Wie entwickelt sich der Typus der europäischen Stadt? Der sozialwissenschaftliche Diskurs und das Beispiel Darmstadt


Diplomarbeit, 2008

89 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Sozialwissenschaftlicher Diskurs der europäischen Stadt
2.1 Einführung in die Stadtsoziologie
2.2 Das Bild der europäischen Stadt heute
2.3 Historische stadtsoziologische Diskursanalyse
2.3.1 Max Weber
2.3.2 Georg Simmel
2.3.3 Émile Durkheim
2.3.4 Chicagoer School
2.3.5 Hans-Peter Bahrdt
2.4 Die Stadt in der europäische Geschichte

3. Versuch einer Platzierung der europäischen Stadt heute
3.1 Die Krise der europäischen Stadt
3.1.1 Der Typus der sozialistischen Stadt
3.2 Bilanz

4. Die Geschichte Darmstadts
4.1 Wissenschaftsstadt Darmstadt
4.2 Lokale Ökonomie der Stadt

5. Siebels Merkmale im Kontext Darmstadts

6. Differenzierungen der europäischen Stadt
6.1 Die Krise der europäischen Stadt als Chance
6.2 Der Ort der Segregation als Ort der Integration?

7. Die europäische Stadt im Wandel

8. Fazit und Ausblick

Bibliographie

Internetquellen:

Quellen der Anlagen:

Anmerkung der Redaktion: Der Anhang wurde aus redaktionellen Gründen entfernt, ist aber anhand der Quellenangaben nachvollziehbar.

1. Einleitung

Es ist das Jahrhundert der Städte. Mehr als die Hälfte der Menschheit wird nach Schätzungen der UN im Jahr 2008 in Städten leben und bis 2030 sollen es mehr als 78,5% der Europäer sein.

Städte faszinieren. Die Menschen treibt es auch heute noch in die Städte, denn dort hofft man zu finden, wonach man sucht: individuelle Freiheit, Anonymität, Abwechslung, Kultur, verschiedene Freizeitangebote, Wissen, Kapital und die Hoffnung auf Integration in eine bessere, urbane Lebensweise. Das Bild der Stadt lockt mit geringeren kulturellen Zwängen. Fahren wir in den Urlaub in ein fremdes Land, so versuchen die meisten Touristen die Hauptstadt oder Großstädte zu besuchen. In Italien will man Rom, Mailand oder Venedig besichtigen, denn dort, so nimmt man an, sieht man die Kultur, Geschichte und das gegenwärtige Leben geballt im Zentrum der Stadt. Stadt meint in diesem Zusammenhang ausschließlich Großstadt, denn der Kleinstadt schreiben wir andere Eigenschaften zu. Die Haltung gegenüber dem Städtischen ändert sich. Noch bis vor kurzem diente die Stadt der Arbeit und dem Single- oder Junggesellenleben. Familien zogen ins Grüne, in das scheinbar ruhige Umland und arbeiteten nur noch in der Stadt. Heute im 21. Jahrhundert ist das Stadtleben wieder auf dem Vormarsch. Die jungen Familien zieht es wieder in die Stadt, denn Kinderbetreuung und Freizeit sind hier besser organisiert. Dies führt dazu, dass in vielen Städten nach Feierabend die Stadt weiterlebt und Arbeit sowie Leben miteinander vereinbar sind. Opaschowski, wissenschaftlicher Leiter der Stiftung für Zukunftsfragen der Universität Hamburg prognostiziert eine zunehmende Attraktivität der innerstädtischen Lage und zugleich einen Wandel der Wohnungswünsche hin zu „Berliner Verhältnissen“, also einen Mietwohnanteil von beinahe 90%. Denn in der Stadt wohnen ist teuer und der Mieter hat weniger Pflichten als der Wohnungseigentümer.1

Diese Diplomarbeit wird sich mit dem Typus der europäischen Stadt beschäftigen und diesen Gegenstand in der sozialwissenschaftlichen Diskussion aufzeigen. Die europäische Stadt wird dabei in ihrer Differenz zu den Stadttypen anderer Gesellschaften und besonders in Abgrenzung zum Typus der amerikanischen Stadt gesehen. Davon ausgehend, dass wir es zum aktuellen Stand der Diskussion mit einem normativen Überschuss zu tun haben, soll historisch nachgezeichnet werden, wie es dazu gekommen ist. Wie ist das aktuelle Bild der europäischen Stadt in den Sozialwissenschaften entstanden? Der Typus der europäischen Stadt wird in der Diskussion oft als Wunschvorstellung, als erwünschte Norm und nicht als Realität beschrieben. Georg Simmel, Max Weber, die Chicagoer School, sie alle haben sich bereits mit der Stadt beschäftigt.2 Allerdings ist der eigentliche Forschungsgegenstand der meisten Arbeiten in der Stadtsoziologie nicht die Stadt, sondern diese wird mit Gesellschaft gleichgesetzt. Großstädte seien somit das Spiegelbild unserer Gesellschaft. Mich interessiert besonders die normative Begründung für das Konstrukt der europäischen Stadt, wofür die Darstellungen der Theorien der Klassiker der Soziologie, wie Simmel und Weber nützlich sein werden.

Nostalgisch blicken wir gerne zurück in die Vergangenheit unserer Städte als Brutstätte der Zivilisation. Paris, die Stadt der Liebe, der Kunst und Mode. Rom, das an die vergangene Zeit der Gladiatorenkämpfe und des römischen Reiches denken lässt. London, im Zeitalter der großen Könige oder die Polis im alten Griechenland, der Beginn einer neuen Gesellschaft. Verschwinden diese Bilder der Stadt, haben sie so in der Realität jemals existiert? Löst sich die steingewordene Geschichte der Städte auf und verlieren sie ihre Struktur in einem Siedlungsbrei? Die europäische Stadt befinde sich in einer Orientierungskrise und sogar von der „Enteuropäisierung“ der europäischen Stadt wird gesprochen. Auf all diese Fragen werde ich in dieser Arbeit eingehen und aufzeigen, dass sie anders gestellt werden können und sollten. Die eigentliche Frage dieser Arbeit bleibt dabei bestehen, nämlich danach, wie sich der Typus der europäischen Stadt in der sozialwissenschaftlichen Diskussion darstellt. Besonderes Interesse liegt dabei auf der Begründung der Konstruktion der europäischen Stadt. Der Typus der europäische Stadt wird in der Diskussion oft verallgemeinert dargestellt. Fasziniert von der Historie Europas und der Entwicklung seiner Städte werde ich mich in dieser Arbeit der Geschichte und dem Bild der europäischen Stadt zuwenden, von dem ich annehme, dass es idealisiert ist und im weiteren Verlauf die Zukunft der europäischen Stadt in verschiedenen Szenarien betrachten.

In der Politik, den Medien und den Sozialwissenschaften werden Krisenszenarien der europäischen Stadt beschrieben. Sie zerfalle, sie verliere an Bevölkerung, die europäische Stadt verliere ihre Gestalt und ihre Notwendigkeit. Wie wird aber auf diese Krise geschlossen und woher kommt dieser katastrophische Blick in die Zukunft? Dies werde ich im ersten Teil dieser Arbeit anhand einer historischen Diskursanalyse nachvollziehen.

Grundlage der Diplomarbeit sind die fünf Merkmalen der europäischen Stadt von Walter Siebel (Vgl. Siebel 2004). Diese sind mehr normativ als deskriptiv und dienen als normativer Gipfel des stadtsoziologischen Diskurses zum Typus der europäischen Stadt. Demnach ist die europäische Stadt Ort ihrer Geschichte, Ort der Emanzipation, Ort einer besonderen urbanen Lebensweise, geplante und kompakte Stadt und ihre Gestalt ist das Gefäß der urbanen Lebensweise. Zusätzlich werde ich mich der Darstellung der europäischen Stadt und ihrer Entwicklung eines Historikers widmen, um dem Leser dadurch einen besseren Bezug zu vermitteln, wie der normative Überschuss des Bildes der europäischen Stadt entstehen konnte und was genau diesen ausmacht.

Die Stadt Darmstadt mit knapp über 140.000 Einwohnern im Rhein-Main Gebiet dient der Überprüfung der Kategorien Siebels im zweiten Teil der Diplomarbeit (Vgl. Siebel 2004). Darmstadt wird anhand seiner Geschichte, Atmosphäre und Ökonomie dargestellt und so in der Tradition der Darmstädter Stadtsoziologie die Eigenlogik der Stadt herausgearbeitet (Vgl. Berking/Löw 2008). Auch wenn diese Stadt nicht in einem Atemzug mit Städten wie Berlin, Wien, London oder München genannt wird, so ist auch diese Stadt europäisch geprägt und sollte somit die Merkmale nach Siebel aufzeigen. Dem Leser soll ein historisch nachvollziehbares Bild Darmstadts vermittelt werden, um so eine empirische Überprüfung der fünf Merkmale der europäischen Stadt zu vollziehen. Siebel hat einen Idealtypus der europäischen Stadt konstruiert, der natürlich nur sehr schwer in der Realität anzuwenden ist. Inwieweit sich die normative Darstellung der Stadt aber empirisch auf Darmstadt anwenden lässt, wird zu überprüfen sein. Dabei werde ich meine persönlichen Erfahrungen aus meiner aktiven Zeit in der Darmstädter Politik und früheren Bekanntschaften zu einigen politischen Größen der Stadt, wie beispielsweise dem heutigen Oberbürgermeisters Walter Hoffmann, dazu nutzen, aktuelle Ereignisse in der Stadt zu bewerten. Dies beruht zugegebenermaßen auf einer subjektiven Wahrnehmung der Ereignisse und ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass dadurch einige Mutmaßungen entstehen, die durchaus kritisch betrachtet werden müssen. Weitere Informationen über die Stadt sind durch Gespräche mit einer Vertreterin des Projektes „soziale Stadt“ in Kranichstein, in Darmstadt geborenen Kommilitonen oder in die Stadt zugezogenen Bekannten vermittelt worden.

Wenn wir der Argumentation Walter Siebels und Hartmut Häußermanns folgen, so werden wir Darmstadt als kompakte und geplante Stadt und als Ort der Geschichte, der Emanzipation und besonderen urbanen Lebensweise entdecken, die sich durch den Einbruch der Industriegesellschaft in einer Krise befindet. Die von den beiden Autoren skizzierte Krise der europäischen Stadt werde ich im dritten Teil dieser Arbeit differenziert und kritisch betrachten. Besondere Beachtung wird dabei der These von der Stadt als Ort der Integration geschenkt, die sich nun zum Ort der Segregation wandeln würde (Vgl. Häußermann/Oswald 1997). Ausgehend von den genannten fünf Kategorien der europäischen Stadt und der daraus schließenden Krise, deren Entstehung in der sozialwissenschaftlichen Diskussion das hauptsächliche Anliegen dieser Arbeit ist, werde ich darüber hinaus diese Krisenszenarien als Chance für einen Wandel der Begrifflichkeiten nutzen. Die Stadt soll nicht als ein starrer Gegenstand behandelt werden, sondern wie anderen Begriffen, wie beispielsweise dem der „Familie“ Wandlungsfähigkeit zugestanden werden. Der dritte Teil soll also dazu dienen, einen differenzierten Blick auf die beschriebene Krise der europäischen Stadt zu werfen und dem Leser die Möglichkeit bieten die vorangegangenen Teile zu reflektieren. Dabei wird besonderer Wert darauf gelegt, die dargestellten Theorien und Szenarien nicht inkorrekt zu behandeln, sondern sie differenziert zu sehen und durch einen neuen Blickwinkel zu denken. Sollte die prognostizierte Krise der europäischen Stadt tatsächlich der Realität entsprechen, so darf sich nicht mit Beschreibungen von Krisenszenarien und dem nostalgischen Blick in die vergangene Zeit unserer Städte aufgehalten werden. Vielmehr müsste ein Umdenken der städtischen Struktur und des Begriffes des Urbanen angestrebt werden, um die Krise als einen Wandel zu begreifen.

2. Sozialwissenschaftlicher Diskurs der europäischen Stadt

In Hinblick auf die Fragestellung der Diplomarbeit nach der Darstellung des Typus der europäischen Stadt im sozialwissenschaftlichen Diskurs, möchte ich die Diskussion mit einer Einführung in die Stadtsoziologie beginnen und danach eine historische Diskursanalyse vollziehen, die die Entwicklung dieses Typus aufzeigen wird.

2.1 Einführung in die Stadtsoziologie

Die Stadtsoziologie hat eine 100jährige Geschichte, die in Berlin und Chicago beginnt. Hier muss Georg Simmel genannt werden, der grundlegende Beiträge zur Soziologie der Stadt verfasste. Zu einer Definition der Stadt schreibt er:

Das bedeutsamste Wesen der Großstadt liegt in dieser funktionalen Größe jenseits ihrer physischen Grenzen [...]. Wie ein Mensch nicht zu ende ist mit den Grenzen seines Körpers oder des Bezirks, den er mit seiner Tätigkeit unmittelbar erfüllt, sondern erst mit der Summe der Wirkungen, die sich von ihm aus zeitlich und räumlich erstrecken: so besteht auch eine Stadt erst aus der Gesamtheit der über ihre Unmittelbarkeit hinausreichenden Wirkungen. (Simmel 1984, 201)

Hartmut Häußermann beschreibt die Stadtsoziologie wie folgt: „Stadtsoziologie ist ein Sammelbegriff für soziologische Theorien und Forschungsergebnisse, die zum Verständnis der Entwicklung von Städten, zur Erklärung der städtischen Lebensweise, zur Analyse der Stadt als einem System der Zuteilung von Lebenschancen und zur Gestaltung der städtischen Lebensverhältnisse beitragen können“ (Häußermann 1998, 9). Auch allgemeine Gesellschaftsanalysen und -theorien fließen in die Stadtsoziologie mit ein.

Man sollte annehmen, dass der Forschungsgegenstand der Stadtsoziologie die Stadt sei. Betrachtet man diesen Bereich aber genauer, so wird deutlich, dass „Stadt“ in der Soziologie bis heute immer nur als Subkategorie angesehen wird (Vgl. Berking/Löw 2005). Die Stadtsoziologie setzt ihren eigentlichen Forschungsgegenstand mit Gesellschaft gleich. Wie sich das ausdrückt, soll im Folgenden verdeutlicht werden. Dass die Stadt in der Soziologie Beachtung findet, liegt daran, dass sich die Stadt an den Theorien sozialer Ungleichheit orientiert und dies besonders im deutschsprachigen Raum. Präzise formuliert ist es die Großstadt, die zu einem privilegierten Erfahrungsraum für die sozialwissenschaftliche Theorienbildung wurde (Vgl. Berking/Löw 2005). In der Stadt lässt sich demnach das erkennen, was Gesellschaft ausmacht und wird von der Krise der Stadt (Heitmeyer 1998) gesprochen, so ist sie gleichgesetzt mit der Krise der Gesellschaft, die sich eben nur in Erstgenannter sichtbar macht und beobachten lässt. „Stadtanalysen sind Gesellschaftsanalysen, Gesellschaftsanalysen auch Stadtanalysen“, beschreibt es Friedrichs bereits 1983 (S. 14).

Die Themen der Stadtsoziologie in Deutschland lassen sich nach Ipsen (2003) in vier Bereiche gliedern:

- die Wiedervereinigung von BRD und DDR,
- die Urbanisierung der Landschaft und die damit aufkommenden theoretischen Fragen nach der Rolle und Zentralität der Stadt,
- die Frage nach der Integrationsfähigkeit der Stadt, als eine der Fragen der Stadtsoziologie überhaupt,
- eine Orientierung der Bearbeitung und Auffassung des sozialen Raumes auf Geschlechterbeziehungen.

Nach Ipsen hat sich die Stadt- und Regionalsoziologie in Deutschland beinahe einzig und allein mit dem Gegenstand der Großstadt beschäftigt und sich als Großstadtsoziologie begriffen (Vgl. Ipsen 2003, 542). Löw, Steets und Stoetzer (2007) formulieren die Themen der Stadtsoziologie aus:

Angefangen von den politischen Umwälzungen, Erfolgen und Katastrophen der Weimarer Republik, des Nationalsozialismus, des Wiederaufbaus, der deutschen Spaltung in Ost und West, der Entstehung sozialer Bewegungen [...] und der (Wieder)Vereinigung von DDR und BRD, über die stadtbaulichen Umwälzungen des Hochhausbaus, des U-Bahnbaus, der autogerechten Stadt, der Suburbanisierung bis hin zu sozialen Veränderungen, die alle in den (Groß)Städten ihren Anfang nehmen [...], schließlich auch wirtschaftliche Veränderungen, allen voran der Umbau der Gesellschaft von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft. (S. 37f)

Dies seien alles Themen der Stadtsoziologie, da sich die gesellschaftlichen Veränderungen deutlich und rasch in den Städten zeigen.

In den letzten Jahrzehnten stand dabei immer die Desintegration in den Großstädten im Vordergrund, die als der Untergang oder die Auflösung der Städte verstanden wurde. Da man der europäischen Stadt aber besonders ihre Integrationsleistung zuschreibt und diese Stadt als soziale Einheit hochlobt, entsteht hier zwangsläufig ein Krisenszenario. Eben dadurch, dass man diese unterstellte Integrationsleistung der Stadt nun nicht mehr findet. Die Stadt als soziale Einheit verstanden impliziert allerdings die Vorstellung, dass sich die Bürger mit ihrer Stadt identifizieren (Krämer-Badoni 2002, 74).

Das Idealbild der europäischen Stadt als einer politisch integrierten, territorial definierten und homogenen Vergemeinschaftungsform ist der normative Überschuss des stadtsoziologischen Diskurses. Dieses Idealbild einer europäischen Stadt, dieses normative Verständnis ist dem Bild der europäischen Stadt des 19. Jahrhunderts zu verdanken (Berking/Löw 2005, 13).

Anhand der fünf noch darzustellenden Merkmalen der europäischen Stadt, die Walter Siebel (2004) aufstellt und in ihrer Gesamtheit einen Idealtypus beschreiben, soll die normative Perspektive auf die europäische Stadt dargestellt werden, um diese später in der Realität zu überprüfen. Dabei tauchen wieder einige der eben beschriebenen Themen der Stadtsoziologie auf. Im folgenden Teil werden die Krisenszenarien der europäischen Stadt genauer betrachtet werden, damit sie im weiteren Verlauf dieser Arbeit von einer theoretisch noch nicht viel beachteten Perspektive diskutiert werden können: die Krise als Wandel und als Chance für neue Stadtentwicklungskonzepte.

2.2 Das Bild der europäischen Stadt heute

Städte gibt es schon seit über 7000 Jahren, die mitteleuropäische Stadt ist lediglich 1000 Jahre alt. Aber was sich in Europa als Stadt herausbildete, ist eine besondere Form des Urbanen. Der folgende Teil widmet sich der Darstellung der europäischen Stadt und deren Entwicklung nach Walter Siebel von der Universität Oldenburg und Hartmut Häußermann von der HU Berlin, beide Professoren für Soziologie. Das Bild der europäischen Stadt, als Entstehungsort der bürgerlichen Gesellschaft vor dem Hintergrund einer „Stadtgeschichte als Emanzipationsgeschichte“, transportiert die Normativität einer Theorie der europäischen Stadt, die in dieser Arbeit herausgearbeitet werden soll.

Ich möchte den Diskurs damit beginnen und im weiteren Verlauf des ersten Teils nachzeichnen, wie es zu diesem Bild der europäischen Stadt im Laufe der Diskussion der Stadtsoziologie gekommen ist. Dabei werde ich mich später genauer den Darstellungen und Beiträgen zur Stadt von Georg Simmel, Max Weber, der Chicagoer School, namentlich mit den Vertretern Robert Park, Ernest Burgess und Louis Wirth und der Definition von Stadt durch H.P. Bahrdt widmen. Auch der Architekturhistoriker Leonardo Benevolo soll anhand seiner realhistorischen Darstellung der europäischen Stadt mit einbezogen werden, um auch die geschichtliche Dimension aufzuzeigen.

Walter Siebel nennt in seiner Einleitung in Die europäische Stadt (2004) fünf Merkmale, die in ihrer Summe „einen Idealtypus von Stadt beschreiben, der so nur auf die europäische Stadt zutrifft“ (S. 12). Die europäische Stadt ist Ort ihrer Geschichte, Ort der Emanzipation, Ort ihrer besonderen, urbanen Lebensweise. Sie ist geplante Stadt und die europäische Stadt ist als fünftes Merkmal Gefäß der urbanen Lebensweise. Diese von ihm vorgeschlagenen Merkmale finden sich auch außerhalb Europas, sind aber nicht in jeder Stadt in der gleichen Ausprägung anzutreffen. Die fünf Merkmale Siebels transportieren die normative Darstellung des Typus der europäischen Stadt.

Schon Max Weber hat fünf Merkmale beschrieben: der Markt, die Stadtbürgerschaft, die eigene Gerichtsbarkeit, Selbstverwaltung und Befestigung. Auf diese Merkmale kann heute zwar nicht mehr zurückgegriffen werden, aber sie begründen ebenfalls „in ihrer Summe die Einzigartigkeit der europäischen Stadt“ (Siebel 2004, 11).

Siebel beschreibt zunächst die europäische Stadt als Differenz in sich selbst, beispielsweise in ihrer Geschichte, ihrer politischen Verfassung, ökonomischen Funktionen, aber auch in ihrer Gestalt und Größe (Siebel 2004, 12). So herrscht in den europäischen Städten beispielsweise ein sehr unterschiedliches Klima. Trotz aller Differenzen untereinander weisen sie aber dennoch Gemeinsamkeiten auf, die sie von Städten anderer Kontinente unterscheiden. Die europäische Stadt ist Ort ihrer Geschichte. Sie bewahrt sich, nicht nur wegen ihrer stabilen Bauweise, ihre Geschichte und Identität, anders als Städte anderer Gesellschaften, wie beispielsweise Asiens, denn dort fehlen ökonomisch oder politisch einflussreiche Schichten, die sich ihre eigene Identität im Stadtbild bewahren wollen (Siebel 2004, 13).

Europäische Stadtgeschichte ist eine Geschichte der Emanzipation. Sie ist der Ort, an dem die bürgerliche Gesellschaft entstanden ist. Die europäische Stadtgeschichte im Mittelalter sei eine Geschichte der besonderen Befreiung und zwar sei sie Ort der Emanzipation des Bourgeois, des Citoyen und des Individuums. Ihr wird ein revolutionärer Charakter zugeschrieben, denn die Bourgeoisie emanzipiert sich von der Hauswirtschaft zur Marktwirtschaft. Der Citoyen befreit sich aus der feudalistischen Abhängigkeit und sogar das Individuum bekommt nun die Freiheit, aus der dörflichen Enge in die urbane Anonymität der Stadt zu fliehen (Vgl. Siebel 2005). Als Ort der Emanzipation hat schon Max Weber die mittelalterliche Stadt beschrieben, die den Bourgeois und den Citoyen hervorbrachte.

Durch die Hoffnung auf ein besseres Leben trieb es die Bewohner in der traditionellen Agrargesellschaft vom Land in die Stadt, denn dort emanzipiert sich der Einwohner vom Lande, also von der Abhängigkeit der Natur. Die Befestigung der Stadt, also die Stadtmauer diente dabei als Abgrenzung zum agrarisch-feudalistischen Land. Städtisches Leben ist die Befreiung aus dem Zwang der Natur (Vgl. Siebel 2005). Im Mittelalter ist die europäische Stadt das Versprechen sich als Städter aus dem beengten politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnissen zu befreien. In der Neuzeit ist es die Hoffnung auf den sozialen Aufstieg in der Stadt, der die Emanzipation beschreibt. Allerdings wird die kommunale Selbstverwaltung der Stadt, die auf die Einheit des Alltags ihrer Bürger angewiesen ist, heute vor Probleme gestellt. Man wohnt heute in der Stadt A, arbeitet aber in der Stadt B, kauft in der Stadt C ein und muss dafür durch die Stadt D mit dem Auto fahren. Die einzelnen Städte sind mit den speziellen Wünschen der jeweiligen Bewohner, Arbeiter, Einkäufer oder Autofahrer und müssen gleichzeitig alle Funktionen erfüllen können.

Die industrielle Großstadt, die im 20. Jahrhundert expandierte war zum damaligen Zeitpunkt Ort der Hoffnung auf Aufstieg und auf die Integration des Proletariat. Nicht nur die europäische Stadt wird als Ort der Integration beschrieben. Obwohl in Europa die amerikanischen Städte häufig als unsozial und ausgrenzend beschrieben werden und die europäische Stadt in Abgrenzung zur US-amerikanischen gedacht wird, beschreiben die Soziologen der Chicagoer School die US-amerikanische Stadt als Integrationsmaschine (Siebel 2004, 24). Ihr wird eine Dynamik als Melting-Pott unterstellt, also als Schmelztiegel. Die Zone of Transition, die im Modell der konzentrischen Kreise von Burgess später noch genauer dargestellt wird, ist hierbei Ort der Auseinandersetzung des Fremden mit der neuen Gesellschaft, denn hier versuchen die Migranten sich zuerst in den amerikanischen Städten zu integrieren. Die innerstädtischen Ghettos Amerikas werden aber ihren Bewohnern, beispielsweise den Afroamerikanern zur Falle und diese Gefahr sieht Siebel auch in den europäischen Städten. Migranten, Langzeitarbeitslose und Arme werden ins Abseits der Städte gedrängt. Die Mechanismen des Wohnungsmarktes, wie zum Beispiel die Zuweisung durch Wohnraumverwaltungen, bedingen die gesellschaftliche Marginalisierung. Die Stadt wandelt sich vom Ort der Integration zum Ort der Segregation. Dies ist die radikalste Verneinung der Hoffnung des Städters ein besseres Leben zu führen (Vgl. Siebel 2004, 24). Jedoch ist die räumliche Ausgrenzung in den deutschen Städten aber noch lange nicht so drastisch wie in den USA oder England. Denn wenngleich es in Deutschland soziale Segregation gibt, so waren die integrativen Leistungen der Politik immer stärker als ihre ausgrenzenden (Vgl. Häußermann/Siebel 1987). Häußermann und Oswald haben die These der Stadt als Integrationsmaschine aufgestellt. Diese These konstatiert einen Zusammenhang zwischen Zuwanderung und Stadtentwicklung. Zuwanderung ist dabei ein ausschlaggebender Bestandteil der Stadtentwicklung, denn diese benötigt Wachstum um Stabilität zu erzeugen.

Ein weiteres Merkmal der europäischen Stadt ist, dass sie Ort einer besonderen, urbanen Lebensweise ist, denn das Leben in der Stadt unterscheidet sich durch die Polarisierung von Privatheit und Öffentlichkeit von dem auf dem Lande. Diese Polarität beschreibt Bahrdt am Gegenüber von Marktplatz und Wohnung, wobei der Markt ein System der unvollständigen Integration ist und auch bereits Simmel auf die Distanziertheit und Blasiertheit der Marktteilnehmer hinweist, was später im Detail erläutert werden wird (Vgl. Siebel 2004).

Die Polarität von Privatheit und Öffentlichkeit ist normativ hoch aufgeladen: das Ideal der bürgerlichen Öffentlichkeit versus dem Raum der bürgerlichen Gesellschaft. Privatheit ist der Ort der Intimität und Öffentlichkeit der der Selbstdarstellung. Der private Raum war aber nie nur friedlich und familiär und auch der öffentliche Raum schon immer exklusiv. Die Qualität dieser beiden Ideale hat sich geändert. In einer hochurbanisierten Gesellschaft, wie der Westeuropas, verschwindet auch die Differenz der Lebensweise zwischen Stadt und Land. „Die Stadt ist nicht mehr der besondere Ort einer urbanen Lebensweise“ (Siebel 2004, 32). Heute ist Urbanität ubiquitär geworden, sie ist nicht mehr an die Stadt als besonderen Ort gebunden. In der Urbanität liegt ein Spannungsverhältnis zwischen Dichte und Fremdheit, eben die angesprochene Polarität. Urbanität lässt sich nicht planen, darauf verweisen auch Häußermann und Siebel, denn die Qualität der Urbanität ist eben ihre Unvorhergesehenheit. „Die urbane Qualität der europäischen Stadt liegt in ihrer Widersprüchlichkeit und Ambivalenz, in ihrer Unübersichtlichkeit und ihrem chaotischen Überschuss, den Dichte, Größe und Heterogenität erzeugen können“ (Häußermann/Siebel 1997, 304). Auf die Kategorien „Dichte“, „Größe“ und „Heterogenität“ wird im weiteren Verlauf durch Louis Wirth, der diese als unabhängige Variablen betrachtet noch genauer eingegangen. Wirth versucht einen ahistorischen Begriff von Stadt zu entwickeln, der in allen Epochen gleichermaßen Gültigkeit haben soll.

Häußermann und Siebel sprechen von einem Ende des Gegensatzes zwischen Stadt und Land durch die Aufhebung der feudalen Ordnung Anfang des 19. Jahrhunderts. Das Land beginnt kapitalistisch zu werden, da sich die ländliche Ökonomie der städtischen angleicht. Die Industrielle Revolution im 19. Jahrhundert wurde nur ermöglicht durch die Abschaffung gesellschaftlicher Schranken für eine kapitalistische Organisation der Arbeit (Vgl. Häußermann/Siebel 1987). Die Konsequenzen daraus beschreiben Häußermann und Siebel als das Verschwinden der Bilder der aufgetürmten Stadt versus der freien Landschaft in einem „Brei der Agglomerationen“ (Häußermann/Siebel 1987, 105f). Nach ihrer Auffassung ist die heutige Stadtökonomie keine besondere Ökonomie der Stadt, sondern „die Entwicklung städtischer Strukturen unter dem Einfluß des kapitalistischen Verwertungsprozesses“ (Häußermann/Siebel, 1987, 105). Eine zentrale Aussage Siebels und Häußermanns ist, dass die Stadt mit ihrer politischen und ökonomischen Identität auch ihre räumliche identifizierbare Gestalt verliert.

Der Siegeszug der urbanen Lebensweise geht einher mit ihrer Aushöhlung. In seiner Berliner Antrittsvorlesung arbeitete Häußermann die Voraussetzungen heraus, unter denen der Simmel`sche Großstadtcharakter für ihn möglich erscheint. Er weist darauf hin, dass sich Blasiertheit nur der leisten kann, der nicht angewiesen ist auf persönliche Beziehungen oder Solidarität und eine gewisse ökonomische Unabhängigkeit innehat. Wem es nicht gelungen ist sich in das gesellschaftliche System zu integrieren, wie beispielsweise meist der Migrant, der ist angewiesen auf informelle Beziehungen, also persönliche Kontakte zu Verwandten oder Bekannten. Der blasierte und distanzierte Großstädter nach Simmel hätte dann wenig Chancen und hier liegt für Häußermann der Grund, warum in Einwanderungsvierteln kaum die für Simmel typischen Charaktereigenschaften des Großstädters auffindbar sind. „Je mehr die europäische Stadt zum Ort der Ausgrenzung wird, desto weniger wird sie der besondere Ort großstadttypischen Verhaltens sein können“ (Siebel 2004, 26).

Urbane Lebensweise meint für Siebel eine distanzierte und intellektualisierte Art des Verhaltens, die Trennung von Arbeit und Freizeit, von privat und öffentlich. Siebel weist darauf hin, dass viele Verfallsgeschichten über die europäische Stadt erzählt werden, aber nicht jede Veränderung auch gleichzeitig den Verfall der urbanen Lebensweise bedeutet. Im 19. Jahrhundert sprach man von dem Verfall der Sitten und Ordnung durch die Unüberschaubarkeit der industriellen Großstadt. Im 20. Jahrhundert sprach man von dem Verlust der Urbanität aufgrund des funktionalistischen Städtebaus. Diese Verfallsgeschichten implizieren, einen latenten Vergangenheitsoptimismus. Dennoch, so Siebel weiter, würden diese Geschichten auch einen Kern selektive Wahrheit besitzen, denn sie verschweigen oder vergessen meist auch von den Gewinnen, die mit den Verlusten einhergingen, zu berichten. Der öffentliche Raum habe sein normatives Ideal auch niemals in der Vergangenheit erfüllt, denn er war nie für jeden zugänglich, sondern immer exklusiv. Im 19. Jahrhundert wurde versucht, Frauen ohne männliche Begleitung und Proletariar aus dem öffentlichen Raum zu verbannen. Heute sind es Obdachlose und Drogenabhängige, die wir aus dem öffentlichen Raum fernhalten wollen (Siebel 2004, 27). Diese zeigen uns, was wir in der westlichen Welt in langer Arbeit im Prozess der Zivilisation aus dem öffentlichen Raum verdrängt haben, wie Urinieren, Schlafen oder Körperpflege.

In Bezug auf den Prozess der Zivilisation von Norbert Elias hat Peter Gleichmann (1976) diesen als Prozess der Einhausung beschrieben, also der Rückzug von Körperlichkeiten in das Private. Seit dem 19. Jahrhundert kann man nach Siebel auch von der Einhausung der Marktfunktion sprechen, die Gründungsfunktion der europäischen Stadt (Siebel 2004, 28). Es entstehen Passagen, Kaufhäuser, riesige Shopping-Malls und Urban-Entertainment-Center. Siebel möchte verdeutlichen, dass es zwar einen Wandel in der Ausprägung der Polarität von Öffentlichkeit und Privatheit gibt, dies aber nicht ihren Verfall bedeutet. Die Definitionen der urbanen Lebensweise von Simmel und Bahrdt, wie sie im folgenden Kapitel vorgestellt werden, sind aber mittlerweile nicht mehr aktuell, denn für Siebel ist die Differenz der Lebensweisen zwischen Stadt und Land heute mehr oder weniger gleich.

Als weiteres Merkmal beschreibt Siebel die europäische Stadt als geplante Stadt und nicht als organisch gewachsene. Die europäische Stadt ist eine kompakte Stadt. Sie sei nicht ausschließlich geleitet von den Regeln des Marktes, sondern als geplante Stadt unterlag sie den Leitbildern und Wertvorstellungen von Stadtplanern und Politikern, die sie durch kommunale und staatliche Sozialpolitik zu einer sozialen Stadt werden ließen. Die europäische Stadt ist nach diesem Merkmal eine sozialstaatlich regulierte Stadt. Angesichts der miserablen Lebensbedingungen der industriellen Großstadt Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts gab es Bestrebungen für Reformen, aufgrund derer ein wirksamer lokaler Interventionsstaat geschaffen wurde: kommunale Krankenhäuser und Altenheime, städtische Gesundheitsämter und Sozialverwaltung, Stadtwerke, Nahverkehrsbetriebe und ein breites Angebot an Sozialwohnungen. Am Beispiel der Entwicklung des sozialen Wohnungsbaus wird im Folgenden die Veränderungen und Spielräume der kommunalen Politik aufgezeigt, um zu verdeutlichen, was Siebel unter der sozialstaatlich regulierten Stadt versteht.

Die Zahl der Sozialwohnungen geht kontinuierlich zurück. Alte Bestände werden privatisiert, allerdings nur solche in besseren Lagen, Wohnungsgesellschaften werden verkauft und neue, sozial gebundene Wohnungen kaum noch gebaut. Die finanziellen Möglichkeiten der Kommunen zwingen diese ihre kommunalen Träger abzutreten. So bleiben Sozialwohnungen übrig, die sich in abgelegener Lage und in unattraktiver Bauform befinden. Dort, wo viel Leerstand zu finden ist, schreitet die Privatisierung weniger schnell voran. Das bedeutet, dass die „negative Selektivität zulasten der sozial gebundenen Bestände“ dort weniger geschieht, wo Sozialwohnungen weniger Nachfrage haben. Dort wo sie aber dringend benötigt werden, ist ihre Qualität und Anzahl gering (Siebel 2004, 34). So entstehen soziale Brennpunkte, die auch eine Folge verfehlter Wohnungspolitik sind, wenn die Kommunen benachteiligte Gruppen in abgelegenen Quartieren konzentrieren. Bislang verhinderte der Wohlfahrtsstaat durch seine soziale Regulierung eine marktförmige Wohnungspolitik und somit das Schicksal, dass der Arbeitsmarkt Einfluss auf die Wohnsituation hat, wie es beispielsweise in Paris der Fall ist.

Siebel gibt zu bedenken, dass nicht mehr von einer autonomen Politik der Städte gesprochen werden kann. Der Unterschied zwischen der marktförmig organisierten amerikanischen Stadt und der sozialstaatlich regulierten europäischen Stadt, den Häußermann und Wacquant (2001) hervorheben, bleibt aber aufgrund der sozialstaatlichen Einbettung der Stadtpolitik weiterhin erhalten.

Die Gestalt der europäischen Stadt, die als Gefäß der urbanen Lebensweise dient, ist ein weiteres Merkmal. In ihrer Bauweise spiegelt sich die politische, ökonomische und kulturelle Zentralität der Stadt wieder. Ihre Gestalt ist ein Produkt, aber auch Symbol sozialer Verhältnisse. Die traditionelle Gestalt der europäischen Stadt wurde von der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts hervorgebracht, die heute nicht mehr existiert (Vgl. Siebel 2004). Heute verschwindet nach Siebel die traditionelle Gestalt in einem „Siedlungsbrei der großen Agglomeration“ (Siebel 2004, 35). Die Gestalt der Stadt des 19. Jahrhunderts löse sich auf und zwar durch die Strukturen der industriegesellschaftlichen Urbanisierung. „Der Einbruch der Industriegesellschaft in die Strukturen der europäischen Städte war zerstörerisch“ (Siebel 2004, 36). Im 19. Jahrhundert beginnt diese Auflösung der Gestalt. Der Wandel durch die hereinbrechende Industriegesellschaft wurde damals von den Menschen als Krise empfunden, aber auch als Befreiung und Fortschritt. Es wurde eine Entfesselung von Armut, veralteter Technologie und militärischer Notwendigkeit möglich, die einen Stadtentwicklungsprozess des 20. Jahrhunderts, die Suburbanisierung, erst ermöglichte. Dieser Prozess führte dazu, dass sich die Gestalt der europäischen Stadt nun auflöste. Dies versucht Siebel anhand von zwei Elementen, der Dichte und der Zentralität aufzuzeigen.

Dabei soll auf drei Definitionen von Dichte nach Erika Spiegel (2004) verwiesen werden. Sie unterscheidet zwischen physischer Dichte, also dem Verhältnis von Baumasse und Stadtfläche, der Bevölkerungsdichte und der sozialen Dichte, was die Kontakthäufigkeit und somit den sozialen Gehalt der Urbanität meint. Diese drei Dimensionen von Dichte waren in der Stadt des 19. Jahrhunderts eng miteinander verbunden, worin auch der Grund liegt, warum wir noch heute Urbanität mit der kompakten Stadt des 19. Jahrhunderts in Verbindung bringen. An dieser Stelle soll kurz auf Georg Simmel verwiesen werden, der die Ambivalenz dieses Zusammenhangs herausarbeitete. Die physische Dichte hat demnach nicht zwangsläufig soziale Dichte, also soziale Nähe zur Folge, sondern kann sogar zum Gegenteil führen, was Simmel als Blasiertheit und sogar leise Aversion der Großstädter bezeichnet.

Auch die Zentralität der europäischen Stadt wandelt sich. „Anscheinend benötigen moderne Gesellschaften nicht die Form räumlicher Zentralität, die im Gefälle von der Stadtkrone zur Peripherie der europäischen Stadt eine so eindrucksvolle Gestalt gewonnen hat“ (Siebel 2004, 37).

Bei dem Prozess der Suburbanisierung verliert die Kernstadt an Bevölkerung und Arbeitsplätzen. Mit einem mehr an Wohlstand verlangen die Bürger auch mehr Wohnfläche und ziehen so nach Suburbia. Ein weiteres Problem ist die Abwanderung des Handels, der von Siebel als Gründungsfunktion der europäischen Stadt beschrieben wird (Vgl. Siebel 2004). So ziehen einige Teile des Handels ihren Kunden nach Suburbia hinterher. Aber auch soziale Veränderungen wie die vermehrte Erwerbstätigkeit von Frauen nennt Siebel als Grund dafür. Diese gehen aus zeitlichen Gründen nicht mehr jeden Tag in der Nähe ihrer Wohnung einkaufen, sondern nur noch wöchentlich und dann mit dem PKW an Standorten, die über ein großes Angebot an Parkplätzen verfügen. In der Regel sind das Shopping-Malls, die außerhalb der Kernstädte ihre Kunden befriedigen wollen. So hat sich für Siebel die gesellschaftliche Dynamik auf das Umland verlagert und die Kernstadt verliert an Zentralität. Auch wenn die Hochphase der Verstädterung in Deutschland mit dem 1. Weltkrieg zu Ende war, so weisen Häußermann und Siebel dennoch darauf hin, dass die Veränderung des mitteleuropäischen Stadtsystems vielmehr eine Geschichte der Kontinuität als eine Geschichte von Brüchen ist (Vgl. Häußermann/Siebel 1987).

Aber auch die herkömmliche Begründung für eine Notwendigkeit für Stadt verliert für Siebel immer mehr an Kraft.

Die Merkmale der europäischen Stadt wandeln sich, verschwinden oder sind doch nicht mehr an die Stadt als ihren besonderen Ort gebunden. [...] Die revolutionären Emanzipationsleistungen der mitteleuropäischen Stadt, sind heute ubiquitär geworden, sozialstaatliche Regulierung wird zurückgenommen zugunsten privater Leistungsbereitstellung und marktförmiger Steuerung. In dem Maße, wie die Stadt nicht mehr politisch, ökonomisch und sozial besonderer Ort ist, löst sich auch ihre Gestalt auf. (Siebel 2004, 40)

Nun scheint es so, als finde heute der Prozess der Suburbanisierung sein Ende, denn er hatte eine doppelte Bedeutung, die es so nicht mehr gibt. Und zwar steht das Umland in einer funktionalen Abhängigkeit zur Kernstadt, da die Gemeinden in der Peripherie auf die Funktionen der Kernstadt angewiesen sind. Aber auch eine dynamische Abhängigkeit besteht, denn das Umland profitiert von den Bevölkerungsverlusten der Kernstadt. An die Stelle der Kernstadt und des abhängigen Umlandes trete nun immer mehr ein netzartiges Geflecht aus eigenständigen Gemeinden, das dezentral organisiert ist. „Die dichte, vielfältig gemischte europäische Stadt als politisches, ökonomisches und geistiges Zentrum der Gesellschaft, materialisiert in der Stadtkrone von Rathhaus, Markt und Kirche, wäre ein historisch gewordenes Modell von Stadt“ (Siebel 2004, 41).

Dennoch hebt Siebel die Stabilität des Stadtsystems als Ganzes und die der Binnenstruktur hervor. Das Stadtsystem Westeuropas ist im Verlauf des 11., 12. und 13. Jahrhunderts entstanden, außer in Italien, im oströmischen Reich und im arabisch besetzen Spanien existierte bereits ein System. Das westeuropäische Stadtsystem blieb im Laufe der Zeit, trotz Epidemien und Kriegen, resistent bestehen. Die Grundrisse einer Stadt hätten sich kaum verändert, denn wo früher Marktplatz und Rathaus waren, wäre auch heute noch das Zentrum der Städte. Zwei neue Entwicklungen der Stadt habe es aber gegeben: die absolutistische Stadtgründung wie in Karlsruhe und die Industriestadt, nämlich im Ruhrgebiet als neuer Stadttypus (Vgl. Siebel 2004). Für diese neuen räumlichen Gebilde möchten Häußermann und Siebel nicht den Begriff „Stadt“ verwenden, sondern „Agglomeration“, denn dies spiegelt die neue Qualität dieser Gebilde wider. Dass die Städte trotz ihrer Zerstörung beispielsweise im 2. Weltkrieg weitestgehend wieder entlang ihrer alten Linien aufgebaut wurden, liegt daran, dass die unterirdische Stadt, also die Infrastruktur oder Kanalisation kaum zerstört waren und so die Stadt relativ schnell wieder funktionstüchtig gemacht werden konnte.

Ein anderer Grund für die Stabilität der städtischen Strukturen sind die Eigentumsverhältnisse im Grundbuch. Die Flächensanierung am Ende der 1960er Jahre in Deutschland, die den Bedürfnissen des modernen Verkehrs gerecht werden wollte, scheiterte unter anderem an dem Widerstand der Hauseigentümer und Bewohner. In der DDR, wo das Privateigentum weitestgehend abgeschafft wurde, sind deshalb andere Stadtstrukturen entstanden.

Da die europäische Stadt Ort und Präsenz ihrer Geschichte ist, denn ihre „materiellen Strukturen sind Kristallisationspunkte für biographische Erinnerungen“ (Siebel 2004, 43), trägt auch dieses kollektive Gedächtnis zur Stabilität der Strukturen bei.

Neben dem Wandel der urbanen Lebensweise beschreibt Walter Siebel weiterhin eine soziale Notwendigkeit der Stadt. Saskia Sassen weist darauf hin, dass das Nebeneinander von aufgewerteten und heruntergekommenen Stadtvierteln durchaus eine Funktion erfüllt. Neue Haushaltstypen, wie der der Singles, Alleinerziehenden oder der kinderlosen, gut verdienenden Erwachsenen sind entstanden, die ein innenstadtorientiertes Leben bevorzugen (Vgl. Siebel 2004). Die Erwerbstätigen aus den aufgewerteten Stadtvierteln holen sich dann für die Führung ihres Haushaltes Bedienstete aus den Migrantenvierteln.

Auch die Bedeutung der Stadt als Ort der Integration wird von Siebel an dieser Stelle genannt. Migranten werden sich auch zukünftig eher in den Großstädten ansiedeln, aber von den drei Orten der Integration, dem Betrieb, der Schule und dem Wohnquartier, werden viele den Zugang zum Betrieb nicht mehr erhalten. So kommt der „Sozialintegration“ vermehrt Bedeutung zu, wenn die „systematische Integration“ Defizite aufweist (Vgl. Siebel 2004).

Nach einem Bericht des britischen Geographieprofessors Danny Dorling wird es in 30 Jahren die ersten wirklich multinationalen Städte in Groß Britannien geben. Leicester wird nach seinen Prognosen 2020 die erste „super-diverse city“ sein, in der keine ethnische Gruppe eine Mehrheit mehr bildet. Somit wird es Migranten künftig also auch weiterhin in die Städte ziehen. Ein weiterer Teil der Prognose ist der, dass der Bevölkerungsanteil der „Nicht-Briten“ und „Nicht-Weißen“ insgesamt zurückgehen wird, alle Bevölkerungsgruppen aber pluraler werden und somit zu einer größeren Komplexität in den Städten führen.3

Neben der sozialen Notwendigkeit existiert aber auch eine ökonomische Notwendigkeit der Stadt, die Siebel beschreibt. Die Stadt bietet neben einem Pool an vielseitig qualifizierten und differenzierten Arbeitskräften, die für die Unternehmen, die sich flexibel anpassen wollen, wichtig sind, auch verschiedene Verhaltensformen und Koproduzenten. Durch einen Überschuss an Möglichkeiten in der Stadt kommt es zu einer spezifischen Entwicklungsoffenheit. Obwohl Informationen heute durch die neuen Kommunikationsmittel wie dem Internet überall und jederzeit abrufbar sind, ist es auch das tacit knowledge, ein implizites Wissen, abhängig von einem gemeinsamen sozialen und kulturellen Kontext, das für Innovationen notwendig ist. Deshalb siedeln sich new economy Unternehmen bevorzugt in bestimmten Quartieren an, denn „die Bedeutung von lokal gebundenen urbanen Milieus für wissensbasierte ökonomische Aktivitäten ist kaum zu überschätzen“ (Siebel 2004, 47). Auch wenn an dieser Stelle die ökonomische Notwendigkeit der Stadt beschrieben wird, so haben Häußermann und Siebel, wie oben bereits beschrieben, darauf hingewiesen, dass es keine besondere Ökonomie der Stadt gibt. Lokale Bedingungen spielen in ihrer Auffassung eine immer geringere Rolle für die Stadtentwicklung, da die kapitalistische Wirtschaft zur nationalen Ökonomie wurde und sich nicht von lokalen Bedingungen leiten lässt. „Die nationalökonomische Theorie des privatwirtschaftlichen Wachstums ist insofern zu Recht ,raumlos'“ (Häußermann/Siebel 1987, 105).

Ebenso beschreibt Siebel eine politische Notwendigkeit von Stadt und vollzieht dies am Beispiel der Probleme alter Industrie-Regionen wie dem Ruhrgebiet und den neuen Bundesländern. Diese Regionen sind hochurbanisert und durch ihre einstige Modernität heutzutage am Ende, denn ihre städtische Struktur und Industrie ist nun veraltet. Hier ist es die Politik die eingreifen muss. Besonders die kommunale Selbstverwaltung und die regionale Strukturpolitik erhalten Bedeutung.

2.3 Historische stadtsoziologische Diskursanalyse

Die nun folgende Diskursanalyse der Stadtsoziologie beginnt mit den Klassikern der Soziologie wie Max Weber und Georg Simmel. Vorangegangen sind bereits einige Anführungen der jeweiligen Theorien und Ansätze zur Stadt, die nun dem Leser genauer dargestellt werden. Diese historische Darstellung der stadtsoziologischen Diskussion verdeutlicht die Entwicklung des Typus der europäischen Stadt in den Sozialwissenschaften. Damit wird aufgezeigt, dass sich der heutige Stand der Diskussion Leitbildern und Ansätzen bedient, die in der Soziologie schon lange Bestand haben.

Im Wesentlichen gibt es drei Ansätze zur soziologischen Bestimmung von Stadt, neben den seit nun über 100 Jahren statischen Stadtdefinitionen (Herlyn 1997): sozialökologische, idealtypische und neo-marxistische. Der erste Ansatz definiert Stadt als eine „dicht besiedelte und dauerhafte Niederlassung gesellschaftlich heterogener Individuen“, wie bereits Wirth die Stadt 1938 umschreibt. Mit der Anzahl der Bevölkerung steigt demnach auch die Spezialisierung und Differenzierung, persönliche Bekanntschaften weichen anonymen Situationen und führen zu sozialer Konkurrenz und Distanz. Der neo-marxistiche Ansatz betrachtet die Stadt als Einheit der Reproduktion der Arbeitskraft, die der Produktion der Unternehmen gegenübersteht. Stadt ist demnach nicht eine Vergesellschaftungsform sui generis. Die Gesellschaftstheorie Marx`s wird dabei auf die Probleme der Stadt und Region angewendet. (new urban sociologie 4 ). Der Ausgangspunkt Marx`s für die Stadtanalyse ist eine historische Trennung von Stadt und Land aufgrund der Arbeitsteilung. Städte sind für ihn der maßgebliche Grund der Herausbildung eines städtischen Proletariats als eigenständige Klasse (Vgl. Herlyn 1997).

Die idealtypischen Ansätze dagegen greifen sich einzelne Merkmale heraus und überspitzen diese, womit ich den folgenden Diskurs nun beginnen möchte.

2.3.1 Max Weber

Max Weber konstruiert einen Idealtypus der okzidentalen Stadt, in dem er die (europäische) Stadt ökonomisch als Marktort bezeichnet. In seiner Definition gelten alle Ansiedlungen als Stadt, in welchem „die ortsansässige Bevölkerung einen ökonomisch wesentlichen Teil ihres Alltagsbedarfs auf dem örtlichen Markt befriedigt, und zwar zu einem wesentlichen Teil durch Erzeugnisse, welche die ortsansässige und die Bevölkerung des nächsten Umlandes für den Absatz auf dem Markt oder sonst erworben hat“ (Weber 2005 1922, 924). Nicht jede Ansiedlung die einen Markt hat, wird demnach als Stadt bezeichnet, sondern nur diejenigen, deren wirtschaftlicher Alltag wesentlich auf den Markt bezogen ist. Nach Weber steht der ökonomische Alltag der Städter immer in Beziehung zum Markt, wonach also diese Öffentlichkeit für die Bewohner eine ganz alltägliche Art des sozialen Verhaltens darstellt. Diesen Ansatz greift später Hans-Peter Bahrdt auf, dessen Thesen in Kapitel 2.3.5 dargestellt werden.

Neben seiner Protestantismusthese5 stellt für Weber die europäische Stadt einen zweiten Faktor dar, warum es im Okzident, in den Städten des Abendlandes zu mehr wirtschaftlichem Erfolg kam und sich ein selbstverwaltendes Bürgertum herausbildete. Er kontrastiert diese mit den Eigenschaften der antiken und orientalischen Stadt. Die Stadt des Okzidents und speziell die mittelalterliche Stadt beschreibt Weber nicht nur ökonomisch als Sitz des Handels, sondern er hebt in seiner idealtypischen Begriffsbildung weiterhin ihre Gemeindeautonomie hervor, wie die eigene Wehrhoheit, Steuerpolitik, ein eigenes Marktrecht und die autonome Besetzung der Verwaltungs- und Gerichtsämter. Dagegen kommt es in den Städten Chinas und Indiens nicht zu solch einer Autonomie und auch fehlt den orientalischen Städten eine Stadtverfassung wie in der mittelalterlichen europäischen Stadt.

Die Stadt wurde eine, wenn auch in verschiedenem Maße, autonome und autokephale anstaltsmäßige Vergesellschaftung, eine aktive „Gebietskörperschaft“, die städtischen Beamten (wurden) gänzlich oder teilweise Organe dieser Anstalt. Für diese Entwicklung der mittelalterlichen Städte war nun aber allerdings wichtig, daß von Anfang an die privilegierte Stellung der Bürger als ein Recht auf des Einzelnen unter ihnen im Verkehr mit Dritten galt. (Weber 2005, 950)

In den Ländern des Orients kam es nicht zu dieser Qualität der antiken und mittelalterlichen Stadt mit einer ständischen Rechtsgenossenschaft und zwar aufgrund der Bande der Sippe, die nicht abgestreift werden konnte und des Ahnenkultes, der unzerbrechlich war (Vgl. Bruhns 1994). Nach Weber hemmte dieser Verband der Sippe in China und Indien die Entwicklung des modernen Kapitalismus.

So ist es nun für Weber neben der Herausbildung einer innerweltlichen Askese, die Konkurrenz der politischen und ökonomischen Gewalten, die ein Aufkommen des Einheitsstaates wie im Orient verhindert. Darüber hinaus führt der rationale Grundzug in politischen, ökonomischen und rechtlichen Strukturen zu dem wirtschaftlichen Erfolg im Okzident. Für Max Weber sind es die Städte, die die Entwicklung des modernen Rationalismus tragen. Für ihn ist folglich die Stadt als eine Kombination von Markt und Befestigung ein universales Phänomen, die Stadt als Gemeinde jedoch, mit eigener Gerichtsbarkeit und Autonomie, grenzt die Städte des Okzident von denen des Orient scharf ab.

Max Weber beschreibt neben der oben referierten Bedeutung der Stadt weiterhin die folgenden Stadttypen:

- Die Fürstenstadt, in der die Einwohner zum größten Teil direkt oder indirekt von der Kaufkraft der fürstlichen Haushalte oder anderen Großhaushalten abhängig sind.
- Der Typus der Beamtenstadt ist der Fürstenstadt sehr ähnlich. Die Kaufkraft der Großhaushalte können diejenigen von Beamten sein, von Grundherren oder von politischen Machthabern. Als Beispiel für die Beamtenstadt nennt Weber Moskau vor der Aufhebung der Leibeigenschaft.
- Der Typus der Rentnerstadt wird ebenfalls kurz angeschnitten. Rentner können auch Konsumenten sein, auch wenn ihre Kaufkraft vorwiegend auf „geldwirtschaftlich, vornehmlich kapitalistisch bedingten Rentenquellen“ beruht (Weber 2005, 926). Dieser Typus kann ineinander übergehen mit einem anderen Typus,
- der Händler- oder Gewerbestadt. Die Kauf- und Steuerkraft dieser Stadt basiert auf den ortsansässigen Erwerbsbetrieben. Die Kaufkraft der Großkonsumenten beruht hier entweder auf Vermarktung fremder Produkte auf dem örtlichen Markt oder der Veräußerung heimischer Produkte nach außen.
- Der Typus der Konsumentenstadt trifft mehr oder weniger bei all den beschriebenen Städten zu. „Denn für die Erwerbschancen ihrer Gewerbetreibenden und Händler ist die Ansässigkeit jener, untereinander ökonomisch verschieden gearteter, Großkonsumenten an Ort und Stelle ausschlaggebend“ (Weber 2005, 926).
- Umgekehrt wird die Stadt als Produzentenstadt beschrieben, wenn die Kaufkraft der Einwohner auf den ortsansässigen Fabriken und Betrieben beruht, die auswärtige Gebiete versorgen.
- Ein weiterer Typus sind die Ackerbürgerstädte, also Orte, „welche als Stätten des Marktverkehrs und Sitz der typischen städtischen Gewerbe sich von dem Durchschnitt der Dörfer weit entfernen, in denen aber eine breite Schicht ansässiger Bürger ihren Bedarf an Nahrungsmitteln eigenwirtschaftlich decken und sogar auch für den Absatz produzieren“ (Weber 2005, 927).

Faktisch sind diese von Weber beschriebenen historischen Kategorien oft als Mischtypen zu finden. Da er Stadt ökonomisch als Marktort sieht, werden in seiner ökonomischen Definition die unterschiedlichen Kategorien mit dem grundlegenden Unterscheidungsmerkmal getroffen, von welcher schichtspezifischen Kaufkraft die Erwerbschancen der ortsansässigen Produzenten bestimmt wird. Allerdings geht Weber nach dieser Stadttypologisierung nicht weiter auf diese Typen ein, so dass diese weitgehend unerheblich erscheinen und keine große Relevanz mehr haben (Vgl. Bruhns/Nippel 2000).

Es muss zudem darauf hingewiesen werden, dass Die Stadt von Max Weber nicht von ihm selbst veröffentlicht wurde, sondern erst nach seinem Tod von seiner Frau unter den Nachlasspapieren entdeckt und dann der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Es ist demnach also legitim danach zu fragen, in wie weit Weber seine Arbeit zur Stadt als fertig ansah. Webers Interesse an der Stadt und ihrer Bedeutung lässt sich aber auch in seinen religionssoziologischen Studien erkennen: „Indien ist und war, im Gegensatz zu China, ein Land der Dörfer und der denkbar unerschütterlichsten geburtsständischen Gliederung. [...] Die Städtebildung nährte sich jahrhundertelang in wichtigen Punkten [...] mittelalterlichen occidentalen Erscheinungen“ (Bruhns 2000, zitiert nach MWG I/20, 53).

Bruhns Meinung nach interessiert sich Weber für eine Umorientierung des Wirtschaftsverhaltens aufgrund einer besonderen Form der mittelalterlichen Binnenstadt und versucht zu erklären, welche Auswirkungen die moderne Fabrikarbeit auf die Arbeiterschaft hat. Ebenso interessiert er sich aber auch für die psychische und künstlerische Entwicklung des Stadtbewohners durch die Großstadt (Bruhns 2000, 53). Insofern besteht eine Parallele zu Simmel, der Interesse für das Geistesleben der Großstädter zeigt. Die Annahme Simmels, dass die Großstadt dem Individuum größere Entwicklungsmöglichkeiten bieten würde, ist auch für Weber von Interesse, „[...] ohne aber in Stadtromantik zu verfallen und ohne sich wirklich an diesen Diskussionen zu beteiligen“ (Bruhns 2000, 56). Weber wehrt sich gegen eine Unterscheidung von Mittelalter und Moderne nach dem Prinzip Gemeinschaft versus Gesellschaft, wie es Simmel und Durkheim tun.

Bezug nehmend auf die Unterteilung der Städtetypen Webers, ist auch auf Ulf Hannerz zu verweisen, der unterschiedliche Typen von historischen Formen des Urbanismus unterscheidet, die sich den Städtetypen zuteilen lassen: courttown, die Fürstenstadt, commercetown (Handelstadt) und coketown (Industriestadt). Mit diesen Unterscheidungen macht Hannerz auf den stadtprägenden Sektor der Ökonomie aufmerksam und somit auf „einen zentralen formativen Faktor der Stadt als Ganzes“ (Lindner/Moser 2006, 16). Linder und Moser verweisen auch darauf, dass Städte eine eigene Geschmackslandschaft haben, je nach dem welcher Stadttyp es ist und welche damit verbundenen Einrichtungen in der Stadt angesiedelt sind. Dies beeinflusst die damit verbundenen Akteuere und die Atmosphäre der Stadt. Wenn man wie sie also davon ausgeht, dass auch Städte Individuen sind mit einer eigenen Biographie, also Geschichte, so ließe sich das Habitus-Konzept Bourdieus6 auch auf die Stadtanalyse anwenden (Vgl. Lindner/Moser 2006, 23). So soll verdeutlicht werden, dass Lindner und Moser die Stadt als eigenständigen Gegenstand betrachten, was im sozialwissenschaftlichen Diskurs bis dahin selten ist. Da die Stadt bisher den Locus im Forschungsfeld darstellte, möchten die Autoren die Stadt nun in den Fokus stellen, also als Forschungsgegenstand sui generis behandeln.

2.3.2 Georg Simmel

Auf den Arbeiten Simmels bauen die Leitbilder der europäischen Stadt in der Stadtsoziologie besonders auf. In seinem 1903 erschienenen Aufsatz Die Großstädte und ihr Geistesleben schreibt Simmel, der moderne Stil des Lebens sei in der Großstadt zu finden. Er beschreibt die Stadt als Sitz der Geldwirtschaft und das Geld als „fürchterlichen Nivellierer“. Der Großstädter reagiert mit seinem Verstand, denn Simmel schreibt dem Geld und dem Verstand eine „reine Sachlichkeit in der Behandlung von Menschen und Dingen“ zu (Simmel 1984, 193). Die strukturierende Kraft der Geldwirtschaft, deren Sitz in der Stadt ist, führt zum modernen Lebensstil. Um in der Großstadt den zahlreichen Sinneseinflüssen und der enormen Menge an Eindrücken zu entgehen und um diese zu bewältigen, spricht Simmel weiterhin von einer Blasiertheit und Reserviertheit der Großstädter. Den Umgang der Großstädter untereinander beschreibt Simmel anhand von drei Merkmalen: Die Intellektualität, die als Schutzorgan dient, die Blasiertheit und die Reserviertheit. Die Großstädte sind für ihn Stätte der Geldwirtschaft und Stätte der Blasiertheit. Blasiertheit ist dabei für ihn „die Abstumpfung gegen die Unterschiede“ (Simmel 1984, 196). Simmel sieht aber auch Chancen in diesem Prozess des aufreibenden Nervenlebens in der Großstadt und zwar in einer Förderung des Intellektes der Großstädter.

So schafft der Typus des Großstädters – der natürlich von tausend individuellen Modifikationen umspielt ist – sich ein Schutzorgan gegen die Entwurzelung, mit der die Strömungen und Diskrepanzen seines äußeren Milieus ihn bedrohen: statt mit dem Gemüte reagiert er auf diese im wesentlichen mit dem Verstande. (Simmel 1984, 193)

Da man in der industriellen Großstadt für einen abstrakten Markt produziert und kaum in einer persönlichen Interaktion zueinander steht, spezialisiert sich der Einzelne im Konkurrenzkampf mit den anderen immer mehr. Diese Spezialisierung fördert die Arbeitsteilung und Simmel weist hier auf die Gefahr hin, dass darunter die Persönlichkeit der Spezialisierten leide, dies aber ebenso eine Entfaltung von Subkulturen fördern könne. Der Einzelne sieht sich zur Individualisierung gedrängt, um sich von den anderen abzuheben, indem er in den unterschiedlichen Gruppen verschiedene Stellungen einnimmt.

Für Simmel ist die Stadt also eine Lebensform, sie ist für ihn eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt und keine räumliche Tatsache.

2.3.3 Émile Durkheim

Neben Max Weber gehört auch Émile Durkheim zu den Klassikern der Soziologie. Auch er vollzieht eine Analyse der Stadt. Da bei der Ausführung zu Max Weber eine kurze Abgrenzung zu Durkheim erwähnt wurde, soll an dieser Stelle Durkheims Ansatz präzisiert werden. Auch die beiden Definitionen von Dichte, die Durkheim postuliert, sind nicht unbedeutend: „Aber die Städte sind immer das Ergebnis des Bedürfnisses, das die Individuen haben, ständig untereinander in einem so engen wie möglichen Kontakt zu bleiben; sie stellen Punkte dar, wo sich die soziale Masse stärker zusammenzieht als anderswo“ (Durkheim 1977, 298). Für Durkheim vollzieht sich die Teilung der Arbeit in der Gesellschaft aufgrund von zwei Faktoren. Erstens aufgrund der materiellen Dichte, was für ihn die Bevölkerungsdichte in einem gegebenen Gebiet meint. Zweitens aufgrund der moralischen Dichte, die sich auf die sozialen Beziehungen und die zunehmende Dichte der Interaktion in einer gegebenen Bevölkerung bezieht. Auch wenn Durkheim zunächst in älteren Schriften die Annahme vertritt, dass beide Faktoren untrennbar sind, korrigiert er in späteren Beiträgen diese Annahme, indem er angibt, dass die Arbeitsteilung hauptsächlich durch das Zunehmen der moralischen Dichte entstanden ist (Vgl. Saunders 1987). Diese Zunahme der moralischen Dichte kommt nun nach Durkheim in der Verstädterung zum Ausdruck. Die Entwicklung von neuen Kommunikations- und Transportmitteln, also die Entwicklung der Infrastruktur, die eine Verstädterung begünstigt, ist die Ursache für die Arbeitsteilung, denn eine konzentrierte Bevölkerung ist für Durkheim nur durch eine Spezialisierung von Funktionen überlebensfähig. In den einfach segmentierten Gesellschaften mit einer nur sehr rudimentären Arbeitsteilung und einer mechanischen Bande der Solidarität existieren nach Durkheim keine Städte. Durkheim unterscheidet die einfache, also segmentäre Gesellschaft und die arbeitsteilige, als zwei Differenzierungsformen der Gesellschaft. Durch die Spezialisierung der Arbeitswelt entstehen Teilbereiche, die voneinander in Abhängigkeit stehen. Somit ist die arbeitsteilige Gesellschaft zwar leistungsfähiger aber auch anfälliger für Störungen. Diese Abhängigkeit produziert nach Durkheim eine „organische Solidarität“, die die Unterschiedlichkeit der Kompetenzen der Mitglieder beschreibt.

Ebenso wie Weber sieht Durkheim in der mittelalterlichen Stadt eine historische Bedeutsamkeit, für ihn ist diese der Stützpfeiler der mittelalterlichen Gesellschaft. Die Stadt ist für ihn historische Voraussetzung für die Entwicklung sozialer Kräfte, die wiederum eine soziale Konzentration ermöglichen und somit die Arbeitsteilung fördern.

Durkheim und Simmel sind der Meinung, dass sich die arbeitsteilige Differenzierung durch die Verstädterung der Gesellschaft und vor allem durch die Entfaltung der Geldwirtschaft entwickelte. Simmel geht aber weiter und und formuliert eine weitere Folge der arbeitsteiligen Differenzierung. Eine zunehmende Ausdifferenzierung der Gruppen gehe mit der Arbeitsteilung einher (Löw/Steets/Stoetzer 2007).

2.3.4 Chicagoer School

Die Überlegungen Simmels zur Stadt beeinflussten einen Studenten namens Robert E. Park, der zusammen mit William Isaac Thomas als Leitfiguren der Chicago School of Sociology gilt, der ersten Schule moderner Stadtsoziologie. Für Park ist die Soziologie eine Wissenschaft der sozialen Gruppen und er interessiert sich besonders für die Integration in eine Gesellschaft, bestehend aus verschiedenen lokalen Gemeinschaften, die er communities nennt und über Größe und Dichte definiert (Vgl. Löw/Steets/Stoetzer 2007). Diese Analyse der einzelnen Milieus, die er im Chicago der 1920er Jahre vornimmt sind meist Stadtteilanalysen, beispielsweise in Chinatown oder dem italienischen Viertel. Park vergleicht die Ökologie der Menschen mit der Ökologie der Pflanzen und entwickelt in The City von 1925 eine sozialökologische Stadtforschung. Er beschreibt zwei Aspekte der Pflanzenökologie, die er auf menschliche Gruppen überträgt. Die Invasion, die das Eindringen fremder Kulturen beziehungsweise Gruppen in bestehende Strukturen beschreibt. Dies meint beispielsweise die Integration von Immigranten und die dazu führende Sukzession, eine räumliche Absonderung oder funktionale Differenzierung. Durch diese Differenzierung entstehen in der Stadt spezialisierte Räume, wie Banken-, Villenviertel oder ethnische Enklaven, die die Folge natürlicher Segregation seien. Diese Räume, diese homogenen Gemeinschaften, die voneinander abgesondert sind bezeichnet Park als natural areas. Menschen passen sich nach Park ihrer natürlichen Umwelt an.

Park definiert Stadt nicht nur als ein künstliches Zweckgebilde, sondern als ein Produkt der menschlichen Natur und stellt für ihn neben den realen Aspekten wie Größe vielmehr eine Geisteshaltung dar. Weiterhin definiert er über das Verhältnis von Heterogenität und Gleichheit den Gesamtkomplex Stadt. Die kleinste soziale Einheit die sich in der Stadt herausbildet ist die Nachbarschaft, aus der sich auch Kolonien oder ganze autonome Städte bilden können und so die gemeinsamen Interessen ihrer Bewohner erzeugen, wie beispielsweise Chinatown in Chicago oder Little Italy in New York. Wie bereits in den Ausführungen Siebels erwähnt, schreibt die Chicago School der Stadt ebenfalls eine Integrationsleistung zu, als eine Art Schmelztiegel.

Des weiteren soll auf das schon erwähnte, idealtypische Modell der konzentrischen Kreise nach Ernest Burgess (1925) verwiesen werden, der gemeinsam mit Park das Werk The City verfasste. Dieses Prozessmodell veranschaulicht das mosaikähnliche Raumbild mit den natural areas der Chicago School. In diesem Modell teilt sich Stadt, zumindest die nordamerikanische Stadt in den 1920er Jahren, ausgehend vom mittigen Zentrum in verschiedene Zonen. Stadtentwicklung vollzieht sich demnach vom inneren Stadtkern, also der City nach außen und zwar in alle Richtungen gleichmäßig.

The typical processes of the expansion of the city can best be illustrated, perhaps, by a series of concentric circles, which may be numbered to designate both the successive zones of urban extension and the types of areas differentiated in the process of expansion. (Burgess 1968, 50)

Diese Ausdehnung wirkt auf die in der Stadt lebenden Bürger und die Nutzungen, Gelegenheiten und Bevölkerungsgruppen drängen mit dieser Entwicklung der Stadt in die nächste äußere Zone.

Im Loop, dem Zentrum des städtischen Kerns ist der Central Business District angesiedelt. Banken, Kaufhäuser und Hotels sind hier zu finden, Wohnbevölkerung dagegen kaum. Rund um the Loop, der Zone in transition finden sich kleinere Geschäfte und Leichtindustrie. Zum größten Teil sind hier Wohngebiete jüngerer, eher zur Unterschicht gehörenden Bevölkerung lokalisiert. Diese weiter oben bereits dargestellte Zone ist der Ort der Auseinandersetzung des Fremden mit der ihm neuen Gesellschaft. Der Central Business District drängt sich zusätzlich in diese Zone um sich auszuweiten. In der nächsten Zone, der Zone of working men`s homes sind die Arbeiter zu finden. Die vierte Zone bildet die besseren Wohngebiete der wohlhabenden Mittel- und Oberschicht mit vorwiegend Einfamilienhäusern. Als letzte Zone ist die Pendlerzone zu nennen, die sich mit ihren Neubausiedlungen am Stadtrand befindet.

Pierre Bourdieu zeichnet für die Stadt Paris ähnlich konzentrische Bereiche, wobei in dieser Stadt, die in Arrondissements unterteilt ist, jeweils das linke und rechte Seineufer zu unterscheiden sind.

Die nächste Darstellung eines Ansatzes, der die Stadt definieren möchte, gilt ebenfalls einem Chicagoer Soziologen: Louis Wirth, der das Denken über die Stadt nachhaltig geprägt hat. Er definiert Stadt sehr minimalistisch als eine „relativ große, dicht besiedelte und dauerhafte Niederlassung gesellschaftlich heterogener Individuen“ (Wirth 1974, 48). Es sind die Merkmale Größe, Dichte und Heterogenität mit der er die Stadt beschreibt, die als einzelne Kriterien aber nicht ausreichen. Diese bereits kurz angesprochene sozialökologische Definition sollte universell und als unabhängige Variable in allen Kulturen und Epochen anwendbar sein. Anders als bei Park geht es in dem Denken von Wirth in seinem Werk Urbanität als Lebensform (1938) um die theoretische Konzeption einer Soziologie der Moderne. Er fragt sich unter den Bedingungen dauerhaft heterogener, urbaner Lebensweisen nach den Formen und Möglichkeiten der gesellschaftlichen Integration. Mit dem Entstehen der Großstädte hat sich für Wirth der Beginn davon abgezeichnet, was spezifisch modern ist an unserer Zivilisation. Die Konzentration zu gigantischen Menschenkonglomerationen um die sich kleinere Zentren sammeln ist für ihn das Merkmal der modernen menschlichen Lebensweise. Weil die Stadt eben nicht das Produkt einer Schöpfung, sondern gewachsen ist, wird auch die Lebensweise noch von den ursprünglichen Formen des menschlichen Zusammenlebens geprägt. Die Stadtbevölkerung besteht und wächst zum größten Teil aus Zugezogenen vom Land. Wirth stellt eine soziologische Definition der Stadtbevölkerung auf.

Urbanisierung bezeichnet nicht mehr bloß den Prozess, in dem Menschen in einen als Stadt bezeichneten Ort angezogen und in sein Lebenssystem einbezogen werden. Dieses Wort bezieht sich auch auf das kumulative Hervortreten der Merkmale, welche für die mit dem Wachstum der Städte verbundene Lebensform charakteristisch ist und schließlich auf die Richtungsänderungen in den als urban anerkannten Lebensweisen, die unter all jenen Menschen offenkundig werden, die wo immer unter den Zauber der Einflüsse geraten sind, welche die Stadt Kraft der Macht ihrer Institutionen und jener Persönlichkeiten ausübt, die durch die Transport- und Kommunikationsmedien operieren. (Wirth 1974, 45f)

„Urbanität“ ist nicht mehr nur auf die Großstadt beschränkt, ist aber für sie charakteristisch. Urbanes Leben ist nicht an die Stadt gebunden, sondern findet sich auch in ländlichen Gebieten. Dort wo eine Gemeinde oder ein als Stadt bezeichnenter Ort größer, dichter und heterogener wird, dort werden die Merkmale der Urbanität auch stärker. So lässt sich Urbanität nicht mehr nur in Großstädten und Metropolen finden, sondern wird sich auch in einer Kleinstadt finden lassen.

In Bezug auf das Land, das als Gegenpol zur Stadt gesehen werden kann, ist die Arbeitsteilung Grund für die Herrschaft der Stadt über das Land. Charakteristisch für die Stadt sind sekundäre Kontakte und nicht primäre. Das städtische Leben beschreibt Wirth als geprägt von gegenseitiger Abhängigkeit und Labilität aufgrund von Arbeitsteilung und beruflicher Spezialisierung. Die Stadt bringt eine hochdifferenzierte Gesellschaft hervor, denn für die verschiedenen Aufgaben werden unterschiedliche Menschentypen benötigt. Wirth geht aber auch von einem Nivellierungsprozess aus, angesichts der ökonomischen Ordnung der Stadt. Wo viele verschiedenartige Individuen zusammenkommen setzt ein Prozess der Depersonalisierung ein und wer am gesellschaftlichen städtischen Leben teil haben möchte, muss seine Individualität im gewissen Maße der größeren Gemeinschaft unterordnen. Urbanität ist für Wirth also eine besondere Art der Zivilisation die aber geprägt ist durch Anonymität und Labilität des städtischen Lebens und besonders hier im Gegensatz zum ländlichen Leben steht. Hier sind Parallelen erkennbar zu den Merkmalen der Blasiertheit und Rationalität im Verhalten des Großstädters, die Simmel bereits aufgestellt hat. Auch Wirth schreibt der ökonomischen Ordnung einer Stadt, was bei Simmel als die Geldwirtschaft beschrieben wird, einen Nivellierungscharakter zu.

Über die urbane Persönlichkeit und das kollektive Verhalten äußert sich Wirth dahingehend, dass verwandtschaftliche Banden in der Stadt an Wirkung verlieren und ersetzt werden durch Gruppen einer fiktiven, geistigen Verwandtschaft. Auch die territoriale Einheit, die eine Grundlage der gesellschaftlichen Solidarität darstellt, liquidiere sich. „Mittlerweile löst sich die Stadt als Gemeinschaft auf und zerfällt in eine Reihe vordergründiger, segmentärer Beziehungen, die einem Territorium mit einem festen Zentrum aber ohne feste Peripherie auferlegt werden [...]“ (Wirth 1974, 63).

2.3.5 Hans-Peter Bahrdt

Während Simmel in seiner Beschreibung des Großstädters sich auf die sichtbaren Aspekte der Verhaltensweisen in der öffentlichen Sphäre der Großstadt beschränkt, wie Reizüberflutung oder Aversion, widmet sich H.P. Bahrdt zusätzlich der privaten Sphäre. In Anlehnung an Max Webers Definition von Stadt entwickelt Bahrdt seine Theorie über die Polarisierung von Öffentlichkeit und Privatheit als Grundlage für seinen soziologischen Begriff von „Stadt“ in der bürgerlichen Gesellschaft. Je stärker diese Polarität ist, desto städtischer ist das Leben in dieser Ansiedlung. Bahrdt entwirft eine Kritik der industriellen Großstadt der 1960er Jahre, indem er diese Polarität an dem Gegenüber von Marktplatz als Öffentlichkeit und der Wohnung als Privatheit ausmacht. Den Markt beschreibt Bahrdt als die „früheste Form der Öffentlichkeit“ (Bahrdt 1998, 82). Der Markt als ein soziales Phänomen wird von ihm als eine dauerhafte institutionalisierte Ordnungsform, in der soziale Regeln stattfinden, beschrieben. Demnach ist der Markt eine Art der Verteilung durch Tausch. Nach Max Weber steht der ökonomische Alltag der Städter immer in Beziehung zum Markt, wonach also diese Öffentlichkeit für die Bewohner eine ganz alltägliche Art des sozialen Verhaltens darstellt. Bahrdt verweist jedoch auf die negative Voraussetzung der Öffentlichkeit durch den Markt. Der Markt stellt kein geschlossenes soziales System dar, da kein Teilnehmer vollständig einbezogen ist. Als Merkmal des Marktes ist also seine unvollständige Integration zu nennen (Bahrdt 1998, 86). Bahrdt weist darauf hin, dass in unserer heutigen Zeit eine Zerstörung der Privatsphäre durch die totale Öffentlichkeit besteht und diese gefährde die Distanz, die für die Öffentlichkeit selbst von Nöten ist. Eine Konsequenz daraus könnte sein, dass sich das Individuum aufgibt und „distanzlos im Kollektiv aufgeht“ (Bahrdt 1998, 103). Ähnlich wie Simmel wird bei Bahrdt die öffentliche Sphäre Ort des stilisierten Verhaltens (Vgl. Löw/Steets/Stoetzer 2007).

Bahrdt stellt die mittelalterliche Stadt, die mehr oder weniger von ihren Bürgern selbst geprägt wurde, dem Bild der modernen industriellen Großstadt gegenüber. Dabei stellt er fest, dass mit Einzug der Industrialisierung eine Verschiebung der Sozialstruktur stattgefunden hat oder dass institutionalisierte Gebilde, wie Warenhäuser entstehen, die weder privat noch wirklich öffentlich sind. In der modernen Großstadt der 1960er Jahre ist das Gleichgewicht zwischen Privatheit und Öffentlichkeit gestört. Durch die bauliche Anordnung der Städte, wie das Röhrensystem der Straßen, ist das Privatleben immer in Gefahr gestört zu werden und so verneint sich die Großstadt selber, da sie keine Großstadt mehr sein will und der Großstädter so oft wie möglich der Stadt entfliehen möchte. Bahrdt formuliert die Hoffnung auf Genese so, „daß die Großstadt nur gesunden kann, wenn es gelingt, öffentliche Sphäre und private Sphäre in ihrer Eigengesetzlichkeit und wechselseitigen Bedingtheit neu zu begründen“ (Bahrdt 1998, 166).

Die nun vorgestellten soziologischen Ansätze zum Typus der europäischen Stadt verdeutlichen dem Leser die Entwicklung des stadtsoziologischen Diskurses. Dadurch lässt sich der aktuelle Stand der Diskussion um die Typenbildung der europäischen Stadt nachvollziehen und es vermittelt sich der Bezug dazu, was wir heute unter der europäischen Stadt verstehen. Um den normativen Überschuss dieses Typus von Stadt deutlich zu machen, der diese unter anderem als soziale Einheit oder als Ort der Emanzipation beschreibt, ist es nötig den historischen Verlauf der Theorien zum Typus der europäischen Stadt nachzuzeichnen.

2.4 Die Stadt in der europäische Geschichte

Werfen wir nun in dieser historischen Darstellung des Diskurses der „Stadt“ einen Blick auf die Stadt aus der Perspektive eines Historikers. Dies soll geschehen, um dem Leser eine Vorstellung darüber zu vermitteln, wie die historischen Begebenheiten zu dem führten, was wir heute als (europäische) Stadt verstehen. So soll das heutige Idealbild dieser Stadt historisch nachgezeichnet werden, um dessen Entstehung zu verstehen. Ähnlich wie der Autor Benevolo, auf den ich mich im folgenden Abschnitt beziehen werde, möchte ich damit die historischen Ursprünge neu überdenken können, um die vielfach idealisierte Darstellung der Zeit des Mittelalters objektiver zu betrachten. Nach der Ansicht des Architekturhistorikers Leonardo Benevolo in seinem Buch Die Stadt in der europäischen Geschichte (1999) ist Europa ein Kontinent der Städte und seine Geschichte ist Stadtgeschichte.

[...]


1 www.sueddeutsche.de/immobilien/mietenvermieten/artikel/450/122285/article.hmtl (08.07.2007).

2 Georg Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, 1903. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1922. Louis Wirth, Urbanism is a way of life, 1938.

3 http://www.heise.de/tp/r4/artikel/26/26945/1.html (15.01.2008).

4 Diese makrotheoretische Soziologie wurde in den 1970/1980er Jahren in Auseinandersetzung mit einem sozial- und humanökologischen Ansatz entwickelt. Stadt ist hierbei nicht isolierbarer Gegenstand, sondern Ort kapitalistischer Produktion. Zu ihren Vertretern gehören Walter Siebel und Hartmut Häußermann.

5 In seiner Schrift Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus beschreibt Weber, dass sich im Abendland ein rationaler Kapitalismus aufgrund des Protestantismus entwickelte, genauer aufgrund des Calvinismus und der innerweltlichen Askese. Dabei wird wirtschaftlicher Erfolg im irdischen Leben als göttliche Zuneigung interpretiert.

6 Der Habitus ist für Bourdieu ein inkorporiertes System von Dispositionen. Er ist sowohl Produkt des Handelns, strukturierte Struktur, als auch Handlungsweise, strukturierende Struktur.

Ende der Leseprobe aus 89 Seiten

Details

Titel
Wie entwickelt sich der Typus der europäischen Stadt? Der sozialwissenschaftliche Diskurs und das Beispiel Darmstadt
Hochschule
Technische Universität Darmstadt  (Institut für Soziologie)
Note
1,7
Autor
Jahr
2008
Seiten
89
Katalognummer
V514827
ISBN (eBook)
9783346114068
ISBN (Buch)
9783346114075
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Stadtsoziologie, europäische Stadt, Idealtypus, Darmstadt, sozialistische Stadt, Georg Simmel, Emile Durkheim, Chicagoer School
Arbeit zitieren
Luisa Bellmann (Autor:in), 2008, Wie entwickelt sich der Typus der europäischen Stadt? Der sozialwissenschaftliche Diskurs und das Beispiel Darmstadt, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/514827

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