Die Europäische Menschenrechtskonvention. Suspendierung von Bestimmungen im Notstandsfall


Masterarbeit, 2019

82 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung
1.1. Die Europäische Menschenrechtskonvention
1.2. Der Geltungsbereich
1.3. Der Eingriff
1.4. Die Wiener Vertragsrechtskonvention
1.5. Die Frage des Vorbehaltes

2. Artikel 15 EMRK – Außerkraftsetzen im Notstandsfall
2.1. Das Verfahren
2.2. Die Voraussetzungen
2.2.1. Krieg, welcher das Leben der Nation bedroht:
2.2.2. Öffentlicher Notstand, welcher das Leben der Nation bedroht:
2.3 Margin of Appreciation
2.4. Die Verhältnismäßigkeit:
2.5. Kein Widerspruch zu sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen:

3. Derogationsfeste Rechte
3.1. Art 2 EMRK – Recht auf Leben
3.2. Art 3 EMRK – Verbot der Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung
3.3. Art 4 EMRK – Verbot der Sklaverei und Zwangsarbeit
3.4. Art 7 EMRK – Keine Strafe ohne Gesetz

4. Derogationserklärungen der Ukraine, der Türkei, Frankreichs und Großbritanniens
4.1. Volksrepublik Ukraine
4.2. Republik Türkei
4.3. Republik Frankreich
4.4. Großbritannien
4.5. Bemerkungen

5. Derogierbare Rechte
5.1. Art 5 EMRK - Recht auf Freiheit und Sicherheit
5.2. Art 6 EMRK - Recht auf ein faires Verfahren
5.3. Art 8 EMRK - Recht auf Achtung des Privat und Familienlebens
5.4. Art 10 - Freiheit der Meinungsäußerung
5.5. Art 11 EMRK - Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit
5.6. Art 13 EMRK – Recht auf wirksame Beschwerde

6. Conclusio

7. Österreich

8. Generelle abschließende Bemerkungen

Literaturverzeichnis

Abstract

„The Times they are changing.“ Die Europäische Menschenrechtskonvention als Meisterwerk rechtlicher Vorschriften für die Unterzeichnerstaaten, eine Garantie für persönliche Freiheit und Entwicklung für den Einzelnen während eines Zeitraumes von annähernd 70 Jahren. Und doch stellt sich immer wieder die Frage hinsichtlich der stattfindenden gesellschaftlichen Veränderungen. Besitzt dieses Regelwerk aufgrund der Selbstverständlichkeit der derzeitigen Entfaltungsmöglichkeiten für den oder die Einzelne(n) noch die Attraktivität vergangener Zeiten? Sind die Normen und die darauf basierende Rechtsprechung auf das auch durch die technologischen Entwicklungen verursachte rasante Zusammenwachsen der Welt auf wirtschaftlicher Basis und dem Auftreten neuartiger Kommunikationsmöglichkeiten weiterhin für eine größtmögliche freie, individuelle Lebensgestaltung für den oder die Einzelne(n) sinnvoll oder sind Abstriche in Betracht zu ziehen, wie es eine ehemalige österreichische Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte formulierte: „Sind wir zu weit gegangen?“[1]

Und wird sich ein möglicher staatlicher Ausnahmezustand zu einem Normalzustand, wie der US-Vicepresident nach 9/11 erklärte, „Homeland security is not a temporary measure just to meet one crisis. Many of the steps we have now been forced to take will become permanent in American life. They represent an understanding of the world as it is, and dangers we must guard against perhaps for decades to come. I think of it as the new normalcy.“[2] entwickeln?

„The Times they are changing“. The European Convention on Human Rights as a masterpiece of legal provision for the signatory states, a guarantee of personal freedom and development for the individual over a period of approximately 70 years. And yet there is always the question of social change. Does this set of rules still have the attractiveness of bygone times due to the self-evident nature of the current opportunities for development? Are the norms and the jurisprudence based on the convergence of the economic world and new communication possibilities caused by technological developments to remain as meaningful as possible for the greatest possible free, individual life-style for the individual(s) or are they to be taken into account like a former Austrian judge at the European Court of Human Rights formulated: "Have we gone too far?"

And will a possible state of emergency be a normal state, as the US Vice President declared after 9/11: “Homeland security is not a temporary measure just to meet one crisis. Many of the steps we have now been forced to take will become permanent in American life. They represent an understanding of the world as it is, and dangers we must guard against perhaps for decades to come. I think of it as the new normalcy.“

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

Gegenständliche Arbeit, welche im Rahmen des Lehrganges „Menschenrechte/Human Rights“ an der Donau-Universität Krems erstellt wurde, hat die Derogation von in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerten Rechten im Falle eines staatlichen Notstandes gemäß Art 15 EMRK zum Thema. Ausgehend von den Ereignissen in den Jahren 2015 und 2016, in denen eine Vielzahl von Migranten durch und in das Bundesgebiet reisten, soll anhand der bisher ergangenen Rechtsprechung und einschlägiger Fachliteratur die derzeitige Rechtslage, auch das Verfahren betreffend, dargestellt werden. In weiterer Folge wird versucht, auf Migrationsbewegungen als Grundlage der Aussetzung von Rechten der EMRK einzugehen.

Im Sommer 2015 stiegen die Asylzahlen in Österreich kontinuierlich und sodann stark an, sodass die Aufnahmekapazität in den Gebäuden der BBO Traiskirchen auf 1800 Plätze erhöht und ein Zeltlager für 480 weitere Personen geschaffen wurde. Anfang Juli befanden sich in der BBO bereits 3200 Asylsuchende im Lager, Ende Juli 4500, darunter allein 2000 unbegleitete Minderjährige. Die vielen Menschen übernachteten unter freiem Himmel, bei Unwettern mussten Reisebusse abgestellt werden, um einen temporären Regenschutz zu bieten. Das UNHCR und Amnesty International übten deutliche Kritik an den Verhältnissen und sprachen von einer zum Teil unmenschlichen Behandlung.[3] Auch kam es an der Staatsgrenze zu Slowenien zu unkontrollierten Bewegungen der Flüchtlinge (als Durchbrüche bezeichnet). Der Landeshauptmann sprach von „Chaos“ und warnte vor einer „Explosion“. In Spielfeld waren rund 3000 Flüchtlinge vor Ort in Betreuung, in den Nachtstunden wurde mit einem weiteren Zustrom von 6000 bis 10.000 Flüchtlingen gerechnet.[4]

Im Zuge dieser Migrationsbewegung hatte die Regierung Sorge, dass das Land in den Menschenmassen untergeht und sah Probleme im Hinblick auf die zu erwartenden Asylverfahren aufkommen. Am Grenzübergang Nickelsdorf (zu Ungarn) wurden die Einreisenden mangels Kapazitäten nicht kontrolliert, sodass über Monate hinweg Hunderttausende Einreisende nicht registriert wurden. Immer wieder kam es zu heiklen Situationen auf den Bahnhöfen in Wien, Salzburg, Graz oder an der Grenze. Eines nachts machten sich Hunderte Flüchtlinge in Nickelsdorf zu Fuß auf den Weg und jagten den Dorfbewohnern einen großen Schrecken ein. Die Flüchtlingszahlen sprengten alle Kapazitäten.[5]

Ausgehend von diesen Ereignissen in den Jahren 2015 und 2016 entstand in Österreich eine politische Diskussion, im Zuge derer sodann der Nationalrat als gesetzgebendes Organ den 5. Abschnitt des Asylgesetzes 2005 beschlossen hat, worin eine Verordnungsermächtigung der Bundesregierung im Einvernehmen mit dem Hauptausschuss des Nationalrates im Falle der Gefährdung der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und des Schutzes der inneren Sicherheit geschaffen wurde. Im Falle der Erlassung einer solchen Verordnung sind die Bestimmungen des neu geschaffenen Abschnittes des Asylgesetzes während der Gültigkeit der Verordnung und während der Durchführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen anzuwenden. Bei der Feststellung der Gefährdung der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung des Schutzes der inneren Sicherheit ist vorgesehen, auf die Anzahl von Fremden, die einen Antrag auf internationalen Schutz stellen, und auf die durch aktuelle Migrationsbewegungen beeinträchtigten staatlichen Systeme einzugehen. Ziel dieser beschlossenen Regelung ist, im Anlassfall Fremde an der Einreise zu hindern, mit der Einschränkung, dass dies aus Gründen von Art 2, 3 und 8 EMRK nicht unzulässig ist.[6]

Im Zuge dieses politischen Prozesses wurde auch angedacht, im Falle massenhafter Migrationsbewegungen in und durch das Bundesgebiet, die Möglichkeit des Art 15 EMRK, also die Aussetzung bestimmter Rechte, anzuwenden.

Der Autor steht im Arbeitsleben und ist grundsätzlich – in sämtlichen Lebensbereichen - an der praktischen Anwendung von Arbeiten und deren Ergebnissen interessiert. Hochtheoretische Diskussionen sind daher nicht zu erwarten, da diese oft zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung bereits wieder der Vergangenheit angehören. Vielmehr soll mit der Arbeit versucht werden, komplizierte Sachverhalte vereinfacht und klar darzustellen.

Gegenständliche Arbeit im Rahmen des Lehrganges Human Rights an der Donau-Universität Krems fokussiert sich auf die Suspendierungsmöglichkeit gem. Art 15 EMRK im Falle eines massenhaften Zustroms von Migranten, worauf auch in der Besprechung einzelner Bestimmungen der EMRK immer wieder eingegangen wird.

In der Literatur werden für die Aussetzung von Grundrechten gem. Art 15 EMRK sowohl die Begriffe Suspendierung[7] als auch Derogation[8] verwendet. Im Hinblick auf eine angenehme Lesbarkeit wird diese unterschiedliche Begrifflichkeit, welche aber auf denselben Sinninhalt ausgerichtet ist, beibehalten.

Die Arbeit ist quasi trichterförmig aufgebaut, sodass Vorkenntnisse der EMRK nicht unbedingt erforderlich sind, um die Thematik diskutieren zu können: Von der relativ breiten Darstellung der in den Artikeln verankerten Rechtsgrundlagen und der grundlegenden Entscheidungen des EGMR immer fokussierter auf die bereits angeführte wissenschaftliche Frage: „Kann ein Massenzustrom von Menschen einen Anlass zu einer Derogationserklärung – auch in Österreich - im Sinne Art 15 EMRK darstellen?“

1.1. Die Europäische Menschenrechtskonvention

Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges war die Art und Weise, wie Staaten ihre eigenen Staatsangehörigen behandelten, keine Frage des Völkerrechts[9] sondern Teil staatlicher Souveränität. Erst der Völkermord an sechs Millionen Juden, die Ermordung von Roma und Sinti, Homosexuellen, behinderten Menschen und politischen Gegnern durch die Nationalsozialisten führte zu einem Umdenken. Dieser „Nazi-Holocaust“ war die Folge einer systematischen Politik von Diskriminierung und Ausrottung bestimmter Gruppen eigener Bürger und Bürgerinnen[10]. Nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges wurde, aufgrund dieser Erfahrungen, die Notwendigkeit der Festigung individueller Rechte des Einzelnen gegenüber der staatlichen Autorität erkannt und auf Ebene der UNO diskutiert und debattiert. Dieser politische Prozess, der bereits 1946 auf internationaler Ebene mit der Gründung der Menschenrechtskommission[11] einsetzte, mündete sodann am 10. Dezember 1948 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Universal Declaration of Human Rights, UDHR). Auch wenn diese Erklärung, formell eine UN-Generalversammlungs-Resolution, völkerrechtlich nicht verbindlich ist, stellt sie doch

„eine autoritative Interpretation des Begriffs Menschenrechte“ dar[12].

Auf europäischer Ebene wurde – im Trend der Zeit - ebenfalls großes Augenmerk auf die Formulierung von Menschenrechten gerichtet.

In der Präambel des Gründungsstatutes des am 5.5.1949 gegründeten Europarates wird durch die Formulierung „in der Erwägung, dass […] schon jetzt eine Organisation errichtet werden muss, in der die europäischen Staaten enger zusammengeschlossen werden“ schon bewusst oder unbewusst ein einiges Europa ins Auge gefasst. Im Artikel 3 des Statutes wird bereits als weitere Zielbestimmung festgelegt, dass mit Beitritt „jedes Mitglied des Europarates den Grundsatz der Vorherrschaft des Rechts und den Grundsatz, dass jeder, der seiner Hoheitsgewalt unterliegt, der Menschenrechte und Grundfreiheiten teilhaftig werden soll, anerkennt“[13]. Bereits am 9.9.1949 hat die Beratende Versammlung des Europarates den Entwurf einer EMRK angenommen,[14] wobei Österreich mit Hinterlegung der österreichischen Beitrittsurkunde am 16.4.1956 beim Generalsekretär des Europarates am 16.4.1956, also etwa ein halbes Jahr nach Wiedererlangung der vollen staatlichen Souveränität, dieser Organisation beigetreten ist.

Der Europarat sieht sich als führende Menschenrechtsorganisation in Europa und bezeichnet die EMRK als „… the most important legally binding instrument for collective enforcement of human rights and fundamental freedoms in Europe, maintaining and promoting the ideals and values of a democratic society. The European Court of Human Rights has a profound impact on the daily lives of over 830 million people in Europe through its judgments and well-established case law.“[15]

Als wichtiges und effektives Ergebnis der Beratungen – und das sieht das Ministerkommittee des Europarates nach der angeführten Erklärung wohl ebenso - ist jedenfalls die Europäische Menschenrechtskonvention anzusehen, welche bis zum 4.11.1950, unter starker Anlehnung an die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO, erarbeitet wurde und mit Ratifikation des 10. Mitgliedslandes am 3.9.1953 in Kraft getreten ist[16].

Österreich ist der EMRK am 3.9.1958 beigetreten[17] und hat die Bestimmungen 1964 rückwirkend in den Verfassungsrang erhoben[18]. Dieser Vorgangsweise hat Österreich bis heute als einziger Konventionsstaat gewählt.

Hervorzuheben ist bei diesem multilateralen Vertragswerk die – neben der in Artikel 33 vorgesehenen Staatenbeschwerde - jedem Rechtsunterworfenen wegen einer erlittenen Verletzung der darin garantierten Rechte oder von sich daraus ergebenden Pflichten eingeräumte Möglichkeit einer Individualbeschwerde[19] an eine überstaatliche Entscheidungsinstanz, nämlich jetzt an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Auch wenn dieses Beschwerdeverfahren einer gewissen Entwicklung ausgesetzt war und ist, so stellt damit die EMRK bis heute „das am weitesten entwickelte überstaatliche Menschenrechtssystem der Welt“[20] dar.

1.2. Der Geltungsbereich

In persönlicher Hinsicht definiert Art 1 EMRK, dass durch die Vertragsstaaten allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die Rechte der EMRK zuerkannt werden. Daraus folgt, dass die Konventionsstaaten die Verpflichteten und die ihrer Staatsgewalt unterstehenden Personen die Berechtigten sind.[21] Dem implizierten Berechtigungscharakter folgend ist es nur logisch, dass einer allfälligen Staatsbürgerschaft eines Vertragsstaates für die Zuerkennung der in der EMRK festgelegten Rechte kein Platz ist. Entscheidend für die Grundrechtsberechtigung ist allein das Betroffensein von der Hoheitsgewalt eines Mitgliedsstaates. Nur ausnahmsweise spielt die Staatsangehörigkeit für den durch die EMRK garantierten Schutz eine Rolle, nämlich beim Verbot der Ausweisung eigener Staatsangehöriger (Art 3 4. Zusatzprotokoll) oder beim Verbot der Kollektivausweisung von Ausländern (Art 4 4. Zusatzprotokoll)[22].

Hinsichtlich des Grundrechtsschutzes des ungeborenen Menschen, also des nasciturus, dürfte nach Grabenwarter/Pabel hinsichtlich des unklaren Wortlautes in Art 2 EMRK und der unterschiedlichen Rechtslage in den Mitgliedsstaaten der Nachweis einer Grundrechtsberechtigung nicht gelingen[23]. Diese Frage ist durch die Rechtsprechung der Konventionsorgane nicht abschließend geklärt. Aus dem Wortlaut der Gewährleistung ergibt sich die Erstreckung auf den Schutz ungeborenen Lebens nicht zwingend. Die Worte „jedes Menschen“ in den amtlichen deutschsprachigen Übersetzungen (in Österreich BGBl. 1958/210) und in der authentischen französischen Fassung („toute personne“) legen andererseits eine Einschränkung auf geborene Personen nahe, die sich aus der authentischen englischen Fassung („everyone“) nicht ergibt. Angesichts dessen ist nicht ausgeschlossen, dass auch ungeborenes Leben vom Schutz des Art 2 erfasst ist[24].

Jedoch birgt diese Ansicht Konfliktpotential besonders im Hinblick auf die auch in Österreich bestehende Fristenlösung, wonach ein Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich – ohne weitere Indikation - innerhalb der ersten drei Monate nach Beginn der Schwangerschaft nach einer Beratung durch eine Ärztin/einen Arzt möglich ist.[25]

Auch juristische Personen sind grundrechtsberechtigt, soweit sie nicht ein bestimmtes Naheverhältnis zum Staat überschreiten. Ob es sich dabei um juristische Personen des öffentlichen Rechts oder privaten Rechts handelt, ist für eine Beurteilung der Beschwerdeberechtigung ein Indiz, bleibt jedoch sekundär.[26] Eine Einzelfallprüfung ist daher erforderlich. Jedenfalls – und aufgrund der Logik nur ergänzend anzuführen – ist eine Grundrechtsberechtigung juristischer Personen dort nicht gegeben, wo das betreffende Recht seinem Wesen nach nicht auf eine juristische Person anwendbar sein kann, wie beispielsweise das Verbot der Folter.[27]

In räumlicher Hinsicht ist die Grundrechtsverpflichtung nach der EMRK primär auf eine territorial ausgerichtete Hoheitsgewalt fokussiert, wonach ein Vertragsstaat die Anwendung der EMRK auf seinem Staatsgebiet zu gewährleisten hat. In weiterer Folge ergibt sich, dass keine Verantwortlichkeit bei extraterritorialen Akten anderer Staaten (auf dem Gebiet eines Vertragsstaates) vorliegt. Eine Entbindung von den menschenrechtlichen Verpflichtungen liegt daher in dem Fall, wenn fremde Staaten mit Zustimmung des Territorialstaates auf dessen Staatsgebiet Hoheitsgewalt ausüben, vor. Denkbar wären daher Menschenrechtsverstöße in einem Botschaftsgebäude eines fremden Staates (Fall Kashoggi, ermordet im saudischen Konsulat in Istanbul?[28] ) oder auf einem ausländischen militärischen Stützpunkt.[29] Dies kann natürlich bei zwischenstaatlichen militärischen Konflikten im Falle der Präsenz von fremden Streitkräften auf eigenem Staatsgebiet der Fall sein, wodurch die eigene Hoheitsgewalt durch eben die fremden Streitkräfte verdrängt wird.[30]

Obwohl auf den ersten Blick verständlich erscheint es doch notwendig, auch einen militärisch-strategischen und politischen Blickwinkel nicht außer Acht zu lassen. Grundsätzlich kommt eine Derogationserklärung für Gebiete, über welche die Hoheitsgewalt verloren wurde, nicht mehr in Frage, da ja faktisch eine Zuerkennung von Rechten nicht mehr möglich ist. Der Schutz und die Zuerkennung der Menschenrechte fällt in die Verantwortlichkeit jenes Staates, der auch in der Lage ist, Kontrolle über das betreffende Gebiet auszuüben. Dies gilt auch für völkerrechtswidrig besetzte Gebiete. So hat die Republik Ukraine in ihrer Derogationserklärung an den Generalsekretär des Europarates hinsichtlich der umstrittenen bzw. von feindlichen Kräften besetzen Gebiete jegliche menschenrechtliche Verantwortung abgelehnt.[31]

Andererseits wird durch eine Nichtvornahme einer Derogation der Zustand eines Gebietsverlustes sodann möglicher Weise anerkannt. Es ist daher durchaus denkbar, dass ein Vertragsstaat daher aus strategischer Sicht auch für umkämpfte oder sogar besetzte Gebiete, wo eine Rückeroberung nicht gänzlich ausgeschlossen ist, eine Derogationserklärung abgibt. Im Ergebnis ist es für die Berechtigten auch nicht relevant, von welcher Seite die menschenrechtlichen Verpflichtungen eingehalten werden.

Tatsächlich hat der EGMR in seinem Urteil vom 16.9.2014 wiederholt, dass die EMRK für Konventionsstaaten auch außerhalb des Territoriums der Vertragsstaaten im Hinblick auf eine tatsächlich ausgeübte Hoheitsgewalt anwendbar ist und führt als Argument das Vorhandensein einer effektiven militärischen Kontrolle an.[32] Aufgrund der sich häufenden internationalen Konflikte (als Folge oder Begleiterscheinung der Globalisierung) ist dies auch erforderlich, um Konventionsstaaten nicht von menschenrechtlichen Bindungen zu befreien.[33] Diese Bindungen sind vielmehr Verpflichtungen, welche einzuhalten sind, wo immer sich staatliche Gewalt manifestiert, ob im Inland, im Ausland oder an einem anderen Ort, der keiner aufrechten staatlichen Hoheitsgewalt unterliegt.

1.3. Der Eingriff

Außer in den Fällen der absoluten Garantien nach Art 3 und 4 EMRK kann von staatlicher Seite in Menschenrechte eingegriffen werden, sofern dies im überwiegenden Interesse der Gemeinschaft gerechtfertigt scheint.[34] Die Prüfung des Eingriffs auf Rechtmäßigkeit wird hier deshalb angeführt, da ja eine Derogation nach Art 15 EMRK in der Regel erst dann in Frage kommt, wenn mit den in den diesbezüglichen Artikeln vorgesehenen Eingriffsermächtigungen nicht mehr das Auslangen für die beabsichtigte Wiederherstellung des Normalzustandes gefunden wird.

Nach dem von Von Arnold angeführten Prüfschema ist diesbezüglich wie folgt vorzugehen:[35]

Prüfung am Maßstab eines EMRK-Rechts

I. Eingriff in den Schutzbereich

1. Schutzbereich (= wird ein bestimmtes Verhalten von einem EMRK-Recht erfasst?)

2. Eingriff (= wird dieses Verhalten vom Staat beeinträchtigt?)

II. Rechtfertigung des Eingriffs

1. Gesetzliche Grundlage

2. Zulässiges Ziel

3. Verhältnismäßigkeit

- Erforderlichkeit

- Angemessenheit

Das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage des Eingriffs erscheint auf den ersten Blick für das kontinentaleuropäische Rechtssystem klar und eindeutig. Es ist jedoch auch das angel-sächsische Common Law zu berücksichtigen, sodass festzustellen ist, dass nicht nur Parlamentsgesetze sondern auch eine gefestigte Rechtsprechung als Grundlage für einen Eingriff dient.

Der Eingriff muss weiters ein legitimes Ziel, welches in der Regel im entsprechenden Artikel angeführt ist, verfolgen und verhältnismäßig sein. Diesbezüglich ist die Erforderlichkeit und die Angemessenheit des Eingriffs zu prüfen. Bei dieser Prüfung gesteht der EGMR den Konventionsstaaten bereits einen weiten Beurteilungsspielraum – margin of appreciation – zu.[36]

1.4. Die Wiener Vertragsrechtskonvention

Die EMRK ist ein multilateraler völkerrechtlicher Vertrag, für den die Regeln der Wiener Vertragsrechtskonvention gelten[37]. Dieses Übereinkommen aus dem Jahr 1969[38] findet gem. Art 1 auf Verträge zwischen Staaten Anwendung und beinhaltet insbesondere Bestimmungen über die Auslegung von Vertragsbestimmungen, Vorbehalte und Kündigungen. Laut Art 4 „findet das Übereinkommen nur auf Verträge Anwendung, die von Staaten geschlossen werden, nachdem das Übereinkommen für sie in Kraft getreten ist“[39], womit ein Rückwirkungsverbot determiniert wurde. Aufgrund dessen wären die Bestimmungen der WVK für die Interpretation der Bestimmungen der EMRK sowie deren bis zu diesem Zeitpunkt in Kraft getretenen Zusatzprotokollen nicht anzuwenden.

Der EGMR bezieht sich jedoch wiederholt auf den Inhalt der WVK[40] [41]. Im Fall Golder v. United Kingdom stellte sich die Frage des Sinninhaltes des Art 6 Abs 1 EMRK, wobei als Interpretationsgrundlage die Art 31 bis 33 der WVK, die zum Entscheidungsdatum noch nicht in Kraft war, herangezogen wurden:

„its Articles 31 to 33 enunciate in essence generally accepted principles of international law to which the Court has already referred on occasion. In this respect, for the interpretation of the European Convention account is to be taken of those Articles subject, where appropriate, to „any relevant rules of the organization“ – the Coucil of Europe – within which it has been adopted (Article 5 of the Vienna Convention)[42].

In der Entscheidung Bankovic and others v. Belgium and others stellt der EGMR neuerlich auf die Auslegungsregeln der WVK ab:

„The Court recalls that the Convention must be interpreted in the light of the rules set out in the Vienna Convention 1969 (Golder v. the United Kingdom judgment of 21 February 1975, Series A no. 18, § 29).“[43]

In Zusammenschau dieser Entscheidungen ist davon auszugehen, dass einerseits die WVK für die Auslegung der EMRK samt Zusatzprotokollen völkergewohnheitsrechtlich anzuwenden ist. Andererseits hat der EGMR in seiner Spruchpraxis selbst eine Reihe von Grundsätzen entwickelt, welche ihn bei der Auslegung der Konvention leiten. Diesbezüglich ist jedenfalls der Grundsatz der „autonomen Interpretation“ anzuführen, welcher besagt, dass die Begriffe der Konvention unabhängig von ihrer Bedeutung in den nationalen Rechtsordnungen auszulegen sind[44]. Dadurch wird klar, dass die Festlegung von authentischen Vertragstexten wichtig ist und auch, dass sich der EGMR von jeglicher Bindung oder Einflussnahme fernhalten will. Weiters ist die Zuschreibung des Grundsatzes des „living instruments“ an die EMRK als eine weitere Auslegungsmaxime anzusehen:

That the Convention is a living instrument which must be interpreted in the light of present-day conditions is firmly rooted in the Court’s case-law“ [45]. Mit dieser expliziten Aussage hat der Gerichtshof die Wichtigkeit dieses Grundsatzes in seiner Entscheidung vom 23.3.1995 im Fall Loizidou gegen Türkei (siehe oben) ausgedrückt. Dieser Interpretationsgrundsatz, welcher einer dynamischen und evolutionären Auslegung den Weg bereitet, ist die Grundlage für ein mögliches Reagieren auf geänderte gesellschaftliche Herausforderungen.

1.5. Die Frage des Vorbehaltes

Nach Art 2 lit d) der Wiener Vertragsrechtskonvention[46] bedeutet „Vorbehalt“ eine wie auch immer formulierte oder bezeichnete, von einem Staat bei der Unterzeichnung, Ratifikation, Annahme oder Genehmigung eines Vertrags oder bei dem Beitritt zu einem Vertrag abgegebene einseitige Erklärung, durch die der Staat bezweckt, die Rechtswirkung einzelner Vertragsbestimmungen in der Anwendung auf diesen Staat auszuschließen oder zu ändern.

Es handelt sich also um eine einseitige Willenserklärung, welche gem. Art 19 WVK bei der Unterzeichnung, Ratifikation, Annahme oder Genehmigung eines Vertrags oder beim Beitritt angebracht werden kann, soferne nicht

a) der Vertrag den Vorbehalt verbietet;
b) der Vertrag vorsieht, dass nur bestimmte Vorbehalte gemacht werden dürfen, zu denen der betreffende Vorbehalt nicht gehört, oder
c) in den unter lit. a oder b nicht bezeichneten Fällen der Vorbehalt mit Ziel und Zweck des Vertrags unvereinbar ist.

Nach Art 20 Abs 1 WVK bedarf ein durch einen Vertrag ausdrücklich zugelassener Vorbehalt nur dann der nachträglichen Annahme durch die anderen Vertragsstaaten, wenn der Vertrag dies vorsieht. Österreich hat anlässlich der Ratifizierung der EMRK folgenden Vorbehalt angebracht, nämlich „daß

1. die Bestimmungen des Artikels 5 der Konvention mit der Maßgabe angewendet werden, daß die in den Verwaltungsverfahrensgesetzen, BGBl. Nr. 172/1950, vorgesehenen Maßnahmen des Freiheitsentzuges unter der in der österreichischen Bundesverfassung vorgesehenen nachprüfenden Kontrolle durch den Verwaltungsgerichtshof oder den Verfassungsgerichtshof unberührt bleiben;

2. die Bestimmungen des Artikels 6 der Konvention mit der Maßgabe angewendet werden, daß die in Artikel 90 des Bundes-Verfassungsgesetzes in der Fassung von 1929 festgelegten Grundsätze über die Öffentlichkeit im gerichtlichen Verfahren in keiner Weise beeinträchtigt werden,

und von dem Wunsch geleitet, jede Unsicherheit betreffend die Anwendung des Artikels 1 des Zusatzprotokolls im Zusammenhang mit dem Staatsvertrag betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich vom 15. Mai 1955 zu vermeiden, das Zusatzprotokoll mit dem Vorbehalt, daß die Bestimmungen des Teiles IV „Aus dem Krieg herrührende Ansprüche“ und des Teiles V „Eigentum, Rechte und Interessen“ des zitierten Staatsvertrages unberührt bleiben“.[47]

Art 57 EMRK sieht vor, dass nach Abs 1 jeder Staat bei Unterzeichnung dieser Konvention oder bei Hinterlegung seiner Ratifikationsurkunde bezüglich bestimmter Vorschriften der Konvention einen Vorbehalt machen kann, soweit ein zu dieser Zeit in seinem Gebiet geltendes Gesetz nicht mit der betreffenden Vorschrift übereinstimmt. Vorbehalte allgemeiner Art sind nach diesem Artikel nicht zulässig; und nach Abs 2 muss jeder nach diesem Artikel gemachte Vorbehalt mit einer kurzen Inhaltsangabe des betreffenden Gesetzes verbunden sein.[48]

Winkler meint, dass grundsätzlich nach den Bestimmungen der WVK ein verspäteter, also nach Unterzeichnung, Ratifikation, Annahme, Genehmigung oder Beitritt vorgebrachter Vorbehalt von den Vertragsstaaten angenommen werden kann. Sie verweist jedoch gleichermaßen auf den dispositiven Charakter der WVK: Die Staaten haben es in der Hand, Zeitpunkte vertraglich vorzusehen, in welchen sie Vorbehalte zu einem Vertragswerk erlauben wollen[49].

Eine Anbringung von Vorbehalten ist also nur anlässlich des Beitrittsprozesses erlaubt. Grundsätzlich sind Vorbehalte zur EMRK mit der Einschränkung gem. Art 57 EMRK, wonach Vorbehalte allgemeiner Art nach diesem Artikel nicht zulässig sind, möglich. Nachträglich angebrachte Vorbehalte sind unwirksam. Der Aus- und Neubeitritt zur Konvention einzig zum Zwecke der Anbringung eines Vorbehaltes ist als unzulässig anzusehen.[50]

Dies führt zu dem Ergebnis, dass sich die Diskussion um die Anbringung von Vorbehalten lediglich auf neu hinzukommende Konventionsstaaten beziehen und - daraus folgend - dass es zu unterschiedlichen Verpflichtungen durch angebrachte Vorbehalte hinsichtlich von Vertragsbestimmungen der EMRK kommen kann. Der Zweck der Abgabe eines Vorbehaltes kann darin begründet sein, dass dadurch eine gerichtliche Kontrolle bestimmter Rechte durch den EGMR umgangen wird, da ja die rechtliche Verpflichtung im Umfang des Vorbehaltes sodann nicht besteht.

Eine weitere mögliche Absicht wäre, mit einem Vorbehalt sogenannte derogationsfeste Rechte (im Sinne Art 15 Abs 2 EMRK) nicht zu garantieren. Diesbezüglich ist zu prüfen, ob diese derogationsfesten Bestimmungen so wichtig für die Ziele und Zwecke des Vertrages sind, dass ein Vorbehalt nach Art 19 lit. c WVK als unzulässig anzusehen ist.

Bei den in Art 15 Abs 2 EMRK angeführten notstandsfesten Rechten, wie dem Recht auf Leben, dem Verbot der Folter und unmenschlicher und erniedrigender Behandlung, dem Verbot der Sklaverei und Zwangsarbeit sowie bei dem Grundsatz nullum crimen, nulla poena sine lege handelt es sich um derart grundlegende Menschenrechte, dass ein entsprechender Vorbehalt sicherlich wirkungslos und nichtig wäre[51].

Für gegenständliche Untersuchung wäre die Absicht der Anbringung eines Vorbehaltes wichtig und anzuführen. Bei der rechtmäßigen und gültigen Erklärung eines Vorbehaltes fällt die gerichtliche Nachkontrolle einer Maßnahme gegenüber einer Derogationserklärung gem. Art 15 EMRK – wo diese ja vom EGMR durchgeführt wird – weg. Da die nachträgliche Vorbehaltserklärung jedoch gem. Art 57 EMRK ausgeschlossen wurde, braucht im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht weiter darauf eingegangen werden.

2. Artikel 15 EMRK – Außerkraftsetzen im Notstandsfall

Die EMRK erlaubt eine Derogation von Rechten in außergewöhnlichen Situationen. Zweck dieser Derogationsmöglichkeit soll die Rückkehr zu „normalen Zuständen“ sein. Der Stellung eines multilateralen völkerrechtlichen Vertrages entsprechend, wurden diesbezüglich Verfahrensbestimmungen vorgesehen.

2.1. Das Verfahren

„Jeder Hohe Vertragschließende Teil, der dieses Recht der Außerkraftsetzung ausübt, hat den Generalsekretär des Europarates eingehend über die getroffenen Maßnahmen und deren Gründe zu unterrichten. Er muß den Generalsekretär des Europarates auch über den Zeitpunkt in Kenntnis setzen, in dem diese Maßnahmen außer Kraft getreten sind und die Vorschriften der Konvention wieder volle Anwendung finden.“[52]

Art 15 EMRK ermöglicht den Vertragsstaaten, in außergewöhnlichen Umständen Bestimmungen des Vertragswerks vorübergehend, also zeitlich begrenzt, außer Kraft zu setzen. Verpflichtend ist die Information des Generalsekretärs des Europarates, welche die gesetzten Maßnahmen und die Gründe hierfür beinhalten müssen. Diese Notifikationspflicht ermöglicht sodann, dass die anderen Konventionsstaaten durch den Generalsekretär des Europarates informiert werden können. Den Vertragspartnern steht es sodann offen, im Wege eines Staatenbeschwerdeverfahrens nach Art 33 EMRK gegen den betreffenden Staat vorzugehen.[53] Aber auch im Wege einer Individualbeschwerde nach Art 34 EMRK können Personen, die sich in einem beschränkten Grundrecht als verletzt betrachten, dies durch den EGMR prüfen lassen, welcher dann auch die Rechtmäßigkeit der Suspendierung gem. Art 15 EMRK zu prüfen hat.[54] Nach Beendigung der Außerkraftsetzung ist dies ebenfalls mitzuteilen.[55]

Die Information ist nicht als konstitutiv anzusehen, d.h. sie ist nicht Voraussetzung zur Maßnahmensetzung, wird aber als konstitutiv für die Gültigkeit der Erklärung angesehen[56]. Im Hinblick auf das Erfordernis einer umgehenden Reaktion in einer unmittelbaren Notstandssituation erscheint dies auch sinnvoll und zielführend, erst nach Maßnahmensetzung eine Information des Generalsekretärs vorzunehmen. Generell ist anzuführen, dass Gegenstand einer Derogationserklärung natürlich eine innerstaatliche Gesetzgebung ist, da es sich ja um Notstandsrecht handelt.

Als weitere formelle Voraussetzung wird für die Derogation von Konventionsrechten im Falle eines Notstandes eine Proklamationspflicht, welche lediglich im IPBPR explizit angeführt ist[57], angesehen. Diese Pflicht bezieht sich auf einen innerstaatlichen Vorgang und setzt voraus, dass der Ausnahmezustand innerstaatlich öffentlich in Form einer amtlichen Mitteilung oder Erklärung veröffentlich wird. Die dahinterstehende Überlegung für eine solche Pflicht ist, dass dadurch unterbunden werden soll, dass Staaten einen öffentlichen Notstand rückwirkend als Rechtfertigung für stattgefundene Menschenrechtsverletzungen benutzen. Somit wird auch die Bevölkerung über das Ausmaß der Notstandssituation und auch über die Einschränkungen der ansonsten garantierten Grundrechte informiert. Eine nationale – politische – Kontrolle sowie das Rechtsstaatlichkeitsprinzip wird dadurch beim Erlass der Notstandsgesetze gestärkt.[58]

Auch der EGMR bestätigt im Fall Brannigan and MacBride gegen Vereinigtes Königreich das grundsätzliche Erfordernis einer Proklamation, indem er anführt:

„In his statement of 22 December 1988 to the House of Commons the Secretary of State for the Home Department explained in detail the reasons underlying the Government’s decision to derogate and announced that steps were being taken to give notice of derogation under both Article 15 (art. 15) of the European Convention and Article 4 of the Covenant. He added that there was "a public emergency within the meaning of these provisions in respect of terrorism connected with the affairs of Northern Ireland in the United Kingdom ...‘ (see paragraph 30 above).

In the Court’s view the above statement, which was formal in character and made public the Government’s intentions as regards derogation, was well in keeping with the notion of an official proclamation.“[59]

Inhaltlich enthält Art 15 Abs 3 EMRK keine genauen Vorgaben, jedoch hat die Mitteilung umfassend über die getroffenen Maßnahmen und deren Gründe zu unterrichten[60]. Durch die Bekanntgabe der Maßnahmensetzung müssen im Hinblick auf mögliche Staatenbeschwerden gem. Art 33 bzw. Individualbeschwerden gem. Art 34 EMRK die anderen Konventionsstaaten und auch der Gerichtshof in der Lage sein, die Art und den Umfang der Derogation einschätzen zu können[61]. So hat bereits am 26.9.1958 die Europäische Kommission für Menschenrechte in ihrem Bericht festgestellt, dass „it was really essential for the satisfactory working of the Convention that the text of measures taken under Article 15 should form part of the information provided by the High Contracting Party concerned“[62]. Eine beigefügter nationaler Gesetzestext wurde für ausreichend erachtet[63].

In der jüngsten Derogationserklärung der Türkei an den Generalsekretär des Europarates vom 21.7.2016 aufgrund der Ereignisse vom 15.7.2016 – Versuch von Teilen des türkischen Militärs, die Regierung zu stürzen[64] - wird einerseits auf dieses Ereignis Bezug genommen und andererseits beabsichtigte Maßnahmen angesprochen:

„On 15 July 2016, a large-scale coup attempt was staged in the Republic of Turkey to overthrow the democaratically-elected government and the constitutional order. This despiceable attempt was foiled by the Turkish state and people acting in unity and solidarity. The coup attempt and its aftermath together with other terrorist acts have posed severe dangers to public security and order, amounting to a threat to the life of the nation in the meaning of Article 15 of the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms.

The Republic Turkey is taking the required measures as prescribed by law, […] for three months …“[65]

Diese Erklärung beinhaltet wohl insoferne alle geforderten Erfordernisse, weil die türkische Republik in zeitlich weiterer Folge die innerstaatlich gefassten Beschlüsse bzw. Gesetze an den Generalsekretär übermittelt hat (abrufbar auf der Homepage des Europarates[66] ).

Zeitlich wird vom Gerichtshof eine Verständigung „without delay“[67] verlangt, wobei die Unterrichtung nach vier Monaten als verspätet angesehen wurde.[68] Im Hinblick auf ein in der Regel rasches Handlungsbedürfnis im manchen Kriegs- bzw. Notstandsfällen erscheint diese Vorgehensweise zielführend, insbesonders dass eine nachträgliche Derogationserklärung vorgesehen ist, da ja das primäre Streben eines Konventionsstaates – wie bereits angeführt – eine Wiederherstellung staatlicher Ordnung und Sicherheit sein muss.

Hinsichtlich der Mitteilung der voraussichtlichen Gültigkeitsdauer der Aussetzungserklärung enthält die EMRK keine Bestimmungen, lediglich über das Ende der Maßnahmen ist sodann der Generalsekretär des Europarates wiederum zu unterrichten. Diesbezüglich besteht in der Wissenschaft die Befürchtung, dass aus einer Ausnahmesituation ein Dauerzustand werden könnte. Aufgrund des schwachen Prüfungsmaßstabes des EGMR – in Folge des „Margin of appreciation-Grundsatzes“ – scheinen die Grenzen zwischen Normal- und Ausnahmefall zu verschwimmen und es bestehe die Gefahr, dass aus dem Ausnahmezustand ein Dauerzustand werde.[69]

Dass die EMRK im vorhinein keine Mitteilung darüber verlangt, wie lange die Notstandslage aufrechterhalten werden soll sondern lediglich die Unterrichtung über das Ende vorsieht, wird von Teilen der Wissenschaft im Hinblick auf diese Gefahr der Ausdehnung der Notstandslage kritisiert. Wenn das voraussichtliche Ende des Notstands bereits von vorneherein feststeht, so stünde der derogierende Staat bei einer möglichen Verlängerung unter erhöhtem Rechtfertigungsdruck. Ein dauerhafter oder normalisierter Notstand entsteht, wenn einerseits eben kein konkreter Zeitrahmen festgelegt wird oder ein einmal verhängter Notstand immer wieder verlängert wird.[70]

[...]


[1] DDr.in Elisabeth Steiner anlässlich der Lehrveranstaltung Fallstudien zu den Menschenrechten am 17.5.2019 an der Donau-Universität Krems

[2] Cheney, Vice President Cheney Delivers Remarks to the Republican Governors Association, Stand 25.10.2001, https://georgewbush-whitehouse.archives.gov/vicepresident/news-speeches/speeches/vp20011025.html, abgefragt am 21.6.2019

[3] Gratz, Das Management der Flüchtlingskrise (2016) 17

[4] Müller, Schützenhofer warnt vor Explosion, in Der Standard, https://derstandard.at/2000024362718/Schuetzenhofer-warnt-vor-Explosion, abgefragt am 14.7.2019

[5] Ultsch/Prior/Nowak, „Politisch unerwünscht“: Warum Österreich 2015 Hunderttausende Flüchtlinge nicht registrierte, in Die Presse, Stand 8.10.2017, https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5298775/Politisch-unerwuenscht_Warum-Oesterreich-2015-Hunderttausende, abgefragt am 25.7.2019

[6] BGBl. I Nr. 24/2016, § 36f

[7] Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention6 (2016) 10f

[8] Johann, 4. Teil. Allgemeine Schranken in Karpenstein/Mayer, EMRK2 (2015) 489f

[9] Nowak, Einführung in das internationale Menschenrechtssystem (2002) 33

[10] Nowak, Einführung 34

[11] Nowak, Einführung 89

[12] Nowak, Einführung 90

[13] BGBl.Nr. 121/1956 idgF.

[14] Meyer-Ladewig/Nettesheim, Entstehungsgeschichte und Stand des EMRK-Menschenrechtsschutzes, in Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer (Hrsg.), EMRK4 (2017) 25

[15] Counsil of Europe, Declaration by the Committee of Ministers on the occasion of the 70th anniversary of the Council of Europe, Stand 17.5.2019, https://search.coe.int/cm/pages/result_details.aspx?objectid=090000168094791d, abgefragt am 7.8.2019

[16] Meyer-Ladewig/Nettesheim, Entstehungsgeschichte und Stand des EMRK-Menschenrechtsschutzes, in Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer (Hrsg.), EMRK4 (2017) 25

[17] BGBl.Nr. 210/1958 idgF

[18] BGBl.Nr. 59/1964 idgF

[19] Artikel 34 EMRK, BGBl.Nr. 210/1958 idgF

[20] Mayer, Einleitung und Entstehungsgeschichte, in Karpenstein/Mayer, EMRK2 (2015) 3

[21] Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention6 (2016) 128

[22] Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention6 (2016) 129

[23] Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention6 (2016) 129

[24] Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention6 (2016) 165

[25] Oesterreich.gv.at, Schwangerschaftsabbruch, Stand 28.2.2019, https://www.oesterreich.gv.at/themen/frauen/schwangerschaftsabbruch.html, abgefragt am 7.8.2019

[26] Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention6 (2016) 129

[27] Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention6 (2016) 130

[28] Fall Khashoggi: Polizei fand Beweise für Mord im Konsulat; in Die Presse, Stand 16.10.2018, https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5514320/Fall-Khashoggi_Polizei-fand-Beweise-fuer-Mord-im-Konsulat; abgefragt am 7.8.2019

[29] von Arnold, Völkerrecht3 (2016) 279

[30] Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention6 (2016) 135

[31] Council of Europe, Reservations and Declarations for: Ukraine, Stand 1.8.2019 https://www.coe.int/en/web/conventions/search-on-reservations-and-declarations/-/conventions/declarations/results?_coeconventions_WAR_coeconventionsportlet_formDate=1564652415111&_coeconventions_WAR_coeconventionsportlet_searchBy=state&_coeconventions_WAR_coeconventionsportlet_codePays=U&_coeconventions_WAR_coeconventionsportlet_numSTE=&_coeconventions_WAR_coeconventionsportlet_codesMatieres=&_coeconventions_WAR_coeconventionsportlet_enVigueur=true&_coeconventions_WAR_coeconventionsportlet_dateDebut=05%2F05%2F1949&_coeconventions_WAR_coeconventionsportlet_dateDebutDay=5&_coeconventions_WAR_coeconventionsportlet_dateDebutMonth=4&_coeconventions_WAR_coeconventionsportlet_dateDebutYear=1949&_coeconventions_WAR_coeconventionsportlet_dateStatus=01%2F08%2F2019&_coeconventions_WAR_coeconventionsportlet_dateStatusDay=1&_coeconventions_WAR_coeconventionsportlet_dateStatusMonth=7&_coeconventions_WAR_coeconventionsportlet_dateStatusYear=2019&_coeconventions_WAR_coeconventionsportlet_numArticle=15&_coeconventions_WAR_coeconventionsportlet_codeNature=&p_auth=RZUGSZ1l, abgefragt am 1.8.2019

[32] EGMR 16.9.2014, 29750/09, Hassan/The United Kingdom

[33] von Arnold, Völkerrecht3 (2016) 281

[34] von Arnold, Völkerrecht3 (2016) 287

[35] von Arnold, Völkerrecht3 (2016) 286

[36] von Arnold, Völkerrecht3 (2016) 287f

[37] Mayer, Einleitung und Entstehungsgeschichte, in Karpenstein/Mayer, EMRK2 (2015) 6

[38] WIENER ÜBEREINKOMMEN ÜBER DAS RECHT DER VERTRÄGE, BGBl. Nr. 40/1980

[39] WVK, BGBl. Nr. 40/1980

[40] EGMR 21.2.1975, 4451/70, Golder/The United Kingdom

[41] EGMR 12.12.2001, 52207/99, Vladimir und Borka Bankovic u.a./Belgien u.a.

[42] EGMR 21.2.1975, 4451/70, Golder/The United Kingdom Rz 29

[43] EGMR 12.12.2001, 52207/99, Vladimir und Borka Bankovc u.a./Belgien u.a. Rz 55

[44] Mensching, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, in Menzel/Pierlings/Hoffmann (Hrsg), Völkerrechtsprechung (2005) 54

[45] EGMR 23.03.1995, 15318/89, Loizidou v. Türkei, Rz 71

[46] In Österreich in Kraft getreten am 27.1.1980, BGBl.Nr. 40/1980

[47] BGBl.Nr. 210/1958

[48] ebenda

[49] Winkler, Zulässigkeit und Rechtswirkungen von Vorbehalten nach der Wiener Vertragsrechtskonvention (2007) 263

[50] Arndt/Engels, Art. 58 Kündigung, in Karpenstein/Mayer, EMRK2 (2015) 717

[51] Weber, Notstandskontrolle (2019) 279

[52] Art 15 Abs 3 Europäische Menschenrechtskonvention, BGBl. 210/1958 idgF

[53] Vollmer, Die Geltung der Menschenrechte im Staatsnotstand (2010) 75

[54] Pabel, Bewährungsproben des Rechtsstaates und Reaktionsmöglichkeiten im Rechtsschutzsystem der EMRK in Reindl-Krauskopf/Salimi/Kraml/Schulev-Steindl/Scharler/Pekler, Resilienz des Rechts in Krisenzeiten (2016) 193

[55] European Court of Human Rights, Factsheet , Stand August 2018, https://www.echr.coe.int/Documents/FS_Derogation_ENG.pdf, abgerufen am 25.6.2019

[56] Krieger, in Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg), EMRK/GG Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz2 (2013) Kap. 8 Rn 41

[57] Art 4 Abs 1 IPBPR BGBl.Nr. 591/1978

[58] Vollmer, Die Geltung der Menschenrechte im Staatsnotstand (2010) 72f

[59] EGMR 25.5.1993, 14553/89 und 14554/89, Brannigan and McBride/The United Kingdom Rz 73

[60] Vollmer, Die Geltung der Menschenrechte im Staatsnotstand (2010) 76

[61] Meyer-Ladewig/Schmaltz, Art 15 Abweichen im Notstandsfall, in Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer (Hrsg.), EMRK4 (2017) 497

[62] EGMR, Factsheet – Derogation in time of emergency

[63] EGMR 1.7.1961, 332/57, Lawless/Ireland, Rz 47

[64] Polke-Majewski/Steffen/Endres/Biermann, Was wir über den Putsch in der Türkei wissen, in Zeit Online, Stand 16.7.2017, https://www.zeit.de/politik/ausland/2016-07/militaer-putsch-tuerkei-was-wir-wissen-erdogan, abgerufen am 1.7.2019

[65] Turkey, Declaration in a letter from the Permanent Representative of Turkey, dated 21 July 2016, registered at the Secretariat General on 21 July 2016 – Or. Engl.; https://insanhaklarimerkezi.bilgi.edu.tr/media/uploads/2018/01/08/Avrupa_Konseyi_OHAL_Belgeleri_08.01.2018.pdf, abgerufen am 1.7.2019

[66] The Council of Europe, https://www.coe.int/de/web/portal/home, abgerufen am 1.7.2019

[67] EGMR 1.7.1961, 332/57, Lawless/Ireland, Rz 47

[68] Meyer-Ladewig/Schmaltz, Art 15 Abweichen im Notstandsfall, in Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer (Hrsg.), EMRK4 (2017) 498

[69] Lukan, Staatsnotstand und Einschränkung von Grundrechten – Ausnahmesituation oder Dauerzustand? Stand 13.2.2014, https://www.juwiss.de/16-2014/, abgerufen am 15.5.2019

[70] Weber, Notstandskontrolle (2019) 130f

Ende der Leseprobe aus 82 Seiten

Details

Titel
Die Europäische Menschenrechtskonvention. Suspendierung von Bestimmungen im Notstandsfall
Hochschule
Donau-Universität Krems - Universität für Weiterbildung  (Department für Rechtswissenschaften und Internationale Beziehungen)
Note
1
Autor
Jahr
2019
Seiten
82
Katalognummer
V512125
ISBN (eBook)
9783346092625
ISBN (Buch)
9783346092632
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Menschenrechte, Suspendierung, Notstand, Aufhebung
Arbeit zitieren
Erwin Schmidt (Autor:in), 2019, Die Europäische Menschenrechtskonvention. Suspendierung von Bestimmungen im Notstandsfall, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/512125

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