangriffe und Gegenstöße in der ersten und zweiten Welle
5.2 Positionsangriffe: Mit EG Taktik oder ohne?
5.3 Erfassung der Effektivität
5.3.1 Erfassung der Tore
5.3.2 Analyse der Wurfchance
5.3.3 Erfassung der Folgewirkung
5.4 Art der Spielbeobachtung
5.5 Gütekriterien der Erhebung
5.5.1 Objektivität
5.5.2 Reliabilität
5.5.3 Validität

6. Aktueller Forschungsstand

7. Ziel der Analyse
7.1 Die zu vergleichenden Werte

8. Ergebnisse der Datenerhebung

9. Analyse und Einordnung der Ergebnisse in die bisherige Forschung

10. Fazit und Ausblick

11. Literaturverzeichnis

12. Anhänge

1. Einleitung

Der Handballsport veränderte sich in den letzten Jahren deutlich. Das Spiel wurde schneller und athletischer. Während früher das Handballspiel von Positionsangriffen geprägt war, wird heute von den Teams versucht, viele Tore über ein schnelles Umschaltspiel zu erzielen. 2016 trat eine Regel in Kraft, die dieser Entwicklung Rechnung trug. Eine Regelung, die laut Zweig (2015) vor allem im Eishockey schon lange ausgeübt wird, ermöglicht der angreifenden Mannschaft den Torhüter gegen einen Feldspieler zu tauschen, ohne diesen auf dem Feld gesondert kennzeichnen zu müssen. Wird diese Regel im Spiel von der angreifenden Mannschaft angewandt, bezeichnet man dies allgemein als Empty Goal Taktik („leeres Tor Taktik“).

Die neue Regel hat demnach dazu beigetragen, das Handballspiel schneller, variantenreicher und taktischer zu gestalten. Den Trainern wurde durch das Überzahlspiel eine Vielzahl von Angriffsoptionen eröffnet. Das Spiel mit dem leeren Tor muss geprobt und eingeübt werden, um aus der Überzahl Kapital schlagen zu können. Gleichzeitig aber ist das Spiel mit dem zusätzlichen Feldspieler auch ein Risikospiel; so hat bei Ballverlust das gegnerische Team die Möglichkeit, auf das leere Tor zu werfen, wenn der Torwart nicht rechtzeitig eingewechselt wird. Dabei muss das Team beim Einwechseln des Torhüters die üblichen Wechselregeln beachten (Deutscher Handballbund, 2016).

Während der Handball WM 2019 erreichte das deutsche Team das Halbfinale. Das Team von Trainer Christian Prokop spielte gelegentlich mit dem sogenannten Empty Goal. In der Zeit während der WM entfachten in Deutschland viele Diskussionen über die Sinnhaftigkeit dieser Taktik. Bei der WM konnte bei den verschiedenen Teams beobachtet werden, dass diese Methode in verschiedenen Formen und verschiedenen Häufigkeiten eingesetzt wird. Auch in der DKB Handball Bundesliga gibt es Teams, die die Empty Goal Taktik häufig einsetzen, andere wiederum nutzen sie kaum. Kritik entfachte zudem an der Möglichkeit durch diese Taktik eine zwei Minuten Strafe ausgleichen zu können, sie entkräfte die Zeitstrafen.

Unabhängig davon, in welcher der Situationen dieser taktische Kniff des Trainers angewandt wird, es wird in der Handballwelt heftig diskutiert, inwieweit diese Regel das Spiel positiv oder negativ beeinflusst. Macht es das Spiel schneller und interessanter oder wird das Erzielen einfacher Tore in das leere Tor ermöglicht und damit das Spiel langweiliger? In der folgenden Arbeit soll der Nutzen dieser Strategie unter verschiedenen Gesichtspunkten untersucht werden, um herauszufinden, ob die Taktik einen positiven Effekt auf das Spiel der Mannschaften haben kann. Es soll die Hypothese überprüft werden, dass die Empty Goal Taktik auf Grund dessen, dass die Teams die die Taktik anwenden, teils ´einfache´ Gegentore in das leere Tor bekommen, subjektiv schlecht gesehen wird; in Wahrheit aber einen positiven Einfluss auf die Effektivität des Spiels nehmen kann.

Anm.: Erklärung der Begrifflichkeiten:

Empty Goal Taktik = EG Taktik / Spiel mit leerem Tor / Spiel ohne Torwart

Spiel ohne Empty Goal Taktik = Spiel ohne leeres Tor / Spiel mit Torwart

Überzahlspiel: Die angreifende Mannschaft hat mindestens einen Feldspieler mehr auf dem Platz, als die Verteidigende

Gleichzahlspiel: Beide Mannschaften haben gleich viele Feldspieler auf dem Platz

Unterzahlspiel: Die angreifende Mannschaft hat mindestens einen Feldspieler weniger auf dem Platz, als die Verteidigende.

Erzeugung: Wird von bspw. Erzeugung Gleichzahl gesprochen, bedeutet dies, dass die nominell in Unterzahl angreifende Mannschaft durch einen zusätzlichen Feldspieler eine Gleichzahl geschaffen hat.

Bsp.: Wird von Gleichzahlspiel mit EG Taktik gesprochen, so hat die angreifende Mannschaft einen zusätzlichen Feldspieler für den Torwart eingewechselt und spielt dadurch im Angriff in Gleichzahl.

2. Empty Goal Regeländerung

Bis 2016 war es nicht erlaubt, dass keiner der sieben Spieler als Torwart gekennzeichnet ist. So war es in der Regel eindeutig definiert: „"(...) die Mannschaft muss während des gesamten Spielverlaufs einen Spieler auf der Spielfläche als Torwart kennzeichnen (...)" (Schiedsrichterkollegium des Landesverbandes Wien und Niederösterreich, 2016). Dies bedeutet, dass der Torwart sich in den Angriff einschalten darf, oder aber auch ein Spieler mit Leibchen im Angriff spielen darf. Es schränkt die Teams aber ein. Denn nur der Feldspieler mit dem Leibchen darf gegen den Torwart ausgewechselt werden, kein anderer.

Der oben genannte Aspekt wurde 2016 gestrichen und der Regelabschnitt wie folgt ergänzt: „Ebenso kann ein als Torwart gekennzeichneter Feldspieler jederzeit die Position des Torwarts einnehmen.“ (Schiedsrichterkollegiums des Landesverbandes Wien und Niederösterreich 2016).

Durch die Streichung des o.g. Satzes waren die Mannschaften dementsprechend nicht mehr dazu verpflichtet, einen Spieler als Torwart gekennzeichnet auf dem Feld zu haben. Der Torwart an sich, also der Spieler, der den Torraum betreten darf, muss selbstverständlich gekennzeichnet sein. Das kann ein Torwart sein oder ein Feldspieler, der durch ein Leibchen von den anderen Feldspielern unterschieden werden kann. Durch die Streichung der o.g. Regelung wurde das Spiel mit dem Leibchen allerdings kaum noch genutzt. Stattdessen wurde bei der EG Taktik der Torwart durch einen normal gekleideten Feldspieler ersetzt.

2.1 Spieltaktische Veränderungen

Die angreifenden Mannschaften dürfen fortan mit sieben Feldspielern agieren. Es muss kein als Torwart gekennzeichneter Spieler auf dem Spielfeld stehen. In der Praxis bedeutet das, dass der Keeper der angreifenden Mannschaft das Feld verlässt und ein zusätzlicher Feldspieler das Feld betritt. Das Tor ist nun leer. Dies ermöglicht eine permanente Überzahl im Angriff, schränkt aber ein, dass keiner der sieben Spieler den eigenen Torraum betreten darf. Wechselt der Ballbesitz, muss die Mannschaft, die zuvor in Überzahl im Angriff agierte, einen Feldspieler gegen einen Torwart tauschen. Der Torwart sitzt dementsprechend während des Angriffs der eigenen Mannschaft auf der Bank. Erst wenn ein Feldspieler die Wechselmarkierung überschritten hat, darf er das Feld wieder betreten. Die neue Regel bietet den Vorteil, dass ein beliebiger Spieler für den Torwart ausgewechselt werden darf. Vor dieser Regeländerung war es ebenfalls möglich, in Überzahl im Angriff zu spielen, doch musste im Angriff ein Feldspieler mit Leibchen als Torwart gekennzeichnet sein. Nur dieser Spieler durfte bei Ballwechsel entweder ins Tor gehen oder eben durch einen Torwart getauscht werden. Dies hatte allerdings entscheidende Nachteile: Der gekennzeichnete Spieler war ein Feldspieler. Es machte keinen Sinn, diesen bei Abwehrsituationen ins Tor zu stellen. Ebenso ist es keine Option, mit einem Torwart im Angriff als siebten Feldspieler zu agieren. Insofern war die Konsequenz, dass der gekennzeichnete Spieler gegen einen Torwart getauscht werden musste. Dies hat er im Normalfall vor dem Torabschluss getan. Passierte dies erst bei oder nach Torabschluss, konnte die gegnerische Mannschaft unabhängig von dem Erfolg des Abschlusses einen Gegenangriff starten, der eine hohe Erfolgsaussicht bot, da der Torhüter wenig Zeit hatte, in das Tor zu kommen. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass dieser Spieler nur sehr selten selbst den Abschluss gesucht bzw. den letzten Pass vor dem Abschluss gespielt hat. Der Spieler agierte deshalb zwar als zusätzlicher Spieler – ein vollwertiger Angreifer war er aber nicht.

Die neue Regelauslegung ändert dies, da sie die Flexibilität erhöht. Jeder Spieler kann den Angriff vollenden, jeder Spieler kann zur Wechselmarkierung laufen und mit dem Torwart tauschen. Damit strahlt jeder angreifende Spieler eine ähnlich hohe Torgefahr aus (ungeachtet der individuellen Qualität). Logischerweise versuchen die Teams einen Spieler, der auf der banknahen Seite spielt (Bachmann, 2014), auszuwechseln, um einen kurzen Weg zur Bank zu haben. Dennoch ist dies bei einer guten Wurfmöglichkeit des banknähesten Spielers kein Argument, nicht zu werfen. In diesem Fall wechselt ein anderer Spieler mit dem Torwart. Dies erfordert eine hohe Konzentration und eine kurze Reaktionszeit bei allen Feldspielern sowie den Torhütern. Einige Feldspieler sind zudem in der Abwehr kaum zu ersetzten, sodass diese für einen Torhüterwechsel kaum in Frage kommen.

Diese Faktoren führen zu sehr vielen taktischen Überlegungen der angreifenden, aber auch abwehrenden Mannschaften. Wie kann die Empty Goal Taktik mit möglichst geringem Risiko genutzt werden? Wie kann die abwehrende Mannschaft dies gut verteidigen und sogar vielleicht selbst daraus Kapitel schlagen?

Die Mannschaften, die die EG Taktik anwenden, erarbeiten im Training feste Konzepte für die Durchführung der Angriffe. Dies ist sicherlich kein Alleinstellungsmerkmal für das Spiel mit dem leeren Tor; im Gegenteil: Das Einüben fester Auftaktsituationen und Konzepte (Spielzüge) ist im Handballsport Normalität. Dennoch hat dies bei dem Spiel mit leerem Tor eine besondere Bedeutung. Ein reibungsloser Übergang zwischen Angriff und dem Wechseln eines Feldspielers mit dem Torwart ist Grundvoraussetzung für den Erfolg der Taktik. Spieltaktisch gesehen wird häufig versucht, auf der bankfernen Seite einen Spieler zum Abschluss zu bringen, sodass ein banknaher Spieler schon vor dem Abschluss des Mitspielers mit dem Torwart wechseln kann. Dies bedeutet, dass sich schon bevor der Torabschluss erfolgt, ein Spieler der angreifenden Mannschaft Richtung Bank bewegt, um einen schnellen Wechsel mit dem Torwart zu ermöglichen. Schafft es die angreifende Mannschaft, sich eine gute Abschlussmöglichkeit zu erarbeiten, so ist die Gefahr eines Wurfes auf das leere Tor sehr gering, da das Konzept in diesem Fall aufgegangen ist und sich bereits ein Spieler auf dem Weg zur Bank befindet. Falls der Ball gehalten wird, an das Aluminium oder neben das Tor geht, besteht dennoch immer ein Restrisiko, dass die gegnerische Mannschaft den Ball schnell aufnehmen kann und ggf. das noch verwaiste Tor anvisieren kann, falls der Torwart noch nicht das Tor erreicht hat. Dies ist bei freien Wurfsituationen dennoch eher selten der Fall, da der Ball a) erst unter Kontrolle gebracht werden muss und b) unter Umständen bei einem Torerfolg erst ein Anwurf erfolgen muss. Das Risiko des Gegentors in das leere Tor besteht deutlich häufiger bei einem früheren und unvorhergesehenen Ballverlust, da sich in diesem Moment noch kein Spieler zur Auswechselmarkierung bewegt. Ob die abwehrenden Mannschaften deutlich aggressiver als normalerweise versuchen einen technischen Fehler zu erzwingen, sofern die angreifende Mannschaft die EG Taktik nutzt, wird bei der Auswertung der Daten eine Rolle spielen.

Das Spiel erfordert demnach eine hohe Flexibilität der Spieler. Kommt beispielsweise der für den Torwartwechsel vorgesehene Spieler zum Abschluss, so muss ein anderer Spieler zur Wechselmarkierung. Allerdings wird auch dies im Training eingeübt. Eine weitere Schwierigkeit, die die Wechselmöglichkeiten einschränkt, ist, dass jedes Team im hochklassigen Handball unverzichtbare Abwehrspieler in ihren Reihen hat. Diese Spieler wechseln nur in höchst seltenen Fällen mit dem Torhüter. Muss doch einer dieser Spieler vom Feld, wird oftmals versucht, im Verlauf des gegnerischen Angriffes den Abwehrspezialisten einzuwechseln (bei Freiwurf oder wenn der Gegner das Spiel langsam aufbaut).

Spieltaktisch gesehen gibt es eine Variante, die im Spiel sieben gegen sechs die gängigste ist. Die Teams spielen mit zwei Außenspielern, zwei Halbspielern und einem Mittelaufbauspieler. Anstatt aber einem Kreisspieler, spielen die Teams dann mit zweien. Dies soll dazu führen, dass die angreifende Mannschaft durch Torgefahr aus dem Rückraum die verteidigende Mannschaft zum Heraustreten auf den ballführenden Spieler zwingt und so das Spiel mit den Kreisspielern forciert werden kann. Durch schnelles Druckspiel von einer Seite zur anderen können aber auch Lücken in einer defensiven 6:0 Deckung genutzt werden, da zwei Kreisspieler Sperren stellen können.

Die am häufigsten im Spiel genutzte EG Taktik ist allerdings nicht die sieben gegen sechs Taktik. Deutlich häufiger wird im hochklassigen Handball die EG Strategie genutzt, um eine Unterzahl auszugleichen. Spielerisch besteht hier im Angriff kein Unterschied zum Gleichzahlspiel mit Torwart.

Ein allgemeiner, spieltaktischer Nachteil, den das Spiel mit dem leeren Tor mit sich bringt, besteht darin, dass die Mannschaften (noch mehr) Wechsel zwischen Angriff und Abwehr vollziehen müssen. Es ist generell üblich, Spieler zwischen Angriff und Abwehr wechseln zu lassen, dies birgt aber die Gefahr, einen schnellen Gegenangriff nicht unterbinden zu können. Durch den Wechsel Feldspieler mit Torwart wird die Anzahl der Auswechslungen noch einmal erhöht.

3. Wahrnehmung der Trainer und Spieler

Als Einstieg in das Thema sollen die Meinungen der Spieler und Trainer in hochklassigen Ligen dargelegt werden. Stützen sich ihre Meinungen auf wissenschaftliche Statistiken oder begründen die Sportler ihre Meinung nur durch ihr Empfinden?

3.1 Interviews

Rolf Brack (Handballtrainer in der HBL und ehemaliger Handballspieler.):

Ich habe über die Jahrzehnte die Quoten meiner Mannschaften akribisch ausgewertet, auch mit Hilfe von vielen Zulassungs-, Magister- und Diplomarbeiten meiner Studenten. Beim sechs gegen fünf war mit einer Mannschaft wie Balingen der Tor-Schnitt bei fast 75 Prozent. Beim sechs gegen sechs hatten wir eine Tor-Quote von rund 45 Prozent, wenn man Tempogegenstöße weglässt. In den letzten zwei Jahren mit Balingen haben wir über 400 Angriffe ohne Torhüter gespielt, da hatten wir eine Quote von 56 Prozent im sieben gegen sechs. Wenn man das gut spielt, gut trainiert und den nötigen Mut mitbringt, dann können im sieben gegen sechs auch bei mittelmäßigen Mannschaften Angriffsquoten von sogar 70 bis 75 Prozent entstehen, glaube ich (Götz, 2016).

Axel Kromer (Co-Trainer der Handballnationalmannschaft 2014-2017)

Die neue Möglichkeit, einen siebten Feldspieler zu bringen …

... wurde ja schon im Juli 2016 installiert und hat sich nicht als dominantes Mittel durchgesetzt – zum Glück. Der Charakter des Handballs blieb erhalten. Und ich finde es irgendwie beruhigend, dass gerade die beiden Endspielteilnehmer weitestgehend auf dieses taktische Mittel verzichtet haben. Ich hoffe, diese Regel wird wieder abgeschafft (Frey 2017).

Oliver Roggisch (Teammanager der Rhein-Neckar Löwen und der deutschen Handballnationalmannschaft 2015 – heute).

Der entscheidende Grund ist natürlich, dass wir mit Andy Schmid über einen Spieler verfügen, der alles mitbringt, was man in solchen Situationen – auch im 6 gegen 5 – benötigt: Er bewahrt jederzeit die Ruhe und hat eine extrem gute Übersicht. Dies ermöglicht ihm, in den allermeisten Fällen die richtige Situationsentscheidung zu treffen. Ein zweiter wichtiger Grund: Nicolaj Jacobsen ist ein Trainer, der den Mumm hat, das Risiko einzugehen, das das Spiel 7 gegen 6 fraglos auch mit sich bringt. Im Wesentlichen waren es zwei Situationen, in denen wir verstärkt auf den 7. Feldspieler zurückgegriffen haben. Zum einen in Spielen gegen „schwierige“ Mannschaften, meistens auswärts in einer Halle, wo erfahrungsmäßig nur wenige Teams bestehen. Gegner, von denen wir im Vorfeld wussten, dass sie uns vor allem mit ihrer aggressiven, sehr körperbetonten Abwehrspielweise Probleme bereiten könnten. Magdeburg zum Beispiel, die eine Super-Deckung praktizieren. Dadurch, dass wir 7 gegen 6 angegriffen haben, konnten wir diese Spielweise ein wenig aushebeln und solchen Gegnern etwas von ihrer Stärke nehmen. Auch gegen Mannschaften mit einer sehr offensiv ausgerichteten Deckung haben wir häufiger im 7 gegen 6 angegriffen und konnten den Gegner so zwingen, defensiver zu verteidigen. Anderseits gab es auch im Blick auf uns selbst mitunter Anlass, vermehrt mit dem 7.Angreifer zu agieren. Gerade in englischen Wochen, wenn die Mannschaft durch die Zusatzbelastung in der Woche extrem beansprucht war, hat uns das über weite Strecken angewandte Überzahlspiel die Möglichkeit gegeben, ein wenig Kraft zu sparen, Der zusätzliche Spieler reduziert nämlich insbesondere die Notwendigkeit, Torchancen durch -kräftezehrende- 1 gegen 1 Aktionen vorzubereiten (Bauer, 2018).

A. B., Torwart 3.Liga West:

In meiner Vergangenheit haben wir das Spiel mit dem 7. Feldspieler im Training oft geübt. Ob wir es bei meiner momentanen Mannschaft einstudieren werden, weiß ich noch nicht. Die Vorbereitung hat gerade erst begonnen. Meine Meinung dazu ist relativ klar: Durch das Herausnehmen des Torwarts bei einer Zeitstrafe kann diese sehr gut kompensiert werden und hilft so der angreifenden Mannschaft. Dennoch sehe ich grundlegend eher Probleme als Vorteile. Es entsteht immer Hektik auf dem Feld, wer zum Torwartwechsel runterkommt. Teilweise so, dass einige Spieler im Angriff schon an den Wechsel denken und so im Angriff nicht voll da sind. Zudem muss es einen Abschluss geben, egal ob ins Tor oder daneben. Ansonsten ist der einfache Gegentreffer vorprogrammiert. Und diese Gegentreffer tun immer besonders weh: Der Gegner brauchte kaum Kraftaufwand für dieses Tor und die Fans nehmen dieses Tor anders war, als einen normalen Gegentreffer. Die Reaktionen sind teilweise schon heftiger ausgefallen. Als Torwart ist es zudem so, dass man viel mehr mitlaufen und sprinten muss, die Vorbereitung auf die Würfe leidet so, vor allem bei den Gegenstößen. Ein weiteres Problem ist, dass durch die Taktik meiner Meinung nach dem Handball etwas Dynamik genommen wurde, sofern sie im 7 gegen 6 angewandt wird. Zu Beginn sehen Tore in das leere Tor sicher spektakulär aus, dieser Reiz bei den Zuschauern verfliegt aber meist schnell. Zum Thema Effektivität: Ich denke, dass, wenn es gut trainiert wird, die Effektivität durch den zusätzlichen Feldspieler gesteigert werden kann. Vor allem wenn man normalerweise wegen einer Zeitstrafe in Unterzahl gewesen wäre. Darüber, ob das fair ist oder die Wirkung der Zeitstrafen sogar aufhebt, kann sich jeder selbst ein Bild machen.

3.2 Einordnung der Meinungen in das Thema

Die drei Aussagen über die Strategie mit dem Spiel des leeren Tors liefern ein sehr konträres Bild über die Anwendung, den Nutzen und den Beitrag zur Spannung im Handballspiel. Interessant ist vor allem, dass der Co-Trainer der deutschen Handball Nationalmannschaft und der Teammanager dieser eine sehr unterschiedliche Meinung zu diesem Thema darlegen. Während Co-Trainer Axel Kromer das taktische Mittel sogar so sieht, dass es den Charakter des Handballsports verändern würde, nennt Roggisch sehr differenziert, warum und gegen welche Gegner sein Trainer bei den Rhein-Neckar Löwen dieses System angewandt hat. Zwei grundlegend verschiedene Punkte werden von ihm angesprochen, auf die am Ende in der Auswertung Rückgriff genommen werden soll. Zunächst spricht er die Anwendung des siebten Feldspielers an, wenn die gegnerische Mannschaft eine sehr gute Deckung spielt, die der eigenen Mannschaft erfahrungsgemäß Probleme bereitet. Diese Argumentation geht in die gleiche Richtung, in die auch Dr. Rolf Brack geht. („Noch immer wendet die Mehrzahl der Teams das 7 gegen 6 vor allem dann an, wenn das Spiel 6 gegen 6 nicht funktioniert – also vornehmlich entweder gegen Kontrahenten, die per se als stärker einzustufen sind. Oder bei situativ ungünstigem Spielverlauf.“).

Der zweite Punkt von Oliver Roggisch beinhaltet den hohen Kräfteverschleiß der Profihandballer. Handballer spielen bis zu 80 Pflichtspiele pro Jahr. Das entspricht mehr als einem Spiel pro fünf Tage über das gesamte Jahr gesehen. Vergleiche mit anderen Ballsporten sind sinnvoll, um die Belastung einschätzen zu können. Fußballer kommen in Jahren von WM/EM selten über 70 Spiele (Statistik Transfermarkt.de1 ). In der Saison 16/17 bestritt der Fußballer mit den meisten Pflichtspielen 65 Spiele. Das entspricht im Vergleich zu den Handballern ca. einen Tag mehr Pause pro Spiel. Im Basketball dagegen hat jede Mannschaft in der NBA schon 82 Ligaspiele und damit mehr als im Handball und Fußball. Insofern ist der Handballspieler sicherlich gegenüber den anderen Sportarten nicht deutlich mehr belastet. Eine grundlegende Überbelastung in den Spielsportarten ist damit aber selbstverständlich nicht ausgeschlossen. Dafür spricht auch, dass sich in der Vergangenheit sowohl aktive, leistungsorientierte Spieler aus dem Handball (SID, 2019), dem Fußball (SID, 2016) und dem Basketball (SID, 2014) über die Vielzahl der Spiele beklagt haben. Roggisch führt an, dass durch das Spiel mit dem zusätzlichen Feldspieler die angreifende Mannschaft Kräfte sparen kann. Diese These muss aber kritisch betrachtet werden. Zunächst besteht eine Mannschaft nicht nur aus den Feldspielern, die laut Roggisch Energie im Angriff einsparen können, sondern beinhaltet auch Torhüter. Für diese ist das Spiel mit dem zusätzlichen Feldspieler ohne Frage eine Zusatzbelastung. Vor der Regeländerung und dem wenig genutzten Verfahren mit der Kennzeichnung des zusätzlichen Angriffsspielers, musste der Torhüter sich kaum aus dem 6-Meter Raum bewegen. Da die Wechselmarkierung aber auf Höhe der Mittellinie liegt2, muss der Torwart nach der Regeländerung weitere Strecken zurücklegen und dies oftmals im Höchsttempo. Von einer Schonung der gesamten Mannschaft durch die Anwendung der Taktik kann dementsprechend nicht gesprochen werden.

Zudem muss die These dahingehend beleuchtet werden, inwiefern das Angriffsziel mit sieben Spielern weniger kräftezehrend ist. Hierbei muss die physische und psychische Belastung unterschieden werden. Dr. Ralf Brack führt zur psychischen Komponente an, dass „die Angreifer […] beim Spiel 7 gegen 6 unter einem höheren psychisch-emotionalen Druck [stehen].“ Dies ist erstens durch die Erwartungshaltung (Torerfolg) im Überzahlspiel begründet und zweitens durch den zusätzlichen Druck des leeren Tors. Zumindest psychisch lässt sich Roggischs These nicht bestätigen. Sollte seine These vor allem auf die körperlichen Aspekte abzielen, muss auch dies überprüft bzw. wenigstens kritisch beurteilt werden. Nehmen sich alle Spieler in den Angriffsaktionen zurück und gehen nicht mit der gleichen Konsequenz Richtung Tor wie im 6 gegen 6, wie soll die Überzahl dann einen Vorteil bringen? Der entscheidende Vorteil der Überzahl kann nur zum Tragen kommen, wenn alle sieben Spieler mit dem gleichen Willen ein Tor erzielen wollen. Führt die Überzahl dazu, dass die einzelnen Spieler ihre Leistung, wenn auch unterbewusst verringern, so sollte der Effekt der Überzahl hinterfragt werden. Sportpsychologisch muss also die Möglichkeit des sogenannten sozialen Faulenzens einbezogen werden. In der Studie von Karau, S. J., & Williams, K. D (1997) heißt es dazu: „Social loafing is the tendency for individuals to expend less effort when working collectively than when working individually. A meta-analysis of 78 studies demonstrates that social loafing is robust and generalizes across tasks and S populations. A large number of variables were found to moderate social loafing. Evaluation potential, expectations of co-worker performance, task meaningfulness, and culture had especially strong influence. These findings are interpreted in the light of a collective effort model that integrates elements of expectancy-value, social identity, and self-validation theories.”

Wie in der Metaanalyse von Karau und Williams festgestellt, hängt die Stärke des sozialen Faulenzens von einigen Faktoren wie Erkennbarkeit der Einzelleistungen, Schwierigkeit der Aufgabe und Kultur ab. Vor allem tritt Social-Loafing bei Routineaufgaben auf, bei komplexen Übungen/Aufgaben kann sich ein Gruppenmitglied von der Gruppe entlastet fühlen und sogar bessere Leistung bringen. Die Metaanalyse umfasst Studien, die vor dem Jahr 1997 stattfanden, demnach wurden seit dieser Zeit weitere Studien zu diesem Thema durchgeführt. Zudem ist diese Studie nicht speziell auf Spielsportarten gemünzt. Schon 1913 beschreibt Ringelmann eine Art des sozialen Faulenzens aus dem Bereich Sport. Er ließ bei einem Versuch jeweils eine Person, zwei, drei und acht Personen Tauziehen. Er kam zu dem Ergebnis, dass die individuelle Leistung mit Zunahme der Gruppengröße abnahm (Schicht & Strauß, 2003, S.84). Ob und wie es in Sportspielarten wie Handball auftritt, ist nicht bekannt. Aber es ist sicherlich ein Ansatz, der verfolgt werden kann, insbesondere wenn die Aussage eines ehemaligen Handballers wie Oliver Roggisch betrachtet wird. Gegen die Theorie spricht aber die Beschreibung von B. Strauß und W. Schlicht: „ Soziales Faulenzen tritt vor allem dann auf, wenn Gruppenmitglieder glauben, dass erstens ein Beobachter die individuellen Leistungen nicht identifizieren und bewerten kann, zweitens die Akteure ihre Leistungen nicht untereinander bewerten können oder drittens die Akteure ihre eigenen Leistungen nicht bewerten können.“ (Schicht & Strauß, 2003, S85.). Des Weiteren wird behauptet, „wir müssen also nicht befürchten, dass Mediensportler wie die Mitglieder unserer Fußballnationalmannschaft soziales Faulenzen praktizieren“. (Schicht & Strauß, 2003, S85.) Dennoch gilt es zu hinterfragen, ob erstens die genannten Gründe für soziales Faulenzen nur Begünstigungen oder aber Voraussetzungen sind und zweitens die individuellen Leistungen in einem Handballangriff klar identifizierbar sind. Selbstverständlich können teils Leistungen (Tor, Vorbereitung, Fehlpass) klar identifiziert werden, aber dies sind u.U. nur zwei Spieler, die an der Finalisierung eines Angriffes beteiligt sind. Ob aber jeder Spieler, wie Oliver Roggisch sagt, etwas weniger Zweikämpfe bestreitet, ist schwieriger zu identifizieren.

Dass eine Art des social-loafing oder etwas Ähnliches bei dem Überzahlspiel im Handball auftritt, kann zumindest nicht ausgeschlossen werden. Dies gilt vor allem, wenn die Spieler, wie Roggisch sagt, einen wichtigen Aspekt des Handballs, das 1 gegen 1, im Überzahlspiel nicht stark forcieren. Dies hätte zur Folge, dass sich jeder Spieler darauf verlässt die Überzahl mit weniger Einsatz als normal ausnutzen zu können. Ob das der Fall ist, ist deutlich zu hinterfragen. Im Gleichzahlspiel wird versucht, dass ein angreifender Spieler zwei Abwehrspieler bindet, um so Raum für seine Mitspieler zu schaffen. Im 7 gegen 6 Überzahlspiel soll laut Roggisch mit weniger Einsatz eine gute Tormöglichkeit erspielt werden können. Demgegenüber sollte allerdings betrachtet werden, dass, wenn die angreifende Mannschaft den Angriff mit weniger Intensität vorträgt, die Abwehr einfacher verteidigen kann, da die Spieler es nicht für nötig erachten, für die Mitspieler Lücken zu erspielen.

Festzuhalten ist, dass entweder – sofern die Spieler sich wie Oliver Roggisch beschreibt verhalten – die Effektivität des Überzahlspiels nicht perfekt ist, da die Spieler nicht mit der gleichen Intensität die Zweikämpfe bestreiten, oder die Belastung nicht deutlich reduziert wird, sofern alle Spieler mit der gleichen Intensität agieren. Inwiefern die Spieler durch das Spiel 7 gegen 6 insgesamt eine Reduzierung der Belastung erfahren müsste weiter untersucht werden (Fragebögen, Auswertung von Laufdaten, Verletzungsdaten etc.) und ist nicht Inhalt dieser Arbeit.

Dr. Ralf Brack ist sich sehr sicher, dass das Spiel 7 gegen 6 sehr viele Vorteile bringen kann. Allerdings stellt er heraus, dass dies nur dann funktioniert, wenn dieses im Training konsequent trainiert wird. Eine ähnliche Meinung hat ein befragter Keeper. Besonders die Möglichkeit des Ausgleichens einer Zeitstrafe stellt er heraus. Sicher kann darüber diskutiert werden, ob die Empty Goal Taktik die Stärke der Bestrafung durch eine Zeitstrafe mindert. In der Analyse kann auf diese Fragestellung Rückgriff genommen werden. Dort wird analysiert, wie oft eine Zeitstrafe ausgeglichen wurde und wie oft überhaupt noch in Unterzahl gespielt wird.

4. Mögliche Faktoren und Fähigkeiten für das erfolgreiche Spiel mit der EG Taktik

Einige Punkte, die zum erfolgreichen Spiel mit leerem Tor beitragen, wurden in den vorangegangenen Kapiteln bereits erwähnt. Um später in der Auswertung die Daten beurteilen zu können, aber vor allem, um im Fazit und Ausblick Thesen nennen zu können, ob die Empty Goal Taktik durch bestimmtes Training verbessert werden kann, soll im Folgenden betrachtet werden, welche Fähigkeiten mitbestimmend für den Erfolg der Taktik sind. Hierbei soll der Wechsel zwischen Angriff und Abwehr im Fokus stehen, da dort der Hauptunterschied zur Taktik ohne das leere Tor besteht.

4.1 Koordinative Fähigkeiten

Im Folgenden sollen koordinative Fähigkeiten, technisch-taktische und athletische Fähigkeiten benannt werden, die sich auf das Spiel mit dem leeren Tor auswirken.

Das Timing bei dem Wechsel von Feldspieler zu Torwart ist ein sehr wichtiger Bestandteil bei der Effektivität der EG Taktik. Alle Feldspieler müssen bereit sein zur Wechselmarkierung zu laufen. Dies bedeutet, die Sportler benötigen eine gut ausgebildete Reaktionsfähigkeit, um auf bestimmte Reize (in dem Fall der Ballverlust, Torwurf oder nur das Erkennen eines baldigen Torwurfs) schnell zu reagieren. In diesen Bereich der Auswechslung fällt auch die Orientierungsfähigkeit. Die Spieler benötigen hier eine hohe Kompetenz, um zu entscheiden, welcher Spieler zur Wechselmarkierung läuft. Dies kann nur gelingen, wenn die Spieler eine gute Raumorientierung besitzen und sowohl die Positionen der Mitspieler als auch die eigene richtig einschätzen. Die Umstellungsfähigkeit ist ebenso ein wichtiger Faktor bei dem Wechsel von Angriff auf Abwehr. Diese ist generell wichtig, auch bei der Umstellung im Spiel 6 gegen 6. Allerdings kommt bei dem Spiel ohne Torwart eine weitere wichtige Komponente hinzu. Der Handballer muss eine geplante Aktion eventuell verändern und selbst entscheiden. Wie bereits geschrieben, sind bestimmte Spieler für den Wechsel mit dem Torwart vorgesehen. Sind diese aber in der Abschlussaktion überraschenderweise final eingebunden, so müssen die anderen Spieler umdenken und flexibel handeln.

4.2 Athletische Fähigkeiten

Die athletischen Fähigkeiten unterscheiden sich kaum von den Fähigkeiten, die im normalen Handball benötigt werden. In der Literatur zum Spiel mit dem siebten Feldspieler, wird auf dieses Thema nicht eingegangen. Logischerweise muss, wie bereits in Kapitel drei beschrieben, der Torwart eine intensivere Leistung erbringen. Es ist eine Zusatzbelastung von mehreren Metern, die mindestens auf dem Rückweg von der Bank in das Tor im Sprint vollzogen wird. Teams, die das Mittel des Empty Goals häufig im Spiel einsetzen wollen, sind demnach auf einen Torwart angewiesen, der körperlich fit ist. Denn diese Taktik fügt der vorhandenen (oftmals unterschätzten) physischen Belastung des Torwarts noch eine weitere – nicht zu unterschätzende- Komponente hinzu. Die physische Beschaffenheit des Keepers, die sich vor allem aus Fitnesszustand und Alter zusammensetzt, ist elementar wichtig für das Spiel mit dem siebten Feldspieler.

Ein in den Sportspielen bekanntes Problem ist, dass bei nachlassender Kraft die Konzentration leidet. Dies ist häufig bei Feldspielern zu beobachten, deren Pässe ungenauer oder Abschlüsse harmloser werden.3 Bei dieser neuen Art der Belastung für den Torwart muss demnach gewährleistet sein, dass die Torhüterleistung nicht signifikant sinkt. Dies kann durch zusätzliches Athletik- und Ausdauertraining geschehen.

4.3 Spieltaktische Fähigkeiten

In Kapitel 2.1 wurden die spieltaktischen Veränderungen bereits thematisiert. In diesem Abschnitt werden die technisch-taktischen Fähigkeiten, die ein Team für die erfolgreiche Umsetzung der EG Taktik braucht, kurz angesprochen. Oliver Roggischs Meinung liefert erneut einen Hinweis, was taktisch gesehen immens wichtig ist. Er stellt den Mittelaufbauspieler der Rhein-Neckar Löwen Andy Schmied heraus. Besonders seine Ruhe und Entscheidungsfähigkeit seien die Kriterien, warum die Rhein-Neckar Löwen häufig mit leerem Tor spielen. In dem 7 gegen 6 Überzahlspiel steht jedem Angreifer weniger Platz zur Verfügung, da ein Spieler mehr auf dem Feld steht. Umso mehr ist der ´Kopf des Teams´ - häufig der Mittelaufbauspieler – gefragt, die sich bietenden Lücken clever zu nutzen. Denn nicht nur weniger Platz pro Mitspieler, sondern positiv gesehen eine Überzahlsituation entsteht. Beginnt der Ball auf einer Außenposition, wird weiter zur Rückraumhalbposition und dann zum Mittelaufbauspieler gespielt, muss dieser eine Entscheidung treffen, wie die Überzahl genutzt wird. Konzentrieren sich die beiden gegnerischen Innenblockspieler auf die zwei Kreisspieler (s. Kapitel 2.1), so kann er selbst den Abschluss suchen. Rückt einer der beiden Innenblockspieler auf den Mitteaufbauspieler heraus, so muss er blitzschnell entscheiden, welcher Mitspieler freisteht. Dies kann jeder seiner Mitspieler sein, je nachdem wie die Abwehr verschiebt und aushilft. Rückt einer der gegnerischen Halbspieler auf den ansonsten freistehenden (zusätzlichen) Kreisspieler, so kann er den dann freistehenden Halbspieler anspielen. Wird dieser allerdings von dem gegnerischen Außenspieler zugelaufen, so müsste er den eigenen Außenspieler anspielen. Diese Entscheidung muss er in wenigen Sekundenbruchteilen treffen. Insofern ist es von Vorteil, einen Mittelaufbauspieler im Team zu haben, der eine gute Entscheidungsfindung aufweist.

Ein zweites Kriterium, ist das Abschließen ohne große Vorbereitungszeit. Durch die Verschiebungen in der Deckung ist es häufig zu beobachten, dass die Rückraumspieler vor der Deckung kurzfristig frei sind, ohne ihren Wurf gut vorbereiten zu können. Gute Abschlüsse ohne Vorbereitungszeit und torgefährliche Aktionen mit wenig Anlauf sind immens wichtig für die Umsetzung der Taktik.

Spieltaktisch gesehen ist es unabdingbar, noch mehr Automatismen zu erarbeiten, als generell schon. Jedem Spieler muss bewusst sein, was für eine Konzeption gespielt wird und welche Spieler zum Wechsel mit dem Torwart primär vorgesehen sind. Auch nach Torerfolg muss deutlich schneller als normal umgeschaltet werden. Das muss bei der Spieltaktik immer beachtet werden, da der Gegner auch vom Anwurfspunkt ein Tor erzielen kann.

4.4 Psychologischer Faktor

Wichtig wird der psychologische Faktor, falls die Taktik in einigen Fällen nicht funktioniert und die Mannschaft einfache Gegentore in das leere Tore bekommt. Dies hat direkt mehrere Nachteile: Die gegnerische Mannschaft kann ohne viel Kraftaufwand (im Gegensatz zu einem normalen Angriff) ein einfaches Tor erzielen. Zudem ist ein Treffer ins leere Tor immer ein psychologischer Faktor. Spielt die Mannschaft vor vielen Zuschauern sind diese empört (oftmals bei der EM 2018 beobachtbar) über diesen einfachen Gegentreffer. Spielt die Mannschaft vor vielen gegnerischen Fans, so prasselt die Häme auf das Team ein. Das Team muss gefestigt sein, sodass dies zu keinem Faktor wird. Einfache Ballverluste gibt es auch im Spiel ohne Empty Goal. Sie wirken psychologisch nicht so hart. Der befragte Keeper spricht in seinem Interview genau diesen Punkt an und bestätigt die Wirkung der Gegentore in das leere Tor.

5. Analysekriterien und Erhebungsart der empirischen Untersuchung

In dieser Arbeit sollen klar definierte Maßstäbe einen Einblick gewähren, ob sich das Spiel mit dem leeren Tor auszahlt. Um ein haltbares Ergebnis zu bekommen, müssen vorher klare Kriterien zur Analyse festgelegt werden. Es werden nur Spiele betrachtet, die 2018 oder 2019 stattgefunden haben. Die Beobachtung beinhaltet alle Spiele der deutschen Nationalmannschaft im Kalenderjahr 2018 und 2019 (bis auf das Spiel gegen Tschechien am 19.01.2018, da dieses nicht verfügbar war), alle Hauptrunden und Platzierungsspiele der Handball WM 2019 sowie einzelne Spiele der DKB Handball Bundesliga Saison 2018/2019. Eine genau Auflistung findet sich im Anhang. Insgesamt umfasst die Beobachtung 77 Spiele.

Im Folgenden wird erläutert, welche Aspekte des Spiels protokolliert wurden. Der dazu passende Spielberichtsbogen befindet sich ebenfalls im Anhang. Das Datenmaterial wurden von den folgenden Plattformen entnommen: Videoplattform „Youtube.com“, Sportplattform https://sportdeutschland.tv/, das Archiv https://www.sportschau.de/video/index.html sowie das Archiv des ZDF https://www.zdf.de/mein-zdf. Der Protokollant war bei allen beobachteten Spielen derselbige, der Auto dieser Arbeit.

5.1 Positionsangriffe und Gegenstöße in der ersten und zweiten Welle

Zunächst einmal werden von allen Spielen, die geschaut werden, alle Positionsangriffe4 beider Mannschaften in die Bewertung einfließen. Gegenstöße in der ersten5 und zweiten6 Welle werden ebenfalls protokolliert, haben aber einen anderen Wert, der im Folgenden noch erläutert wird. Ein Positionsangriff gilt als beendet und muss protokolliert werden, wenn die gegnerische Mannschaft kontrolliert in Ballbesitz gelangt ist. Hält der Torwart den Ball oder der Ball geht in den Block oder an das Aluminium, so ist der Angriff nicht abgeschlossen, sofern die angreifende Mannschaft in Ballbesitz bleibt.

5.2 Positionsangriffe: Mit EG Taktik oder ohne?

Zunächst wird bei den Positionsangriffen unterschieden, ob es sich um einen Angriff mit der Empty Goal Taktik handelt oder ohne.

Handelt es sich um einen Angriff, der mit der Empty Goal Taktik gespielt wird, so werden folgende Arten unterschieden:

1. Empty Goal -> Erzeugung einer 7vs6 Überzahl
2. Empty Goal -> Erzeugung einer anderen Überzahl (6vs5, 5vs4)
3. Empty Goal -> Erzeugung einer Gleichzahl (6vs6, 5vs5 etc.)
4. Empty Goal -> Verringerung der Unterzahl

Die Unterscheidung von Punkt eins und zwei ist sehr wichtig in der Diskussion in Handballkreisen. Oftmals wird bei Statistiken über die Empty Goal Taktik moniert, dass eine allgemeine Statistik über alle Fälle nicht sinnvoll wäre (Brack, 2018). Es ist offensichtlich, dass ein Angriffsspiel bei einer 6 gegen 5 Überzahl eine grundsätzlich höhere Erfolgswahrscheinlichkeit bieten sollte als eine 7 gegen 6 Überzahl. Dies ist darin begründet, dass je weniger Abwehrspieler sich auf dem Feld bewegen der zu verteidigende Raum pro Spieler größer wird. Eine weitere Unterteilung zwischen 6 gegen 5 und anderen Formen ist auf Grund der geringen Häufigkeit von 5 gegen 4, 4 gegen 3 etc. nicht sinnvoll. Der dritte Punkt (Erzeugung von Gleichzahl) ist die häufigste angewandte Form des Spiels ohne Torwart. Bei dieser Variante wird durch das Herausnehmen des Torhüters eine eigene Zeitstrafe ausgeglichen und somit im Angriff wie gewohnt im 6 gegen 6 agiert. Ebenfalls in diese Kategorie fällt jeder Fall, in dem eine Mannschaft genau eine Zeitstrafe mehr hat als die gegnerische. Durch das Herausnehmen des Torwarts kann die angreifende Mannschaft in Gleichzahl versuchen, ein Tor zu erzielen. Der letzte Punkt zielt auf die Fälle ab, in denen eine Mannschaft zwei oder mehr Zeitstrafen mehr hat als die gegnerische Mannschaft. In dieser Situation kann die Unterzahl durch das Tauschen des Torwarts gegen einen Feldspieler nur verringert werden.

Handelt es sich um einen Angriff, der ohne die Empty Goal Taktik gespielt wird, so werden folgende Arten unterschieden:

1. Gleichzahl
2. Überzahl
3. Unterzahl

Es wird demnach protokolliert, wie das Feldspieler Verhältnis der beiden Mannschaften bei dem Angriff ohne die EG Taktik ist. Haben beide Mannschaften gleich viele Feldspieler auf dem Platz, wird (1) Gleichzahl protokolliert, hat die angreifende Mannschaft einen oder mehr Spieler mehr auf dem Platz als die Verteidigende, so wird (2) Überzahl gewertet. Spielt die angreifende Mannschaft mit weniger Feldspielern als die verteidigende, so wird (3) Unterzahl notiert. Wichtig festzuhalten ist, dass immer das Personenverhältnis gewertet wird, das am Ende des Angriffs besteht. Verändert sich dieses Verhältnis im Laufe eines Angriffs, muss das letzte bestehende Verhältnis gewertet werden, da der Abschluss/Ballverlust dort geschah.

Kommt ein Spieler Sekundenbruchteile vor Abschluss/Ballverlust auf den Platz zurück, nimmt aber keinen Einfluss mehr auf das Spielgeschehen, so wird dieses Zurückkommen nicht gewertet und der Angriff so gewertet, als wäre dieser Spieler nicht auf dem Platz gewesen. Ein weiterer Punkt, der bei der Protokollierung beachtet werden muss, ist wenn das Team einen 7-Meter und der Gegner eine Zeitstrafe zugesprochen bekommt. In diesem Fall wird der Angriff in dem vorherigen Personenverhältnis gewertet, da auch in diesem Verhältnis der 7-Meter und die Zeitstrafe erspielt wurde.

Diese Daten werden als Gegenstück zu den Empty Goal Daten aufgezeichnet, um aus den gleichen Spielen die zu vergleichenden Daten zu haben.

Die aufgezeichneten Daten geben Aufschluss darüber, in welcher Häufigkeit und in welchen Situationen die EG Taktik angewandt wird.

5.3 Erfassung der Effektivität

Weiterhin muss verglichen werden, inwieweit das Gleichzahlspiel mit Empty Goal und das ´normale´ Gleichzahlspiel sich im Sinne der Effektivität unterscheiden. Hieraus kann geschlossen werden, ob das Wissen, dass das eigene Tor leer ist, einen Effekt auf die Angriffsleistung hat.

Um den Erfolg des Einsatzes zu bewerten wurden Unterkategorien gebildet, die es ermöglichen, eine Bewertung durchzuführen. Diese Bewertung umschließt zwei verschiedene Kategorien. Diese Art der Spielbeobachtung wird in Kapitel 5.4 erläutert.

Nachdem protokolliert wurde, um welchen Typen des Angriffs es sich handelt (s.o.), wurden verschiedene Kriterien zur Beurteilung der Effektivität des Spiels mit und ohne EG Taktik erstellt. Dafür wird festgehalten, ob a) die Mannschaft ein Tor oder kein Tor erzielen konnte (Kapitel 5.3.1) und b) falls ein Abschluss erfolgte, dieser frei oder nicht frei war (Kapitel 5.3.2). Wurde kein Abschluss abgegeben, so wurde bei b) technischer Fehler als dritte Möglichkeit notiert.

5.3.1 Erfassung der Tore

Zunächst wird protokolliert, ob die Mannschaft am Ende des Angriffes ein Tor oder kein Tor erzielt hat. Dies ermöglicht eine objektiv statistische Auswertung, wie erfolgreich die Taktik ist. Es wird dadurch im Zusammenhang mit der jeweilig auf dem Feld vorhanden Personenrelation und der angewandten Taktik erfasst, ob der Ball in das Tor gelangt oder nicht.

[...]


1 Vgl.:https://www.transfermarkt.de/meisteeinsaetze/gesamteinsaetze/statistik/2019/plus/0/galerie/0?saison_id=2018&wettbewerb_id=&land_id=0&altersklasse=alle&yt0=Anzeigen

2 Eine Darstellung eines Handballfelds kann hier abgerufen werden: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Handballfeld.svg

3 „Energiemangel und Müdigkeit. Bei langen Wettkämpfen kann der Energielevel unter eine bestimmte Grenze sinken, was Konzentrationsverlust zur Folge hat.“ (https://www.spowi.hu-berlin.de/de/institut/sportpsychologie/fuer-die-praxis/konzentration-1, abgerufen am 07.07.19).

4 „Die dritte Welle [Positionsangriff] bezeichnet dann das gewohnte Angriffsspiel gegen eine geordnete Defensive.“ (s. https://www.badboys-handball.com/wiki/handball-lexikon)

5 „Bei der ersten Welle erfolgt der Torabschluss meist unmittelbar durch einen einfachen Tempogegenstoß, d.h. ein Spieler läuft nach einem Pass des Torhüters oder eines anderen Spielers meist frei auf das gegnerische Tor zu.“ (s. https://www.badboys-handball.com/wiki/handball-lexikon)

6 „Bei der zweiten Welle erfolgt der Torabschluss über mehrere Stationen. Nach dem Ballgewinn hat sich die gegnerische Mannschaft in der Verteidigung bereits teilweise sortiert, wird jedoch durch schnelles Umschalt- und Passspiel relativ leicht überspielt.“ (s. https://www.badboys-handball.com/wiki/handball-lexikon)

Ende der Leseprobe aus 62 Seiten

Details

Titel
Die Empty Goal-Taktik im modernen Handball. Wirkung und Erfolg im Profisport
Hochschule
Universität Münster
Note
2,6
Jahr
2019
Seiten
62
Katalognummer
V520685
ISBN (eBook)
9783346149336
ISBN (Buch)
9783346149343
Sprache
Deutsch
Schlagworte
empty, goal, taktik, handball, wirkung, erfolg, profisport
Arbeit zitieren
Anonym, 2019, Die Empty Goal-Taktik im modernen Handball. Wirkung und Erfolg im Profisport, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/520685

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