Versöhnung im interpersonalen Kontext. Prädiktoren und Interventionsansätze


Bachelorarbeit, 2016

64 Seiten, Note: 1.3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Zusammenfassung

Tabellen- und Abbildungsverzeichnis

1. Einleitung

2. Theoretischer Hintergrund
2.1 Definitionen
2.2 Versöhnungstheorien
2.2.1 Needs-based model of reconciliation
2.2.2 FREE- und REACH-Modelle
2.2.3 Weitere relevante Theorien
2.2.4 Forschungsmethoden
2.3 Fragestellungen

3. Methode
3.1 Ein- und Ausschlusskriterien für Literatur
3.2 Vorgehen bei der Recherche
3.3 Einbezogene Quellen

4. Ergebnisse
4.1 Prädiktoren
4.1.1 Individuelle Analyseebene
4.1.1.1 Vergebung
4.1.1.2 Sozialkognitive Faktoren
4.1.1.3 Persönlichkeitsmerkmale
4.1.2 Analyseebene der Dyade
4.1.2.1 Merkmale des Übergriffs
4.1.2.2 Merkmale der Beziehung
4.1.3 Kollektive Analyseebene
4.2 Interventionsansätze
4.2.1 Forgiveness and Reconciliation through Experiencing Empathy (FREE)
4.2.2 Emotionsfokussierte Therapie (EFT)
4.2.3 Weitere Interventionsansätze

5. Diskussion

Literaturverzeichnis

Pressemitteilung

Anhang

Zusammenfassung

Verbundenheit und Nähe mit anderen Menschen sind sehr grundlegende Be- dürfnisse, die wir in unseren verschiedenen Beziehungen zu befriedigen ver- suchen. Trotz der besten Absichten kommt es dabei regelmäßig zu Konflikten und Vertrauensbrüchen. Die möglichen Reaktionen darauf reichen von Rache und Vergeltung über Trennung und Vermeidungsverhalten bis hin zu Verge- bung und Versöhnung. Letztere werden zwar immer noch stark mit religiösen Vorstellungen assoziiert, sind aber mittlerweile auch verstärkt Gegenstand psychologischer Forschung geworden, die sich ihnen aus wissenschaftlicher Perspektive nähert. Dabei geht es zunächst darum, die entsprechenden Pro- zesse überhaupt einmal zu beschreiben, sie dann aber auch zu erklären, the- oretisch aufzuarbeiten, und die relevanten Determinanten herauszufinden, um schließlich diese Art von prosozialen Konfliktreaktionen gezielt fördern zu können. Die Forschung konzentriert sich dabei bisher vor allem auf Verge- bung (als intrapersonales Konstrukt); Versöhnung macht einen weitaus gerin- geren Teil der Literatur aus, ist allerdings als interpersonaler Prozess, als tat- sächlich beobachtbare Wiederherstellung von Verbundenheit und Nähe, prak- tisch gesehen sehr relevant. Dieses Review untersucht anhand von 27 Pri- märstudien zum einen, welche Prädiktoren für Versöhnung bisher in der sozi- alpsychologischen Forschung gefunden worden sind und zum anderen, mit welchen Interventionen Versöhnung erfolgreich gefördert werden kann. Dabei zeigt sich u.a. die enge Verflechtung zwischen Vergebung und Versöhnung und es ergibt sich eine komplexe Interaktion von Prädiktoren auf verschiede- nen Analyseebenen, von den Kognitionen des Individuums bis hin zu kulturel- len Einflüssen. Insgesamt scheint es trotz dieser Komplexität und trotz der methodologischen Herausforderungen möglich zu sein, die Einflussfaktoren auf Versöhnung zu bestimmen und gezielt zu fördern.

Tabellen- und Abbildungsverzeichnis

Tabelle 1: Definitionen von Versöhnung

Tabelle 2: Übersicht der verwendeten Studien (Prädiktoren)

Tabelle 3: Übersicht der verwendeten Studien (Interventionen)

Abbildung 1: Modell aus Shnabel & Nadler (2015)

Abbildung 2: Mehrebenenmodell aus Palanski (2012)

Abbildung 3: Pfadmodell aus McCullough et al. (1997)

Abbildung 4: Pfadmodell aus McCullough et al. (1998)

Abbildung 5: Ergebnisse aus Kim et al. (2008)

1. Einleitung

„The practice of peace and reconciliation is one of the most vital and artistic of human actions.” – Thich Nhat Hanh, buddhistischer Mönch und Autor

Zwischenmenschliche Beziehungen sind für die meisten Menschen zugleich die größte Bereicherung und die größte Herausforderung im Leben. Egal ob mit Freunden, im Arbeitskontext oder im Liebesleben – wir sehnen uns nach Verbindung und Kooperation, und dennoch kommt es früher oder später zu Konflikten, Verletzungen, Enttäuschungen, Ärger. Nun gehört es zu den grundlegenden (jedoch nicht selbstverständlichen) Sozialkompetenzen, konstruktiv mit solchen Situationen umzugehen. Im Idealfall schafft man es, selbst nach einem schweren Konflikt wieder Vertrauen zueinander aufzubau- en und die Beziehung fortzusetzen, sich also zu versöhnen. Doch wie erreicht man das? Wie kommt man über Wut und Schmerz hinweg, der durch Über- griffe anderer Menschen entsteht? Wie kommt man einander nach einem Streit wieder nahe? Lässt sich Versöhnung gezielt anstreben und wenn ja, wie? Wir alle haben unsere individuellen und teilweise intuitiven Antworten auf diese Fragen. Die Psychologie als Lehre vom menschlichen Erleben und Verhalten beschäftigt sich ebenfalls mit ihnen, allerdings auf wissenschaftli- che, systematische Art und Weise. Dieser Ansatz kann Antworten liefern, die über unsere intuitiven Theorien hinausgehen, theoretisch fundiert und empi- risch belegt sind und dadurch potenziell viel größeren Erklärungswert haben.

Die psychologische Versöhnungsforschung ist noch relativ jung (die allermeisten der für dieses Review gefundenen Primärstudien sind nach 2000 erschienen) und außerdem sehr stark mit der Vergebungsforschung verwo- ben. Wie im nächsten Kapitel dargestellt, fehlt es in der Literatur vielfach an einheitlichen Definitionen und Operationalisierungen, was die Erarbeitung all- gemeingültiger Aussagen über Versöhnungsprozesse erschwert. Das vorlie- gende systematische Literaturreview hat vor allem zum Ziel, die bisherigen Forschungsergebnisse in ihrer Vielfältigkeit zusammenzutragen und mög- lichst übersichtlich darzustellen, um dann auch Empfehlungen für weitere Forschungsfragen und -ansätze auszusprechen. Der Fokus liegt dabei auf Prädiktoren und Interventionen: Welche Faktoren bedingen erfolgreiche Ver- söhnungsprozesse? Und kann man dieses Wissen nutzen, um Versöhnung gezielt zu fördern? Abgesehen vom wissenschaftlichen Interesse sind die Antworten auf diese Fragen auch privat für die meisten von uns hochrelevant und können ganz praktisch dabei helfen, in unseren verschiedenen Bezie- hungen konstruktiver und effektiver mit Konflikten umzugehen.

Im Folgenden wird zunächst die (überraschend komplexe) Definition von Versöhnung diskutiert und dann ein kurzer Abriss der diesbezüglichen psychologischen Theorien gegeben. Nach einer Konkretisierung der Frage- stellungen dieses Reviews und einer Darstellung der Methodik und Literatur- recherche werden dann im Ergebnisteil die Kernaussagen der verwendeten Primärliteratur wiedergegeben. Das Review schließt mit einer ausführlichen Diskussion dieser Ergebnisse.

Ein formeller Hinweis an dieser Stelle: Es wurde einerseits versucht, eine möglichst genderinklusive Sprache zu verwenden. Andererseits wurde, der Lesbarkeit halber, teilweise aber auch einfach das generische Maskuli- num verwendet, insbesondere bei häufig verwendeten Wörtern (z. B. „der Tä- ter”). In diesen Fällen sind aber immer alle Geschlechter gemeint.

2. Theoretischer Hintergrund

2.1 Definitionen

Wenn man sich mit Versöhnung beschäftigt, stellt sich zunächst die Frage der Definition. Obwohl (oder gerade weil) der Begriff aus der Alltags- sprache bekannt ist, ist seine Bedeutung in der psychologischen Forschung gar nicht so eindeutig. Über folgende Aspekte von Versöhnung herrscht Ei- nigkeit:

(a) Es handelt sich um die Wiederherstellung einer Beziehung, nachdem es zu einem Übergriff oder Konflikt gekommen ist. Tomlinson, Dineen und Lewicki (2004) fassen es folgendermaßen zusammen: „Recon- ciliation is realized when both parties exert effort to assist in rebuilding a damaged relationship, and it connotes a desire to settle issues that led to the disruption of the relationship so the relationship can be re- stored to vitality” (S. 167).
(b) Der Wiederaufbau von Vertrauen spielt eine zentrale Rolle dabei. Worthington und Drinkard z.B. definieren in ihrem einflussreichen Arti- kel aus 2000 Versöhnung als „the restoration of trust in an interper- sonal relationship through mutual trustworthy behaviors” (S. 93).
(c) Es handelt sich um einen interpersonalen Prozess. Worthington & Drinkard (2000) sprechen im selben Artikel auch von einer „conceptu- alization of reconciliation as an interpersonal process” (S. 93). Dazu muss man anmerken, dass es auch sehr viel Literatur über Intergrup- penversöhnung gibt; darum soll es in diesem Review nicht gehen. „In- terpersonal” ist hier hauptsächlich in Abgrenzung zu intrapersonalen Vergebungsprozessen gemeint (siehe nächster Punkt).
(d) Versöhnung ist sehr eng verwandt mit dem Konzept der Vergebung. So heißt es bei Ferch (1998): „Reconciliation is an ideal following for- giveness” (S. 264). Aquino et al. (2001) sehen Versöhnung als „be- havioral expression of forgiveness” (S. 53).

Gerade der letzte Punkt (d) trägt allerdings auch zu einer Begriffsver- wirrung bei. Versöhnung wird in der Forschungsliteratur regelmäßig mit Ver- gebung verwechselt, und umgekehrt. Zahlreiche Beispiele dafür finden sich in Suzanne Freedmans Artikel aus 1998. Als Hauptproblem stellt sie fest, dass die meisten Menschen „automatically assume that reconciliation will occur when one forgives” (S. 205). Ein daraus resultierendes Problem ist, dass Ver- gebung teilweise überhaupt nicht erst angestrebt wird, weil eine Wiederauf- nahme der geschädigten Beziehung nicht wünschenswert scheint; z.B. bei Missbrauchsopfern, die aus Sicherheitsgründen keine Wiederherstellung der Beziehung mit ihren Peinigern möchten – für die aber Vergebung (als intra- personaler Prozess) äußerst heilsam sein könnte. Wenn Vergebung mit Ver- söhnung gleichgesetzt wird, kann es dann passieren, dass weder das eine noch das andere stattfindet und somit den Betroffenen auch die positiven Auswirkungen von Vergebung auf die psychische Gesundheit (Witvliet, Lud- wig & Vander Laan, 2001) vorenthalten bleiben.

Dabei gibt es unter vielen Forschern durchaus einen Konsens darü- ber, wie sich Versöhnung von Vergebung unterscheidet: Vergebung findet in- tra personal statt, Versöhnung hingegen bezieht sich, wie bereits erwähnt, auf einen inter personalen Prozess. Vergebung heißt, freiwillig eine positive und wohlwollende Einstellung gegenüber jemandem zu hegen, der dieses Wohl- wollen aufgrund eines Übergriffs nicht gerechterweise erwarten kann – und diese Einstellung ist zunächst unabhängig davon, ob die Beziehung wieder aufgenommen wird, und sogar davon, ob überhaupt ein persönlicher Kontakt stattfindet zwischen demjenigen, der vergibt und demjenigen, dem vergeben wird. Laut der Human Development Study Group (1991) ist Vergebung ein „unconditional gift freely given” (S. 495=, geht also komplett von der verge- benden Person aus. Eine Definition aus dem Oxford Dictionary schließlich macht den intrapersonalen Charakter von Vergebung besonders deutlich: Vergebung finde statt, wenn jemand aufhört, wütend oder verärgert über et- was oder jemanden zu sein (Thompson, 1996; zitiert nach Ferch, 1998).

Man kann also vergeben, ohne sich zwangsläufig auch wieder zu ver- söhnen; d.h. man kann durch einen Übergriff bedingte negative Gefühle los- lassen, ohne deswegen die Beziehung mit dem Täter wieder aufzunehmen. Freedman (1998) geht so weit, Vergebung und Versöhnung als gewisserma- ßen unabhängige Prozesse darzustellen, die in verschiedenen Kombinatio- nen auftreten (bzw. nicht auftreten) können: Vergebung mit Versöhnung, we- der Vergebung noch Versöhnung, Vergebung ohne Versöhnung, und sogar Versöhnung ohne Vergebung. Im letzten Fall kommt es zu einer Wiederauf- nahme der Beziehung, allerdings auf eher oberflächliche oder funktionale Art, ohne dass tatsächlich eine Transformation negativer Gefühle oder Einstellun- gen stattfindet.

Andere Autoren hingegen nehmen keine derart scharfe Trennung zwi- schen den beiden Konstrukten vor. Aquino, Tripp und Bies (2006) sehen Ver- söhnung lediglich als „interpersonalen Aspekt” von Vergebung (S. 654). Burchard et al. (2003) nehmen eine normative Einschätzung vor, indem sie Versöhnung als „optimale” Konsequenz von Vergebung darstellen (S. 243). DiBlasio und Proctor berichten 1993 noch: „Without exception, forgiveness is reported in the literature as restoring relationships and healing inner emo- tional wounds” (S. 176), wobei der Aspekt der Wiederherstellung der Bezie- hung eindeutig eher als Versöhnung zu beschreiben wäre. In einem späteren Artikel konzediert DiBlasio (2000, S. 151) hingegen, dass Vergebung und Versöhnung im Ehekontext nicht unbedingt miteinander einhergehen müssen. Auch Zuccharini, Johnson, Dalgleish und Makinen (2013) nehmen gewisser- maßen eine Mittelposition ein, wenn sie einerseits betonen, dass Vergebung ohne Versöhnung stattfinden kann, zum anderen aber dass „emotional enga- gement between partners and an apology from the injuring partner” für Ver- gebung nötig sind (S. 152), was ja wiederum einer deutlichen Trennung zwi- schen intra- und interpersonalen Prozessen widerspricht. Eine weitere inte- ressante Perspektive bietet Kegan (1982; zitiert nach Massey, 2009, S. 88), der sowohl Versöhnung als auch Vergebung als Herzstück der sog. natural therapy nennt, also als Teil der informellen, interpersonalen Copingstrategien, die wir – mit Unterstützung durch Menschen, die uns nahestehen – im Um- gang mit alltäglichen Problemen einsetzen.

Insgesamt ist es definitiv nachvollziehbar, dass Versöhnung mit Ver- gebung konfundiert wird, da beide Konzepte einander durchaus nahestehen. Eine wirkliche Unabhängigkeit voneinander, wie sie Freedman (1998) vor- schlägt, macht m.E. keinen Sinn, v.a. wenn man bedenkt, dass Vergebung in vielen Fällen eine Voraussetzung oder zumindest ein Prädiktor für Versöh- nung ist, wie in Abschnitt 4.1.1.1 noch ausführlich dargestellt werden soll. Für dieses Review soll deswegen einerseits grundsätzlich die intra- vs. interper- sonale Perspektive als Unterscheidungsmerkmal zwischen Vergebung und Versöhnung beibehalten werden, andererseits aber auch der Tatsache Rech- nung getragen werden, dass die Abgrenzung in vielen Studien nicht so strin- gent gehandhabt wird. So werden bei der Literaturauswahl (im Methodenteil näher beschrieben) teilweise auch Studien berücksichtigt, die sich explizit mit Vergebung beschäftigen, diese aber auf eine Art und Weise definieren, dass sie auch Versöhnung einschließt. All dies wird in Abschnitt 3 näher beschrie- ben und erklärt.

Ein weiteres definitorisches Problem von Versöhnung, neben der Konfundierung mit dem Vergebungskonstrukt, betrifft die Rollenverteilung in Opfer und Täter, welche in vielen theoretischen Ansätzen ganz zentral steht. Für eine „saubere” Definition ist es natürlich sehr praktisch, von einer klaren Rollenverteilung auszugehen: auf der einen Seite der Täter, der bestimmte Normen, Regeln oder Vereinbarungen bricht, somit das Vertrauen des Ge- genübers missbraucht und deshalb eindeutig die Verantwortung für den Be- ziehungskonflikt trägt – auf der anderen Seite das unschuldige Opfer, das sich in seinem Ärger und seiner Verletztheit absolut gerechtfertigt fühlt und gewissermaßen allein darüber entscheidet, ob Versöhnung stattfinden kann oder nicht.

Um der Komplexität realer Beziehungen wirklich gerecht zu werden, braucht es jedoch eine differenziertere Perspektive. Palanski (2012, S. 283) erklärt, dass in manchen Situationen eine klare Unterscheidung zwischen Op- fer und Täter nicht möglich ist. Während sich Versöhnungsforschung oft auf einzelne Vorfälle bezieht, kommt es im Alltag oft zu sog. tit-for-tat Spiralen, in denen auf einen wahrgenommenen Übergriff mit einem Gegenangriff reagiert wird, der wiederum zu weiteren Aggressionen führt. Im Laufe dieser Entwick- lung wechseln die Beteiligten zwischen Opfer- und Täter-Rolle hin und her, bis sie sich schließlich möglicherweise beide als Opfer erleben. Auch Bau- meister, Stillwell und Wotman (1990) fanden in einer autobiografischen Analy- se ein ähnliches Muster: Täter fühlen sich durch eine plötzliche Wutreaktion des Opfers teilweise so ungerecht behandelt, dass sie sich wiederum selbst als Opfer erleben.

Es gibt einige wenige Studien, die diese Rollendualität berücksichti- gen. So untersuchten beispielsweise SimanTov-Nachlieli & Shnabel (2014) den Sonderfall „feeling both victim and perpetrator”, wobei sich interessan- terweise herausstellte, dass die Opferrolle meist als salienter wahrgenommen wird. Worthington & Drinkard (2000) betonen in ihrem Versöhnungsprogramm für Paare die Notwendigkeit einer gewissen „Weichheit” (Planke 2, Softness) im Sinne einer Bereitschaft, nicht nur den anderen als Täter zu beschuldigen, sondern auch selbst Verantwortung für den Konflikt zu übernehmen. Sie zitie- ren Jones (1995): „For in many situations the possibility of reconciliation has been eliminated because both parties (or all the parties) come prepared to forgive and are completely unprepared to be forgiven”. Dieser Satz fasst sehr elegant zusammen, weshalb eine eindimensionale Opfer-Täter-Rollenvertei- lung der Versöhnung nicht zuträglich ist – der Großteil der Forschungsliteratur bezieht sich jedoch auf Situationen, in denen tatsächlich eine solche (einfa- che) Rollenzuschreibung stattfindet.

Im Anhang befindet sich eine tabellarische Übersicht von verschiede- nen Versöhnungsdefinitionen. Unter Berücksichtigung der dargestellten defi- nitorischen Probleme als auch Übereinstimmungen, soll zusammenfassend folgende Arbeitsdefinition von Versöhnung vorgeschlagen werden: Versöh- nung ist ein interpersonaler Prozess der Wiederherstellung einer Beziehung durch den Wiederaufbau von Vertrauen nach einem Konflikt oder Übergriff, in dem sich zumeist eine Person als “Opfer” begreift und somit die andere Per- son als “Täter”. Versöhnung ist verwandt, jedoch nicht gleichzusetzen, mit Vergebung.

Nach diesem definitorischen Abriss soll im Folgenden ein Überblick über die bestehenden Theorien und Forschungsergebnisse in der (psycholo- gischen) Versöhnungsforschung gegeben werden.

2.2 Versöhnungstheorien

2.2.1 Needs-based model of reconciliation

Das wohl ausgereifteste psychologische Modell für Versöhnungspro- zesse ist das Needs-based model of reconciliation (NBMR) von Shnabel und Nadler (2008). Es geht davon aus, dass ein Übergriff oder Konflikt bei Opfer und Täter jeweils differentielle psychologische Bedürfnisse verletzt und dass diese Bedürfnisse befriedigt werden müssen, damit es zu Versöhnung kom- men kann. Konkret geht es dabei auf Seiten des Opfers um das Bedürfnis nach Status und Macht, auf Seiten des Täters hingegen um das Bedürfnis nach sozialer Akzeptanz und Moralität. Das Opfer fühlt sich in seiner wahrge- nommenen Kontrolle und Agency (ungefähr als Handlungsfreiheit zu überset- zen) beeinträchtigt, ist durch den Übergriff quasi in die Rolle des Schwäche- ren gedrängt worden, und kann entsprechend mit Ärger und Wut reagieren. Das Besondere am NBMR ist, dass es auch die Perspektive des Täters be- leuchtet: dieser fühlt sich durch den (selbst verursachten) Übergriff nämlich moralisch unterlegen, erlebt dadurch womöglich Schuld und Scham, und muss befürchten, aus der sozialen und moralischen Gemeinschaft ausge- schlossen zu werden, zu der er gehört. Auf die Ressourcentheorie von Foa & Foa (1980) zurückgreifend, welche sechs Kategorien von Ressourcen defi- niert, die in sozialen Austauschprozessen eine Rolle spielen, ordnen Shnabel und Nadler (2008) die Opferbedürfnisse der Kategorie „Status” zu, und die Täterbedürfnisse der Kategorie „Liebe”. Aus diesen asymmetrischen (man könnte auch sagen, komplementären) Bedürfnissen leiten sie dann ab, wel- che Handlungen am ehesten zu Versöhnung beitragen können. In mehreren ihrer Studien zeigte sich, dass Menschen in der Opferrolle nach einem Übergriff dann am ehesten zu einer Versöhnung bereit sind, wenn sie vom Täter Empowerment -Botschaften erhalten, wenn also der Täter ihre Kompe- tenz anerkennt. Menschen in der Täterrolle hingegen sind am ehesten zu ei- ner Versöhnung bereits, wenn das Opfer ihnen eine gewisse Akzeptanz ent- gegenbringt und ausdrückt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1 (aus: Shnabel & Nadler, 2015, S. 479), needs-based model of reconciliation

Ein damit zusammenhängender Mechanismus, der laut dem NBRM ebenfalls die Versöhnungsbereitschaft fördert, ist der sog. apology-forgi- veness cycle (Shnabel & Nadler, 2008, S. 116). Durch eine Entschuldigung des Täters wird das Bedürfnis des Opfers nach Macht befriedigt, weil der Tä- ter dadurch die eigene Schuld eingesteht, welche ihm allein das Opfer wieder abnehmen kann. Wenn das Opfer wiederum vergibt (und dies auch zum Aus- druck bringt), hebt es die “moralische Unterlegenheit” des Täters auf. Es gibt zwei Wirkpfade, wie dieser Zyklus die Bereitschaft zu Versöhnung fördert. Zum einen erlaubt er die Wiederherstellung einer positiven Identität, also weg vom „hilflosen Opfer” und „unmoralischen Täter”, zum anderen wird auch Ver- trauen wieder hergestellt: der Täter kann davon ausgehen, dass es nicht zu Racheakten kommen wird; das Opfer fühlt sich in seinem Wert als Mensch anerkannt und kann somit davon ausgehen, dass der Übergriff sich nicht wie- derholen wird. Abbildung 1 bietet eine übersichtliche Darstellung dieser Zu- sammenhänge.

Wie bereits in Abschnitt 2.1 erwähnt, geht das NBMR nicht zwangsläu- fig von einer eindimensionalen Opfer-Täter-Rollenverteilung aus, sondern be- rücksichtigt die Möglichkeit einer Rollendualität. In einem Experiment von Si- manTov-Nachlieli & Shnabel (2014) wurden bei manchen Teilnehmern zu- gleich Opfer- und Täterrolle induziert, was theoriekonform sowohl das Be- dürfnis nach Macht und Agency als auch nach einem positiven moralischen Image erhöhte. Interessanterweise hatte aber nur ersteres einen Einfluss auf das Verhalten; Teilnehmer mit dualen Rollen verhielten sich ähnlich wie Teil- nehmer mit „einfachem” Opferstatus und versuchten ihr erhöhtes Bedürfnis nach Macht und Agency mit Rachsucht zu stillen. Dieses Phänomen wurde auch in Intergruppenkontexten repliziert (im Rahmen desselben Experimen- tes als auch in einer Untersuchung von Mazziotta, Feuchte, Gausel & Nadler, 2014).

Das NBMR ist wohl die am intensivsten erforschte sozialpsychologi- sche Versöhnungstheorie und wurde bisher empirisch recht gut bestätigt. Es bietet sowohl schlüssige Erklärungen als auch Prädiktoren für die Versöh- nungsbereitschaft bei Opfer und Täter. Dementsprechend werden in Abschnitt 4.1.1 auch einige Studien aus dem Forscherkreis um Nurit Shnabel und Arie Nadler herum näher dargestellt.

2.2.2 FREE- und REACH-Modelle

Die Forschungsgruppe um Everett Worthington gehört zu den Pionie- ren der Vergebungs- und Versöhnungsforschung. Unter dem Stichwort Hope- Focused Couple Enrichment haben sie verschiedene therapeutische und psychoedukative Interventionen für Paare entwickelt, die allgemeine Bezie- hungs-, Kommunikations- und Problemlösefähigkeiten fördern (z.B. HOPE / Handling Our Problems Effectively; vgl. Abschnitt 4.2.1) oder auch konkret Vergebungs- und Versöhnungsprozesse anleiten sollen. Letzteres ist das Ziel des FREE-Programms (Forgiveness and Reconciliation through Experiencing Empathy; Worthington & Drinkard, 2000). Darin wird Versöhnung metapho- risch als Brücke zwischen beiden Partnern konzeptualisiert, welche aus sechs Planken besteht. Die Planken stellen die einzelnen Schritte in Richtung Versöhnung dar, und beinhalten (1.) die Entscheidung, sich zu versöhnen, (2.) sog. Weichheit, also eine gewisse Bereitschaft, einander offen und ver- letzlich (statt defensiv und anklagend) zu begegnen, (3.) Vergebung, (4.) die Umkehrung der “negativen Kaskade”, die entsteht, wenn eine Beziehung sich schrittweise verschlechtert, (5.) den effektiven Umgang mit (unvermeidbaren) Vertrauensbrüchen sowie schließlich (6.) die aktive Kultivierung von Liebe durch positive Interaktionen. Der dritte Schritt, Vergebung, besteht wiederum aus den fünf Schritten des REACH-Programms (Worthington, 2003): Recall the hurt (Auseinandersetzung mit dem Konflikt oder Übergriff, der verziehen werden sollen), Empathize with the transgressor, Altruistic gift of forgiveness (Betonung der Freiwilligkeit des Vergebungsprozesses), Commit publicly to the forgiveness experienced, und schließlich Hold on to forgiveness when you doubt. Beide Programme, REACH und die Bridge to Reconciliation, sowie ihre Kombination in Form von FREE, wurden von dem Forschungsteam um Worthington herum in verschiedenen Studien untersucht und validiert, wo- durch ein nicht unerheblicher Beitrag zur psychologischen Versöhnungslitera- tur geleistet wurde. In Abschnitt 4.2.1 werden zwei dieser Studien genauer besprochen.

2.2.3 Weitere relevante Theorien

In diesem Abschnitt soll eine kurze Übersicht einiger weiterer Theorien gegeben werden, die in der Versöhnungsforschung hinzugezogen werden. Als erstes ist das Bindungsmodell von Bowlby (1988) zu nennen, der sich ur- sprünglich mit dem Bindungsverhalten von Kindern gegenüber ihren Eltern beschäftigte, dies aber später auch auf partnerschaftliche Beziehungen zwi- schen Erwachsenen übertrug. Greenberg, Warwar und Malcolm (2010) bei- spielsweise konzipieren partnerschaftliche Konflikte als Bindungsverletzun- gen und Versöhnung entsprechend als (Wieder-)Aufbau einer sicheren Bin- dung aneinander.

Caryl Rusbults (1983) Investmentmodell enger Beziehungen wird e- benfalls in der Versöhnungsforschung vewendet (z. B. McCullough et al., 1997, S. 322). Es basiert auf austauschtheoretischen Überlegungen und be- sagt, dass die Zufriedenheit und das Commitment in Partnerschaften von den subjektiv erlebten Kosten und Nutzen der Beziehung, den eigenen „Investitio- nen” in die Beziehung sowie den verfügbaren Beziehungsalternativen abhän- gig sind. Wie später noch zu sehen sein wird, hängen Zufriedenheit und Commitment wiederum eng mit Versöhnung zusammen. Ein weiteres aus- tauschtheoretisches Modell, die Ressourcentheorie von Foa & Foa (1980), wurde bereits in Abschnitt 2.2.1 im Kontext des NBMR erwähnt.

Schließlich soll noch die Attributionstheorie von Heider (1958) genannt werden. Sie analysiert die „Wahrnehmung personaler Kausalität” (Staedtler, 1998, S. 716), also die Art und Weise, wie wir uns das Verhalten anderer Menschen intuitiv erklären – und auch, wie diese Attributionen wiederum un- sere Einstellungen und Verhaltensweisen diesen Menschen gegenüber be- einflussen. In Abschnitt 4.1.1.2 wird es beispielsweise um den Einfluss von Schuldzuschreibungen auf den Versöhnungsprozess gehen.

2.2.4 Forschungsmethoden

Mit einigen wenigen Ausnahmen basiert die gesamte Versöhnungs- und Vergebungsforschung auf Selbstauskünften der Teilnehmer, und zwar meistens im Rahmen der Szenario- oder der Recall-Methode. Bei der Szena- rio- (auch Vignetten-)Methode erhalten die Teilnehmer kurze Texte, die einen Vorfall, Konflikt oder Übergriff schildern. Sie werden gebeten, sich in die Rolle eines der Charaktere (Opfer oder Täter) hineinzuversetzen und bearbeiten aus dieser Perspektive heraus die Fragebogenitems. Dies erlaubt zum einen die gezielte Manipulation der UV und zum anderen eine große Bandbreite an Situationen. Bei der Recall-Methode werden die Teilnehmer instruiert, sich an einen Vorfall zu erinnern, den sie selbst erlebt haben (als Opfer oder Täter) und von ihren eigenen, tatsächlich erfahrenen Reaktionen zu berichten. Ein Problem der beiden Methoden ist, dass sie sich komplett auf die Selbstaus- künfte der Teilnehmer verlassen, was hinsichtlich der sozialen Erwünschtheit von prosozialen Verhaltens- und Erlebensweise wie Vergebung und Versöh- nung wahrscheinlich Verzerrungen mit sich bringt.

2.3 Fragestellungen

Die vorgestellten Theorien und Modelle zeigen viele verschiedene Perspektiven auf die Themen Versöhnung und Vergebung auf. Obwohl es sich um ein relativ junges Forschungsfeld handelt, liegt durchaus eine Viel- zahl von Befunden vor – jedoch werden sowohl in Theorie als auch Empirie, wie bereits dargestellt, die beiden Konstrukte häufig konfundiert. Insgesamt liegt der Forschungsfokus viel stärker auf Vergebung als explizit auf Versöh- nung – das vorliegende Review will dazu beitragen, diesen Mangel auszu- gleichen. Dazu wurden einschlägige Forschungsbefunde hinsichtlich folgen- der Fragen untersucht und zusammengefasst: (1) Welche Faktoren eignen sich als Prädiktoren für interpersonale Versöhnung? (2) Welche Interventi- onsansätze gibt es, um Versöhnung zu fördern?

Wie diese Fragen beantwortet werden sollen – insbesondere, welche Studien in das Review aufgenommen wurden und welche nicht – wird im nächsten Abschnitt erläutert.

3. Methode

3.1 Ein- und Ausschlusskriterien für Literatur

Es wurde nach Artikeln gesucht, die mithilfe (1) empirisch-wissen- schaftlicher, (2) theoretisch fundierter Studien (3) aus einer sozialpsychologi- schen Perspektive (4) entweder Prädiktoren oder Interventionen (5) für inter- personale Versöhnung untersuchen. Ausgeschlossen wurden (a) Artikel aus der Intergruppenforschung, (b) Politikwissenschaft und (c) Theologie; sowie Studien, die sich (d) ausschließlich mit Vergebung beschäftigen oder (e) de- ren Stichprobe aus Kindern oder Jugendlichen besteht.

Kriterium (c) stand nicht zwangsläufig im Gegensatz zu den Ein- schlusskriterien 1-3. Einige der verwendeten Primärartikel sind in theologi- schen Zeitschriften erschienen und schließen religiöse Perspektiven mit ein, tun dies aber im Rahmen empirisch-sozialpsychologischer Studien, die den entsprechenden wissenschaftlichen Ansprüchen durchaus gerecht werden. Kriterium (e) wurde gewählt, weil davon auszugehen ist, dass sich das Sozial- leben von Kindern und Jugendlichen doch sehr von Erwachsenen unter- scheidet und eine Vergleichbarkeit der Studien nicht mehr gewährleistet wäre. Kriterium (d) schließlich war durchaus eine Herausforderung, weil es zum ei- nen weitaus mehr Literatur über Vergebung als über Versöhnung gibt, und zum anderen die beiden Konstrukte häufig konfundiert werden. Um dafür eine möglichst sinnvolle Lösung zu finden, wurden durchaus auch Studien berück- sichtigt, die sich explizit mit Vergebung beschäftigen, wenn die entsprechen- den Operationalisierungen sich auch mit den in Abschnitt 2.1 beschriebenen Versöhnungs definitionen vereinbaren lassen.

Für den Theorieteil wurden die Ein- und Ausschlusskriterien gelockert und beispielsweise auch reine Vergebungsliteratur, Meta-Analysen, theoreti- sche Artikel und Handbücher mit einbezogen.

[...]

Ende der Leseprobe aus 64 Seiten

Details

Titel
Versöhnung im interpersonalen Kontext. Prädiktoren und Interventionsansätze
Hochschule
FernUniversität Hagen
Note
1.3
Autor
Jahr
2016
Seiten
64
Katalognummer
V517313
ISBN (eBook)
9783346115089
ISBN (Buch)
9783346115096
Sprache
Deutsch
Schlagworte
community psychology, reconciliation, versöhnung
Arbeit zitieren
Malwina Ulrych (Autor:in), 2016, Versöhnung im interpersonalen Kontext. Prädiktoren und Interventionsansätze, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/517313

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