Soziale Aspekte in ausgesuchten Werken Ödön von Horváths vor ihrem zeitgeschichtlichen Hintergrund


Examensarbeit, 2004

72 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Literaturauswahl

2. Der zeitgeschichtliche Hintergrund nach dem ersten Weltkrieg als wichtiger Bezugspunkt in Horváths Werk

3. Das Gesellschaftsbild Ödön von Horváths in Die Bergbahn, Kasimir und Karoline, Glaube Liebe Hoffnung und in Geschichten aus dem Wienerwald
3.1. Das Personal
3.1.1. Zusammensetzung des Personals
3.1.2. Mittelstand und Kleinbürgertum

4. Kennzeichnung des gesellschaftlichen Lebens
4.1. Kapitalismus statt Menschlichkeit
4.2. Unterdrücker und Unterdrückte
4.3. Die Frau als Opfer
4.4. Verlogenheit und Fassadenhaftigkeit
4.5. Gewalt
4.6. Gesellschaftlicher Aufstieg und Diffamierung

5. Die Zwänge der gesellschaftlichen Moral-und Wertvorstellungen
5.1. Die Ehe als ‚Zwangsjacke’ der Frau
5.2. Erhaltung der monogamen Ehe
5.3. Streben nach Sittlichkeit
5.4. Materielle Sicherheit

6. Zusammenfassung des ersten Teils

7. Die Demaskierung des Bewusstseins
7.1. Der Jargon der Uneigentlichkeit als Sprache in Horváths Stücken
7.2. Regieanweisungen
7.3. Die Todesbilder in Horváths Volksstücken

8. Zusammenfassung des zweiten Teils

Schlusswort

Anhang

Literaturangaben

Vorwort

Sind wir denn schon mitten drin im Weltuntergang?[1]

Diese Frage haben sich die Menschen bis heute immer wieder gestellt, gerade wenn es um Probleme ging, von denen sie glaubten, sie seien so schwerwiegend, dass es keinerlei Ausweg aus der Misere geben könnte. Besonders bei Naturkatastrophen, Attentaten oder politischen Machtkämpfen wurden in der Vergangenheit immer wieder Worte nach einem möglichen Weltuntergang laut. Wenn sich nun aber der Schriftsteller Klaus Mann die Frage stellt, ob die Menschheit sich bereits vor dem Ende der Welt befände, so hat dies in gewisser Weise auch den Hintergrund eines vermeintlichen Attentats, bei dem der Dichter und Autor Ödön von Horváth am 1. Juni des Jahres 1938 im jungen Alter von 37 Jahren erschlagen wurde. So geschehen auf den Champs-Elysées in Paris, nachdem ein Unwetter aufgezogen war. Der Blitz schlug gerade in den Baum ein, an welchem Horváth in diesem Augenblick vorüberspazierte. Ein morscher Ast brach ab und traf den Autor tödlich am Hinterkopf. Diese Meldung vom unglaublichen und plötzlichen Tode Horváths löste besonders unter seinen Verwandten und Freunden Fassungslosigkeit und Entsetzen aus. Es gab Stimmen, die behaupteten, dass die Tragik der Todesumstände die Tragik in seinen Werken wiederspiegle. Sein Freund Franz Werfel konstatierte in seinem Nachwort, dass die Art des Sterbens aus seinen Stücken entnommen sein könnte.

Alle Freunde Ödön von Horváths fühlten: Dieser Tod ist kein Zufall. Mancher sagte: Dieser Tod passt zu ihm.[2]

So außergewöhnlich die Umstände seines Ablebens auch waren, so außergewöhnlich gestaltete sich sein Leben. Als Sohn des Diplomaten Dr. Ödön Josef von Horváth und seiner Frau Maria Hermine von Horváth geboren, war sein Leben schon als Kind sehr abwechslungsreich. Er lernte die verschiedensten Städte kennen, wie beispielsweise seine Geburtstadt Fiume, Budapest, Wien, München, Berlin oder aber Murnau und somit auch Länder wie Ungarn, Österreich, Deutschland oder die Schweiz. Durch die unzähligen Reisen, die er zwangsläufig aufgrund des Berufes seines Vaters unternehmen musste, genoss er aber auch das Privileg, auf unterschiedliche Kulturen und Menschen zu treffen. Das, was Horváth und sein Werk heute noch auszeichnet und was in gewisser Weise damals neu in der literarischen Welt war, besteht darin, dass er seine Geschichten, Schauplätze und besonders seine Figuren sehr realistisch, für manchen zu realistisch gestaltet. Es liegt ihm fern, das große Geschehen in seinen Werken zu thematisieren, sondern er versucht vielmehr das, was um ihn herum passiert, die Menschen, die Umstände der Zeit, seien sie wirtschaftlicher, politischer oder gesellschaftlicher Art, in unbeschönigter Weise darzustellen.

Sein Segen, den er dem Leben gab, war die Darstellung dessen, was um uns vorgeht, und er holte nicht den Kosmos, sondern die kleine Welt auf die Bühne, die Episode, in der das ganze Leben nicht weniger ist als in Stücken, die den Sternenraum mit umfassen.[3]

Horváths Stücke waren wegen seines typischen Realismus oft verpönt. Viele Regisseure weigerten sich, diese auf der Bühne zu inszenieren, und dennoch blieb der Autor seiner Linie treu. Er beugte sich eben nicht den Zwängen, wie sein Personal in seinen Werken, die die Gesellschaft der damaligen Zeit ihm auferlegen wollte. Erst Jahre nach seinem Tod setzte eine Art Horváth- Renaissance ein, indem immer mehr ihn zu verstehen begannen und somit auch sein Schaffen würdigten. Einer der bereits in früherer Zeit schon eine hohe Meinung von Horváth besaß, war Klaus Mann. In einer Art Nachwort stellt er Gedanken an, wieso gerade Horváth verunglücken musste.

Denn Ödön von Horváth ist einer unserer Besten gewesen. Er war ein Dichter, nur wenige verdienen diesen Ehrennamen. Die Atmosphäre echter Poesie war in jedem Satz, den er geschrieben hat, und sie war auch um seine Person, war in seinem Blick, seiner Rede.[4]

Schon beim Lesen seiner Volksstücke zeigt sich eine gewisse Präferenz für bestimmte Themengebiete, die er von seinem Personal aufgreifen und äußern lässt. Dabei fällt stark seine kritische Haltung gegenüber der zeitgenössischen Gesellschaft auf. Kurz gesagt scheint es ihm ein besonderes Anliegen gewesen zu sein, die Ungerechtigkeit, Unmenschlichkeit, Verlogenheit und den Egoismus, vor allem des Mittelstandes und Kleinbürgertums, möglichst unzensiert aufzuzeigen.

Horváth zog also mit seinen „Volksstücken“ die ästhetische Konsequenz aus der Beschaffenheit individuellen Bewusstseins(...) und das heißt aus der Beschaffenheit der Gesellschaft seiner Zeit (...). Die im Zeichen des Profits durchrationalisierte Gesellschaft ist eine von Lemuren, sie beseitigt systematisch alles Lebendige, denn sie vermag ihrem Prinzip gemäß (Reduktion auf Quantität) nur Totes zu integrieren. Sie begegnet dem noch lebendigen Menschen als übermächtiger Apparat, dem er hoffnungslos ausgeliefert ist.[5]

Die obengenannte Aussage Herbert Gampers wird im folgenden anhand einiger Werke Ödön von Horváths auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Bereits von Gamper angedeutet, muss in besonderem Maße auf äußere Einflussfaktoren und auf die zeitgeschichtlichen Geschehnisse Bezug genommen werden, die sehr stark auf die Verhaltensweisen und Ansichten der Menschen eingewirkt haben dürften.

1. Literaturauswahl

Es würde zu weit führen, wenn man alle Werke aus der Feder Ödön von Horváths zur Analyse der in seinen Schriften angeführten sozialen Aspekte heranziehen würde. Aus diesem Grund war es zwingend notwendig, eine Selektion vorzunehmen und sich somit auf einige einschlägige Titel zu konzentrieren. Sehr passend erschien es mir, seine dramatischen Stücke, vielmehr als seine Romane, in gesellschaftlicher Hinsicht näher zu beleuchten. Zu diesem Zweck entschied ich mich für die beiden Volksstücke Kasimir und Karoline und Geschichten aus dem Wiener Wald, für den kleinen Totentanz Glaube Liebe Hoffnung, sowie für die Posse Rund um den Kongress und für eines seiner ersten Werke, dem Volksstück Die Bergbahn.

Es gibt einige Merkmale, die die eben genannten Titel zueinander in Beziehung setzen. Übereinstimmende Züge weisen zum einen das Personal mit ihren Handlungs - und Sichtweisen auf, aber auch Figurenbezeichnungen und Schicksale ähneln einander.

So behandeln beispielsweise die ersten vier der genannten Werke das Scheitern und die Verzweiflung einer Frau in einer patriarchalischen Welt und Gesellschaftsform, deren Suche nach Liebe und Glück eben an und durch die Gesellschaft vergebens bleibt. Die weibliche Hauptfigur wird im Gegenzug nur noch weiter in ihr Unglück gestürzt oder sogar in den Tod getrieben. Kurz gesagt ist es in allen Fällen die stark materialistische Gesellschaft, die viele schwerwiegende Probleme aufwirft und die Menschen in ihrer Not immer weiter ausbeutet, sogar bis in die Ausweglosigkeit treibt. Horváth beschreibt Schicksale, oftmals ausgelöst durch die Unmenschlichkeit und Gleichgültigkeit der Mitmenschen, so wie auch er sie teilweise am eigenen Leib in der Zwischenkriegszeit und im Nationalsozialismus erleben musste, den Egoismus gegenüber dem Nächsten, physische und psychische Gewalttaten, insbesondere ausgeübt auf Frauen und auf diejenigen Mitmenschen, die nicht mit dem Gesellschaftsideal und den moralischen Wertvorstellungen der damaligen Zeit konform zu sein schienen.

In dieser Arbeit gilt es, die eben genannten Gesichtspunkte aus den fünf selektierten Stücken des Dramatikers Horváth anhand der Figurenkonstellationen, der sprachlichen Äußerungen des Personals und deren Handlungsweisen innerhalb jener kapitalistischen Gesellschaft in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen herauszufiltern und vor allem zwischen den Zeilen zu lesen.

Horváths Werk dahingehend heranzuziehen, damalige soziale Gegebenheiten und Strukturen, sowie das zwischenmenschliche Miteinander, oder sollte man besser sagen, Gegeneinander, näher zu beleuchten, scheint geradezu ideal. Trotzdem die realistische Art seiner Schilderung nur allzu häufig auf Kritik seitens vieler Zeitgenossen gestoßen war, zieht Peter Handke ein positives Resumée. Im Vergleich zu seinem Zeitgenossen Bertold Brecht und dessen Art des Schreibens äußert er sich folgendermaßen über Horváth:

Ich ziehe Ödön von Horváth und seine Unordnung und unstilisierte Sentimentalität vor. Die verwirrenden Sätze seiner Personen erschrecken mich, die Modelle der Bösartigkeit, der Hilflosigkeit, der Verwirrung in einer bestimmten Gesellschaft werden bei Horváth viel deutlicher. Und ich mag diese irren Sätze bei ihm, die die Sprünge und Widersprüche des Bewusstseins zeigen, wie man das sonst nur bei Tschechow oder Shakespeare findet.[6]

Was in jenem Zitat bereits anklingt, ist die Ungewöhnlichkeit der sprachlichen Gestaltung bei Horváth. Die Sprache wird zu einem essentiellen, wenn nicht sogar zum wichtigsten Medium, um seine Figuren sowohl gesellschaftlich als auch menschlich zu klassifizieren. Es wird sich im Verlauf der Analyse zeigen, dass gerade durch sprachliche Äußerungen, getätigt durch seine Personen in den einzelnen Stücken, oder durch den Autor selbst mittels seiner Regieanweisungen, der Dramatiker sein Bestreben nach der Demaskierung des Bewusstseins durchführen kann.

Die Fassadenhaftigkeit sowohl der Schauplätze, man denke zum Beispiel an das Anatomische Institut oder das Wohlfahrtsamt in Glaube Liebe Hoffnung, im besonderen aber seiner Figuren wie Alfred, Zauberkönig, Oskar in den Geschichten aus dem Wienerwald oder aber dem Präparator, dem Schupo Alfons Klostermeyer in Glaube Liebe Hoffnung, ist in allen fünf ausgesuchten Werken mehr oder weniger ausgeprägt vorhanden und eignet sich deshalb gut, um die sozialen Aspekte bei Horváth herauszustellen.

Sehr wichtige Gesichtspunkte, die hier weiterhin anzusprechen und die allesamt auch Themenbereiche innerhalb jener Werke sind, beziehen sich auf die problematische Stellung der Frau, auf verschiedenste Gewalttaten, vor allem durch die männlichen Personen der Stücke verübt, auf den gesellschaftlichen Auf -und Abstieg und, zu guter letzt, auf die aufgebürdeten Zwänge der gesellschaftlichen Moral- und Wertvorstellungen.

Diese und weitere Charakteristika jener sozialen Schicht des Mittelstandes, respektive des Kleinbürgertums, die Horváth als Milieu, in der sich seine Figuren bewegen, auswählt, sollen als Hauptbestandteil der Arbeit diskutiert und mit diversen Zitaten aus den hier vorliegenden fünf Titeln untermauert werden.

2. Der zeitgeschichtliche Hintergrund nach dem ersten Weltkrieg als wichtiger Bezugspunkt in Horváths Werk

Wenn man die Lebzeiten des Dramatikers Horváth betrachtet, 1901-1938, so weiß man, welche enormen kriegerischen, verbrecherischen und ökonomisch sehr problematischen Zeiten dieser Mann erleben musste. In einer autobiographischen Notiz, entstanden gegen Ende der zwanziger Jahre, reflektiert der Autor seine Situation, denn obwohl er in behüteten familiären Verhältnissen aufgewachsen ist, gingen auch an ihm die politischen Ereignisse nicht spurlos vorüber:

Mein Leben beginnt mit einer Kriegserklärung.(...) Als der sogenannte Weltkrieg ausbrach, war ich dreizehn Jahre alt. An die Zeit vor 1914 erinnere ich mich nur wie an ein langweiliges Bilderbuch. Alle meine Kindheitserlebnisse habe ich im Krieg vergessen.[7]

Wenn man heute Horváths Stücke liest und darüber Reflexionen anstellt, ist es unabdingbar, die zeitgeschichtlichen Ereignisse, die die Menschen damals direkt betroffen hatten, zu berücksichtigen. Der erste Weltkrieg brachte in der Folge viele Missstände politischer und wirtschaftlicher Art mit sich. Es gab kaum jemandem, der durch den Krieg nicht Haus und Hof, oder seine Arbeit verloren hatte. Der große materielle Verlust war sicherlich schwerwiegend, viel schmerzlicher aber war es, die Nachricht der im Krieg gefallenen Freunde und Familienangehörigen zu erhalten. Auffallend ist aber, dass Horváth eben nicht das historische Ereignis des ersten Weltkrieges an sich oder dessen politischen Ausgang und Verlauf thematisiert, sondern seine verheerenden Folgeerscheinungen, wie sie besonders vom Kleinbürgertum erfahren werden mussten.

Nicht die großen historischen Ereignisse, sondern die Ungeheuerlichkeiten des täglichen Lebens im und mit dem Krieg prägen wohl letztlich auch das Bild, das sich ein junger Mensch wie Horváth von dieser Zeit gemacht hat.[8]

Es handelt sich demnach nicht um historisch exakte Schilderungen großer Geschehnisse. Das, was Horváth am Herzen liegt, und das, was er seinem Publikum aufzeigen möchte, sind die alltäglichen Ereignisse und Probleme, mit denen in erster Linie die Bürgerklasse der unteren und mittleren Schicht umgehen musste.

Welche zeitgeschichtlichen Hintergründe lassen sich nun bei Die Bergbahn, Glaube Liebe Hoffnung, Kasimir und Karoline, Rund um den Kongress und Geschichten aus dem Wiener Wald erkennen?

Anlass zu Horváths erstem Volksstück in drei Akten mit dem Titel Die Bergbahn (1927 uraufgeführt), eine Überarbeitung seiner Revolte auf Côte 3018, war ein Ereignis, das im Mai 1925 seinen Ausgang genommen hatte.

In Ehrwald in Tirol hatte man mit dem Bau einer Seilschwebebahn zur Zugspitze begonnen, die am 26. Juli 1926 feierlich eingeweiht wurde. Im Mittelpunkt des Horváthschen Werkes jedoch steht nicht der Bau jener Bahn an sich, es liegt hier wiederum keine historische Schilderung vor. Die Intention des Autors ist es, die Schwierigkeiten und Schattenseiten eines derartigen Unterfangens darzulegen. Wie der Staffelsee-Bote in seiner Ausgabe vom 1. Mai 1926 sinngemäß berichtete, kam es beim Bau der Bahn zu erheblichen Differenzen zwischen den Arbeitern und der Baufirma, die nur durch Polizeigewalt geschlichtet werden konnten. Das Unerhörte dabei war, dass der Bau der Zugspitzbahn damals drei Todesopfer forderte, über die später bei der Einweihungsfeier und zugleich der Ruhmesfeier für das Unternehmen und den Ingenieur niemand ein Wort verloren hatte.

SLIWINSKI: Neuli habens a Ingineur gfeiert.

MAURER: In der Zeitung is gstanden, er sei unsterbli.

SIMON: Aber von die Totn schreibt kaner!

REITER: Die Totn san tot.[9]

In diesem Werk illustriert der Autor das Bild vom Ausbeuter und Ausgebeuteten, er illustriert die böse Dreifaltigkeit Geld (Aufsichtsrat) - leitender Angestellter (Ingenieur) - und Arbeiter.[10]

Horváth zeigt hier ganz deutlich, dass er

(...) mit großer Subtilität und einer verblüffenden ökonomischen Kenntnis das kapitalistische System gewissermaßen donnergrollend durchschaut.[11]

Was die verbleibenden Stücke Glaube Liebe Hoffnung, Kasimir und Karoline, Rund um den Kongress und Geschichten aus dem Wiener Wald betrifft, so gründet deren zeitgeschichtlicher Hintergrund weniger auf einem konkreten Ereignis, als auf den ökonomischen Folgeerscheinungen nach Kriegsende. Nach der Besetzung des Ruhrgebiets, dem damals wichtigsten deutschen Industriegebiet, durch belgische und französische Truppen mussten große Teile der Bevölkerung hungern. Die Reichsregierung rief daraufhin zum passiven Widerstand auf. Über einen Zeitraum von acht Monaten war das öffentliche Leben praktisch nicht existent. Die Kapitulation der Reichsregierung erfolgte schließlich am 26. September 1923. Der nächste Kampf der Bevölkerung sollte nicht lange auf sich warten lassen. Da die Regierung zu große Mengen an Geld hatte drucken lassen und somit die Geldmenge drastisch erhöht worden war, waren die Folgen verheerend. Die Mark verlor stündlich an Wert, die Löhne mussten schließlich mit Körben abgeholt werden. Ein Brot kostete zuletzt 428 Milliarden Mark. Viele Menschen verloren ihre gesamten Ersparnisse im Zuge der täglich wachsenden Inflation und wurden in tiefes Elend gestürzt. Nachdem die Regierung im November 1923 die Inflation mittels einer Währungsreform eindämmen konnte, war die Misere des einfachen Bürgers noch nicht beseitigt. Besonders ab der Weltwirtschaftskrise 1929 machten Massenarbeitslosigkeit und daraus resultierende, immer größere finanzielle Schwierigkeiten, den Menschen das Leben kaum noch lebenswert.

Horváth erlebte selbst die Probleme seiner Zeit, sah das Elend seiner Mitmenschen und verarbeitete dieses in seinen Stücken.

Wie auf einem Röntgenschirm erscheinen in Horváths Werk jene gesellschaftlichen und ökonomischen Phänomene, die die Massen, mithin das Kleinbürgertum seiner Zeit bedrohen.[12]

In Kasimir und Karoline, Glaube Liebe Hoffnung und in den Geschichten aus dem Wiener Wald wird sehr stark das Problem der Arbeitslosigkeit und der wirtschaftlichen Nöte der Kleinbürger thematisiert. Aber auch der Verlust jeglicher Art von Menschlichkeit, der Verlust der Achtung seiner Mitmenschen und jenes enorme Bestreben der Gesellschaft nach materiellen Besitztümern werden nicht vergessen.

In der Posse Rund um den Kongress wird eine weitere Erscheinung abgehandelt: die Prostitution. Sich zu prostituieren war für junge Frauen scheinbar nicht selten ein Weg, ihrer wirtschaftlichen Misere zu entfliehen. Die scheinheiligen Maßnahmen des internationalen Kongresses zur Bekämpfung des Mädchenhandels und der Prostitution, die in den Mittelpunkt jener Posse gerückt ist, stehen stellvertretend für die allgemeine Ignoranz der Zeitgenossen Ödön von Horváths gegenüber seinen Mitmenschen.

Die sozialen Aspekte, die der Dramatiker in seinen Stücken ans Licht zu bringen versucht, sind demnach keineswegs aus der Luft gegriffen. Seine Figuren, deren Ansichten und Handlungsweisen, haben den Sinn, die Menschen für die Zu - bzw. Missstände der Zeit zugänglich zu machen. Sie sollen gerade nicht die Augen vor der Realität verschließen. Vermutlich liegt auch die mangelnde Rezeption Horváths und seiner Stücke genau darin begründet. In einem Interview am 6.4.1932 findet er folgende Erklärung:

Man wirft mir vor, ich sei zu derb, zu ekelhaft, zu unheimlich, zu zynisch und was es dergleichen noch an soliden, gediegenen Eigenschaften gibt- und man übersieht dabei, dass ich doch kein anderes Bestreben habe, als die Welt so zu schildern, wie sie halt leider ist. (...)Der Widerwille eines Teiles des Publikums beruht wohl darauf, dass dieser Teil sich in den Personen auf der Bühne selbst erkennt.[13]

Der folgende Hauptteil wird sich gezielt mit der gesellschaftskritischen Seite bei Horváth befassen, wird spezifische Kennzeichen des sozialen Miteinanders herausstellen und die oftmals schrecklichen Konsequenzen, die sich durch die sozialen Moral–und Wertvorstellungen für den einfachen Bürger und die Frau ergeben hatten, darlegen.

3. Das Gesellschaftsbild Ödön von Horváths in Die Bergbahn, Kasimir und Karoline, Glaube Liebe Hoffnung, Rund um den Kongress und in Geschichten aus dem Wiener Wald

Im Laufe vieler Jahrhunderte hat man immer wieder erlebt, und man muss hinzufügen, glücklicherweise, wie sich die Gesellschaft in vielerlei Hinsicht gewandelt hat. Würde man einen Vergleich zwischen der Gesellschaftsform heute und der zu Lebzeiten des Schriftstellers Horváth anstellen, wird man erneut einige gravierende Unterschiede feststellen können. Zu diesem Zweck betrachten wir im Zuge einer gesellschaftskritischen Analyse der oben angesprochenen fünf Titel aus dem Werke Horváths also zweierlei Aspekte.

Zum einen ist es notwendige Voraussetzung, sich in einem ersten Schritt über die Zusammensetzung des Personals klar zu werden, das heißt, sich die Anzahl der Figuren, das Verhältnis zwischen Männern und Frauen, sowie sich eine mögliche Typisierung des Personals zu vergegenwärtigen.

Zum anderen ist in einem zweiten Schritt eine schichtspezifische Einordnung durchzuführen um darüber hinaus zu erfahren, in welchem sozialen Milieu sich die Figuren bewegen.

Zur Bearbeitung des ersten Hauptteils, bestehend aus der Kennzeichnung des sozialen Lebens, wird besonders die Zuordnung des Personals im Hinblick auf die sozialen Schichten eine essentielle Bedeutung gewinnen.

3.1. Das Personal

3.1.1. Die Zusammensetzung des Personals

In allen fünf ausgesuchten Volksstücken des Dramatikers zeichnet sich eine klare Tendenz in der Zusammensetzung des Personals ab. In allen Fällen setzt sich die Gesellschaft aus Frauen und Männern zusammen, wobei an dieser Stelle erwähnt sei, dass, mit Ausnahme der Geschichten aus dem Wiener Wald, die Zahl der männlichen Figuren eindeutig überwiegen. In Die Bergbahn ist es lediglich Veronika, die als einzige Frau in einer reinen Männergesellschaft auftritt.

Die Geschichten aus dem Wiener Wald nehmen unter den sämtlichen hier zu diskutierenden Volksstücken eine Ausnahmestellung ein, indem nämlich dort die Zahl der Frauen die der männlichen Personen knapp übersteigt. Neben einigen Protagonisten treten zudem Rand - und Nebenfiguren in Erscheinung, die jedoch nicht nur atmosphärische Funktion ausüben, sondern von Horváth mit ganz bestimmten Missionen beauftragt worden sind, oftmals um die Protagonisten oder andere Figuren in den Stücken mit unterschiedlichsten Mitteln, sei es durch ein Gedicht des kleinen Mädchens Ida, oder durch die verschiedenen Walzer, die die Realschülerin in den Geschichten aus dem Wienerwald auf dem Klavier spielt, an entscheidenden Stellen unterbricht oder wieder aufnimmt, zu demaskieren.

Piero Oellers hat sich in seiner Analyse Das Welt -und Menschenbild im Werk Ödön von Horváths eingehend mit den Figuren bei Horváth beschäftigt. Dabei war es ihm wichtig, die Frauen und Männer der Volksstücke in verschiedene Typen zu klassifizieren. Als Ergebnis seiner Typisierung unterteilte er das weibliche Personal in die Kategorien der Reinen, Reifen und Hexen. Im Grunde erscheint diese Klassifizierung auch für die Frage nach der Zusammensetzung der Gesellschaft bei Horváth hilfreich. Auf die hier vorliegenden Volksstücke bezogen, zählen nach Oellers, Marianne, Erna, Elisabeth und das Fräulein aus Rund um den Kongress zur Gruppe der Reinen, Valerie, Maria, Frau Amtsgerichtsrat und Luise Gift zu den Reifen, die Großmutter, die Baronin, Irene Prantl, die gnädige Frau und die Vorsitzende zur Kategorie der Hexen. Zur kurzen Charakterisierung dieser drei Gruppen wäre folgendes hinzuzufügen.

Die Reinen mit ihrer Sehnsucht nach wahrer, bedingungsloser Liebe, mit ihrem stillen Mut gegen Verrohung und Oberflächlichkeit, sind in allen fünf Volksstücken die großen Verliererinnen.

Im Gegensatz dazu die Frauen reiferen Alters , die wie Bittstellerinnen Zärtlichkeit erbetteln müssen. Sie werden zwar von den männlichen Personen gebraucht, aber nicht geliebt. Man denke dabei an Valerie aus den Geschichten aus dem Wiener Wald und ihre Beziehung zum Zauberkönig oder dem Rittmeister. Ihr Geliebter Alfred, Mariannes späterer Bräutigam, geht nur eine Verbindung mit der weitaus älteren Valerie ein, da diese ihn finanziell unterstützt. Im Wissen, dass sich Gefühle der Liebe bei Alfred nicht erkennen lassen, hält Valerie zunächst an dieser Beziehung fest. Sie genießt die Vorzüge eines jüngeren Liebhabers, weiß aber auch, dass ihr Verhältnis dann beendet sein wird, wenn Valerie keine finanziellen Mittel mehr zur Verfügung stellt.

Die letzte Kategorie bilden diejenigen Frauen, die alles andere als weiblich auf den Leser wirken und als einzige sich des öfteren mit dem männlichen Personal verbünden. Paradebeispiel ist die Großmutter aus den Geschichten aus dem Wiener Wald, die nur aus Neid auf Mariannes Jugend zur Mörderin ihres eigenen Enkels wird.

Horváths männliche Figuren sind ebenfalls in Typen kategorisierbar. Herauszugreifen wäre im speziellen der Alfred-Typ, melancholisch, pessimistisch, berechnend und egoistisch, der das Pendant zur kleineren Gruppe der Intellektuellen bildet, die durch ihre Moral – und Gewissenlosigkeit bestechen und ihre Intelligenz in den Dienst der Mächtigen und nicht der Gerechtigkeit stellen. Zu dieser Gruppe zählen zum Beispiel Rauch und Speer aus Kasimir und Karoline, sowie Schminke, der Sanitätsrat und der Studienrat aus Rund um den Kongress. Auffallend ist noch eine weitere Gruppe, deren Vertreter sich wider ihrer beruflichen Intention verhalten.

Die Religiösen werden bei Horváth stark negativ gezeichnet. Man denke vor allem an den Beichtvater aus den Geschichten aus dem Wiener Wald, der von Marianne im Stephansdom um Hilfe ersucht wird. Er tritt ihr nicht barmherzig und verständnisvoll gegenüber, sondern zeigt sich äußerst hartherzig und hochmütig, hat keinerlei Verständnis für die Misere der Hilfesuchenden, sondern weist sie zudem in überheblicher Art und Weise zurecht.

Die Figuren und ihre spezifischen Charakteristika werden aber an späterer Stelle im Verlauf des Hauptteil noch ausführlicher behandelt werden.

Vergleicht man nun die Männer und Frauen bei Horváth, so liegt der Gedanke nicht fern, dass sich aus der Unterschiedlichkeit der Charaktere zwangsläufig Differenzen und Konflikte ergeben müssen. Diejenigen aber, die besonders stark von diesen Konflikten betroffen sind, sind stets die Frauen. Auch dieser Aspekt wird noch weitaus gründlicher zu behandeln sein, als es hier umrissen wurde.

So wie die Handlungen seiner Stücke dem Alltag entnommen sind, hat sich Horváth das Ziel gesetzt, auch seine Menschen dahingehend anzupassen. Es sind vor allem die kleinen Leute von der Straße, wie beispielsweise ein Metzger, eine Korsettverkäuferin, eine Trafikantin, ein Chauffeur, die als Protagonisten das Geschehen bestimmen. Diese Auswahl seines Personals entspricht dem Anspruch Horváths auf Authentizität.

Wie in allen meinen Stücken habe ich auch diesmal nichts beschönigt und nichts verhässlicht. Wer wachsam den Versuch unternimmt, uns Menschen zu gestalten, (...) – wer also ehrlich Menschen zu gestalten versucht, wird wohl immer nur Spiegelbilder gestalten können, und hier möchte ich mir erlauben, rasch folgendes zu betonen: ich habe und werde niemals Juxspiegelbilder gestalten, denn ich lehne alles Parodistische ab.[14]

3.2. Mittelstand und Kleinbürgertum

Horváths Menschen entstammen, bis auf vereinzelte Ausnahmen, allesamt aus dem Mittelstand, aus der breiten Masse. In einem Romanfragment, überschrieben mit Der Mittelstand beschreibt Horváth, was er persönlich unter jener sozialen Schicht versteht.

Der Mittelstand ist eine Klasse, eine eigene zwischen zwei anderen, heute. Seine Grenzen verwischen sich, aber es ist doch eine Klasse, kein Übergang, eine Klasse mit eigener Ideologie.[15]

Wieso sich Horváth den Mittelstand als soziale Schicht, in der seine Personen leben, aussucht, erklärt sich aus den zeitgenössischen Gesellschaftsverhältnissen, nach welchen Deutschland gemäß der Gebrauchsanweisung, eine theoretische Abhandlung des Autors zum richtigen Verständnis seiner Werke, aus neunzig Prozent vollendeter oder verhinderter Kleinbürger bestehe. Aus diesem Grund widmete er sich nicht den verbleibenden zehn Prozent, wie er es sinngemäß ausdrückt, sondern schildert die Menschen von nebenan, die in sehr hohem Maße von den aufkeimenden ökonomischen Schwierigkeiten betroffen waren.[16]

Es solle sich demnach um eine Klasse mit eigener Ideologie[17], um eine Durchgangsstation für wenige einzelne aus dem Proletariat ins Kapital[18] handeln. Doch besitzt Horváths Mittelstand jene eigene Ideologie, von der dieser spricht?

Wohl eher kaum, denn die mittelständischen Figuren in seinen Volksstücken lassen keinerlei Anzeichen kollektiver, ideologischer Standpunkte erkennen. Im Gegenteil, sie wirken eher diffus,[19] vertreten individuell ihre unterschiedlichen Sichtweisen im Bereich des gesellschaftlichen Lebens und der Politik. Horváths Mittelstand kann in diesem Sinne nicht den Vorstellungen jener sozialen Klasse, so wie wir sie in unserer modernen Gesellschaft vorfinden, entsprechen. Es ist keine klare Grenze zwischen dieser und einer anderen Schicht zu ziehen, vielmehr wäre der Ausdruck ‚Mischform’ als Bezeichnung des Mittelstandes bei Horváth nicht unangebracht. Die Heterogenität dieser Klasse, wie man sie in den Volksstücken antrifft, zeigt sich auch darin, dass auch Vertreter aus höheren Gesellschaftskreisen sich dort wiederfinden. Um ein Beispiel anzuführen, erinnere man sich an das Stück Glaube Liebe Hoffnung, in dem sich die Frau Amtsgerichtsrat, die gewohnt war, eher in gediegenerem sozialem Milieu zu verkehren, gezwungen sieht, ebenso wie die verarmte und noch dazu vorbestrafte Elisabeth, sich als Korsettverkäuferin des Kontors Prantl zu versuchen, nachdem die wirtschaftlichen Zeiten so schlecht geworden waren. Es erweckt oftmals den Eindruck, als wüssten Horváths Menschen oft selbst nicht, wohin sie eigentlich gehören.

Als Synonym für den Begriff des ‚Mittelstandes’ wird häufig der des ‚Kleinbürgertums’ verwendet. Für viele Interpreten scheint zwischen diesen beiden Ausdrücken Deckungsgleichheit zu bestehen. Kurt Bartschs Differenzierung zwischen dem ‚Kleinbürgertum’ und dem ‚Mittelstand’ im Sinne eines Horváth halte auch ich für sinnvoll, indem er den ‚Mittelstand’ als umfassenden Begriff und das ‚Kleinbürgertum’ als Bezeichnung für die Masse, deren ökonomischer und politischer, aber auch geistiger Spielraum beschränkt ist[20], erachtet.

Zu Zeiten Horváths erlebte der Mittelstand eine Art Renaissance, ein wiederholtes Aufkeimen in anderer Gestalt, wie dies im Verlauf der Geschichte schon des öfteren der Fall gewesen war. Es entwickelte sich seiner Meinung nach aus der mittelständischen Schicht der wilhelminischen Zeit ein neuer Mittelstand, der aber bereits die Keime des Verfalls in sich trage.[21] Diese neue Gesellschaftsschicht charakterisiert in vortrefflicher Art und Weise die zeitgenössischen Themen, die Horváth in seinem Werk behandelt: Krieg, Inflation, Stabilisierung, Rationalisierung.[22]

Horváths Kleinbürger werden, wie man im weiteren Verlauf der Gesellschaftsanalyse sehen wird, als verstockt, ungebildet und verlogen dargestellt. Durch eine aufgesetzte Sprache und durch unbedachte Phraseologien zeigt sich unter anderem ihre mangelnde Bildung. Geldgier und das Streben nach Prestige bestimmen ihr eintöniges Leben. Ehrliche Gefühle, besonders seitens des männlichen Personals, existieren praktisch nicht. Zur Ergänzung der bisherigen Ausführungen zum Kleinbürgertum sei an dieser Stelle ein Ausschnitt aus Hermann Glasers Definition eines typischen Kleinbürgers hinzugefügt.

Insgesamt ist der Kleinbürger medioker und provinziell, fanatisch und brutal, engstirnig und ressentimentgeladen, aber auch ‚feinsinnig und innerlich’.[23]

Man kann und man muss sich hier die Frage stellen, ob den Autor auch persönliche Gründe dazu bewogen haben, jene mittelständische Bürgerklasse in dem Maße in seinen Stücken in den Vordergrund zu rücken und gleichzeitig so in Szene zu setzen, wie er es letztlich getan hat.

Aufgrund der Diplomatentätigkeit seines Vaters war der junge Horváth gezwungen, viele Male seinen Aufenthaltsort zu wechseln. Gewiss erweiterte dies in hohem Maße den Erfahrungsschatz des Heranwachsenden. Er konnte das Privileg genießen, sowohl sozial höher gestellte Menschen kennen zu lernen, aber auch die einfachen ‚Leute’ mit ihren alltäglichen Sorgen. Aber nicht nur die Menschen waren es, denen er begegnen konnte, sondern auch die unterschiedlichen Atmosphären, was heißen soll, dass er neben den Großstädten wie Berlin, Budapest oder München auch das Leben im kleinen Städtchen Murnau erleben konnte. Auch während seiner längeren, beruflich bedingten Aufenthalte in Berlin ab 1924 zog es ihn doch immer wieder in das Haus seiner Eltern nach Murnau. In diesem Zusammenhang kann auch seine kritische Haltung dem Kleinbürgertum gegenüber, wie er es selbst in der ländlichen Region Murnaus beobachtet hatte, gesehen werden. In seinem Typoskript mit dem Titel Die Fürst Alm berichtet er vom sogenannten Dünaberg, hinter welchem sich um 1800 bayerische Truppen vor den Tirolern zurückgezogen hatten, um von dort aus so die zur Verstärkung gekommenen Truppen der Franzosen zu retten. Dieses Ereignis wurde daraufhin jährlich feierlich durch ein Preisschießen begangen. Horváths Kritik richtet sich anhand dieses Ereignisses gegen die Trägheit der Murnauer, die nur mehr an vergangenen Idealen festhalten, aber selbst das Fortschrittsdenken ihrer Vorfahren, so wie damals im Kampf um die Lederhose, verlernt haben.[24] Die Menschen sind ohne Ideen und ohne Bewusstsein, nach masochistischer Art geil auf Mitleid, wahrscheinlich infolge geltungsbedürftiger Bequemlichkeit.[25] Der einst fortschrittliche Geist ist verloschen und endet in der Passivität und im Spießertum, gegen das sich Horváth immer zu wehren versucht.

Das Verhalten der Murnauer ist exemplarisch für die Verhaltensweisen vieler Kleinbürger. Wie jenes von Horváth in diesem und anderen Schriftstücken häufig geschildert wird, verdeutlicht zweifellos, dass seine kleinbürgerliche Welt in seinem Werk keineswegs illusionär ist, sondern dass sie seinem Anspruch auf Authentizität voll entspricht.

4. Kennzeichnung des gesellschaftlichen Lebens

In den Punkten zuvor galt es vor allem darauf aufmerksam zu machen, worauf es dem Autor Horváth beim Verfassen seiner Werke ankam, welche Intentionen er speziell mit der Zeichnung und Zusammenstellung seines Personals und seinem kleinbürgerlichem Milieu verfolgt. Dabei wurde mehrmals, auch im Hinblick auf die Zeitgeschichte, festgestellt, dass Horváth stets sehr großen Wert auf Realitätsbezug und nicht auf Illusion sowohl bei seinen Figuren, deren Handlungen, Verhaltensweisen und sprachlichem Ausdruck, sowie auf die Thematik in seinen Stücken legt. Einiges, was im ersten Teil bereits angesprochen wurde, wird auch im folgenden Kernstück der gesellschaftlichen Analyse in ausführlicher Art und Weise wieder zur Sprache kommen.

Die Punkte 4. und 5. nehmen nun ganz speziell jene fünf Volksstücke Ödön von Horváths, die zu diesem Zwecke ausgewählt wurden, ins Visier. Das Ziel ist es, typische Kennzeichen jener Gesellschaft der Zwischenkriegszeit detailliert zu beleuchten und diese mittels ausgesuchter Textstellen zu belegen. In Punkt 5 wird dann insbesondere die These zu erörtern sein, inwiefern die Bürger in ihrer Lebensweise durch die sehr überzogen wirkenden moralischen Grundsätze der sozialen Gemeinschaft zu dieser Zeit eingeschränkt werden und inwieweit jene Grundsätze ein angenehmes, herzliches Miteinander verhindern.

4.1. Kapitalismus statt Menschlichkeit

Wie auch heutzutage leider jener Ausspruch ‚Geld regiert die Welt’ immer mehr an Gültigkeit zu erlangen scheint, so traf er doch in besonderem Maße auf die Zeit des großen Wirtschaftswunders in den zwanziger Jahren zu. Der Weg dorthin war steinig. Nachdem zuvor die Menschen sehr an den Folgen des Ersten Weltkrieges zu leiden hatten, sich mit Massenarbeitslosigkeit und großem finanziellen Elend aufgrund der ausgehenden Weltwirtschaftskrise zurechtfinden mussten, boten die sogenannten ‚goldenen Zwanziger’ einen ersten Lichtblick am Ende des Tunnels. Viele Menschen fanden einen Ausweg aus ihrer Misere. Doch wenn ein Problem gelöst scheint, ergibt sich nicht selten ein neues. Umschrieben werden kann dies mit dem Schlagwort des ‚Kapitalismus’. Hatten die Menschen zuvor wenig oder kein Geld zur Verfügung, so verursachte die allmähliche Vermehrung ihrer Finanzen während des Wirtschaftsaufschwungs immer mehr eine gegenteilige Tendenz. Viele Bürger waren nur noch darauf bedacht, sich ihren eigenen Anteil am Wirtschaftswunder zu sichern. Jenes große Bestreben hat den Anschein, als steigerte es sich unermesslich. Das Kapital und seine möglichst rasche Beschaffung und Anhäufung rückte in den Mittelpunkt ihrer alltäglichen Tätigkeiten und bestimmte so in hohem Maße ihr Leben. Selbst vor Liebes -und Heiratsangelegenheiten machte diese Tendenz nicht halt. Ausschlaggebend für eine Heirat war nicht mehr die Liebe. Der Besitz, das finanzielle Vermögen und der soziale Rang legten fest, mit wem man sich zu binden hatte und mit wem nicht. Die großen Verlierer des kapitalistischen Denkens waren vor allem die Frauen.[26] Auch wenn die Menschen nach dem Ersten Weltkrieg wenig besaßen und mit vielen Schwierigkeiten fertig werden mussten, so kann doch eines gesagt werden. Der Umgang miteinander war schon aufgrund der schlimmen Ereignisse und Folgeerscheinungen des Kriegs geprägt von Hilfsbereitschaft. In jener kapitalistischen Gesellschaftsform aber, so wie sie von Horváth dargestellt wird, findet sich nicht mehr viel von diesem menschlichen Umgang, von Hilfsbereitschaft, ohne eine Gegenleistung vorauszusetzen, oder von Herzlichkeit und, um mit einer aktuellen Vokabel zu sprechen, ein gewisses Gefühl der Solidarität. Im Gegenteil, man hat den Eindruck, dass Geld, wie es sprichwörtlich heißt, den Charakter der Menschen verdirbt. So sind sie

[...]


[1] Vgl.: Krischke, Traugott: Materialien zu Ödön von Horváth. S. 129.

[2] Vgl.: Ebd. S. 133.

[3] Vgl.: Ebd. S. 128.

[4] Vgl.: Ebd. S. 129f.

[5] Vgl.: Aussage von Herbert Gamper aus dem Programmbuch 7/ Württ. Staatstheater Stuttgart, März 1975. In: Hildebrandt, Dieter: Ödön von Horváth. S. 131.

[6] Vgl.: Aussage von Handke, Peter . In: Hildebrandt, Dieter: Ödön von Horváth. S. 131.

[7] Vgl.: Hildebrandt, Dieter: Ödön von Horváth. S. 14.

[8] Vgl.: Oellers, Piero: Das Welt -und Menschenbild im Werk Ödön von Horváths. S. 37.

[9] Vgl.: Horváth, Ödön: Die Bergbahn. In: Zur schönen Aussicht und andere Stücke. S. 102.

[10] Vgl.: Hildebrandt, Dieter: Ödön von Horváth. S. 37.

[11] Vgl.: Ebd. S. 37.

[12] Vgl.: Bartsch, Kurt: Ödön von Horváth. Stuttgart, Weimar: Metzler 2000. S. 33.

[13] Vgl.: Krischke, Traugott: Materialien zu Ödön von Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“. S. 7.

[14] Vgl.: Horváth, Ödön : Randbemerkung. In: Horváth, Ödön: Glaube Liebe Hoffnung. S. 12.

[15] Vgl.: Horváth, Ödön: Der Mittelstand. Roman. In: Himmelwärts und andere Prosa aus dem Nachlass. Hg.v. Kastberger, Klaus. S. 81.

[16] Nach: Horváth, Ödön: Gebrauchsanweisung. In: Materialien zu Ödön von Horváth. Hg.v. Krischke, Traugott. S. 54.

[17] Vgl.: Horváth, Ödön: Der Mittelstand. Roman. In: Himmelwärts und andere Prosa aus dem Nachlass. Hg. v. Kastberger, Klaus S. 81.

[18] Vgl.: Ebd. S. 81.

[19] Vgl.: Bartsch, Kurt: Ödön von Horváth. S. 34.

[20] Vgl.: Ebd. S. 34.

[21] Nach: Horváth, Ödön : Der Mittelstand. Roman. In: Himmelwärts und andere Prosa aus dem Nachlass. Hg. v. Kastberger, Klaus. S. 81.

[22] Nach: Hell, Martin: Kitsch als Element der Dramaturgie Ödön von Horváths. S. 25.

[23] Vgl.: Ebd. S. 28.

[24] Nach: Ebd. S.29.

[25] Vgl.: Horváth, Ödön: Randbemerkung. In: Horváth, Ödön: Glaube Liebe Hoffnung. S. 12.

[26] Die Frauenproblematik wird im Verlauf noch weit ausführlicher behandelt werden.

Ende der Leseprobe aus 72 Seiten

Details

Titel
Soziale Aspekte in ausgesuchten Werken Ödön von Horváths vor ihrem zeitgeschichtlichen Hintergrund
Hochschule
Universität Regensburg  (Germanistik)
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
72
Katalognummer
V51671
ISBN (eBook)
9783638475730
ISBN (Buch)
9783638713184
Dateigröße
790 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Soziale, Aspekte, Werken, Horváths, Hintergrund
Arbeit zitieren
Miriam Riediger (Autor:in), 2004, Soziale Aspekte in ausgesuchten Werken Ödön von Horváths vor ihrem zeitgeschichtlichen Hintergrund, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/51671

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