Männliche Ermittler in amerikanischen TV-Serien am Beispiel von "True Detective" und "Hannibal"


Masterarbeit, 2016

84 Seiten, Note: 1,70


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1.Einleitung

2.Theoretischer Hintergrund: Erläuterungen und Definitionen
2.1 Existenzphilosophie: Grenzsituationen und Schwellenerfahrungen
2.1.1 DieExistenz
2.1.2 Das Gehäuse
2.1.3 Grenzsituationen und Schwellenerfahrungen
2.2 Neo-noir
2.3 Figurentypologie: Der männliche Ermittler
2.4 Grenzsituationen im Film
2.5 Die Reise des Helden

3.Analyse der Untersuchungsgegenstände: der männliche Ermittler
3.1 Hannibal: Will Graham
3.1.1 Profectio - Der Aufbruch
3.1.2 Limes - Der Grenzgang
3.1.3 Metamorphosis - Die Rückkehr
3.2 True Detective: RustinCohle
3.2.1 Amissus - Der Verlust und seine Folgen
3.2.2 Existentia - Auf dem Weg zum Selbst

4.Fazit

5.Quellen- und Literaturverzeichnis

1.Einleitung

„Die Variationsbreite [von] [...] mentale[r] Architektur und ihrer Kapazitäten bleibt bei gesunden Erwachsenen relativ begrenzt."1

„Die Bilderfluten unserer visuellen Kultur bilden unser Leben (ab) und illuminieren die Höhle unseres Daseins, und in den Abbildern [...] werden die Möglichkeiten des Lebens und existentielle Erkenntnisdimensionen sichtbar und erfahrbar.“2 Die Feststellung von Matthias Hurst konkretisiert Medien, insbesondere das visuelle Medium Film, als Träger und Vermittler gesellschaftlicher und individueller Istzustände sowie psychologischer und philosophischer Sujets.3 Wir als Zuschauer vernehmen jene Gegenstände des Filmischen über die innere Beteiligung und die Mechanismen der Identifikation mit den einzelnen Figuren des Films. Durch die Anteilnahme entwickeln wir nicht nur eine Perspektive auf Figuren sondern auch mit Figuren. Psychische Daseinszustände von medialen Individuen werden über die unterschiedlichen Charakterdarstellungen an den Rezipienten transportiert und von diesem interpretiert. Das größte Potential zu gedanken- und meinungsbildenden Prozessen liegt hier in der Darstellung von Personen in Spannungszuständen, welche vorwiegend in den Filmgenres Drama, Thriller und Crime wahrzunehmen sind.

Die vorliegende Arbeit hat es sich zur Aufgabe gemacht zu untersuchen, wie eben jene Spannungszustände die Existenzen und Identitäten von Filmfiguren beeinflussen und infrage stellen. Wie bewältigen Figuren diese existenzgefährdenden Situationen und wie äußern sich diese auf medial-visueller Ebene? Grundlage bildet die Überlegung, dass die menschliche Existenz durch das Erfahren von Ausnahmezuständen - so genannten Grenzsituationen - einer immensen körperlichen und psychischen Gefährdung ausgesetzt wird. Als theoretische Basis der Untersuchung dient die Existenzphilosophie von Karl Jaspers und dessen im frühen 20. Jahrhundert erschienene Schrift „Philosophie der Weltanschauungen“; hier insbesondere seine Ausführungen über menschliches Dasein und Existenz und die bereits erwähnten Grenzsituationen. Jaspers' Existenzphilosophie werde ich auf populär-kulturelle Beispiele aus bildlichen Medien beziehen. Diese bildlichen Medien wie Film und TV-Serien werden in den vergangenen Jahren nicht mehr abgegrenzt voneinander definiert, sondern treten vermehrt in Mischformen auf. Oliver Fahle beschreibt in seinem Aufsatz „Im Diesseits der Narration: Zur Ästhetik der Fernsehserie", dass Intermedialität die „Unschärfe des Medienbegriffs"4 aufzeige. Quality-TV-Formate können somit nur aus einem Zusammenspiel zwischen Film und Fernsehen entstehen und durch den Begriff cinematic television, oder kinematografisches Fernsehen erfasst werden. Das Serielle führt in einen neuen „anderen Aggregatzustand" und wird zu einer „[...] Form des Werdens par excellence.“5 Im Rahmen meiner Arbeit versuche ich mich eben diesem Entwicklungsvorgang auf inhaltlicher Ebene zu nähern. Genauer will ich diesen Prozess des Werdens unter Bezugnahme der philosophischen Theorie von Jaspers anhand von filmwissenschaftlichen Figurenanalysen der männlichen, detektivischen Ermittler der amerikanischen TV-Serien True Detective (HBO, 2014J und Hannibal (NBC, 2013J herausarbeiten und untersuchen. Was sind die Grenzsituationen, mit denen die Ermittler Rustin Cohle und Will Graham konfrontiert werden? Wie nehmen beide den Kampf in der existenziellen Notsituation an? Durch was oder von wem werden ihre Handlungen und Motive beeinflusst?

Die Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands fiel deswegen auf die genannten populären Serien, da sich diese in das Feld der vorher bestimmten Genres einordnen sowie in der aktuellen Serienforschung erst fragmentarisch betrachtet wurden. Studien zum männlichen Ermittler existieren vorwiegend zu dessen Rolle im Hollywoodfilm. So allen voran Phillipa Gates „Detecting Men: Masculinity and the Hollywood Detective Film“, die jedoch ihren Fokus auf die Darstellung von Männlichkeit, in gender-spezifischer Weise und Heroismus im zeitlichen Wandel legt. Weiter liegen vorwiegend „allgemeinere“ Aufsätze und Abhandlungen vor die ihren Schwerpunkt in der dramaturgischen Funktion der seriellen Erzählung haben. Konkrete Ausführungen und Analysen zu einzelnen Figuren, besonders von neueren TV-Serien ab 2010, sind eher selten vorhanden.

Ich möchte dabei vorausschicken, dass es sich bei der Auswahl der Serien um eine exemplarische Selektion handelt, die zweifelsohne um weitere Beispiele ergänzt werden könnte. Aufgrund des vorgegebenen schmaleren Rahmens der Masterarbeit ist dies vorliegend jedoch unterblieben.

Ziel der Arbeit ist der Gewinn von Erkenntnis in aktueller Serienforschung über Entwicklungsvorgänge von Figuren durch die Analyse und Deutung des philosophischen Terminus der Grenzsituation.

Für die Bearbeitung des vorliegenden Textes wurde als erstes ein theoretischer Rahmen gesetzt, gefolgt von einem praktischen Teil. Hierzu wurde die Arbeit in drei Abschnitte untergliedert: Den Beginn bilden, die spätere Analyse unterstützenden Erläuterungen und Definitionen. Das Fundament ist die Existenzphilosophie von Karl Jaspers und die Deskription der zentralen Begriffe Existenz, Gehäuse, Grenzsituation und Schwellenerfahrung.

Der Bezug zum Medium Film entsteht dann in den Kapiteln 2.2. bis 2.5.: Ausgangspunkt ist die Bestimmung des filmwissenschaftlichen Fachbegriffs des Neo-noir, unter welchen die Serien True Detective und Hannibal eingeordnet werden können. Signifikant ist dabei die Entwicklung und Anpassung des Begriffs durch die zeitliche Genese. In Kapitel 2.3. folgt die Figurentypologie des männlichen Ermittlers. Während in den Filmen der 1980er Jahre die Fokussierung der Filmemacher deutlich auf der Darstellung des männlichen Körpers lag, entwickelte sich in den 1990er Jahren eine Tendenz zur verstärkten Wichtigkeit innerer Vorgänge. Anknüpfend daran erfolgt eine kurze Betrachtung der Darstellungvon Grenzsituationen im Film anhand von Mike Figgis Leaving Las Vegas (1995J und David Finchers Fight Club (1999J. Als Abschluss der theoretischen Einführung wird das Konzept der Heldenreise nach Joseph Campbell und Christopher Vogler betrachtet, welches für die Analyse der Figur des Will Graham eine bedeutende Relevanz hat.

Die Analyse der Untersuchungsgegenstände ist in die Kapitel 3.1. und 3.2. gegliedert. In 3.1. widme ich mich Will Graham aus der TV-Serie Hannibal. Die Erzähltechnik wird, zusammengefügt mit einer knappen Wiedergabe des Inhalts, anfänglich erläutert, bevor die Ermittlerfigur Grahams' in einer dreitschrittigen Analyse betrachtet wird. Die Auseinandersetzung mit dem Protagonisten ist in die Kapitel Profectio, Limes und Metarmorphosis unterteilt. Unter Hinzunahme der einzelnen Stadien der Heldenreise und Jaspers' Philosophie wird anhand einzelner ausgewählter Szenen eine filmwissenschaftliche Figurenanalyse durchgeführt. Das Kapitel 3.2. zeigt eine ähnliche Struktur. Nach einer Vorstellung der Narrationsstruktur der Anthologieserie True Detective behandeln die Unterkapitel Amissus und Existentia die Grenzsituationen des Ermittlers Rustin Cohle. Anders als bei der Untersuchung Grahams' wird Campbeils' und Voglers' Theorie der Reise des Helden nicht ergiebig angewendet werden können und deswegen ein Schwerpunkt auf die philosophische Grenzerfahrung gelegt werden.

Kapitel 4. bildet den inhaltlichen Abschluss der Masterarbeit. Es beinhaltet eine abschließende und vergleichende Betrachtung der gewonnenen Erkenntnisse in Form eines Fazits.

2.Theoretischer Hintergrund: Erläuterungen und Definitionen

„Der Grenzgänger läuft sie ab, die Bruchstelle der Gesellschaft; er istnicht ihrRepräsentant, sondern ihrSeismograph."6

Im Vorfeld der analytischen Auseinandersetzung mit dem Gegenstand gilt es, diverse psychologische und philosophische Termini, Genrebegriffe und Figurentypologien zu untersuchen und zu beschreiben, um sie anschließend in der Betrachtung der Charaktere heranziehen zu können.

2.1 Existenzphilosophie: Grenzsituationen und Schwellenerfahrung

2.1.1 Die Existenz

Existentia, der lateinische Ursprung des deutschen Wortes Existenz, bedeutet „Vorhandensein" oder „Bestehen“. Der deutsche Psychiater und Philosoph Karl Jaspers, auf den ich mich in diesem Kapitel vorwiegend beziehen werde, beschrieb die Funktion der menschlichen Existenz in einer Vorlesung aus dem Jahr 1937 wie folgt: „[Die Aufgabe der Existenz ist es,] die Wirklichkeit im Ursprung zu erblicken und sie durch die Weise, wie ich denkend mit mir selbst umgehe, - im inneren Handeln - zu ergreifen.“7 Das Bewusstsein über Existenz, die Auffassung von Menschen konnte durch die Philosophie in die Wirklichkeit gelangen. Die Erkenntnis über das eigene Dasein in jedem Individuum ist der Ausgangspunkt der Verwirklichung des menschlichen Ursprungs. Existenzphilosophie behandelt also keineswegs allgemeine Gedanken über das Sein oder die Welt; es geht um den Menschen und dessen Existenz und seine Handlungsoptionen und -maxime. Existenz ist dabei konkret und gilt allein als menschliches Attribut. Existenz bezieht sich auf die individuellen und persönlichen Handlungen und das subjektive Sein von Individuen. Jaspers spricht in seiner Philosophie von vier aufeinander aufbauenden Seinsweisen des Menschen, die schließlich zur Existenz werden: 1.) Das bloße Dasein-. „Jaspers fasst Dasein im klassisch metaphysischen, noch von Kant geteilten Sinne als »bloße Existenz« auf."8 Diese engste Beschreibung des Daseinsbegriffs ist dabei rein biologisch definiert und bezieht sich auf Instinkte und Triebe. 2.) Das Bewusstsein überhaupt-. Die zweite menschliche Seinsweise beschreibt die Entwicklung des bloßen Daseins hin zum logischen Denken. Dieser Prozess des Ichs beschreibt die Formung von menschlicher Erkenntnis und Verstand. 3.) Der Geist-. Aus der Formalität des Bewusstseins entsteht der Geist als „individuelle Einheit, die das zerstreute Wißbare und Erfahrbare in eine Ganzheit fügt.“9 Die Fokussierung und Ausbildung des Bewusstseins schafft als der menschliche Geist Sinnzusammenhänge, Orientierungen und Erfahrungen. Jaspers sieht diese dritte Stufe des Seins als die Prämisse menschlicher Identität. 4.J Die Existenz: Die finale Seinsweise wird von Jaspers als „Aufschwung“ oder „Sprung“10 beschrieben. Das individuelle Menschsein wird hier erreicht und wird mit Freiheit gleichgesetzt und untersteht keinem festgelegten Plan: „Es ist der Sprung von dem Umgreifenden, das wir sind als Dasein, Bewußtsein, Geist zu dem Umgreifenden, das wirsein können oder eigentlich sind als Existenz.“11

Existenz ist also zusammenfassend der Akt der Menschwerdung, der Identität schafft - ein transzendenter und individueller Prozess, der den Menschen als Operator in der Welt schult und ausbildet. Eine Etablierung und Verfestigung von Existenz in der Welt erfolgt durch das Suchen und Errichten von ,,Gedankengebäude[n] und Grundeinstellungen"12, dem Gehäuse.

2.1.2 Das Gehäuse

Noch bevor Karl Jaspers den Begriff des Gehäuses aus philosophischer Sicht betrachtete, verwendete der Soziologe Max Weber das Gehäuse als Mittel der metaphorischen Beschreibung des Menschentums in einer kapitalistischen Wirklichkeit. Die Kapitalismus durchdrang, laut Weber, nicht nur Wirtschaft und Gesellschaft, sondern verwurzelte sich in allen Bereichen der modernen Welt und somit auch in jedem einzelnen Individuum. Weber attribuiert diese Durchdringung mit dem Adjektiv „stahlhart", um die Einschränkung zu verdeutlichen und fragt: „Wie ist es angesichts dieser Übermacht der Tendenz zur Bürokratisierung überhaupt noch möglich, irgendwelche Reste einer in irgendeinem Sinn »individualistischen« Bewegungsfreiheit zu retten?“13 Zentrum von Webers Kritik ist die eingeschränkte Freiheit des modernen Menschen in dem vom Staat geformten stählernen Gehäuse:

Eine paradoxe Grundstruktur [...] die einerseits zur Entfaltung neuer [...] sozialer Organisation und Wirtschaftsführung beiträgt, [...] andererseits in Fesseln umschl[ägt], die die freie Entfaltung des Menschen verhindern und zu seiner Beherrschung führen.14

Auch wenn die Ausführungen Webers ökonomischen Ursprungs sind, finden sich in seinen Mensch- und Existenz-bezogenen Ansichten und Formulierungen viele Tendenzen „lebensphilosophischer Auffassungen“15, die auch in Jaspers Gehäuse­Definition von zentraler Rolle sind. Entscheidender Hinweis auf eine Beeinflussung Jaspers' durch Weber ist die Zitation der Weberschen Theorien und Werke in Jaspers Philosophie der Weltanschauungen von 1919.

Jaspers jedoch sieht das Gehäuse nicht in Zusammenhang mit einer Gesellschaftskritik, sondern als existenzphilosophischen Terminus, den er konkret auf den Menschen bezieht. Das Gehäuse eines jeden Individuums ist sein eigenes Weltbild - der menschliche Wille nach einer Konstante, nach einem Halt, über „zeitliche und kulturelle Grenzen hinweg.“16 Für Jaspers ist die menschliche Existenz notwendig verknüpft an das Bestehen von Gehäusen. Das Gehäuse, wie es seine ursprüngliche Wortbedeutung auch vermittelt, ist für das seelische Leben und das menschliche Denken eine schützende Hülle und Behausung: „Der Mensch erschafft sich in Form eines Weltbildes ein Gehäuse, das ihm im Denken und Handeln eine gewisse Sicherheit verleiht [...J."17 Diese elementare Grundsituation ist im Prozess der Menschwerdung eine Grundkonstante, die jeder Mensch durch eine beständige Weitsicht und daraus resultierende Sicherheit ausbildet. Bedürfnisse nach Geschlossenheit, Ruhe und Stabilität wollen dabei erfüllt werden. Im Zuge der Bildung von eigenen Gehäusen werden auch Gehäuse von rationaler Form oder objektive Weltanschauungen erschaffen, die schließlich zu allgemeingültigen Normen, Regeln und Institutionen werden. Persönlichkeiten und Identitäten sind zwangsläufig mit Gehäusen verknüpft, können sich jedoch im Verlauf eines Lebens verändern und somit ihre Konstanz verlieren. Ursache dieser Veränderung sind die zuvor erwähnten rationalen Gehäuse, die Einfluss auf das Dasein haben: „Die zum Allgemeingut gewordenen Weltbilder wirken durch ihre soziale und kommunikative Vernetzung auf das einzelne Individuum zurück."18 Gesetze, Regeln und Pflichten schüren Tendenzen menschlicher Spontaneität und Selbstverwirklichung.19 Genauso jedoch neigt der Mensch dazu, sich bereits vorhandenen Weltbildern anzuschließen, was trotz möglicher Vielfalt und Variabilität zu einer Verfestigung von Weltbildern und Gehäusen führt. Potentiell verfügt somit jedes Individuum über ein maximal großes Gehäuse, welches jedoch nur partiell genutzt wird. Nach Jaspers Auffassungen erscheint die menschliche Existenz in Gehäusen nicht nur als variant und persönlich, sondern auch als temporär.20 Durch Erfahrungsgewinn im Laufe des Lebens kann das Gehäuse gestärkt, aber auch brüchig werden. Gefühle von Geborgenheit und Sicherheit können hier auf beide Seiten ausschlagen - die verfestigten Gedankengebäude geraten durch diese existenziellen Zweifel und Grenzannäherungen und -Situationen ins Wanken. „Das menschliche Erkenntnisvermögen wird bei Jaspers damit als subjektiv, partikular, perspektivisch, pluralistisch, dynamisch und prinzipiell unabgeschlossen interpretiert.“21 Folgernd sind Gehäuse nicht ein-, sondern mehrförmig. Die Vereinnahmung des jeweiligen Weltbildes hat dabei die konstituierende Funktion, ob das Gehäuse unbewusst oder starr bleibt, oder sich wiederholend neu systematisiert. Jaspers kategorisiert den Zustand von Gehäusen dementsprechend als naiv, tot und lebendig.22

Die ursprünglichste Art des Gehäuses, das naive Gehäuse, ist ein ungeformter Urzustand, bei welchem sich Mensch und Weltbild in einer dichten Verbindung befinden. Die Beziehung hat einen progressiven Charakter und wird in diesem Frühstadium durch die menschliche Orientierung an Sitten, Regeln, Institutionen und Bräuchen geleitet.

Jaspers spricht in einem anderen Zusammenhang auch von einem Zustand der Fraglosigkeit, in dem sich der Mensch in der Selbstverständlichkeit der Welt als einer bestehenden Ordnung findet, in der er sich geborgen fühlt.23

Solche Stadien anhaltender Fraglosigkeit sind jedoch ausschließlich auf frühzeitliche Epochen der menschlichen Kultur bezogen und wurden spätestens durch die ersten Strömungen der Aufklärung im 17. Jahrhundert und Prozesse von Individualisierung aufgebrochen. Der Fokus auf das eigene Selbst, auf die Selbstwerdung und Fragen nach dem individuellen Dasein in der Welt sind eben die aktivierenden Vorgänge, die durch Reflexion einen Sprung aus dem bestehenden Gehäuse ermöglichen. Erst hier gelangt der jeweilige Mensch zu dem Bewusstsein, was das Gehäuse überhaupt ist und gewesen ist. Das Hinterfragen dieser Situation ermöglicht die Bildung von neuen Gehäusen und Gedankengebäuden. Diese Bildung wird durch einen insistierenden Drang der Reaktivierung der Bedürfnisse nach Sicherheit, Ruhe, Schutz und Harmonie verstärkt.24 Gefahr besteht hier in der Absolutsetzung dieser elementaren Bedürfnisse. Werden diese abgelöst von der Entwicklung des neuen Gehäuses als eigenes Gehäuse verfestigt, erfolgt eine Fixierung mechanischer Verhaltensweisen, Dogmen und Grundsätze. „Die Gehäuse geben dem Menschen in Form von kollektiven Vorgaben einen Halt, an dem er sich in konkreten Situationen ausrichten kann.“25 Jaspers definiert dieses Verkapseln als das tote Gehäuse, das keinen eigenen Antrieb hat. Die stattfindende Regression gilt als die menschliche Maßnahme, der Paradoxie der Welt zu entfliehen und diese für sich zu maskieren. Es ist die Angst vor dem Lebensprozess, der Bewegung und der Verantwortung des eigenen Daseins.26

Die gegenteilige Entwicklung sieht Jaspers abschließend als die, die dem jeweiligen Individuum die größtmögliche Gelegenheit des persönlichen Wachstums ermöglicht: das lebendige Gehäuse. „Das Leben des Geistes ist ein Prozess, der die Auflösung und Entstehung von Gehäusen gleichermaßen beinhaltet.“27 Hieraus resultierende Gehäuseformen streben nach stetiger Veränderung, Entwicklung und der selbständig-progressiven Entdeckung des Wesens des Lebens: „Daher werden im Lebensprozeß Gehäuse nur aufgelöst, um neuen Platz zu machen; es handelt sich letzthin nicht um Auflösung, sondern um Metamorphose.“28

2.1.3 Grenzsituationen und Schwellenerfahrungen

Der Begriff der Grenzsituation ist einer der wichtigsten philosophischen Neologismen von Karl Jaspers, der zum alltäglichen Sprachgebrauch geworden ist. Bricht man die Wortbedeutung auf die gröbste Ebene herab, so beschreibt der Duden die Grenzsituation als „ungewöhnliche Situation, in der nicht die üblichen Mittel [...] zu ihrer Bewältigung Anwendung finden können.“29 Jaspers sieht den Ursprung von Grenzsituationen in einem antinomischen Weltbild oder der antinomischen Struktur menschlichen Daseins. Verknüpft man hier zum besseren Verständnis das bereits beschriebene Gehäuse und die Grenzsituation, so kann das Erleben der Grenzsituation als eine „irrationale Störung [...] die Auflösung des Gehäuses“30 zur Folge haben. Eine eben solche Störung ist verknüpft mit der individuellen Geschichtlichkeit eines Menschen und führt zu unterschiedlichen Interpretationen von Situationen. Grenzsituationen sind dementsprechend immer Erzeugnisse subjektiver Bestimmtheit. Gerät das Gehäuse, in welchem „unhinterfragte Grundannahmen [...] [und die] kulturspezifische[n] Lebenswelt"31 gespeichert sind, zu nahe an einen Grenzbereich heran, scheitert das Abwehrsystem des Gedankengebäudes. Jaspers projiziert dem Gehäuse das Bewusstsein über Erschütterungen und Krisen - über Gefühle von Schuld, Leid und Tod. In dieser Grundsituation ist sich der Mensch der Sterblichkeit bewusst, lässt die Situation jedoch erst durch eine „existentielle Begegnung [...], die alle psychologischen Erklärungsmodelle übersteigt“32, zur unabwendbaren Grenzsituation werden.

Wir können den Tod gleichzeitig im allgemeinen wissen und doch ist etwas in uns, das ihn instinktmäßig nicht für notwendig und nicht für möglich hält. Was uns psychologisch interessiert, das ist dies ganz persönliche Verhalten zum Tode, die individuell erlebte Reaktion auf die Situation der Grenze des Todes.33

Das bewusste Erleben zuvor beschriebener Umstände führt Individuen in Grenzgebiete des eigenen Daseins, in denen die Enge und Endlichkeit der eigenen Existenz erfahren wird. Was die Deutung und das Erkennen einer Grenzsituation erschwert, ist ihr Entstehen aus extrinsischen und intrinsischen Faktoren.34 Gelten Gehäuse als vorwiegend allgemein nachvollziehbar, so sind Grenzsituationen vielmehr unabwendbar auf Personen selbst bezogen und gelten daher als „»existentielles« Moment.“35 Das Akzeptieren, Auseinandersetzen und Bewältigen einer Grenzsituation kann somit als Existenz beschrieben werden. Wenn Existenz als Prozess der Menschwerdung gesehen wird, ist die überraschende und nicht planbare Reaktion auf eine vorhandene Grenzsituation Teil dieses Prozesses. Der Mensch kann bei der Analyse einer Situation auf Grundkenntnisse und Erfahrungswerte aus dem Gehäuse zurückgreifen und diese als Akteur souverän zur Bewältigung des Umstandes nutzen. „Souveränität und Verhaltenssicherheit schwinden, sobald Situationen als Grenzsituationen erlebt werden.“36 Das Scheitern kann dabei als zentrale Ursache für die Entstehung des individuellen Grenzgangs gesehen werden: „Scheitern hat bei Jaspers implizit diesen hohen Stellenwert, weil es allen Grenzsituationen inhärent ist.“37 Der missglückte Versuch, durch das objektive Vorwissen die Situation lösen und bewältigen zu können, versetzt Menschen in einen Zustand absoluter Einsamkeit. Das Erfahren von Grenzsituationen ermöglicht in dieser Aussichtslosigkeit jedoch erneut das, was Jaspers einen „Sprung“ nennt. Der Beginn dieses Fortgangs ist dabei das Lokalisieren und Ermitteln der Möglichkeit und Fähigkeit des einen Seinszustandes. Die Reflexion, die hierbei nötig ist, prüft den Werdegang des biologischen Ichs, des sozialen Ichs und des Erinnerungs-Ichs.38 Genauer werden das derzeitige gesundheitliche Befinden, der Platz in der Gesellschaft und Erinnerungen und Emotionen reflektiert. Als Resultat dieser Ermittlung steht das Annehmen des Gegenwärtigen, also der Grenze, als existenziell notwendig und unabwendbar. Jasper erkennt in der Akzeptanz von Leid als Grenzsituation eine unbedingte Möglichkeit zur Weiterentwicklung der menschlichen Persönlichkeit und Selbstverwirklichung: „Das Gemeinsame aller Grenzsituationen ist, daß sie Leiden bedingen; das Gemeinsame ist aber auch, daß sie Kräfte zur Entfaltung bringen, die mit der Lust des Daseins, des Sinns, des Wachsens einhergehen."39 Doch auch Jaspers registriert dabei die Individualität der Geistestypen und kategorisiert die Reaktionen von Individuen auf Grenzsituationen auf vier Weisen: 1. Resigniert: Der resignierende Mensch bezieht in seiner Grenzsituation keine Position und befindet sich für unfähig, den Umstand anzunehmen und zu verarbeiten. Jegliches Handeln wird als hoffnungslos angesehen. 2. Weltflüchtig: Der weltflüchtige Geistestyp steigert das Vorgehen des resignierenden durch eine Verstärkung der Negativität in seinerVorgehensweise. Existenz und Dasein werden als nichtig angesehen und der Freitod als einziger Ausweg gesehen. 3. Heroisch: Heldenhaft agiert das Individuum, welches sich seiner Grenze und dem Leiden stellt und das Bewusstsein des eigenen Daseins dadurch stärkt. Wenn das Leid sein Höchstmaß erreicht hat, fühlt der Heros eine größtmögliche lebendige Kraft. 4.) Religiös-metaphysisch: Die Erschütterung und das Leid der Grenzsituation transformieren sich in diesem Geistestyp zu einem Gefühl nicht beschreibbaren Erlebens, welches sich in dem Bewusstsein über Gott äußert. Durch Leid erfährt der Mensch eine Sinnbereicherung, die sich unter anderem in einer Verbundenheit mit Gott oder der Gegenwärtigkeit Gottes im Leid äußern.40 Die Erörterung der Geistestypen durch Jaspers ist vorwiegend mit beängstigenden und negativen Gefühlen und Emotionen verbunden. Doch der Philosoph erkennt einen Wachstumsprozess im Vorgang des Erlebens: „Auf Grenzsituationen reagieren wir [...] nicht durch Plan und Berechnung [...], sondern durch eine ganz andere Aktivität, das Werden der in uns möglichen Existenz [...]."41 Die Spontaneität des Erlebnisses löst das einschränkende Gehäuse auf und wirft den Menschen zurück auf sein tiefstes, inneres Selbst, in welchem er sein Vorgehen selbst bestimmt und in „absoluter Verantwortlichkeit“42 agiert. Für Jaspers ist hier das Stadium erreicht, in welchem das Individuum auch zukünftige Grenzgänge überwinden kann; es ist die Entwicklung eines ideell geistigen Halts.

Abschließend will ich den in der Überschrift erwähnten Begriff der Schwellenerfahrung43 einordnen und in Bezug zur Grenzsituation setzen. Zur Definition des ersten Teils des zusammengesetzten Substantivs, die Schwelle, ziehe ich den Kulturkritiker Walter Benjamin heran. Benjamin, der sich von 1927 bis zu seinem Selbstmord im Jahr 1940 mit seinem Passagenprojekt beschäftigte, hinterließ hunderte Seiten kulturtheoretischer Fragmente zur Stadt- und Kulturgeschichte von Paris im frühen 19. Jahrhundert. Er geht von der architektonischen Schwelle der Pariser Stadttore aus und ergründet, in Bezug zum Gestaltenwandel des Traums, eine Definition: „Die Schwelle ist ganz scharf von der Grenze zu scheiden. Schwelle ist eine Zone. Wandel, Übergang, Fluten liegen im Worte »schwellen« [...J."44 Die deutliche Unterscheidung und Separierung zwischen den Begriffen Schwelle und Grenze scheint hier notwendig. Die Schwelle meint, anders als die Grenze, eine räumliche Zone des Übergangs. Die Grenze ist dabei von starker zeitlicher Momenthaftigkeit und topografischer Enge geprägt. Sie beschreibt keinen Raum, sondern exakt die Stelle des Übertritts. Für Benjamin sind Schwellen auch Übergangszonen und Passagenbereiche wie Bahnhöfe, Markthallen und Bordelle.45 Diese teilweise zeitlich instabilen (wie Jahrmärkte und Feste), universalen und vielräumigen Orte beschreibt Michael Foucault als Heterotopien.46 Was Benjamin und Foucault in der kurzen Definition auf die räumliche Ebene beziehen, kann, um dem Bogen zur Erfahrung zu ziehen, für das Individuum auch innerlich geschehen: „Schwelle bedeutet eine Zwischenzone, die zwei heterogene Bereiche voneinander scheidet, von denen der eine als der eigene und vertraute, der andere als der fremde, fremdartige und dubiose markiert ist.“47 Das Erfahren des Fremden ist in diesem Stadium des Überschritts für einen längeren Zeitraum feststellbar. Anders als die Grenzsituation wird die Schwellenerfahrung nicht durch eine existentielle Erschütterung ausgelöst. Schwellenzustände können vorsätzlich durch eine Beeinflussung des Bewusstseins ausgelöst werden. Erlebnisse dieser Art sind möglich in Rauschzuständen, psychologischer Manipulation und der Phase zwischen Wachsein und Traum. Rolf Parr schreibt zusammenfassend: „Dabei verwandeln sowohl das einfache topografische Durchschreiten einer Schwelle als auch die Überschreitung von Bewusstseinsgrenzen den Menschen, der sie überschreitet.“48

2.2 Neo-Noir

Bevor ich auf den modernistischen Neo-Noir eingehe, werde ich beginnend den Film Noir definieren und erläutern. Viele Eigenschaften des Film Noir treffen ebenso auf den Neo-Noir zu. Weitere Ergänzungen werden im Folgenden angeführt. Worin die Schwierigkeit in einer Definition des Film Noir liegt, beschreibt der amerikanische Filmwissenschaftler James Naremore in seinem Aufsatz „American Film Noir: The History of an Idea" in der Fachzeitschrift Film Quaterly. „There is in fact no completely satisfactory way to organize the category, and nobody is sure whether the films in question constitute a period, a genre, a cycle, a style or simply a »phenomenon«.“49 Die Problematik der Einordnung und die Unschärfe des Begriffs verdeutlicht, dass eine Beschreibung auf anderer Ebene stattfinden muss und der Begriff einer Genese unterliegt. Raymond Durgnat beschreibt: „The film noir is not a genre, as the Western and gangster film, and takes us into the realm of classfication by motif and tone.“50 Der Ursprung des Film Noir liegt in einer Synthese aus der angloamerikanischen hardboiled-detective-Literatur der 1920er Jahre und dem deutschen Expressionismus, dabei genauer beim Stummfilm.51 Die Verschmelzung des klassischen Kriminalromans und seiner Figuren und Settings mit den charakteristisch-expressionistischen, kontrastreichen Szenerien in Licht- und Bildgestaltung prägten den Film Noir. Der französische Filmkritiker Nino Frank gab dem Film Noir im Jahr 1946 in seinem Essay „A new police genre: the criminal adventure" seinen spezifischen Namen, nachdem die amerikanischen Kriminal- und Detektivfilme The Maltese Falcon (1941J, Double Indemnity (1944J und Laura (1944J in den französischen Kinos gezeigt wurden.52 Frank bemerkte die Veränderungen und Modifizierungen innerhalb des Kriminalfilmgenres: „[...] Film Noir [...] represented a move away from the plot or enigma towards a focus on the motivations and psychology of criminal characters [,..].“53 Die Verdichtung der Handlungsperspektive auf die Innenwelten der Figuren und die daraus entstehende Psychologisierung von Verbrechen führte in dieser neuen und dunkleren Erscheinung des Detektivfilms auch zu einer Anpassung auf narrativer Ebene: Rückblenden und ein Voice-Over-Ich-Erzähler gehörten zur neuen und prägenden Technik und fragmentierten die Story.54 In diesem Narrativ übernimmt zumeist eine männliche Ermittlerfigur die Rolle des Protagonisten und arbeitet in düsteren und zwielichtigen Nachtlandschaften an der Aufklärung eines Verbrechens (Abb. 1).

Abbildungen sind nicht Teil dieser Publikation.

Abbildung 1: The Maltese Falcon 1941 Abbildung 2: Dexter [2006-2013]

Diese Nachtlandschaften sind im klassischen Noir-Film meistens Schauplätze urbanen Umfelds wie Städte, Vororte, Hinterhöfe und Straßen. Neben der Verortung der Szenerie auf eine spezifische Umgebung gibt es weitere stilistische Leitthemen, die Raymond Durgnat als signifikant einstuft: 1.) Das Verbrechen als soziale Kritik: Viele Handlungen im Film Noir behandeln eine Straftat, die als Reflexion der Meinung des Autors über die gegenwärtige soziale und wirtschaftliche Situation und die Regierung gelten kann. Dazu gehören Darstellungen von Korruption, Ausbeutung, Machtspielen in Führungspositionen oder Jugendkriminalität. 2.J Der Gangster: Der Protagonist ist nicht mehr der archetypische Held, sondern wird zum „bad guy" der oftmals mit Banden und organisiertem Verbrechen in Verbindung steht. 3.J Auf der Flucht: Das spannungserzeugende Element der Flucht bringt den Verbrecher oder den unschuldig Verdächtigen in eine Dilemma-Situation für den Zuschauer; moralische Verurteilung und Fatalismus auf der einen, Mitleid, Identifikation und Bedauern auf der anderen Seite. 4.J Privatdetektive in ihrer Ermittlung. 5.J Double und Täuschungen: Durch den typischen Lichteinsatz im Film Noir mit Schatten und Verdunklungen sowie oftmals regnerischen Szenerien kann es aufgrund von alternierenden Kameraperspektiven zur Verwechslung von Charakteren kommen.

6. J Psychopathen: Vielen Film-Noir-Figuren kann ein psychopathisches Verhalten zugeschrieben werden. So zum Beispiel der Held mit der besonderen Schwachstelle, das bescheidene Monster oder das offensichtliche Monster. 7.J Geiselnahmen von Gruppen oder Einzelpersonen.55 Betrachtet man den Film Noir jedoch eher Figuren-bezogen so können zu den bereits von Durgnat angeführten Figuren in seinen Leitideen weitere entfremdete Helden und Antihelden gezählt werden. Besonders die Femme Fatale, eine starke und unabhängige Frau, und der männliche Ermittler treten als archetypische Figuren auf. Mit dem Ende der klassischen Ära zwischen 1960 und 1970 und dem Beginn des Neo-Noir gibt es Verschiebungen auf der Bedeutungsebene der Figuren und einzelner Leitthemen des Noir-Films. In der Frühphase des Neo-Noir in den 1970er Jahren fungieren Frauen zumeist nicht als destruktive Femme Fatales, sondern als Inspirationen und Wegweiser für den ermittelnden Helden wie in Roman Polanskis Chinatown (1974) oder Martin Scorseses Taxi Driver (1976).56 In beiden Beispielen wird die Motivation des Protagonisten durch das Begehren einer Frau potenziert. Eine Tendenz, die jedoch nur für wenige Jahre anhielt. In den 1980er Jahren kehrten Noir-Filme als Folge von gesellschaftlichen Umbrüchen wie die Akzeptanz der Gleichberechtigung der Frau in Amerika und Gender-Diskussionen zurück zu ihren traditionellen Motiven.57 Die manipulative und ambivalente Femme Fatale und der hartgesottene Detektiv sind, ähnlich wie in der Frühphase des Film Noir, die charakteristischen Figuren.

Die Noir-Filme seit den 1980er Jahren bis zu aktuellen zeitgenössischen Werken und TV-Serien können mit ihren post-klassischen Elementen in zwei Kategorien eingeordnet werden: Retro-Noir und Neo-Noir. Retro-Noir-Filme orientieren sich, wie der Name suggeriert, an der klassisch-spezifischen Periode der 1940er und 1950er Jahre und ihrer typischen Erscheinung, Motivik, Stimmung, Themen und Charakter-Typen. Als Beispiele wären hier Angel Heart (1987) und L.A. Confidential (1997) zu nennen.

Eine klare Definition des Neo-Noir ist hier, wie schon beim Film-Noir, deutlich komplexer. Douglas Keesey sieht den Neo-Noir beschrieben durch verschwommene Grenzen und hybride Genres, beeinflusst durch soziale Veränderungen und historische Ereignisse sowie technologischen Fortschritt in der Produktion von Filmen und Serien.58 Die Unklarheitvon Grenzen wird besonders in der Darstellung verschiedener Charaktere sichtbar. Galt für den klassischen Film Noir noch eine deutlich sicht- und spürbare Isolierung der Figurentypen des Ermittlers, des Verbrechers und des Opfers, ist diese im Neo-Noir weitestgehend aufgelöst. In der amerikanischen TV-Serie Dexter (2006-2013) ist der im Polizeidienst angestellte Analyst Dexter Morgan gleichzeitig ein psychopathischer Serienmörder. Eine ähnliche Zwiespältigkeit vermittelt die Figur des FBI-Profilers Will Graham, der in allen seinen Darstellungen59 in die Gedankenwelt des Mörders eindringen muss, um den Fall aufzuklären: „More and more, the difference between the investigator and the villain comes to seem like a difference within the investigator, who, if he looks hard enough, may find the potential for evil inside himself."60 Die Transformation des Ermittlers zum Opfer kann nun logischerweise anschließen und ist das Ergebnis seiner moralischen Beeinträchtigung. Er trägt einen so erheblichen Teil der Mitschuld, dass er seinen innerlichen Kampf schon verloren hat. Die Lösung des Falls wird gleichsam zum Fehlschlag.

Die Hybridität des Neo-Noir lässt sich erneut anhand von Dexter beschreiben: In den Ursprungsjahren des Film Noir herrschte eine Eindeutigkeit der Einordnung von Filmen. Doch mit Anbeginn des Neo-Noirs verankerte sich der Begriff in vielen verschiedenen Genres und sorgte für Unklarheit in der exakten Unterscheidung der unterschiedlichen Genres. Die Mehrdimensionalität der Figur Dexter Morgans, seine Position als Verfolgter und Verfolger, brechen mit den Traditionen des klassischen Film Noir und üblicher Polizeiarbeit.61 Das Vage und Unscharfe in der Figur Dexters und seine unbestimmten innerlichen Grenzen sind „im Kontext von Serienmord-Fiktionen als symptomatisch für gesellschaftliche Veränderungen der Moderne [anzusehen] [,..]."62 Das Setting von Dexter, das amerikanische Miami, erzeugt einen weiteren Kontrast zu klassischen Noir. Die Helligkeit und das sommerliche Flair Floridas vermitteln eine Divergenz zu den regnerischen, urbanen und kalten Nachtlandschaften (Abb. 2). Auch die TV-Serie Fargo (2014) und Blue Velvet (1986) brechen die Konvention des Ortes. Die Handlungen spielen hier jeweils in abgelegenen ländlichen Gebieten und Orten. Ebenso erscheinen futuristisch-technologische Dystopien (The Matrix (1999)) und fast scheiternde Superhelden (The Dark Knight (2008)).63

Die Ausführungen zeigen, dass Filme des Neo-Noir den Film-Noir als Basis behandeln und besonders ab der postmodernen Phase seit den 1980er Jahren abwandeln, erweitern und verdichten. Dieser Prozess hat, wie bereits angemerkt, die Bildung verschiedener Hybridformen zur Folge und verdeutlicht die lesbare und dauerhafte Anwesenheit von Filmgeschichte.

Einen der Archetypen des Noir, den männlichen Ermittler, beschreibt Andrew Spicer wie folgt: „Typical noir male protagonists are weak, confused, unstable, and ineffectual, damaged men who suffer from a range of psychological neuroses and who are unstable to resolve the problems they face.“64

2.3 Figurentypologie: der männliche Ermittler

„Die Klasse, die die deutlichsten sozialpsychologischen Probleme bereitet und die größten Überraschungen bereithält," so Luc Boltanski „ist jedoch zweifelsohne die der Elitebediensteten."65 Was der Soziologe Boltanski in seiner Forschung zum Kriminalnarrativ beschreibt, ist ein zentraler Ausgangspunkt der folgenden Bestimmung und Einordnung des männlichen Ermittlers in der Fiktion. Ich werde meine Untersuchung anhand von filmischen Beispielen aus den 1980er Jahren beginnen, mich dann anschließend auf die 1990er Jahre und aktuelle Darstellungen beziehen. Ich werde meine Auswahl auf US-amerikanische Filme und Serien eingrenzen.

[...]


1 Jens Eder: Die Figurim Film - Grundlagen derFigurenanalyse. Marburg: Schüren 2014, S. 89.

2 Matthias Hurst: „Kampf, Schmerzen, Tod: Existenzphilosophie und Grenzsituationen im Film." In: Dietrich von Engelhardt/Horst-Jürgen Gerigk [Hrsg.]: Karl Jaspers im Schnittpunkt von Zeitgeschichte, Psychopathologie, Literatur und Film. Heidelberg: Mattes Verlag 2009, S. 208.

3 VgL.Ebd.

4 Frank Kelleter: Populäre Serialität. Bielefeld: transcript2014, S. 173.

5 Ebd., S. 174.

6 Rüdiger Görner: Grenzgänger. Tübingen: Klöpfer & Meyer 1996, S. 15.

7 Karl Jaspers: Existenzphilosophie. Drei Vorlesungen gehalten amfreien deutschen Hochstift in Frankfurt a. M. Septemberl937. Berlin: Walter de Gruyter 1964, S. 1.

8 Harald Seubert: „Karl Jaspers und das Menschenbild". In: Werner Schüßler/Urlich Diehl [Hrsg.]: Karl Jaspers - Grundbegriffe seines Denkens. Reinbek: Lau-Verlag 2011, S. 68.

9 Ebd., S. 69.

10 Vgl. Ebd.

11 Jaspersl964, Ebd., S. 21.

12 Thomas Fuchs: „Existenzielle Vulnerabilität". In: Sonja Rinofner-Kreidl/Harald A. Wiltsche [Hrsg.]: KarlJaspers'AIIgemeinePsychopathoIogiezwischen Wissenschaft, Philosophie und Praxis. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 96.

13 Max Weber: Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland: zur politischen Kritik des Beamtentums und Parteiwesens. München: Duncker u. Humblot 1918, S. 31.

14 Harald Stelzer: „Karl Jaspers und der Begriff des Gehäuses" In: Werner Schüßler/Urlich Diehl [Hrsg.]: Karl Jaspers - Grundbegriffe seines Denkens. Reinbek: Lau-Verlag 2011, S. 170.

15 Ebd.

16 Ebd., S. 171.

17 Stelzer 2011, Ebd.

18 Ebd., S. 172.

19 Vgl. Kurt Salamun: Karljaspers. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, S. 24.

20 Vgl. Stelzer2001, S.173.

21 Ebd.

22 Vgl. Karl Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen. Berlin: Julius Springer Verlag 1919, S. 270.

23 Stelzer 2011, Ebd., S.174.

24 Vgl. Ebd., S. 175.

25 Ebd., S. 176.

26 Vgl. Stelzer 2011, Ebd., S. 176.

27 Ebd.

28 Jaspers 1919, Ebd., S. 249.

29 Wortbedeutung: Grenzsituation, die. Duden. [http://www.duden.de/rechtschreibung/Grenzsituation]. Abgerufen am 11. Dezember 2015.

30 Horst-Jürgen Gerigk: „»Gehäuse« und »Grenzsituation« als Schlüsselbegriffe der Literaturwissenschaft" In: Dietrich von Engelhardt/Horst-Jürgen Gerigk [Hrsg.]: 2009, Ebd., S. 67.

31 Fuchs2008, Ebd., S. 96.

32 Anette Suzanne Fintz: Scheitern als Anfang -Jaspers' Grenzsituation. S. 4. (http://www.isob.de/fileadmin/user_upload/downloads/Scheitern_als_Anfang.pdfJ. Abgerufen am 13. Dezember 2015.

33 Jaspers 1919, Ebd., S. 231.

34 Fintz, Ebd.

35 Ebd., S. 5.

36 Salamun 2006, Ebd., S. 52.

37 Finte, Ebd., S. 7.

38 Vgl. Salamun 2006, Ebd. S. 53.

39 Jasperl919, Ebd., S. 218.

40 Vgl. alle vier Typen in: Jaspers 1919, Ebd. S. 222f.

41 Karl Jaspers: Philosophien. Band: Existenzerhellung. München: Springer 1973, S. 204.

42 Salamun 2006, Ebd., S. 52.

43 Ich bedanke mich bei Michael Lommel für den Hinweis auf diesen Begriff.

44 Walter Benjamin: GesammelteSchriften. In: Rolf Tiedemann [Hrsg.]. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 618.

45 Vgl. Rolf Parr: „Liminale und andere Übergänge". In: Achim Geisenhanslüke/Georg Mein [Hrsg.]: Schriftkulturund Schwellenkunde. Bielefeld: Transcript2008, S. 17.

46 Vgl. Michael Foucault: AndereRäume. (http://www.uni- weimar.de/cms/uploads/media/Foucault_AndereRaeume_01.pdfJ. S. 39. Abgerufen am 15. Dezember 2015.

47 Bernhard Waldenfels: Sozialität und Alterität: Modi sozialerErfahrung. Berlin: Suhrkamp 2015,S. 211.

48 Parr 2008, Ebd., S. 20.

49 James Naremore: „American Film Noir: The History of an Idea." In: Film Quarterly, Vol. 49, Nr. 2 (Winter 1995-1996], S. 12.

50 Raymond Durgnat: Paint It Black: The Family Tree ofthe Film Noir. 1970 (https://atomicanxietyblog.files.wordpress.com/2012/09/51818818-raymond-durgnat-the- family-tree-of-the-film-noir.pdf). S. 38. Abgerufen am 20. Dezember 2015.

51 Vgl. Naremore, Ebd.

52 Vgl. Claire Gorrara: The Roman Noir in post-war French Culture. Oxford: Oxford University Press 2003, S. 41.

53 Ebd.

54 Vgl. Gorrara 2003, Ebd.

55 Vgl. Durgnat 1970, Ebd., S. 39ff.

56 Vgl. Philippa Gates: Detecting Men. Masculinity and the Hollywood detectivefilm. NewYork; State University ofNewYork Press 2006, S. 98.

57 Vgl. Ebd., S. 98-102.

58 Vgl. Douglas Keesey: Neo-Noir: Contemporary Firn Noirfrom Chinatown to TheDark Knight. Harpenden 2010: Oldcastle Books. o. S.

59 Will Graham ist zu sehen in Manhunter 1986 gespieltvon William Petersen, Red Dragon 2002 (Edward Norton] und der TV-Serie Hannibal 2013 (Hugh Dancy],

60 Keesey 2010, Ebd.

61 Vgl. Ebd.

62 Kathrin Rothemund: Komplexe Welten -NarrativeStrategien in US-amerikanischen Fernsehserien. Berlin: Bertz + Fischer 2013, S. 86.

63 Vgl. Keesey2010, Ebd.

64 Andrew Spicer: „Problems of Memory and Identity in Neo-Noir's Existentialist Antihero". In: MarkT. Conrad [Hrsg.]: The Philosophy ofNeo-Noir. Kentucky: The University Press of Kentucky 2007, o. S.

65 Luc Boltanski: Rätsel und Komplotte. Berlin: Suhrkamp 2013, S. 115.

Ende der Leseprobe aus 84 Seiten

Details

Titel
Männliche Ermittler in amerikanischen TV-Serien am Beispiel von "True Detective" und "Hannibal"
Hochschule
Universität Siegen
Note
1,70
Autor
Jahr
2016
Seiten
84
Katalognummer
V510115
ISBN (eBook)
9783346105202
ISBN (Buch)
9783346105219
Sprache
Deutsch
Schlagworte
True Detective, Hannibal, Will Graham, Karl Jaspers, Existenz, Grenzsituation, Ermittler, Detektiv, TV, Figurentypologie, Heldenreise, Noir, Neo-noir, Männlichkeit, Detective, Bryan Fuller, Mads Mikkelsen, Hugh Dancy, Schwelle, Grenzgang, Filmanalyse, Serienanalyse, Rust Cohle, Existenzphilosophie, NBC, HBO, Male, Medienanalyse, Medienwissenschaft, Vergleich, Figuren
Arbeit zitieren
Moritz Gadomski (Autor:in), 2016, Männliche Ermittler in amerikanischen TV-Serien am Beispiel von "True Detective" und "Hannibal", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/510115

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