"In der Strafkolonie" von Franz Kafka. Wie sich der Begriff einer Rechtsphilosophie in der literarischen Ästhetik des Grotesken manifestiert


Seminararbeit, 2016

23 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

1 Einleitung

2 Grundzüge eines Rechtsystems
2.1 Allgemeine Grundsätze und grundsätzliche Züge eines modernen europäischen Strafrechts am Beginn des 20. Jahrhunderts verglichen mit einem Inquisitionsgericht der Vormoderne und in den Kolonien der Neuzeit
2.1.1 Das vormoderne Strafrecht: Vergeltungsstrafrecht
2.1.2 Das moderne Strafrecht am Beginn des 20. Jh
2.2 Inhaltliche Analogien zwischen den außerliterarischen Rechtskonzepten und Kafkas literarischer Verarbeitung von Rechtsbegriffen in der Erzählung

3 Die literarische Ästhetik des Grotesken angewendet auf die Rechts- und Verfahrenselemente in „In der Strafkolonie“
3.1 Die Konstitution von Distanz
3.2 Das Problem der Perspektivität
3.3 Das Mittel der Verfremdung

4 Konklusion: Herausbildung einer Rechtsphilosophie
4.1 Verdeutlichung und Deutung des Ist-Zustands anhand literarischer Mittel und alternative Modelle
4.2 Konklusion: Ableitung eines Rechtsphilosophie-Begriffs in seinen Grundzügen

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Über kaum einen anderen deutschsprachigen Schriftsteller existiert so viel germanistische Forschung wie über Franz Kafka. Die Deutungsansätze seines Werkes sind dabei äußerst vielfältig, doch der juristische Aspekt seiner Arbeit wurde bisher nur unzureichend beleuchtet.1 Besonders in Zusammenhang mit der Ästhetik des Grotesken wird hier ein Deutungsfeld angesprochen, das der Forschung neue Zugänge eröffnet. Kafka ist zwar nicht als ,Dichter-Jurist‘ anzusehen, seiner Arbeit ist jedoch ein Zusammenhang zwischen „einem juristischem Fachdiskurs, wie in Kafka erlernt und angewendet hat, und einem literarischen Diskurs, den er wie kaum ein anderer Autor der Moderne mit anderen Diskursen gekreuzt hat“[1], immanent. Sowohl sprachliche „Anleihen bei der Fachsprache des Rechts“2, die er selbst als ,Rede des Rechts‘ bezeichnet, als auch konkrete Instanzen und Institutionen der Justiz und rechtsphilosophische Fragen durchziehen sein Werk.

Diese Affinität zum juristischen Themengebiet entspringt wohl einem persönlichen Interesse. Franz Kafka absolviert sein Jurastudium in sieben Semestern an der deutschsprachigen Prager Ferdinand-Karls-Universität und legt 1906 die mündliche Doktorprüfung ab. Im Laufe dieses Studiums beschäftigt sich Franz Kafka auch mit rechtstheoretischen sowie rechtsphilosophischen Fragen eingehend. „Kafkas Verhältnis zur Philosophie ist [dabei] geprägt von seinem Interesse für Aspekte der Wahrnehmung, Urteilsbildung und Sprachkonstruktion, aber auch getragen von Misstrauen gegenüber den abstrakten Ordnungssystemen einer deduktiven Methodik.“3 Beeinflusst haben ihn in diesem Bereich besonders seine Studien Hans Groß, Strafrechtstheoretiker der neuen Schule und Begründer der modernen Kriminologie.4 Nach einem Gerichtsjahr, in dem er die Institutionen des Gerichtsverfahrens eingängig studieren kann, tritt er als Beamter bei der halbstaatlichen Arbeiter-Unfall-Gesellschaft in Prag eine Stelle an. Bei näherer Betrachtung sind sehr viele Eindrücke dieses „Brotberufs“, wie er ihn genannt hat, in seine Arbeit eingeflossen. Er behandelt dort „Einsprüche der Beteiligten (Unternehmer, Arbeitnehmer) gegen die Festsetzung von Versicherungsbeiträgen“ und gilt dabei als harter, aber differenzierter und um Gerechtigkeit bemühter Gegner, der aufgrund seiner Fähigkeit juristische Schriftsätze präzise und elegant zu formulieren bald unentbehrlich für die Betriebsabteilung des Hauses geworden wird.5 Eine Fähigkeit, die er auch in seinem literarischen Werk eindrücklich unter Beweis stellt, ebenso wie seine rechtswissenschaftlichen Kenntnisse, die in der vorliegenden Erzählung eine große Rolle spielen.

„In der Strafkolonie“ entsteht im Jahr 1914, als Kafka einen Arbeitsurlaub antritt, den er eigentlich nutzen will, um an seinem Roman-Fragment „Der Prozeß“ zu arbeiten. Zwischen den Werken ist daher eine gewisse Nähe auf inhaltlicher unbestreitbar, jedoch kritisch zu betrachten, da die Texte bei näherer Betrachtung deutliche Unterschiede aufweisen. Die Erzählung findet in einer entfernten Strafkolonie in den Tropen statt, und beschäftigt sich mit der geplanten Exekution eines Bewohners dieser Kolonie, der der/dem LeserIn nur als „Verurteilter“ vorgestellt wird. Ein „Reisender“ ist Gast in der Kolonie und soll der Exekution beiwohnen, die durch den „Apparat“ vollzogen werden soll, eine technisch fortschrittliche Maschine, die der „Offizier“, als einziges Rechtsorgan der Strafkolonie, verwaltet. Mündlich wird zudem ein Konflikt zwischen dem Rechtssystem des „alten Kommandanten“, dem der Offizier anhängt, und dem „neuen Kommandanten“ ausgetragen, der ein neues, milderes System einführen will. Dem Reisenden fällt schließlich das abschließende Urteil in dieser Diskussion zu. Aufgrund dieser Entscheidung begeht der Offizier am Ende Selbstmord durch den Apparat, der sich dabei selbst zerstört.

Diese Proseminar-Arbeit beschäftigt sich mit der Manifestation eines Begriffs der Rechtsphilosophie durch die literarische Ästhetik des Grotesken in dieser Erzählung. Zu diesem Zweck werden zunächst mögliche außerliterarische Referenzpunkte zu jenen Rechtskonzepten umrissen, die Kafka in der Strafkolonie darstellt. Des Weiteren werden mit der Erzählperspektive, der Distanz und der Verfremdung die literarischen Mittel analysiert, die Kafka im Sinne des Grotesken zur Gestaltung des Textes nutzt. Als Grundlage der Analyse von Distanz und Perspektive dient dabei Gérard Genettes Erzähltheorie, da sie durch ihre Praktikabilität und ihre Differenziertheit geeignet ist, die komplexe stilistische Struktur dieser Erzählung zu erfassen. Die Untersuchung der Verfremdung orientiert sich hingegen an einem Modell von Werner Mittenzwei, das die Wirksamkeit der Verfremdung an drei Momenten festmacht. Im Anschluss werden die rechtlichen Konzepte mit der literarischen Darstellung in Bezug gesetzt, um den Grotesken-Begriff zu extrahieren, der der Erzählung innewohnt. Aus diesem Kompositum schließlich wird versucht einen Rechtsphilosophiebegriff abzuleiten, der aus der Erzählung folgt.

2. Grundzüge eines Rechtsystems

2.1. Allgemeine Grundsätze und grundsätzliche Züge eines modernen europäischen Strafrechts am Beginn des 20. Jahrhunderts verglichen mit einem Inquisitionsgericht der Vormoderne undin den Kolonien der Neuzeit

Innerhalb der Erzählung „In der Strafkolonie“ werden verschiedene Ansätze von Rechtssystemen einander gegenübergestellt. Diese Konzeption kann auf ein historisches Spannungsfeld von vormodernem absolutistischen und modernem Strafrecht zurückgeführt werden, das durch die große Strafrechtsreform im 19.Jh. eingeleitet, bis in Kafkas Zeit hinein eine wesentliche Rolle spielt.6 Einerseits geht die Reform des Strafrechts nur sehr langsam von statten, weshalb es teilweise bis ins frühe 20. Jh. gedauert hat, bis sich das moderne Strafrecht in ganz Europa einigermaßen manifestiert hat7, auf der anderen Seite eröffnet sich mit der Kolonialisierung, insbesondere der Betreibung von Strafkolonien ein neuer Rechtsraum, in dem man archaische Formen des vormodernen Vergeltungsrechts etabliert.8 Dieser Kampf zwischen traditioneller und moderner Schule des Strafrechts dauert über ein Jahrhundert. Er ist gezeichnet von Rückschlägen sowie Widerständen und so ist es ein langer Prozess, bis das Strafrecht in Kodifikation wie Umsetzung vollständig modernisiert ist. Auch Franz Kafka hat als Bürger der K. u. K.-Monarchie Österreich-Ungarn in dessen Rechtssystem in einem solchen Spannungsfeld gearbeitet und geschrieben. In gewisser Weise musste Kafka das Groteske des Strafrechts also nicht erfinden, Tendenzen dessen ergaben sich aus der Mischung und Überlappung absolutistischer und moderner Teilaspekte.

2.1.1. Das vormoderne Strafrecht: Vergeltungsstrafrecht

Das vormoderne Strafrecht ist ein Vergeltungsstrafrecht. Darunter versteht man eine Form der Bestrafung von Gesetzesübertretung, die auf Rache abzielt und dafür zu den rigorosen Mitteln Folter und Todesstrafe greift. Dieser Rechtsbegriff geht nämlich von dem Grundsatz „Generalprävention vor Spezialprävention“ aus, was bedeutet, dass Strafen in erster Linie als Mahnmal, als Abschreckungsmittel dienen und die Bestrafung des Einzelnen als erzieherische Maßnahme hintanstellt bzw. ausklammert. Das Gerichtsverfahren des Vergeltungsstrafrechts ist das Inquisitionsgericht, welches die „Funktion des Richters und des Anklägers nicht voneinander trennt und bei dem der Inquirent von Amts wegen einschreitet. Der/die Verurteilte, hier Inquisit, wird als Objekt und nicht als Subjekt des Verfahrens behandelt.9 Er/Sie ist zum Geständnis verpflichtet und kann auch durch die Folter10 dazu gezwungen werden. Die Verteidigungsrechte des/der Verurteilten sind stark eingeschränkt, jedoch nicht gänzlich unterbunden und das Verfahren wird geheim, schriftlich und mittelbar geführt. Das Urteil kann Freispruch, Schuldspruch und Lossprechung ohne Rechtskraft im Falle vorliegender Zweifel heißen. Eine Garantie für die Unabhängigkeit der verbeamteten Richter gibt es nicht.11

2.1.2. Das moderne Strafrecht am Beginn des 20. Jh.

Die Reformbewegung setzt in der K.u.k.-Monarchie nach der Revolution von 1848 ein und orientiert sich an den angelsächsischen Rechtssystemen sowie am französischen Code Civil Napoleons. Die Reformen beinhalten zunächst die Schaffung von Geschworenengerichten und die Einführung der Staatsanwaltschaft, die eine der wichtigsten Neuerungen darstellt, da sie Richter und Ankläger separiert. Der/die Beschuldigte hat erstmals Anspruch auf rechtliches Gehör, ein Beweisantragsrecht sowie eine Rechtsmittelbefugnis, was im Kern bedeutet, dass er/sie vom Objekt zum Prozesssubjekt wird. Außerdem werden die Verteidigungsrechte des/der Angeklagten gestärkt und das Verfahren findet öffentlich, mündlich und unmittelbar statt. Für Richter gilt nun der Grundsatz der freien Beweisführung.12 Darüber wem der Richter dabei verbunden ist, sind sich angelsächsi sche und kontinentale Rechtsordnungen bis heute nicht ganz einig. Während erstere ihre Richter dazu verpflichten nach dem Grundsatz ,equal justice under law‘ zu handeln, sind kontinentale Richter ausdrücklich nur an das geltende Recht gebunden. Grant für seine Unabhängigkeit soll das faire Verfahren sein.13 Im modernen Strafrecht kommt es nur zum Verfahren, wenn ein gesetzlich berechtigter Ankläger, also im Strafprozess ein Staatsanwalt Anklage erhebt. Diese kann also nicht mehr vom Richter initiiert werden, wie im Vergeltungsstrafrecht. Auf diesen Grundsätzen des Entwurfs von 1912 baut im Wesentlichen unsere heutige Strafrechtsordnung auf, auch wenn sie natürlich mehrmals erweitert und die einzelnen Normen immer wieder überarbeitet werden.14

2.2. Inhaltliche Analogien zwischen den außerliterarischen Rechtskonzepten und Kafkas literarischer Verarbeitung von Rechtsbegriffen in der Erzählung

Das Rechtssystem des alten Kommandanten, dem der Offizier anhängt, weist starke Parallelen zum Vergeltungsstrafrecht auf. Es basiert auf einer Sammlung von Geboten, die der Offizier, der letzte offene Anhänger des alten Kommandanten, in einer Mappe in Form von Zeichnungen verwahrt. Jeder Gebotsübertritt ist mit der Todesstrafe durch Folter sanktioniert, was den Rachegedanken dieses Rechtsbegriffs sowie die Rigorosität der Bestrafung sehr deutlich macht. Die Zeichnungen dienen dem technisch fortschrittlichen Exekutionsapparat als Einstellungsanleitung für die jeweiligen Urteile. Der Apparat ist das Herzstück dieses Rechtsverfahrens. Er besteht aus drei Teilen, dem Bett, dem Zeichner und der Egge, die das entsprechende Urteil in den Leib des Verurteilten mit Nadeln einschreibt. Fraglich ist, o der Apparat ein Rechtorgan für sich selbst ist, da in der Erzählung der Eindruck erweckt wird, er handle eigenständig. Doch diesen Handlungen geht immer eine Handlung des Offiziers voraus, die den Apparat in Gang setzt, wie das Einschalten der Maschine, um die Exekution zu beginnen oder die Arbeit am Räderwerk vor der Selbst-Exekution. Auf diese Arbeit wird auch der scheinbar eigenständige Beginn der Exekution des Offiziers zurückgeführt. Daher wird der Apparat in dieser Arbeit als Exekutionsmittel und nicht als -organ verstanden. Die Vollstreckung des Urteils nimmt insgesamt 12 Stunden in Anspruch und hat, wie der/die LeserIn durch Erzählungen des Offiziers erfährt, zur Zeit des alten Kommandanten als große Inszenierung vor den versammelten Bewohnern der Strafkolonie stattgefunden. Die Veranstaltung hat dabei Ritualcharakter angenommen, so wie es auch bei den Inquisitionsgerichten der Vormoderne üblich war. Hier wird der generalpräventive Hintergedanke dieses Verfahrens deutlich. So ausgeklügelt und aufwändig die Vollstreckung des Rechts konzipiert ist, so rudimentär fällt die Urteilsbildung im Vorfeld aus. Die Gewaltenteilung ist aufgehoben. Der Richter, einst der alte Kommandant, später eingeschränkt im ersten Punkt der Offizier, vereint gesetzgebende, anklagende, verteidigende, richtende und vollziehende Gewalt in einer Person du stellt damit eine zugespitzte Version des anklagenden Richters des Inquisitionsprozesses dar. Nachdem ein Bewohner der Strafkolonie, in diesem speziellen Fall ein Hauptmann, Anzeige erstattet, hält der Offizier diese schriftlich fest, und entscheidet den Fall aufgrund des Grundsatzes: „Die Schuld ist immer zweifellos.“15 Es gibt daher kein Verfahren vor Gericht, keinen Anwalt und der Verurteilte bekommt auch nicht die Gelegenheit sich selbst zu verteidigen, da dies für unnötig befunden wird, denn eine „Diskussion“ darüber führt lediglich zu Lügen des Verurteilten und weiteren Lügen.16 Auch wird dem Verurteilten nicht mitgeteilt, dass, und zu welchem Urteil, er verurteilt wurde. Er erfährt es nach Angaben des Offiziers über den Leib, auf den es ihm bei der Exekution 12 Stunden lang eingeschrieben wird. Die Objektivierung des Verurteilten wird so deutlich gemacht. Der Richter, in Form des Offiziers gibt gar nicht erst vor unabhängig zu sein. Die Art, wie er das Verfahren vereinfacht, indem gar keines stattfindet, zeigt deutlich, dass die Möglichkeiten des Freispruchs sowie die Lossprechung ohne Rechtskraft im Vergeltungsverfahren obsolet werden, da die Schuld nicht bewiesen, sondern vorausgesetzt wird.

Dem gegenüber steht das moderne Strafrecht, das dem europäischen Rechtssystem des Reisenden entspricht. Zudem scheint die neue, ,mildere‘ Richtung des neuen Kommandanten in diese Richtung zu gehen, wobei dies zu wenig ausgeführt wird, um das Motiv eindeutig verorten zu können. Durch die Erwartungen des Reisenden an ein Rechtsverfahren wird deutlich, dass das europäische Recht ein Gerichtsverfahren mit Verteidigung und Urteilsverkündung beinhaltet. In Grundzügen entspricht diese Rechtsordnung einem modernen europäischen Strafrecht, wie dieses auch bereits zu Kafkas Zeit praktiziert worden ist.

Da der Vergeltungsstrafrechtsbegriff innerhalb der Erzählung in Auflösung begriffen ist, kann die Beziehung zwischen der neuen und der alten Rechtsordnung einerseits als historische Parabel17 angesehen werden. Durch die Distanz zwischen dem noch praktizierten Verfahren in der Strafkolonie und der fortschrittlichen europäischen Rechtsordnung, der der Reisende angehört, kann auch durch die Verortung des archaischen Systems in einer Kolonie, genauer in einer Strafkolonie, erklärt werden. Die räumliche Distanz sowie der Begriff ,Strafkolonie‘ haben zu dieser Zeit häufig dazu geführt, dass man in dieser Randposition weitaus rückständigere Rechtspraktiken angewendet hat, durchaus mit Wissen und Einverständnis der jeweiligen Kolonialmacht ausgestattet. Angehörige des Militärs, die in vor Gericht wegen dieser unmenschlichen Praktiken angeklagt wurden, wurden freigesprochen mit der Begründung, dass die koloniale Gewaltbereitschaft eine Folge der Anpassung an die krude Natur der tropischen Kolonialsituation ist.18

3. Die literarische Ästhetik des Grotesken angewendet auf die Rechts- und Verfahrenselemente in „In der Strafkolonie“

3.1. Die Konstitution von Distanz

Nach Gérard Genettes Erzähltheorie ist der Modus der Grad an Mittelbarkeit und Perspektivierung des Geschehens innerhalb der Erzählung. Die Distanz stellt in diesem Rahmen einen Grad der Mittelbarkeit dar. Bei „In der Strafkolonie“ liegt eine mittelbare Darstellung vor, da es einen Erzähler gibt, der das Geschehen der/m LeserIn anhand der Narration vermittelt. Da jedoch auch zahlreiche wörtliche Reden vorkommen, ist auch der dramatische Modus in der Erzählung vertreten. Genette unterscheidet außerdem die Erzählung von Ereignissen von der Erzählung von Worten. Während die erste Kategorie immer die Umsetzung von Außersprachlichem in Sprachliches bedeutet, ist mit der Erzählung von Worten die wörtliche Rede innerhalb eines Textes gemeint. Kafka nutzt in „In der Strafkolonie“ also beide Erzählgegenstände und -modi, um ein dynamisches Spiel zwischen Distanz und Distanzlosigkeit zu kreieren.19

Einerseits erzeugt der Autor durch die Nennung zahlreicher Details, die in der Erzählung selbst keine handlungstreibende Funktion innehaben, wie zum Beispiel die Leiter des Offiziers oder die Rohrstühle neben dem Apparat, eine Distanzlosigkeit, die Roland Barthes den „Wirklichkeitseffekt“20 nennt. Die Beschreibung dieser Details erweckt bei/m der LeserIn das Gefühl im Raum dieses Geschehens anwesend zu sein. Gleichzeitig unterlässt Kafka jegliche Orientierungsmöglichkeit auf der Makroebene. Alles was die/der LeserIn über den Schauplatz des Geschehens erfährt, ist, dass es sich um eine Strafkolonie handelt, die irgendwo auf einer Insel in den Tropen existiert und ein Teehaus in ärmlicher Hafengegend sowie ein prächtiges Kommandaturhaus besitzt. Der größte Teil der Handlung findet in einer sandigen Einöde irgendwo abseits von der Kolonie selbst statt. Daraus wird die/der LeserIn in eine eigenartige Position versetzt, in der er/sie zwar die kleinsten Details kennt, während das große ganze des Raums unscharf bleibt. In diesem Aspekt der Erzähler wird Distanz der/dem LeserIn also verweigert. Eine ebensolche Distanzlosigkeit erzeugen die großen Abschnitte wörtlicher Reden des Offiziers, die in Kombination mit Kafkas insgesamt langsamen Erzähltempo den Anschein von Gegenwart erzeugen. Obwohl während der Sprechakte jede Vermittlungsinstanz ausgeschaltet erscheint, verzichtet der Autor nicht auf Anführungszeichen und inquit-Formeln durch ein verbum dicendi. Es handelt sich dabei also um eine direkte, aber keine autonom direkte Rede. Auch die erzählte Figurenrede hat ihren Platz in Kafkas Erzählung.21 Passagen wie, „Der Verurteilte flüsterte ihm etwas zu und der Soldat nickte“22, bilden Informationslücken und erzeugen Distanz. Diese Situation stellt einen Extremfall der Erzählung von Worten im narrativen Modus dar, eine Raffung des sprachlichen Akts, ohne den Inhalt zu spezifizieren. Auch die Gedanken des Offiziers werden gerafft in Form eines Bewusstseinsberichts dargestellt, wodurch eine größere Distanz zwischen der Rede des Erzählers und dem Denken des Offiziers geschaffen wird.

[...]


1 Peter-André Alt: Franz Kafka. Der ewige Sohn. Eine Biographie. München: CH Beck 2005, S. 475

2 vgl. Ulf Abraham: Kafka und Recht/Justiz. In.: Bettina von Jagow (Hg.): Kafka-Handbuch. Darmstadt: wiss. Buchges. 2008, S. 212.

3 Alexander Honold: In der Strafkolonie. In: Bettina von Jagow (Hg.): Kafka Handbuch. Darmstadt: Buchges. 2008, S. 488.

4 vgl. Janko Ferk: Wie wird man Franz Kafka. 3 Essays. Wien: Lit. Verl. 2008, S.17.

5 vgl. Janko Ferk: Wie wird man Franz Kafka. 3 Essays. S.17.

6 vgl., Janko Ferk: Recht ist ein „Prozeß“. Über Kafkas Rechtsphilosophie. Wien: Manz 1999, S. 31.

7 Alexander Honold: In der Strafkolonie. Kafka Handbuch. S.487.

8 Ebd. S33.

9 Janko Ferk: Recht ist ein „Prozeß“. Über Kafkas Rechtsphilosophie. S.31ff.

10 Die Folter wurde 1776 unter dem Einfluss von Sonnenfels und Beccaria abgeschafft und durch Lügen- und Ungehorsamsstrafen ersetzt. Vgl. Ebd. S.34.

11 Janko Ferk: Recht ist ein „Prozeß“. Über Kafkas Rechtsphilosophie. S.31ff.

12 Ebd. S.33ff.

13 vgl. Janko Ferk: Wie wird man Franz Kafka. 3 Essays. S.29ff. Demnach versteht man unter einem fairen Prozess im modernen Strafrecht eine, in dem „jeder Betroffene die Möglichkeit [hat], seine Tatsachen darzustellen und in Verbindung damit den Rechtsstandpunkt darzulegen“

14 Ferk, Janko: Recht ist ein „Prozeß“. Über Kafkas Rechtsphilosophie. S.33ff.

15 Franz Kafka: Sämtliche Erzählungen. Hrsg. V. Paul Raabe. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1970, S.171.

16 vgl. Ebd.

17 vgl. Hans Hiebel: Die Zeichen des Gesetzes, Recht und Macht bei Franz Kafka. München: Fink 1983, S.80f.

18 Alexander Honold: In der Strafkolonie. In: Bettina von Jagow (Hg.): Kafka Handbuch. S.487.

19 vgl. Janine Wergin: Franz Kafkas „In der Strafkolonie“. Eine Analyse nach dem erzähltheoretischen Ansatz von Gerard Genette. Norderstedt: GRIN Verl. 2004, S. 12ff.

20 vgl. Roland Barthes: L'effet de Réel, in: Ders.: Oeuvres complètes, Tome 2: 1966-1973, Paris 1994 S. 479­484.

21 vgl. Janine Wergin: Franz Kafkas „In der Strafkolonie“. Eine Analyse nach dem erzähltheoretischen Ansatz von Gerard Genette. S. 12ff.

22 Franz Kafka: Sämtliche Erzählungen, S.117.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
"In der Strafkolonie" von Franz Kafka. Wie sich der Begriff einer Rechtsphilosophie in der literarischen Ästhetik des Grotesken manifestiert
Hochschule
Universität Salzburg  (Institut für Philosophie)
Veranstaltung
Seminar Literatur und Groteske
Note
1,0
Autor
Jahr
2016
Seiten
23
Katalognummer
V514897
ISBN (eBook)
9783346111098
ISBN (Buch)
9783346111104
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Franz Kafka, Groteske, Rechtsphilosophie, Rechtsbegriff, In der Strafkolonie
Arbeit zitieren
Marina Molnar (Autor:in), 2016, "In der Strafkolonie" von Franz Kafka. Wie sich der Begriff einer Rechtsphilosophie in der literarischen Ästhetik des Grotesken manifestiert, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/514897

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