Selbsttäuschung und ihre Formen. Ausdifferenzierung von unechtem und echtem Verstehen in Heideggers Theorierahmen


Akademische Arbeit, 2019

28 Seiten, Note: 6.0 (Schweiz)


Leseprobe


"[Der Mensch hat] kein dringenderes Bedürfnis als jemanden zu finden, auf den er so schnell wie möglich das Geschenk der Freiheit, mit der er, das unglückselige Geschöpf geboren wurde, abladen kann."

1. Einleitung

Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit sind zwei Begriffe, welche sich in Heideggers Denken diametral gegenüberstehen. Beide sind gleichursprüngliche Seinsweisen des Daseins. Während dem das eigentliche Dasein, im Vorlaufen zum Tode als unüberholbare Möglichkeit sich selbst und sein eigenstes Sein wählt, so ist das uneigentliche Dasein hingegen an das Man und an die Weltlichkeit der Welt verfallen. Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit sind daher zumindest ontologisch zu unterscheiden, da sie verschiedene Seinsweisen des Daseins darstellen. Nun, so Heidegger, sind sie wohl auch epistemisch oder phänomenologisch unterscheidbar, dadurch, dass sie qualitativ andere Aspekte aufweisen. Nur das eigentliche Selbst entschliesst sich im Augenblick (Heidegger, 2006: 328). Es scheint also auf den ersten Blick einfach zu sein, bestimmen zu können, ob das Dasein eigentlich oder uneigentlich ist.1

Dem ist jedoch nicht so. Erstens führt Heidegger den Begriff Zweideutigkeit ein, welcher die gesamte Unterscheidung erschwert (Heidegger, 2006: 173ff und Kapitel 2.4.). Zweitens kommt er auch auf zwei Begriffe zu sprechen, die er später nicht mehr weiter ausführen wird. Diese sind das unechte und echte Verstehen, die sich auf die Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit beziehen (Heidegger, 2006: 146). Was ist unter echtem/unechtem Verstehen, respektive unter echter/unechter Eigentlichkeit und echter/unechter Uneigentlichkeit zu verstehen? Diese Begriffe sind unterbestimmt und werden nicht weiter erklärt. Dennoch kann man davon ausgehen, dass Heidegger die echten Formen von Verstehen in seinem Werk ausdifferenziert und analysiert (Heidegger, 2006: 148). Ein Teil der Frage bleibt also ungeklärt, und zwar, was Heidegger mit unechter Eigentlichkeit und unechter Uneigentlichkeit meint. Hierbei, so kann man annehmen, hat es sehr wahrscheinlich mit Formen der Verzerrung und Täuschung, sowie mit Fluchtmechanismen des Daseins zu tun (Heidegger, 2006: 127).

Der vorliegende Essay beschäftigt sich nun mit diesen Formen der Selbsttäuschung. Wir werden versuchen, die zwei Begriffe unechte Uneigentlichkeit und unechte Eigentlichkeit aus dieser Perspektive heraus zu analysieren und sie für die Theorie von Heidegger fruchtbar zu machen. Da die Begriffe unterbestimmt sind und für die Analyse keine weiteren Quellen von Heidegger herbeigezogen werden können, müssen wir uns deshalb mit anderen Theorien beschäftigen und versuchen deren Gedankeninhalte in das Denkgebäude von Heidegger einzugliedern. Wie erfolgreich und überzeugend dies geschieht, soll der Leserschaft zur Entscheidung überlassen sein. Der vorliegende Essay beansprucht aus diesem Grunde auch nicht, irgendwelche allgemeingültige Lehrsätze einer Heidegger Exegese liefern zu können. Vielmehr soll dies hier ein bescheidener Versuch darstellen, Heideggers unterbestimmte Begriffe produktiv zu entwickeln.

Bevor wir uns nun der Untersuchung zuwenden, wollen wir kurz noch den Begriff Selbsttäuschung betrachten. Unechtes Verstehen des Daseins, sei es nun eigentlich oder uneigentlich, beherbergt eine Form von Verdunkelung, Verzerrung oder Täuschung (vgl. Kapitel 2.3.). Ein unechtes Verstehen kann kaum direkt erfahrbar sein. Von daher ist der Begriff Selbsttäuschung hier sinnvoll, weil man davon ausgehen kann, dass das Dasein selbst nicht genau im Klaren darüber ist, ob sein Verstehen nun echt oder unecht ist. Ob es andere täuscht oder nicht, ist für die vorliegende Untersuchung nur sekundär. Aspekte der Verzerrung der eigenen Selbstwahrnehmung fällt in diesem Essay ins Gewicht. Denn viele Meinungen und Überzeugungen, die wir uns täglich aneignen, stehen nicht auf solidem Grund, sondern können aus Bequemlichkeit, Konformitätszwang oder anderen Gründen entstehen. Selbsttäuschung entspricht daher auch nicht einer einfachen Lüge gegen sich selbst, sondern erfordert komplexe Abwehr- und Verdrängungsmechanismen. Solche Situationen finden wir beispielsweise in den Figuren von Dostojewskij (2013). Ivan Karamasow versucht seinen Bruder Aljoscha darüber aufzuklären, dass ein religiöses Weltbild nicht aus Bequemlichkeit aufrecht erhalten werden sollte, solange Unschuldige leiden müssen. Auch Dimitrij ist sich seiner Gefühle gegenüber den Frauen, die er liebt, ständig am schwanken. Wie sich die Figuren zu ihren Selbst- und Weltbildern entwickeln, wird erst im Verlauf des Romans ersichtlich. Solche und weitere Phänomene sollen nun in diesem Essay beleuchtet und analysiert werden, um unser Verständnis dafür zu vertiefen.

Im Kapitel 2 dieses Essays werden wir die theoretischen Grundlagen von Heidegger betrachten. Sie verweisen auf die Einführung seiner Begriffe echtes und unechtes Verstehen. Dieser Teil dient als Sprungbrett für die weiteren Teile, da wir anschliessend nur noch andere Theorien betrachten werden und versuchen, diese in Heideggers theoretischen Rahmen zu stellen. Kapitel 3 wird sich mit der unechten Uneigentlichkeit befassen. Hierbei gehen wir auf Arendt und ihre Fallstudie von Adolf Eichmann ein. Die unechte Uneigentlichkeit als Selbsttäuschung wird dabei aus Ausfall bezeichnet. Kapitel 4 untersucht hingegen die unechte Eigentlichkeit. Hierzu wird besonders Sartres Unaufrichtigkeit im Zentrum stehen. Diese Form der Selbsttäuschung wird hier Hinfall genannt. Beide Kapitel werden zuerst mit Fallstudien eröffnet, um anschliessend auf die theoretische Ebene schliessen zu können. Im Kapitel 5 werden zwei Spezialfälle beschrieben, welche sich weder eindeutig als Ausfall noch als Hinfall auszeichnen lassen und weisen damit auf weitere Komplexität hin. Die Schlussbemerkungen in Kapitel 6 runden die hier vorgenommene Untersuchung ab und zeigen kurz auf, was aus den gewonnenen Einsichten geschöpft werden kann.

2. Heideggers Konzeption des Verstehens als Erschlossenheit

Um das Phänomen der Selbsttäuschung genauer betrachten zu können, müssen wir uns zuerst der theoretischen Grundlage von Heideggers Werk zuwenden. Hierfür scheint der Begriff des Verstehens sich als äusserst hilfreich zu erweisen. Um diesen Begriff einzuordnen, sollen hier noch kurz einige Bemerkungen angebracht werden. Das Dasein, das sich selbst täuschen kann, ist dadurch gekennzeichnet, dass In-der-Welt-Sein wesentlich zu seiner Seinsverfassung gehört. In-der-Welt-Sein ist ein gleichursprüngliches Strukturmoment, was bedeutet, dass sich die einzelnen Momente des In-der-Welt-Seins nicht voneinander ableiten lassen und sich gegenseitig beeinflussen (Heidegger, 2006: 41). Die drei Momente des In-der-Welt-Seins sind Welt, Selbst und In-Sein. Obwohl es eigentlich das Selbst ist, das sich aus dem Missverhältnis zum Daseins täuscht, so wollen wir unseren Fokus auf das In-Sein als solches richten, denn erst durch dessen Betrachtung wird verständlich, wie es überhaupt zur Selbsttäuschung kommen kann. Das In-Sein gliedert sich wiederum in drei Momente, die Heidegger als Befindlichkeit, Verstehen und Sprache beschreibt. Für die vorliegende Untersuchung wenden wir uns aus Platzgründen nur dem Begriff des Verstehens zu. Das vorliegende Kapitel ist derart aufgebaut, dass zuerst der Begriff des Verstehens erläutert wird.2 Anschliessend werden zwei Verfallsformen des In-Seins, die Neugier und die Zweideutigkeit, betrachtet, die für das Verständnis der Selbsttäuschung relevant sein werden. Von hieraus wird eine Überleitung zum unechten Verstehen gemacht, um deren einzelnen Formen (des unechten Verstehens) untersuchen zu können.

2.1. Das Verstehen als In-Sein

Wie schon erwähnt wurde, ist das Verstehen neben Befindlichkeit und Sprache ein gleichursprüngliches Moment des In-der-Welt-Seins (Heidegger, 2006: 142). Das bedeutet dementsprechend, dass, sobald das Dasein ist, es je auch schon verstehend ist. Das Verstehen umfasst hierbei nicht nur die Entschlüsselung von sprachlichen Äusserungen und Texten, sondern ist in einem weitaus ursprünglicheren Sinn gedacht. Erst dieses fundamentalere Verstehen erlaubt es, so Heidegger, sich in andere Modi aufzufächern, die Text- und Sprachverständnis miteinschliessen (Heidegger, 2006: 143). Dieses ursprüngliche Verstehen ist daher eher so zu begreifen, wie die deutsche Redewendung sich auf etwas verstehen hindeutet. Wer sich auf etwas versteht, sei dies Radfahren, Algebra oder Wein degoutieren, der kann das. Er ist dieser Fähigkeit mächtig (Luckner, 2007: 66). Dies sind jetzt jedoch nur spezifische Beispiele, und es fragt sich, worauf sich das Dasein als In-der-Welt-Sein versteht. Das Verstehen des In-der-Welt-Seins betrifft die Erschlossenheit des Worumwillens (Heidegger, 2006: 143). Erschlossen bedeutet hier weder eine notwendig thematische Erschliessung des Worumwillens, noch eine notwendig abgeschlossene und fehlerfreie Erschliessung (Luckner, 2007: 68). Das Worumwillen betrifft die Existenzialität des Daseins, also das Selbst, bei dem es dem Dasein um sein eigenes Sein geht. Hierauf kommen wir gleich noch zurück.

Was also kann das Dasein, wenn es versteht? Unter sich auf etwas verstehen im heideggerschen Sinne wird keine leere Modalität oder Kontingenz verstanden, die sich beliebig ausfüllen lässt wie die oben erwähnten Beispiele, sondern das existenziale Möglichsein (Heidegger, 2006: 143). Das heisst, Verstehen ist kein Attribut, das einem vorhandenen Ding zugesprochen wird, sondern als existenziales Möglichsein betrifft es das Verstehen als Sein können in der Welt (Luckner, 2007: 67). Das ursprüngliche Verstehen ist somit ein Freisein für die eigene Existenz. Dasein ist dementsprechend ein Seinkönnen und dieses Können kann man als Metakönnen verstehen, das sich nicht auf einzelne Tätigkeiten und Fähigkeiten bezieht,3 sondern auf das Können im Sinne einer Seinsverfassung (Demmerling in Rentsch, 2015: 95).

Das Dasein ist, so verstanden, sein eigenes Möglichsein und in diesem Sinne ständig mehr, als es faktisch ist. Denn das Dasein ist nicht nur als jene Möglichkeiten, die es gerade verwirklicht, aufzufassen, sondern als dasjenige, das die Möglichkeit dazu überhaupt hat. Durch das Verstehen erschliesst das Dasein erst seine eigenen Möglichkeiten. Daher kann man das Verstehen als produktive Kraft hierfür verstehen.4 Das Verstehen bildet damit die Existenzialität des Daseins (Demmerling in Rentsch, 2015: 94). Dieses Produktivsein, das Erschliessen und Umsetzen des eigenen Seinkönnens, geschieht durch den Entwurf. Der Entwurf ist demgemäss das Wahrnehmen der Möglichkeiten und betrifft das Worumwillen des Selbst und die Bedeutsamkeit der Weltlichkeit (Heidegger, 2006: 145). Der Entwurf ist demnach der Modus des Verstehens. Er betrifft die Erschlossenheit des In-der-Welt-Seins. Hierzu muss erwähnt werden, dass man den Entwurf nicht als einen Plan verstehen soll, den das Dasein an einem bestimmen Zeitpunkt konstruiert und über sich und die Welt wirft, sondern das Dasein ist, sobald es ist, je schon entwerfend.

Wenn das Verstehen sich nun auf das Seinkönnen bzw. das Möglichsein bezieht, welche Möglichkeiten kann das Dasein nun überhaupt ergreifen? Auch wenn das Verstehen eine Metamöglichkeit ist, so kann sich das Dasein nicht auf jede nur denkbare Möglichkeit für sein eigenes Sein hin entwerfen. Denn das Dasein ist in die sich anbietenden Möglichkeiten schon hineingeworfen (Heidegger, 2006: 144). So sind einige Möglichkeiten durch zeitliche und gesellschaftliche Umstände versperrt. Daher gelingt es beispielsweise auch Don Quixote5 nicht, ein wahrer Ritter zu sein, da die epische Zeit der sagenumwobenen Ritter nicht den zeitlichen und gesellschaftlichen Umständen des damaligen Spaniens entsprechen. Durch den Umstand, dass das Dasein je schon in die Welt hineingeworfen ist und daraus seine eigensten Möglichkeiten zu erschliessen hat, wird es erst möglich, dass sich das Dasein verirren, sich selbst verlieren und täuschen kann.

Kommen wir von hieraus nun auf das Spektrum des Verstehens, das also vom Seinkönnen erschlossen und entworfen wird, zu sprechen. Das Dasein kann sich entweder aus der Welt heraus oder durch sein eigenstes Worumwillen verstehen (Heidegger, 2006: 146). Ersteres wird als uneigentliches und letzteres als eigentliches Verstehen bezeichnet. Das uneigentliche Verstehen ist damit an die Welt verfallen. Das eigentliche Verstehen wäre hingegen das sich wiedergefundene, selbstverwirklichte Selbst. Ob das Dasein nun an die Welt verfällt oder ob es sein eigenstes Selbst wiederfindet, hängt vom Entwurfscharakter ab. Dieser wird durch die Sicht bestimmt (Heidegger, 2006: 146). Die Sicht wird hier nicht als primär visuelles Wahrnehmen verstanden, sondern als Modus der Erschlossenheit. Das theoretische Betrachten und die visuelle Wahrnehmung sind laut Heidegger lediglich Derivate der ursprünglichen Sicht (Heidegger, 2006: 147). Die Sicht lässt sich wiederum dreiteilen. Die Umsicht beschäftigt sich mit Gegenständen der Welt, die Rücksicht mit anderen daseinsmässige Seienden und die Durchsichtigkeit mit dem eigensten Selbst. Dies bedeutet nicht, dass Umsicht und Rücksicht uneigentliche Formen der Sicht sind, sondern betrifft nur ihr Spektrum. Auch ein eigentliches Dasein ist mit der Welt und anderem Dasein beschäftigt und bedarf daher aller Modi. Während sich die Umsicht und die Rücksicht jedoch auf Innerweltliches und anderes Dasein beziehen, so stehen bei der Durchsichtigkeit das Dasein und sein eigenes Seinkönnen im Fokus.6 Jedoch wird der Begriff Durchsichtigkeit bei Heidegger nicht als Beschauen eines Subjekts oder einer tieferliegenden Psyche betrachtet, sondern als ein ständig ablaufender Prozess (Luckner, 2007: 69). Durchsichtigkeit ist in diesem Sinne eine Form der Selbstkenntnis (Heidegger, 2006: 146). Alle diese Formen können in verschiedenen Graden und in unterschiedlichen Weisen vorkommen (Heidegger, 2006: 144). Dies wird später für die Untersuchung noch relevant sein.

Ein verzerrtes Verstehen ist daher eine verdunkelte Sicht auf die Welt oder auf das eigenste Sein. Hier eröffnet sich die Möglichkeit der Selbsttäuschung, sodass die Sicht auf das Selbst getrübt wird. Bevor wir uns diesem Punkt genauer zuwenden, sollen zuerst noch einige relevante Punkte in Bezug auf das Verstehen als Praxis aufgezeigt werden.

2.2. Verstehen als Auslegung von Sinn

Fassen wir zusammen: Das Dasein entwirft sich im Verstehen seines eigenen Seins auf die bereits vorgegebenen Möglichkeiten hin. Für den Entwurf bedarf es jedoch einer Ausbildung des Verstehens (Heidegger, 2006: 148). Dies geschieht in der Form der Auslegung (Demmerling in Rentsch, 2015: 97). Indem das Dasein je schon verstehend und entwerfend ist, wäre es daher jeweils auch je schon auslegend. Auslegung darf hier wiederum nicht im Sinne von Analysen von Texten und Sprachmitteilungen verstanden werden, sondern in einem ursprünglicheren Sinne. Die verstehende Auslegung ist nicht notwendig schon thematisch erschlossen, was Heidegger auch an Husserl kritisiert. Durch die Auslegung wird das Vorbekannte bzw. das Noch-nicht-Thematisierte erst in die Ausdrücklichkeit gehoben (Luckner, 2007: 70).

Die Auslegung besteht darin, etwas als etwas zu verstehen (Heidegger, 2006: 149). Beispielsweise begreifen wir ein gewisses Geräusch schon als Motor eines Fahrzeuges, ein anderes wiederum als den Gesang eines Vogels. Da Heidegger das In-der-Welt-Sein primär pragmatisch, das heisst als handelnd versteht, ist für ihn das Auslegen daher auch von praktischer Natur. Das bedeutet, man versteht einen Hammer schon als Werkzeug zum Nägel einschlagen. Das etwas als etwas wird daher zum etwas, wozu/zum x. Ist der Hammer zu schwer, fehlt er, ist er kaputt, oder treten andere defizitäre Umstände ein, so wird der Hammer von seinem wozu entbunden und er wird zu einem rein vorhandenen Objekt.

Dieses wozu steht also im Zusammenhang mit dem Entwurf. Denn durch den Entwurf wird das Ausgelegte auf sein wozu hin verwendet. Hierfür führt Heidegger drei weitere Begriffe ein: Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff (Heidegger, 2006: 150). Auf diese muss hier nicht weiter eingegangen werden. Es sollte jedoch anhand des Hammerbeispiels verständlich geworden sein, wie Auslegung und Entwurf zusammenhängen. Wie schon erwähnt, muss man Verstehen, Auslegung und Entwurf nicht als lineare Abfolge verstehen, sondern das Dasein verfügt je schon über ein Vorwissen und daher wird es nicht zuerst verstehen und anschliessend entwerfen oder seinen eigenen Entwurf auslegen etc. Das Ganze folgt eher der Form eines Zirkels (Heidegger, 2006: 152). Diese Zirkelbewegung richtet sich nach dem Sinn, den das Dasein auslegt. Nur das Dasein kann sinnvoll oder sinnlos sein, nicht aber das Zuhandene. Sinn ist also demgemäss nicht als Teil einer Subjekt-Objekt-Ontologie zu verstehen, sondern als fundamentalontologische Seinsweise (Heidegger, 2006: 151).

Sinn kann sich nun entweder auf die Welt oder auf das eigene Sein beziehen. Wenn das Dasein die Welt nach seinem Sinn auslegt, so muss es die Bedeutungsganzheit seiner Umwelt erschliessen. Wenn es seine eigene Existenzialität erschliesst, erschliesst es sein eigenes Selbst und dessen Worumwillen. Ein Dasein, das sich Selbst nur durch die Bedeutungsganzheit der Welt erschliesst, wäre demnach ein uneigentliches Dasein, und ein Dasein, das sich um sein eigenes Sein kümmert, ein eigentliches, auch wenn es sich davon ausgehend die Welt aneignet. Der nächste Abschnitt befasst sich nun mit der alltäglichen Seinsweise, in der das Dasein sich zumeist durch die Welt versteht.

2.3. Verfallenes Verstehen

Verstehen kann also eigentlich sein, wenn das Dasein seinen Sinn auf sein eigenes Worumwillen auslegt. Es kann jedoch auch an die Weltlichkeit der Welt verfallen, nämlich dadurch, dass seine Sicht verdunkelt ist und es sein eigenes Selbst durch Weltliches zu verstehen versucht. In diesem Falle ist das Dasein uneigentlich. Dieses Verstehen ist nicht zwangsläufig falsch oder unecht, sondern indifferent gegenüber der Echtheit und Adäquatheit (Heidegger, 2006: 128). Heidegger geht nun davon aus, dass das Dasein zumeist schon uneigentlich ist (Heidegger, 2006: 175f). Es ist der Welt verfallen. Damit ist gemeint, dass es in der Welt aufgeht, sich selbst durch die Weltlichkeit der Welt versteht und somit nicht als existenziales Möglichsein.

Was ist unter dieser oben genannten Erläuterung zu verstehen? Obwohl es Heidegger verneint normativ zu sein (Heidegger, 2006: 176), kann man diese Aussage als Kritik an die gesamte abendländische Philosophie betrachten. Indem die philosophische Tradition seit Aristoteles den Menschen analog zu anderen Seienden stets als Subjekt, Ding oder Substanz verstanden hat, hat sich der Mensch dadurch von seinem eigenen Sein entfremdet (Heidegger, 2006: 178). Ein Ding, eine Substanz oder ein Träger von Eigenschaften entspricht nicht der oben erwähnten Existenzialität, welche das Dasein umsetzt. Hingegen wird durch die Reifikation dem Dasein diese Freiheit genommen. Diese Reifikation hat nichts mit gesellschaftlichen Zuständen oder kulturellen Entwicklungen zu tun, sondern es gehört fundamentalontologisch zum Dasein dazu. Daher ist die generelle Seinsweise des Daseins die uneigentliche Form. Wie es dazu kommt, liegt am Umstand, dass die Uneigentlichkeit eine selbstverstärkende Tendenz zum Verweilen in ihr entwickelt (Heidegger, 2006: 177). In der Uneigentlichkeit wird das Dasein von seiner existenzialen Last, es selbst zu sein, entlastet. Daher ist die Uneigentlichkeit sowohl eine Verführung als auch eine Beruhigung zugleich.

Wir wollen nun zwei verfallene Formen der uneigentlichen Seinsweise beleuchten, die mit dem Verstehen direkt zusammenhängen, um damit den Weg für die Untersuchung der Selbsttäuschung vorzubereiten.

2.4. Neugier und Zweideutigkeit

Heidegger stellt zwei Formen des Verstehens dar, die nicht eigentlich sind. Eine Form nennt er die Neugier, die er dem Verstehen direkt gegenüberstellt. Dementsprechend könnte man davon ausgehen, dass die Neugier die verfallene Form des Verstehens ist (Heidegger, 2006: 170). Die zweite Form, die er Zweideutigkeit nennt, hängt jedoch auch direkt mit der Erschlossenheit der Welt zusammen, und es zeigt sich, dass die Neugier eher als Unverständnis, als gescheitertes Verstehen, betrachtet werden kann (Luckner, 2007: 76). Denn in der Neugier wird nicht in der pragmatischen Weise verstanden, wie Heidegger es für das In-der-Welt-Sein vorsieht, und sie wird auch nicht als theoretisches, kontemplatives Betrachten verstanden. Die Neugier besteht vielmehr im unverständigen Begaffen von Dingen und Sachverhalten der Welt (Heidegger, 2006: 171). Insofern ist die Neugier eher als ein Unverständnis des In-der-Welt-Seins zu verstehen. Die Neugier befasst sich daher nur flüchtig und ausschliesslich mit Weltlichem und nicht mit dem Dasein selbst (Heidegger, 2006: 172). Aber auch das Weltliche wird nicht wirklich von der Neugier erschlossen. Sie wird von einer Unruhe getrieben, da das Dasein in ihr nicht wirklich erschliesst, sei es in uneigentlicher oder in eigentlicher Weise, sondern vielmehr umherirrt und Zerstreuung sucht (Heidegger, 2006: 178). Heidegger bestimmt diese Seinsweise dennoch als eine uneigentliche Form des Verstehens, da sie primär dazu dient, dem Dasein den existenzialen Lastcharakter abzunehmen.

Während die Neugier also ein gescheitertes Verständnis bezeichnet, so bezieht sich die Zweideutigkeit auf den qualitativen Aspekt des Verstehens. Denn wenn durch die Neugier alles und alle zugänglich werden, so wird es unklar, ob etwas wirklich erschlossen wurde oder nicht (Heidegger, 2006: 173). Die Zweideutigkeit ist demnach der Grad an Erschlossenheit des Daseins selbst oder jener der Welt. Wichtig ist hier zu erwähnen, dass man die heideggersche Zweideutigkeit nicht als Resultat eines epistemischen Unterfangens verstehen muss, sondern es durchdringt das Dasein als gesamtes und ist daher eines seiner gleichursprünglichen Strukturmomente. Die Erschlossenheit ist je schon zweideutig.

Dies erlaubt auch die Begriffe von echtem und unechtem Verstehen im Sinne Heideggers weiter zu differenzieren (Luckner, 2007: 77). Da es beim uneigentlichen und eigentlichen sowohl je ein echtes als auch unechtes Verstehen gibt, kann sich das Dasein in seiner eigenen Eigentlichkeit versehen und täuschen (Heidegger, 2006: 174). Der Einwand sowie auch Heideggers vorgebrachte Terminologie des Augenblicks,7 wonach sich Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit qualitativ unterscheiden müssen, werden durch die Zweideutigkeit offensichtlich in Frage gestellt. Ob ein Verstehen nun eigentlich oder uneigentlich ist, ob das Dasein eigentlich ist oder nicht, wird daher epistemisch prekär (Heidegger, 2006: 175)! Ein Dasein, das sich für eigentlich hält, ist daher von keinem Zweifel erhaben. Dies wird vor allem dann problematisch, wenn das Dasein durch Rechtfertigungen und Zwecksrationalisierungen die Erschlossenheit umformt, entfremdet oder zurückweist (Heidegger, 2006: 174). Dieser Prozess bindet das Erfasste ins alt Bekannte (der Sicht) hinein, passt es an und modifiziert es den geworfenen Entwürfen entsprechend, seien diese nun eigentlich oder nicht.

[...]


1 Dostojewskij zitiert nach Fromm: 2016, 114

2 In der vorliegenden Arbeit verzichten wir auf die Betrachtung der Temporalität des Verstehens. Dies geschieht aus zwei Gründen: Erstens kann Heideggers Theorie der Zeit aus Platzgründen hier nicht in konziser Weise dargestellt werden und würde den Rahmen der vorliegenden Untersuchung deutlich sprengen. Zweitens ist dessen Verständnis der Temporalität in einigen Punkten ziemlich problematisch, was auch zum Scheitern von Sein und Zeit geführt hat. Vgl. hierzu Pocai (1996) und Kisiel in Rentsch (2015).

3 Luckner gibt hierbei die Unterscheidung de re (über die Sache) und de dicto (über das Gesagte) von Möglichkeiten an. Das ursprüngliche Verstehen ist jedoch weder als das eine noch als das andere aufzufassen, da diese nur Modalitäten und kontingente Variabeln des Könnens und nicht des ursprünglichen Seinkönnens betreffen (Luckner, 2007: 67).

4 Hingegen ist die Befindlichkeit der passive Part der Möglichkeitserschliessung (Pocai, 1996: 21).

5 Vgl. De Cervantes Saavedra (2012).

6 Heidegger übernimmt hier deutlich das Vokabular und die Intention von Kierkegaard (2014).

7 Ebenfalls ein Begriff aus dem Vokabular von Kierkegaard. Vgl. auch Heidegger, 2006: 328.

Ende der Leseprobe aus 28 Seiten

Details

Titel
Selbsttäuschung und ihre Formen. Ausdifferenzierung von unechtem und echtem Verstehen in Heideggers Theorierahmen
Hochschule
Universität Bern  (Institut für Philosophie)
Note
6.0 (Schweiz)
Autor
Jahr
2019
Seiten
28
Katalognummer
V515320
ISBN (eBook)
9783346111401
ISBN (Buch)
9783346111418
Sprache
Deutsch
Schlagworte
selbsttäuschung, formen, ausdifferenzierung, verstehen, heideggers, theorierahmen, eigentlichkeit, ungeigentlichkeit
Arbeit zitieren
Omar Ibrahim (Autor:in), 2019, Selbsttäuschung und ihre Formen. Ausdifferenzierung von unechtem und echtem Verstehen in Heideggers Theorierahmen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/515320

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