Der Sultan und die Photographie. Osmanische Selbstdarstellung unter Abdülhamid II.


Seminararbeit, 2016

26 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Jugend und Werdegang

3. Herrschaftsantritt

4. Mediale Kriegserklärung Europas

5. Antwort auf die „türkischen Gräuel“

6. Abdülhamid und die Photographie

7. Photographie als Reputationswiederhersteller
7.1. Abdülhamids photographische Gabe an den Westen
7.2. Analyse hamidischer Schulphotographien

8. Evaluation

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1. Einleitung

Kaum eine andere politische Persönlichkeit aus der jüngsten osmanischen Vergangenheit sorgte für mehr Kontroverse als Sultan Abdülhamid II., der von sämtlichen ideologischen Lagern aufs Äußerste diffamiert und zugleich hochgelobt wurde. So reichen die ihm zugeschriebenen Attribute groteskerweise von‚undemokratisch‘, ‚autoritär‘ sowie ‚rückständig‘bis hin zu‚demokratisch‘ und ‚progressiv‘.1

Für seinen wohl größten zeitgenössischen Kritiker, den britischen Premier William Ewart Gladstone, war er ‚the unspeakable Turk‘ („der entsetzliche Türke“)und ‚Grand Assassin‘ („Großer Attentäter“).2 Ähnlich stand es um ihn in der offiziellen Geschichtsschreibung der Türkischen Republik, die insbesondere von ihrer Gründung 1923 bis zum Ende der Einheitspartei-Diktatur unter der republikanischen CHP im Jahre 1946 durchwegs kemalistisch geprägt war und ihn ganz im fortgeführten Stile der Jungtürken als ‚Kızıl Sultân‘ („Blutrünstiger Herrscher“) diskreditierte.3 Der türkische Dichter und Denker Necip Fazıl Kısakürek hingegen, in dem heute zahlreiche konservativeTürken ein großes ideologisches Vorbild sehen, gedachte seiner Person stets ehrerbietig als ‚Ulu Hakan‘ („der erhabene Anführer“).4

Doch welche Art von Politik und Selbstdarstellung betrieb der letzte absolutistische, über drei Dekaden hinweg regierende Sultan aus dem Hause Osmans wirklich? Wie versuchteAbdülhamid II. dem Westen während seiner Herrschaft das Osmanische Reich darzustellen und welche Rolle spielte dabeivornehmlich die Photographie als revolutionäres Mittel der visuellen Wahrnehmung in seiner Ära?

Diese vorangestellten Fragen bilden mithin den Leitfaden der Seminararbeit, wobei sie möglichst aus der Perspektive AbdülhamidsII. erörtert werden sollen. Angefangen mit einerknappenAbhandlung über seine Jugend bis hin zu den schwerwiegenden außenpolitischen Herausforderungenbei seinemHerrschaftsantritt, sollen im Hauptteil unter anderem das Verhältnis Abdülhamids II. zur Photographie sowiedie Anwendungderselben unterseiner Herrschaft im Osmanischen Reich dargelegtwerden.Im Anschluss daran wird eine Auswahl anaußergewöhnlichen sowie teils skurrilenPhotographien aus den in der Britischen Nationalbibliothek befindlichen hamidischen Albenkritisch analysiert und der jeweiligen Kategorie nach in ihren historischen Kontext eingeordnet, wobei vor allen Dingen auf die realen Gegebenheiten in der Innenpolitik des Sultans das Hauptaugenmerk gelegt werden soll. Im Schlussteil der Seminararbeit erfolgt sodann eineKonklusionderErgebnisse aus den Fotoanalysen, welche abschließendbewertet werden sollen.

2. Jugend und Werdegang

Abdülhamid II. wurde als Sohn der für ihre Schönheit bekannten Tscherkessin Tîr-î Müjgan Kadın Efendiund des reformorientierten Sultans Abdülmecid I., welcher mit dem Erlass des Edikts Hatt-ı Şerif 1839 die Tanzimat-Ära und damit eine umfassende Modernisierung des Osmanischen Reiches einläutete, am 22. September 1842 imÇırağan-Palast geboren.5 Die Geburt des neuen Prinzen wurde dem Istanbuler Volkgemäß jahrhundertealter osmanischer Tradition durch fünf Kanonenschüsseverkündet. Dazu wurden ein siebentägiges Fest veranstaltet sowie die Minarette der Moscheen feierlich beleuchtet.6

Als seine Mutter im Jahre 1853 an Tuberkulose starb, war der zierliche Abdülhamid gerade einmal 11 Jahre alt, was einen überaus traumatischenWendepunkt in seinem Leben markierte. Sie kümmerte sich stets liebevoll und zärtlich um ihren Sohn, der diese innige Zuneigung der Mutter mit einer ebenso tiefen wie warmen Bindung zu ihr erwiderte.7 Umso fataler musste für den jungen Prinzen der dramatische Verlust seiner Mutter in seiner psychischen Wirkung sein, weshalb er sich fortan von all den anderen Familienmitgliedern im Palast isolierte und durch seine Schweigsamkeitsowie soziale Verschlossenheitauffiel. Hinzu kam noch der Umstand, dass der Vater seinen älteren Bruder Murad favorisierte, der viel extrovertierter war und auch besser aussah.Erversuchte als junger Mann später, seine seelischen Problemedurch regelmäßigen Alkoholkonsum zu verarbeiten und schienzudem auch weiblicher Gesellschaft gegenüberoffensichtlich nicht abgeneigt zu sein.8

Abdülhamid genoss wie alle Prinzen im Palast eine sehr anspruchsvolle sowie umfangreiche Bildung, die von zahlreihen Privatlehrern des Hofes übernommen wurde und unter anderem traditionelle Lehrinhalte wie Arabisch, Persisch und osmanische Geschichte, aber auch Französisch übermittelte.Er lernte früh Klavierspielen und hegte - nicht zuletzt durch seinen Onkel Abdülaziz, der leidenschaftlicher Komponist war - eine besondere Vorliebe für klassische europäische Musik, die ihn bis an sein Lebensende begleiten sollte.9 Er schaute sich zur Unterhaltung des Öfteren Theaterstücke an und richtete sich nach Herrschaftsantrittsogar sein eigenes Theater mit sowohl lokalen als auch ausländischen Künstlern, die per Monatslohn fest am Hof angestellt waren, im Yıldız-Palast ein.10 Darüber hinaus musste er nach der osmanischen Tradition auchein klassisches Handwerk erlernen, weshalb er sich ebenso wie sein Vater der Kunstschreinerei widmete und insbesondere nach seiner Thronabsetzung zahlreiche hochästhetischeMöbelstücke herstellte, die heute im Museum des Beylerbeyi-Palastes ausgestellt sind.11

Wie man anhand seiner vielfältigen Erziehung unschwererkennen kann, war Abdülhamid zweifelsohne einechangierende Persönlichkeit, die mit der westlichen Kultur bestens vertraut und teilweise auch erheblich von ihr angetan war, auch wenn er sich gleichzeitig der eigenen osmanischen Vergangenheit und Tradition durchaus bewusst war, sodass beide Welten quasi eine Art von Symbiose in seinem Privatlebeneingingen. Diese harmonische Symbiose von Tradition und Moderne wird sich alsLeitgedanke ebenfalls in seinem ambivalenten Verhältnis zur Photographie andeuten und sichals geradezu bezeichnend bzw. stellvertretend für seine gesamte Herrschaftsperiode herausstellen.

3. Herrschaftsantritt

Als Abdülhamid am 31. August 1876 nach einer Staatskriseden Thron bestieg, wurde er bereits mit zahlreichen politischen Problemen konfrontiert, welche die Existenz des Osmanischen Reiches zutiefst bedrohten. Eine leere Schatzkammer undseit 1875 bestehende Zahlungsunfähigkeit durch jahrelange Verschuldung der Bank-ı Osmanî-i Şahane (Ottomanische Bank), zu der im Wesentlichen die kostspielige Modernisierung der osmanischen Armee und exzessive private Ausgaben durch seine Vorgänger beigetragen haben, zwangen Abdülhamid bald, die Staatsfinanzen vollständig unter eine britisch-französische Schuldenverwaltung zu stellen.12 Darüber hinaus hatte er mit inneren Unruhen und Revolten der ihm feindlich gesinnten Jungtürken zu kämpfen, was sich in zwei fehlgeschlagenen Putschversuchen während seiner ersten Regierungsjahre zeigen sollte. Die Jungtürken sahen in Abdülhamid einen despotischen Usurpator, da er die am 23. Dezember 1876 verkündete Kânûn-i Esâsî („Grundgesetz“, erste osmanische Verfassung)außer Kraft setzte und nach der offiziellen Nachfolgeregelung des Reicheseigentlich sein älterer Bruder Murad V. trotz seiner erwiesenen Regierungsunfähigkeit das Vorrecht auf den Thron besaß.13

4. Mediale Kriegserklärung Europas

Doch es ging von den Aufständen auf dem Balkan, die durch eine unerträgliche Steuerlast aufgrund des sich abzeichnenden Staatsbankrotts hervorgerufen wurden, eine noch größere Gefahr für die territoriale Integrität des Reiches aus. Es kam unter anderem zum Bulgarischen Aprilaufstand im Jahre 1876, welcher durch reguläre osmanische Truppen und zahlreiche Başı Bozuks (Freischärler) blutig niedergeschlagen wurde. In Folge der als türkische Gräuel zusammengefassten Kampfhandlungen kam es zum historisch umstrittenen Massaker von Batak, das von den illustrierten Medien bewusst als muslimisch motivierter Massenmord an Christen lanciert wurde und in der westlichen Öffentlichkeit für eine große Welle der Empörung sorgte, welche das Osmanische Reich regelrecht überrollte. Es kursierten in der einseitig berichtenden europäischen Presse bezüglich der Massaker in Batak vermeintliche Beweisfotos und überzogene Opferzahlen, welche gar dietatsächliche Einwohnerzahl des Dorfesunmittelbar vor dem Massaker weit überschritten.15 Dem entsprechend wurdenin der illustrierten Presse stets Darstellungen von muslimischerAggressiongegen Christen (s. Abb. 1) veröffentlicht, während über christliche Gewaltausschreitungen gegen Muslime kaum bis gar nicht berichtet wurde.16

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Die Donau-Armee. Nachhut der türkischen Armee, nach Skizzen unseres Korrespondenten, Zeichnung F[ritz van] Haanen, Holzstich J. Baranovskij. In: Illjustrirovannaja hronika vojny, Bd. 2, Nr. 61, 1878, S. 88.14

Die so entstandenen Ressentiments gegen die Osmanenwusste das Russische Königreichzu Gunsten seiner panslawistischenAmbitionen auf dem Balkanauszunutzen und erklärte daraufhinals selbsternannte Schutzmacht der Bulgaren dem Osmanischen Reich im Jahre 1877 den Krieg. Der Kranke Mann am Bosporus, wie das Osmanische Reich inzwischen von den Großmächtenbetitelt wurde, hatte militärisch gesehen nicht die geringste Chance, den Russen Einhalt zu gebieten, dergestalt, dass die Truppen unter dem Oberkommando des russischen Großherzogs Michael Nikolajewitsch Romanow nur zehn Monate nach dem Beginn desKrieges16 km vor der Innenstadt Konstantinopels standen.17

5. Antwort auf die „türkischen Gräuel“

Im weiteren Verlauf der Kampfhandlungen kam es in den eroberten Gebieten abermals zu exzessiven Gewaltanwendungenseitens russischer Soldaten gegen muslimische Bevölkerungsgruppen, was den Sultan umgehend dazu veranlasste, mit denselben zeitgenössischenMitteln der illustrierten Presse zu kontern. Die Ereignisse im Krieg gegen das Russische Königreich wurden somit zur Geburtsstunde der politisch motivierten Photographie im Osmanischen Reich, als deren Initiator sich Abdülhamid hervortat. Als die Türkischen Gräuel zu einem der größten medialen Events des 19. Jahrhunderts in der europäischen Öffentlichkeitavancierten,war er sofort alarmiert und stand gewissermaßen unter Zugzwang.

Der Sultanbeauftragtedaraufhin seinen Hofphotographen Pascal Sébah, sämtliche Zivilisten muslimischer Konfession zu dokumentieren, welche offensichtlich Opfer russischer Gewalttaten im Zuge des Krieges auf dem Balkan wurden. Die Kriegsopfer wurden hierzu eigens nach Konstantinopel gebracht, um die visuelle Gegenkampagne Abdülhamids gegen die ihm feindlich gesinnten europäischen Medien zu verwirklichen.Sébah nahm zu diesem Zweckestereotypischer Weise insgesamt 31 Photographien von schwermisshandeltenZivilisten wie Frauen, Kindern und Greisenauf, die auf der Rückseite jeweils eine detaillierteKommentierung der Verwundung und persönliche Angaben wie Name, Alter und Wohnort des Opfers (s. Abb. 2)beinhalten.18 Die osmanische Regierung verlieh der Fotoserie - in bewusster Analogie zu der vorangegangenen medialen Hetzkampagne gegen das Osmanische Reich im unmittelbaren Anschluss an die Bulgarischen Aprilaufstände - den aufsehenerregendenTitel russische Gräuel, welche in Form eines 9-seitigen Schreibensan sämtliche diplomatische Vertretungen der Großmächte in Konstantinopel überreicht wurde.20

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: Pascal Sébah, Fotografie Nr. 10, aus der Fotoserie der „russischen Gräuel“, Istanbul 1877, 16,4 x 10.8 cm (Untersatzkarton), 14,2 x 10,3 cm (Abzug), Berlin, Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, R 12818.19

[...]


1 Vgl. Fortna 2008, S. 38.

2 Vgl. Jäckh 1944, S. 44 ff.

3 Vgl. Yazıcıoğlu 2005, S. 72-73.

4 Siehe Kısaküreks ‚Quasi-Hagiographie‘: Ulu Hakan II. Sultan Abdülhamit Han (Istanbul, 1965).

5 Vgl. Karpat 2001, S. 158.

6 Vgl. Georgeon 2003, S. 19.

7 Vgl. Karpat 2001, S. 159.

8 Vgl. Fortna 2008, S. 41.

9 Vgl. Yılmaz 2002, S. 138.

10 Vgl. And 1976, S. 7.

11 Vgl. Talay 1991, S. 249.

12 Vgl. Pamuk 1987, S. 55-81.

13 Vgl. Stern 1906, S. 13.

14 Abbildung wurde entnommen aus Baleva, Martina (2012): Das Imperium schlägt zurück. Bilderschlachten und Bilderfronten im Russisch-Osmanischen Krieg 1877-78. S. 8.

15 Ausführlich dazu siehe Baleva, Martina (2011): Fremde Künstler - Eigene Mythen. Der polnische Künstler Antoni Piotrowski und das Massaker im bulgarischen Batak. In: Im Dienst der Nation. Identitätsstiftungen und Identitätsbrüche in Werken der bildenden Kunst. Hg. von Matthias Krüger und Isabella Woldt. Berlin: Akademie Verlag. S. 373-397.

16 Vgl. Fortna 2008, S. 45.

17 Vgl. Şeker 2009, S.49.

18 Vgl. Baleva 2012, S. 12.

19 Abbildung wurde entnommen aus Baleva, Martina (2012): Das Imperium schlägt zurück. Bilderschlachten und Bilderfronten im Russisch-Osmanischen Krieg 1877-78. S. 14.

20 Vgl. Baleva 2012, S. 11-12.

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Der Sultan und die Photographie. Osmanische Selbstdarstellung unter Abdülhamid II.
Hochschule
Universität Basel  (Nahoststudien)
Veranstaltung
Odalisken, Derwische und Minarette. Typen und Topoi des Orientalismus in der historischen Fotografie.
Note
1,7
Autor
Jahr
2016
Seiten
26
Katalognummer
V512603
ISBN (eBook)
9783346101914
ISBN (Buch)
9783346101921
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Abdülhamit II., Abdülhamid II., Sultan, Fotografie, Photographie, Orientalismus, Osmanisches Reich, Balkan, Balkankriege, 1. Weltkrieg, Jungtürken, Selbstdarstellung, Propaganda, Machtmittel, Türkei, Naher Osten
Arbeit zitieren
Uğur Koç (Autor:in), 2016, Der Sultan und die Photographie. Osmanische Selbstdarstellung unter Abdülhamid II., München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/512603

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