Linkspopulistische Regierungen in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts in Lateinamerika. Sozioökonomische Determinanten bei den Wahlen


Bachelorarbeit, 2019

38 Seiten, Note: 1.0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Theoretischer Rahmen
2.1 Defekte Demokratien in Lateinamerika
2.2 Einordnung lateinamerikanischer Regierungen im politischen Spektrum
2.3 Kontextbezogene Definition des Linkspopulismus in Lateinamerika

3 Rational-choice-Ansatz zur Erklärung des Konflikts zwischen Mehrheit und Elite
3.1 Das Modell und die Hauptvariablen
3.2 Das Medianwähler-Theorem und die umverteilende Politik

4 Empirische Daten und Variablen zur Erklärung von Präsidentschaftswahlen
4.1 Einflussfaktoren für den Anstieg von Mitte-links-Regierungen
4.2 Die Unterstützung für linkspopulistische Regierungsparteien

5 Fazit und Ausblick

Literaturverzeichnis

APPENDIX

1 Einleitung

Das Ende des 20. Jahrhunderts schien für Lateinamerika[1] der Anfang einer neuen demokratischen Ära zu sein. Die Ersetzung der ehemaligen Diktaturen durch demokratisch gewählte Regierungen sowie die Entfaltung der einst durch autoritäre Regime eingeschränkten Legislative und Judikative gaben vielen lateinamerikanischen Ländern ein demokratisches Antlitz. Diese Veränderung löste sowohl einen Wandel der traditionellen Parteien von extremen linken bzw. rechten Ideologien hin zur Mitte des politischen Spektrums als auch die Konsolidierung von demokratischen Wahlen im politischen Wettbewerb aus.

Laut dem Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel und seinen Kollegen ist die Institutionalisierung der Volkssouveränität durch freie und faire Wahlen eine notwendige Bedingung für ein demokratisches politisches System (Merkel et al., 2003, S. 39). Diese notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung bedeutet für viele Lateinamerikaner die Einbindung in politische Entscheidungen. Viele Politiker streben nun bei ihren Wahlkampagnen nicht mehr eine Elitenmobilisierung, sondern eine Massenmobilisierung der einst Entrechteten an. Mit dem Rücktritt von Alberto Fujimori im Jahr 2000 und der Wahl von Alejandro Toledo zum peruanischen Präsidenten wurde das Ende der Autokratien in Lateinamerika verkündet (mit Ausnahme von Kuba). Der Übergang in die Demokratie zu Beginn des neuen Jahrtausends ließ die Begriffe Élite und Pueblo (Volk) in den Mittelpunkt des politischen Diskurses rücken.

Aber manche demokratisch gewählten Regierungen wurden aufgrund ihrer kurzfristigen wirtschaftspolitischen Ziele, oder wegen ihrer Tendenz, durch plebiszitäre Maßnahmen zu regieren, als linkspopulistisch[2] bezeichnet. Linkspopulisten verwenden oft eine Rhetorik gegen die Eliten und gegen die Hegemonie der USA. Dabei versuchen sie den Gerechtigkeitssinn der Bürger und einen gewissen Patriotismus zu ihren Gunsten zu lenken. Politikwissenschaftler wie Christóbal Rovira Kaltwasser und Cass Mudde (2017), Jan-Werner Müller (2016) und Ronald Inglehart und Pippa Norris (2016, 2019) definieren Populisten als politische Akteure, die behaupten, das „wahre Volk“ zu vertreten und den „Volkswillen“ durchsetzen zu wollen. Demnach streben Populisten nach Anerkennung ihres politischen Handelns durch das „Volk“, wobei sie ihre jeweiligen politischen Gegner zu Feinden des Volks deklarieren.

Die Arbeit von Inglehart und Norris (2016, 2019), sowie die von Cas Mudde und Rovira Kaltwasser (2017) geben dem Leser einen Überblick über die Ursachen des Populismus in modernen rechtsstaatlichen Demokratien, wie etwa in den USA und Europa. Diese Autoren erklären den Anstieg des Populismus in westlichen Demokratien als eine Gegenreaktion traditionsorientierter Gruppen, die in dem nach dem zweiten Weltkrieg entstandenen Kosmopolitismus und dem Kulturwandel postindustrieller Gesellschaften eine Bedrohung für ihre Werte und ihre Vormachtstellung sehen. Laut den angeführten Autoren ist die Demokratie, vor allem die direkte Demokratie, ein günstiges Umfeld für die Entstehung populistischer Parteien. Somit ist der Populismus eine Herausforderung für die aktuelle Demokratie, da dieser sich auch innerhalb einer rechtsstaatlichen Demokratie herausbilden und in einem defekten demokratischen System einen noch größeren Entwicklungsraum finden kann.

Laut Merkel et al. (2003, S. 40) handelt es sich bei dem Großteil der Demokratien Lateinamerikas, mit Ausnahme von Costa Rica, Chile und Uruguay, nicht um rechtsstaatliche Demokratien, sondern um sogenannte defekte Demokratien. In einer defekten Demokratie wird das Prinzip der elektoralen Demokratie zwar eingehalten, aber andere Aspekte, wie die politische Gleichheit, Teilhabe- und Freiheitsrechte, werden nur in ungenügendem Maße erfüllt. Das Ende der Diktaturen in Lateinamerika öffnete in dieser Region die Tür zur Demokratie, aber die Gründe für die Wende der jungen Demokratie in Richtung Mitte-links- und linkspopulistischer Regierungen sind oft nicht eindeutig. In diesem Zusammenhang werden in dieser Arbeit die Faktoren untersucht, die nach der demokratischen Wende Lateinamerikas zur Wahl von Mitte-links- oder linkspopulistischen Regierungen geführt haben. Die Antwort auf diese zentrale Frage wird in den nächsten vier Kapiteln ausgearbeitet.

Das zweite Kapitel bietet einen theoretischen Rahmen, auf dem die nächsten drei Kapitel aufbauen. Hier wird zuerst der Begriff „defekte Demokratie“ genauer erklärt. Dann erfolgt eine Erläuterung der Faktoren, die es ermöglichen, politische Parteien in das politische Spektrum Lateinamerikas einzuordnen. Die Einordnung der zu betrachtenden politischen Ideologien erfolgt anhand einer Unterscheidung zwischen linken, Mitte-links- und linkspopulistischen Programmen.

Das dritte Kapitel geht auf einen von Daron Acemoglu und James A. Robinson (2006) vorgeschlagenen rational-choice -Ansatz zurück, der zur Lösung des Konflikts zwischen der armen Mehrheit und der reichen Elite in einer Demokratie beitragen will. Hier werden zuerst die Hauptvariablen des vereinfachten formalen Modells erklärt und dann die möglichen Lösungswege erläutert. In diesem Kapitel werden außerdem die Hauptdeterminanten für die Bestimmung von policies seitens der armen Mehrheit erklärt. Das Ergebnis liefert hier ein erstes Argument dafür, warum in Lateinamerika Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts Mitte-links und linkspopulistische Regierungen gewählt wurden.

Im vierten Kapitel wird das Ergebnis des Modells aus dem dritten Kapitel anhand empirischer Studien überprüft. Dabei werden weitere Variablen untersucht, die einen Effekt auf die Wahl von Mitte-links und linkspopulistischen Regierungen haben könnten. Variablen wie der Export von Rohstoffen und das Vertrauen auf das bestehende politische System sowie Vereinbarungen mit internationalen Institutionen weisen einen signifikanten Einfluss auf die politische Entwicklung der frühen 2000er in Lateinamerika auf, während die Schätzung der Ungleichheit als sozioökonomischer Faktor methodologische Schwierigkeiten bereitet.

Im fünften Kapitel werden die Ergebnisse zusammengefasst und ein Ausblick auf die aktuelle politische Entwicklung in Lateinamerika gegeben.

2 Theoretischer Rahmen

2.1 Defekte Demokratien in Lateinamerika

Die Demokratie wird oft als Maßstab zur Analyse politischer Systeme verwendet. Die vorliegende Arbeit befasst sich mit einer solchen Analyse. Deshalb kann sie einer konkreten Definition eines solchen Maßstabs nicht entkommen. Von dieser Stelle an wird das von Merkel und seinen Kollegen (2003) ausgearbeiteten Konzept der embedded democracy[3] verwendet . Demzufolge muss zunächst beachtet werden, dass eine rechtsstaatliche Demokratie sowohl intern als auch extern eingebettet ist. Die interne Einbettung impliziert, neben einem Wahlregime, vier weitere Teilregime, wie politische Teilhaberechte, bürgerliche Freiheitsrechte, eine horizontale Gewaltenkontrolle und eine effektive Regierungsgewalt. Diese Teilregime sind zwar prinzipiell unabhängig voneinander, dennoch stehen sie offensichtlich in einer gewissen Wechselwirkung zueinander. Darüber hinaus erfolgt eine externe Einbettung in eine größere sozioökonomische Ordnung, in die sich der Territorialstaat einfügt, ohne dabei seine Souveränität und Funktionsfähigkeit aufzugeben (Merkel et al., 2003, S. 48-62).

Bei vollständiger Einhaltung der Bedingungen der embedded democracy soll nach Merkel et al. (2003) ein politisches System als perfekt-demokratisch gelten. Aber die Definition der eingebetteten Demokratie ist ein Maßstab, der keiner konkreten Demokratie entspricht. Außerdem gibt es in der Realität keine perfekten Demokratien, die den Höhepunkt ihrer Entwicklung bereits erreicht haben. Somit ist laut Merkel et al. (2003) die defekte Demokratie nicht das Antonym einer perfekten Demokratie, sondern das Gegenteil einer rechtsstaatlichen Demokratie, die sich an der Interaktion der Teilregime orientiert. Aufgrund des beschränkten Umfangs wird in dieser Arbeit auf eine ausführliche Definition der einzelnen Teilregime verzichtet. Doch die Betrachtung der Bestandteile einer embedded democracy, sowie der Faktoren, die aus den meisten lateinamerikanischen Ländern defekte Demokratien machen, erfolgt hier durch eine kontextbezogene Erläuterung. Merkel et al. (2003) argumentieren, dass es im Kontinuum der Herrschaftsformen eine „graue Zone“ zwischen defekten Demokratien und autokratischen Regimen gibt. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Regierungsformen liegt den Autoren zufolge jedoch darin, dass in einer defekten Demokratie das Prinzip der Volkssouveränität gewährleistet ist, wohingegen dies in einer autokratischen Herrschaftsform nicht der Fall ist (Merkel et al., 2003, S. 39).

Die Demokratien defekter Art in Lateinamerika nehmen häufig die Form einer Enklaven- bzw. exklusiven Demokratie an. In diesen Ländern werden oft die Partizipationsrechte mancher ethnischen oder sozialen Gruppen missachtet. Außerdem missachten nicht-demokratisch legitimierte Kreise, wie das Militär, Großgrundbesitzer und Drogenbanden, die zivilen Autoritäten, um sich Privilegien zu sichern. Merkel et al. (2003) erklären, dass Länder wie Argentinien, El Salvador, Guatemala, Mexiko, Honduras, Kolumbien und Peru sich durch die Manipulierbarkeit der Justiz und die Verbindung ihrer Streitkräfte bzw. ihrer zivilen Amtsträger mit kriminellen Strukturen charakterisieren. In Ecuador und Paraguay werden politische Rechte eingeschränkt, während es in Panama und Nicaragua an demokratischer Institutionalisierung mangelt. All diese Defekte haben das Vertrauen der Wähler in traditionellen politischen Parteien geschwächt und somit, neben Mitte-links-Wahlkampagnen, ein Umfeld für linkspopulistische Aufhetzungen begünstigt (Levitsky & Roberts, 2011; Roberts, 2015). Zu einem besseren Verständnis dieser Entwicklung in den jungen Demokratien Lateinamerikas werden im nächsten Abschnitt Aspekte erläutert, die eine ideologische Klassifikation lateinamerikanischer Regierungen ermöglichen.

2.2 Einordnung lateinamerikanischer Regierungen im politischen Spektrum

Die Klassifikation politischer Parteien bzw. die Typologisierung von Regierungsformen steht im Zusammenhang mit kontextabhängigen Kriterien und kann je nach Region unterschiedlich aussehen. Der Politikwissenschaftler Michael Coppedge, der sich jahrelang mit der Einordnung politischer Parteien in Lateinamerika auseinandergesetzt hat, bietet eine ausführliche Beschreibung der Entwicklung politischer Parteien in dieser Region (Coppedge, 1995, 2007, 2010). Nach Coppedges Klassifikation können Regierungen in Lateinamerika als rechts eingestuft werden, wenn sie entweder einen faschistischen Diskurs anwenden, oder aus einer konservativen Einstellung heraus dem Vorbild der traditionellen Eliten des 19. Jahrhunderts folgen, ohne dabei großes Interesse an der mittleren bzw. unteren sozialen Schicht zu zeigen. Mitte-rechts-Regierungen bevorzugen die Kooperation mit dem privaten Sektor und das Wirtschaftswachstum gegenüber Umverteilungsmaßnahmen, und fordern die Erhaltung traditioneller Werte. Anders als bei rechtsorientierten Regierungen versuchen Mitte-rechts-Regierungen, die Mittelklasse und die untere Schicht bei politischen Entscheidungen miteinzubeziehen. Die politische Mitte wird mit der rechtsstaatlichen Demokratie verglichen, die politische Partizipation, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte hervorhebt. Mitte-links-Regierungen favorisieren die soziale Mobilität und erzielen eine Komplementarität zwischen Kapitalakkumulation und Umverteilung. Dabei versuchen sie auch Wähler aus der Mittelklasse und der Oberschicht anzusprechen. Anders als Mitte-links-Regierungen bauen linksorientierte Regierungen auf einer marxistischen Rhetorik auf und betonen die Priorität der Umverteilung über die Kapitalakkumulation[4]. Außerdem äußern sich lateinamerikanische linksorientierte Regierungen oft gegen die Ausbeutung der Arbeiterklasse durch „Kapitalisten“ und „Freunde des Imperialismus“. Sie betonen dabei die Rolle des Staates bei der Korrektur von sozioökonomischen Ungerechtigkeiten.

2.3 Kontextbezogene Definition des Linkspopulismus in Lateinamerika

Der sogenannte personalistische Regierungsstil, der manchen lateinamerikanischen Präsidenten der 2000er zugeordnet wird, stimmt in allen seinen Aspekten mit dem Populismus überein. Der Populismus als personalistische Regierungsform kann in fast allen Bereichen des politischen Spektrums auftreten. Coppedge argumentiert, dass personalistische Parteien eine plausible Klassifikation politischer Parteien erschweren (Coppedge, 1997, S. 9). Aber anhand seiner Argumente zeigt sich, dass populistische Regierungen in Lateinamerika sich hinsichtlich einiger zentraler Merkmale nicht unterscheiden. Sie alle setzen auf das Charisma, die Autorität und die Effizienz ihrer Führungspersonen.

Linkspopulisten, wie Hugo Chávez in Venezuela (1999), Daniel Ortega in Nicaragua (2001), Evo Morales in Bolivien (2006) und Rafael Correa in Ecuador (2007), haben sich zu der verarmten Mehrheit bekannt. Sie behaupten, eine Regierung für das „Volk“ durchführen zu wollen, anstatt policies zugunsten der „Elite“ zu vollziehen. Sie bezeichnen Großgrundbesitzer als Ausbeuter und werfen den USA vor, durch eine interventionistische Politik und die Unterstützung von Diktaturen die enorme Einkommensungleichheit in Lateinamerika gefördert zu haben. Mudde und Rovira Kaltwasser (2017) erklären in Einklang mit Castañeda (2006) und Levitsky und Roberts (2011), dass die Kombination aus einer hohen sozioökonomischen Ungleichheit und der Existenz von relativ freien und fairen Wahlen das Aufkommen des Linkspopulismus in vielen lateinamerikanischen Ländern ermöglicht hat. Laut Mudde und Rovira Kaltwasser können populistische Präsidentschaftskandidaten durch die markante sozioökonomische Ungleichheit die Existenz einer betrügerischen Elite von Oligarchen, die gegen den Willen der armen Mehrheit handeln, identifizieren (Mudde & Rovira Kaltwasser, 2017, S. 22).

Zusammenfassend kann argumentiert werden, dass die meisten Länder Lateinamerikas als defekte Demokratien beschrieben werden können. Diese Eigenschaft erweist sich als vorteilhaft für einen populistischen Diskurs, sowie für die Ausdehnung der Kompetenzen einer populistischen Exekutive. Dieser Aspekt wird später im vierten Kapitel wieder aufgenommen. Im nächsten Kapitel wird von der Typologisierung defekter Demokratien abgesehen und nur vereinfacht angenommen, dass beim Wettstreit zwischen der Mehrheit und der Elite in Lateinamerika ein demokratisches Umfeld herrscht. Basierend auf dieser Annahme wird der Konflikt zwischen der armen Mehrheit und der reichen Elite in einer Demokratie durch ein vereinfachendes Modell dargestellt.

3 Rational-choice-Ansatz zur Erklärung des Konflikts zwischen Mehrheit und Elite

3.1 Das Modell und die Hauptvariablen

Die Wahl von Mitte-links- und linkspopulistischen Regierungen in Lateinamerika wird oft als Folge der Unzufriedenheit von politisch diskriminierten Mehrheiten gegenüber dem bestehenden sozioökonomischen Establishment dargestellt (Huber und Stephens, 2012; Remmer, 2012; Doyle, 2011; Levitsky und Roberts, 2011; Weyland, 2009; De la Torre, 2007; Castañeda, 2006). Dabei ist die Ungleichheit eines der am meisten diskutierten sozioökonomischen Merkmale Lateinamerikas. Die Betrachtung dieses Sachverhalts baut hier auf einem von Jared Acemoglu und James A. Robinson (2006) konstruierten formalen Modell zur Analyse kollektiver Entscheidungen auf[5].

Es ist bekannt, dass Lateinamerika aus präsidialen Demokratien besteht, in denen der Regierungschef direkt gewählt wird. Außerdem sind Stichwahlen in dieser Region die Regel, wenn bei einem vorhergehenden Wahlgang keiner der Präsidentschaftskandidaten die absolute Mehrheit erreicht hat (mehr als 50% der Stimmen). Bei einer Stichwahl wird einer der beiden Kandidaten gewählt, die bei der Vorwahl die meisten Stimmen bekommen haben. Herbei wird angenommen, dass zwei Präsidentschaftskandidaten mit jeweils einer eindimensionalen policy platform und im Rahmen eines demokratischen Wahlsystems zur Stichwahl antreten. Ebenso wird auch angenommen, dass der Sieger durch alle institutionellen Mittel versuchen wird, seine policy platform zu implementieren, aber dass beide Präsidentschaftskandidaten opportunistisch sind und sich aus diesem Grund für jene policy platform entscheiden werden, die ihnen die meisten Stimmen erbringt.

Die zu betrachtende Demokratie besteht aus einer ungeraden Anzahl n von Individuen . Jedes Individuum i besitzt individuelle eingipfelige[6] Präferenzen über eine policy platform, sowie eine einzige Stimme. Die Präferenzen jedes einzelnen Individuums werden durch eine indirekte Nutzenfunktion[7] abgebildet, die die Eigenschaft der Konkavität[8] besitzt. Je weiter eine policy- Alternative vom präferierten Punkt eines Individuums entfernt ist, desto weniger favorisiert das Individuum die entsprechende policy platform. Sei eine policy platform aus der Menge aller möglichen Alternativen (die eine transitive Ordnung „>“ über die Gesamtmenge aufweisen), wobei . Der Nutzen eines Individuums hängt vom Ausmaß der policy ab, und die indirekte Nutzenfunktion jedes einzelnen Individuums i wird als definiert, wobei gilt.

Aufgrund ihrer transitiven Präferenzen bevorzugen die Individuen im rational-choice -Modell von Acemoglu und Robinson (2006) die policy platform, die ihnen am nächsten steht, d.h. ihr Nutzen sinkt mit zunehmender Entfernung einer policy platform vom jeweiligen optimalen Punkt. Deshalb gilt sowohl bei als auch bei , dass , egal welche Richtung annimmt. Da die Demokratie aus einer ungeraden Anzahl n von Individuen i besteht, kann ein Medianwähler M mit einem idealen Punkt festgelegt werden, sodass es genauso viele Individuen mit wie Individuen mit gibt. Nun stellt sich die Frage, für welche policy platform sich die opportunistischen Präsidentschaftskandidaten entscheiden werden.

Da die Präsidentschaftskandidaten auch eine Rente (benefit) durch den Wahlsieg erzielen, wird sich jeder von ihnen damit auch für die policy platform entscheiden, die seine Rente maximiert. Seien nun die Kandidaten als A und B, und die Wahrscheinlichkeit, dass A die Wahlen gewinnt als definiert. Kandidat B gewinnt mit Wahrscheinlichkeit die Präsidentschaftswahlen. Ein Wahlsieg verschafft dem Gewinner die Rente . Bei Wahlverlust geht der Verlierer mit aus. Die Maximierungsprobleme der Präsidentschaftskandidaten lauten somit:

(1) Präsidentschaftskandidat A:

(2) Präsidentschaftskandidat B:

Aber wenn beide Präsidentschaftskandidaten nur ihre eigene Rente maximieren, welchen Präsidentschaftskandidaten werden die Wähler als Regierungschef wählen? Unter der Annahme symmetrischer Informationen werden die Wähler für die policy platform stimmen, die genau auf dem optimalen Punkt des Medianwählers liegt. Die Erklärung dafür geht auf das Medianwähler-Theorem zurück.

Sei der Nutzen des Medianwählers. Falls Kandidat B eine policy platform bietet, verliert er somit die Wahl, weil die anderen 50% mit plus den Medianwähler gegen seine policy platform stimmen. Das gleiche gilt auch für den Fall, dass Kandidat B die policy platform bietet. Das heißt, falls , dann gilt = 0. Aus diesem Grund werden beide Präsidentschaftskandidaten die gleichgewichtige policy platform bieten. Das bedeutet, dass die Kandidaten die policy platform wählen, die dem Medianwähler den höchsten Nutzen stiftet. Diese optimale Strategie bedeutet für die Kandidaten eine Wahrscheinlichkeit zum Wahlsieg von . Basierend auf den Argumenten von Acemoglu und Robinson (2006) wird also die Wahrscheinlichkeit, dass Präsidentschaftskandidat B gewählt wird, wie folgt dargestellt:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Das Modell von Acemoglu und Robinson (2006) ermöglicht durch die Anwendung des Medianwähler-Theorems eine Konvergenz bezüglich der policy platform beider Kandidaten. Diese policy platform stimmt mit der bevorzugten policy platform des Medianwählers überein. Aber wie hat der Medianwähler in der Wende zum 21. Jahrhundert im konkreten lateinamerikanischen Kontext ausgesehen?

Lateinamerika ist durch eine markante sozioökonomische Ungleichheit gekennzeichnet. Es gibt in vielen Ländern der Region eine opulente Minderheit, die immer wieder versucht, politische Entscheidungen durch die Wahl beeinflussbarer Politiker zu ihren Gunsten zu bestimmen. Die große Mehrheit der Bürger Lateinamerikas gehört zu den Armen, die Jahrzehnte unter materieller Bedürftigkeit und politischer Ausgrenzung gelitten haben. Aber die vielen Revolutionen der Arbeiterklasse und der Landwirte führten in vielen Ländern dazu, dass bestimmte demokratische Prinzipien und Rechte institutionalisiert wurden. Diese Institutionalisierung hat der armen Mehrheit die Chance gegeben, sich politisch zu beteiligen und sich für eine relative soziale Gerechtigkeit einzusetzen. Die politische Beteiligung der Mehrheit hat die Demokratie in Lateinamerika trotz vieler noch bestehender Defekte bestärkt. Daraus ist abzuleiten, dass das Grundprinzip der elektoralen Demokratie von Merkel et al. (2003) in Lateinamerika erfüllt ist. Das bedeutet, dass relativ freie und faire Wahlen in dieser Region stattfinden. Dazu sei an dieser Stelle das Argument angeführt, dass der lateinamerikanische Medianwähler zur armen Mehrheit gehört. Seit der Wende zur Demokratie ist der einst sozial benachteiligte und politisch ausgegrenzte Medianwähler in der Lage, die Richtung der policies durch die Wahl von sozialdemokratischen Exekutiven und Legislativen vorgeben zu können. Daraus ist zu schließen, dass die sozioökonomische Ungleichheit (unter der Annahme eines demokratischen Systems) ein ausschlaggebendes Argument für die Wahl sozialdemokratischer policy platforms im demokratischen Lateinamerika ist.

[...]


[1] Der Begriff Lateinamerika bezieht sich auf Länder des amerikanischen Kontinents, die durch gemeinsame sprachliche und kulturelle Merkmale gekennzeichnet sind. Lateinamerika umfasst sowohl das nordamerikanische Land Mexiko als auch karibische Inseln, mittelamerikanische und südamerikanische Länder, in denen eine aus dem Latein stammende Sprache gesprochen wird. In dieser Arbeit werden in erster Linie Länder wie Mexiko, mittelamerikanische Länder (ausgenommen Belize) und südamerikanische Länder (ausgenommen Guyana, Französisch-Guyana und Surinam) betrachtet.

[2] Obwohl der Populismus wirtschaftspolitische Entscheidungen in den betroffenen Ländern beeinflusst, basiert der Begriff des Populismus in dieser Arbeit nicht auf einer rein ökonomischen Definition, wie in Dornbusch und Edwards (1990, 1991) sondern auf der politischen Definition in Panizza (2013), Levitsky und Roberts (2011) und De la Torre (2007). Tabelle 1 im Appendix A zeigt die lateinamerikanischen Regierungen der frühen 2000er, die als linkspopulistisch bezeichnet werden.

[3] Für einen Überblick über die Definition und Platzierung der Teilregime in der embedded democracy, siehe Tabelle 2 im Appendix A.

[4] Zum Zweck dieser Arbeit wird hier die Definition der politischen Linken in Lateinamerika anhand der Argumente von Levitsky und Roberts wie folgt ergänzt werden: „In the socioeconomic arena, left policies aim to combat inequalities rooted in market competition and concentrated property ownership, enhance opportunities for the poor, and provide social protection against market insecurities“ (Levitsky & Roberts, 2011, S. 5).

[5] Das Modell von Acemoglu und Robinson basiert wiederum auf dem Medianwähler-Theorem von Anthony Downs (1957).

[6] Eingipfelige Präferenzen sind aus der Definition einer Nutzenfunktion zu schließen. Da eine Nutzenfunktion die Präferenzen eines einzelnen Individuums darstellt, können die Präferenzen der n Individuen einer Demokratie durch individuelle Nutzenfunktionen dargestellt werden. Außerdem dienen eingipfelige Präferenzen dem Medianwähler-Theorem.

[7] Eine indirekte Nutzenfunktion erlaubt die Ermittlung eines Nutzenmaximums für ein bestimmtes Ausmaß bzw. für einen bestimmten Wert der policy platform.

[8] Die Konkavität einer Nutzenfunktion erfüllt die Annahme vom positiven abnehmenden Grenznutzen: Jede marginale Zunahme der präferierten policy- Alternative stiftet dem Individuum einen positiven kleineren Nutzen.

Ende der Leseprobe aus 38 Seiten

Details

Titel
Linkspopulistische Regierungen in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts in Lateinamerika. Sozioökonomische Determinanten bei den Wahlen
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München
Note
1.0
Autor
Jahr
2019
Seiten
38
Katalognummer
V510905
ISBN (eBook)
9783346081513
ISBN (Buch)
9783346081520
Sprache
Deutsch
Schlagworte
linkspopulistische, regierungen, dekade, jahrhunderts, lateinamerika, sozioökonomische, determinanten, wahlen
Arbeit zitieren
Juan Cardenas (Autor:in), 2019, Linkspopulistische Regierungen in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts in Lateinamerika. Sozioökonomische Determinanten bei den Wahlen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/510905

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