Doing Gender. Die interaktionistische Konstruktion von Geschlecht

Eine Analyse der Filme "Mein Leben in Rosarot" und "Tomboy"


Bachelorarbeit, 2017

258 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Theorien, Begriffe und Konzepte

2.1 Sozialkonstruktivismus

2.2 Heteronormativitat und Queer Theory

2.3 Sex und gender

2.4 Interaktionistischer Konstruktivismus

2.5 Doing Gender

2.6 Transsexualitat, Transidentitat oder Transgender?

3. Methodischer Zugang und die Bedeutung von Spielfilmanalysen in der Soziologie

4. Die interaktionistische Konstruktion von Geschlecht in ,Mein Leben in Rosarot‘ und ,Tomboy‘ (Analyse)

5. Fazit

6. Quellen- und Literaturverzeichnis

6.1 Quellenverzeichnis

6.2 Literaturverzeichnis

7. Anhang

7.1 Einstellungsprotokoll ,Mein Leben in Rosarot‘

7.2 Einstellungsprotokoll ,Tomboy‘ 205

1. Einleitung

Die Erkenntnis, dass Geschlecht ein soziales Konstrukt ist, gilt in der Frauen- und Geschlechterforschung fast schon als Mainstream. Doch steht diese entgegengesetzt zu dem meist unhinterfragten alltagsweltlichen Wissensbestand kompetenter Akteur*innen1. In der ,Alltagstheorie der Zweigeschlechtlichkeit‘ (Hageman-White 1984) gilt es als selbstverstandlich, dass es mit ,mannlich‘ und ,weiblich‘ genau zwei und nur zwei Geschlechter gibt, alle Menschen immer eindeutig und lebenslang dem einen oder anderen angehoren und dass dieses binare Geschlechtersystem ein universal gultiges ist - geschichts- und kulturubergreifend. Die Zuschreibung des Geschlechts erfolgt bei der Geburt eines jeden Menschen mit der Begutachtung seiner auBeren Genitalien, das heiBt anhand biologischer Eigenschaften, die als ,primare Geschlechtsmerkmale‘ festgelegt wurden, sodass das Mann- oder Frausein als ,naturgegeben‘ aufgefasst wird.

Aus diesen ,naturlichen Anlagen‘ ergibt sich eine ,naturliche Zugehorigkeit‘ und letztlich ein ,naturlicher‘ Unterschied, aus dem geschlechtsspezifische Eigenschaften und Erwartungen an das jeweilige Verhalten und Handeln abgeleitet werden. Auf diese Weise wird gesellschaftliche Differenzierung auf Basis dieser scheinbar ,naturlichen Tatsache‘ bedingt und legitimiert.

„Warum Manner nicht zuhoren und Frauen schlecht einparken“, zum Beispiel titelt ein Bestseller2 und verspricht „ganz naturliche Erklarungen“ aus der Evolutionsforschung und Verhaltenspsychologie. Die Neuropsychiaterin Louann Brizendine spricht von einem „weiblichen Gehirn“, das beweisen soll, „warum Frauen anders sind als Manner“3. 2006 sturmte ,Das Eva- Prinzip‘4, in dem die Autor*in unter Berufung auf die „biologische Bestimmung“ eine Ruckbesinnung der Frauen auf die „schopfungsgewollte Aufteilung“ von Manner- und Frauendomanen, hierzulande die Buchcharts. Dabei ist die Forschungslage mitnichten so eindeutig5 wie das solche - bestenfalls - popularwissenschaftlichen Bucher suggerieren. Wie viele ihrer Art in den vergangenen Jahrzehnten auf den Markt gekommen sind und wie hoch ihre Nachfrage und Popularitat ist, fuhrt jedoch die Dominanz der Theorie der Zweigeschlechtlichkeit in unserem Alltag und auch uber diesen hinaus, deutlich vor Augen.

Der Buchmarkt stellt hierfur nur eines von vielen uns im Alltag begegnenden Beispielen dar, ist aber insofern besonders interessant, dass das Wissen von und uber Gesellschaften bekanntlich auch - und vor allem - uber die Medien vermittelt und sie somit einen bedeutende Rolle in der (Re-)Produktion des gesellschaftlichen Wissensbestands spielen.

Die Widerstandsfahigkeit dieses Wissens gegenuber Inkonsequenzen und Widerspruchen in der Realitat ist verbluffend. Rigoros und konsequent wird alles, was zwischen ,eindeutig mannlich‘ und ,weiblich‘ liegt, ausgeblendet, alles was den gangigen Rollenbildern und -erwartungen nicht entspricht, ignoriert beziehungsweise in unserer Wahrnehmung ,passend gemacht‘. Selbst das Wissen um die Existenz von Intersexuellen oder Transgendern erschuttert uns nicht in der Gewissheit unserer Annahmen. Vielmehr scheinen diese ,Abweichungen‘ die Norm nur zu bestatigen.

Umso wichtiger erscheint der Paradigmenwechsel der Frauen- und Geschlechterforschung die Kategorie Geschlecht als menschengemacht zu definieren: Die Geschlechterdifferenz wird in sozialen Praktiken hervorgebracht und ist somit keine biologisch-ontologische, ,naturgegebene‘ und unveranderbare Tatsache, sondern grundsatzlich kontingent und mit ihr die aus den Unterschieden zwischen Mannern und Frauen resultierenden Strukturen (denn nur, was sich differenzieren lasst, lasst sich auch hierarchisieren).

Suzanne Kessler und Wendy McKenna waren die ersten, die in ihrer Studie , Gender. An Ethnomethodological Approach' (1978) explizit von einer „social construction of gender“ (ebd.: 6) sprechen. In ihr fuhren sie kulturanthropologische und soziologisch-interaktionistische Theorien zusammen und tragen gleichzeitig eigene, neue Erkenntnisse bei.

Die Kulturanthropologie war als Wegbereiter*in der konstruktivistischen Geschlechterforschung insofern bedeutend, dass mithilfe von Studien wie der Margaret Meads (Mead 1935) gezeigt werden konnte, dass es Kulturen gibt, in denen kein binares Geschlechtersystem existiert (zum Beispiel, indem sie mehr als nur zwei Geschlechter kennen), in denen Geschlecht nicht uber die auBeren Genitalien definiert oder als eine lebenslang verbindliche Kategorie betrachtet wird, folglich : dass unser System der Zweigeschlechtlichkeit keine universale Gultigkeit hat. Mead ist es auch, die beobachtet, dass ,Frauen‘ und ,Manner‘ - kulturubergreifend - physiologisch vielmehr ein Kontinuum bilden statt zwei Extreme (Mead 1949: 201, spater auch Hageman- White 1984: 78) - auch wenn wir, weil wir es nicht anders gelernt haben und im Alltag nicht anders erfahren, anders wahrnehmen.6

Ferner zeigte Harold Garfinkels ,Agnes-Studie‘ (1967) erstmals nicht nur dass, sondern wie Geschlecht - interaktiv, im Alltag - uber Attribution (Geschlechtsdarstellung) hergestellt wird und brachte Candace West und Don Zimmermann (1987) in der Folge auf den Begriff des doing gender, der inzwischen als gangiger gilt, um diesen Herstellungsprozess von Geschlecht zu beschreiben, der bestandig und nicht etwa (ausschlieBlich) in einer einmaligen und irgendwann abgeschlossenen Sozialisation stattfindet.

Kessler/ McKenna selbst demonstrieren unter anderem wie sich Kinder das Wissenssystem der Zweigeschlechtlichkeit (Hirschauer 1996) interaktiv aneignen und dass dieses System nicht nur in unserem Alltag prasent ist, sondern auch in einen GroBteil der Wissenschaften wie zum Beispiel die Biologie oder Psychologie unreflektiert hineingetragen wird. Damit ist es den beiden gelungen, nicht weniger als den Grundstein fur die konstruktivistische Geschlechterforschung zu legen und gleichzeitig Anknupfungspunkte fur eine Kritik an der analytischen Differenzierung von sex und gender zu liefern.

Einen Meilenstein nicht nur fur die feministische Debatte, sondern auch fur die Theorie der Geschlechtskonstruktion im Sinne des doing gender, stellt eben diese analytische Unterscheidung von sex als ,naturlichem‘ Geschlecht, das in Abhangigkeit von den biologischen Geschlechtsmerkmalen (auBere Genitalien) zugeschrieben wird, und gender als kulturellem Geschlecht (Geschlechtsidentitat), das sich kausal nicht aus dem sex ableiten lasst, dar. Gleichzeitig bringt sie aber auch Probleme mit sich: Judith Butler bezeichnet die Unterscheidung von sex und gender als sozial konstruiert. Sex erwecke nur den Anschein von ,Naturlichkeit‘ und sei ein Effekt des gender und nicht umgekehrt (Butler 1991: 65), was fur weite Teile der feministischen Forschung eine Provokation dargestellt hat. Dass Geschlechtsidentitat sich aus dem (biologischen) Geschlecht ergebe, sei ein logischer Zirkelschluss und sex beziehungsweise die anatomische Differenz zwischen ,Mannern‘ und ,Frauen‘ keine ,naturliche‘, sondern gleichfalls sozial konstruierte. Der Korper sei eine „kulturelle Situation“ (ebd.: 60) und keine „vordiskursive anatomische Gegebenheit“ (ebd.: 218). Fur sie stellt Geschlecht eine „performativ inszenierte Bedeutung“ (ebd.: 61) dar. Ihre Theorievariante ist somit eine diskursorientiert- poststrukturalistische und dekonstruktivistische, die eine Auseinandersetzung auf sprachlicher Ebene erfordert und der ein anderes spezifisches Erkenntnisinteresse zugrunde liegt als das der Beschreibung und Erklarung empirisch beobachtbarer sozialer Sachverhalte.

Doch gibt es auch Vertreter*innen interaktionistisch- konstruktivistischer Stromungen, die mit der Annahme, dass es "uberhaupt keine ,naturliche', von der Dimension des Sozialen freie Wahrnehmung und Betrachtung des Korpers geben kann" (Douglas 1974: 106), die Konstruktionshypothese zuspitzen: Natur und Kultur, sex und gender konstituierten sich schlieBlich in einem dialektischen Prozess (Gildemeister/Wetterer 1992: 210), in dem das eine stets auf das andere Bezug nimmt.

Stefan Hirschauer (1996) etwa stellt sich ganz in die Tradition Kessler/ McKennas und bringt ethnomethodologische mit mikrosoziologischen, interaktionistisch orientierten Studien (Ortner/ Whitehead 1981; Garfinkel 1967; Goffman 1979) zusammen. Auch er sieht Geschlecht als interaktiv, auf intersubjektiver Ebene, im Alltag, in einem zirkularen Attributionsprozess, bestehend aus Darstellung einerseits und Wahrnehmung andererseits, konstruiert - sex mit eingeschlossen. Die Attribution finde uber das Zeigen und Erkennen „kulurelle[r] Genitalien“ (Gesten, Haltungen, Kleidungsstucke, Namen oder Frisuren etwa) statt (Kessler/ McKenna 1978: 153).

Die hier vorliegende Arbeit wird in Orientierung an den Konstruktivismus im Allgemeinen und Kessler/ McKenna und Hirschauer mit ihrem Fokus auf die Ebene der intersubjektiven Interaktion im Besonderen, genau dieser Frage, der Frage nach der Konstruktion von Geschlecht nachgehen: Wie wird Geschlecht ,gemacht‘, wie findet die interaktionistische Konstruktion statt? SchlieBlich ist Geschlecht eine gangige Strukturkategorie in den Sozialwissenschaften, noch dazu eine, die als askriptiv definiert wird. Sozialwissenschaftlich-konstruktivistische Ansatze nehmen Erklarungsmodelle, die unhinterfragt auf - oft stereotypes - alltagsweltliches Wissen zuruckgreifen, als theoretische Vorannahmen nutzen oder Befunde mithilfe solchen Wissens erklaren, kritisch unter die Lupe (Degele 2008), was einer Untersuchung der Geschlechterkonstruktion Relevanz verleiht. Doing gender und die fur diesen Prozess charakteristische Attribution sollen hier am Beispiel zweier Spielfilme - ,Mein Leben in Rosarot‘ (Berliner 1997) und ,Tomboy‘ (Sciamma 2011) - skizziert werden.

Spielfilme sind, wie der bereits erwahnte Buchmarkt, Teil gesellschaftlicher Sinnproduktion, Sozialisation und Sozialisierung (Mikos/ Hoffmann 2010) . Von dieser Annahme ausgehend, kann die hiesige Filmanalyse als Gesellschaftsanalyse verstanden werden.

Die Hauptcharaktere der beiden Filme, Ludovic und Laure, sind Transgender. Ihr gender steht mit ihrem sex - aus heteronormativer Perspektive - in einem Widerspruch. Unter unterschiedlichen Voraussetzungen versuchen die beiden Kinder ihre Identitat auszuleben - mit unterschiedlichem Erfolg. Wie stellen die beiden sich in ihrem Geschlecht dar? Wie werden sie wahrgenommen? Welche Spielraume werden ihnen gestattet und wo und wie gelingt es ihnen die ,Alltagstheorie der Zweigeschlechtlichkeit‘ zu unterlaufen? Wo werden ihnen mit welcher Argumentation Grenzen aufgezeigt? Wie vertraut sind die beiden dabei mit den gangigen Rollenbildern und -erwartungen?

Die Filme werden unter Ruckgriff auf Helmut Kortes ,Einfuhrung in die systematische Filmanalyse‘ (2004) mehrdimensional analysiert. Die Analyse geht uber eine bloBe Rezension, losgelost von jeglichen sozialen Bezugen, hinaus. Um die Spannbreite des Sujets und des Themas der Arbeit abzudecken, wurden mit ,Mein Leben in Rosarot‘ und ,Tomboy‘ zwei teilweise kontrastierende, aber dennoch vergleichbare Filme fur die Auswertung ausgewahlt.

Im Anschluss erfolgt eine Einfuhrung und Kontextualisierung der fur die Arbeit relevanten, teilweise bereits angeschnittenen Theorien, Begriffe und Konzepte (Kapitel 2), um dann zu skizzieren, welchen Beitrag Filmanalysen zum Erkenntnisgewinn uber die soziale Realitat leisten konnen und welche Arbeitsmethoden fur die hiesige Analyse zur Anwendung kommen (Kapitel 3). In Kapitel 4 folgt die - vergleichende - mehrdimensionale Analyse der beiden Filme in Bezug auf ihren Entstehungskontext, ihre Rezeption und ihren Inhalt. Letzterer wird vor dem Hintergrund der Fragestellung und der theoretischen Basis der Arbeit analysiert. Im letzten Abschnitt werden die Ergebnisse der Arbeit in einem Fazit zusammengefasst.

Wie etwa bei Garfinkel und Hirschauer festgestellt werden kann, stellen sich Forschungen zu Transgendern zur Rekonstruktion von doing gender als besonders geeignet heraus, da fur die Betroffenen kein geschlechtsspezifisches Verhalten selbstverstandlich ist. Ihre Selbstwahrnehmung (Geschlechtsidentitat) und ihre Fremdwahrnehmung (Zuschreibung) stimmen - temporar oder dauerhaft - nicht uberein, jedenfalls nicht in einer heteronormativ organsierten Gesellschaft mit einer ,Alltagstheorie der Zweigeschlechtlichkeit‘ . Gesa Lindemann (1993) und Andrea Maihofer (1995: 53 f.) gehen hier in eine ahnliche Richtung. Transgender eignen sich - unter anderem7 - das Verhalten des ,anderen Geschlechts‘ an, gehen als solches durch (sog. passing^ Garfinkel 1967: 118-133, 137-167) oder auch nicht, lassen aber zumindest das Selbstverstandliche nicht mehr langer selbstverstandlich erscheinen und stellen somit die Ontologie von Geschlecht und Geschlechtszugehorigkeit explizit oder implizit in Frage.

In der hier vorliegenden Arbeit wird an der begrifflichen und analytischen Unterscheidung von sex und gender festgehalten, nicht jedoch an der Annahme, dass es sich bei sex um eine ,naturliche‘ Basis“ (Hirschauer 1989:101) handele. Hintergrund fur das Festhalten an der Unterscheidung ist die Vorannahme, dass auf diese Weise die jeweiligen Dimensionen und Analyseebenen auf ihre jeweils spezifischen Konstruktionsprozesse hin sowie ihr Verhaltnis zueinander untersucht werden konnen. Daruber hinaus wird die von West/ Zimmermann (1987) eingefuhrte dritte Analyseebene der sex-category einbezogen.

In Kapitel 2.6 wird ausfuhrlich erlautert, warum in der hier vorliegenden Arbeit - unter Ruckgriff auf die Queer Theory - Transgender als Begriff denen der Transsexualitat und Transidentitat vorgezogen wird.

2. Theorien, Begriffe und Konzepte

2.1 Sozialkonstruktivismus

Der Begriff des Sozialkonstruktivismus geht auf Peter L. Bergers und Thomas Luckmanns ,Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit‘ (1966) zuruck. Ihre Gesellschafts- und Metatheorie besagt, dass die soziale Realitat beziehungsweise die Gesellschaft sich selbst, interaktiv, durch soziales Handeln konstruiert, womit keine auBerkulturellen und auBerhistorischen Gegebenheiten existierten, die ,von Natur aus‘ so seien ,wie sie nun einmal seien‘ (Knorr-Cetina 1997: 20), sondern dass sie den Akteur*innen immer nur als das erscheinen, als das sie im Sinne des allgemeinen Wissens einer Gesellschaft gedeutet wurden. Was ,normal‘ ist, konne je nach Kultur oder Zeit variieren und soziale Ordnung sei grundsatzlich kontingent.

Berger/ Luckmann betonen, dass fur eine Gesellschafstheorie das allgemeine Wissen von besonderer Bedeutung sei (Berger/ Luckmann, 1977: 21). Nur mit diesem Wissen konnten Akteur*innen kompetent handeln und sich letztlich in die Gesellschaft integrieren. Denn der Mensch sei, anthropologisch gesehen, ein grundsatzlich ,weltoffenes‘ Wesen. Sein Handeln sei ihm nicht durch eine auBersoziale Instanz vorgegeben, ebenso wenig wie eine spezifische Ordnung nach der er sich zu organisieren habe. Genau deshalb sei er in seiner Welt auf eine reziproke Erwartbarkeit beziehungsweise Erwartungssicherheit angewiesen (Berger/ Luckmann 1977: 124 f.). Er stelle folglich seine eigene Ordnung her, in der die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft im Sinne dieser Ordnung sozialisiert wurden (Mead 2005: 299 f.). Die Herstellung gesellschaftlicher Ordnung vollzieht sich fur sie konkret in drei Stufen eines „dialektischen Prozess[es]“ (Berger/ Luckmann 1977: 139): Erstens, der Externalisierung, der primaren Sozialisation von Akteur*innen durch signifikant Andere wie zum Beispiel ihre Eltern, und zwar in „Vis-a-vis-Situationen als Prototyp aller gesellschaftlichen Interaktion“ (ebd. 31 f.) Handlungsweisen, die sich bewahrten, wurden anschlieBend habitualisiert. Zweitens der Objektivierung dieser habitualisierten Handlungsweisen durch Kommunikation (ebd.: 80 f.) und drittens der Internalisierung des erworbenen und bewahrten Wissensbestands, womit gemeint ist, dass es im allgemeinen Wissen der Gesellschaft aufgehe und fur die Allgemeinheit beziehungsweise einzelne Akteur*innen zur weiteren Internalisierung verfugbar und nutzbar gemacht werde (ebd.: 148 f.).

2.2 Heteronormativitat und Queer Theory

Ist hier von der ,Alltagstheorie der Zweigeschlechtlichkeit‘ die Rede, so ist damit eigentlich das Konzept der ,Heteronormativitat‘ gemeint. Heteronormativitat ist ein zentraler Begriff der Queer Studies bzw. Queer Theory, die ihre Ursprunge in der poststrukturalistisch-konstruktivistisch und -dekonstruktivistisch orientierten Kritik an essentialistischem Denken, wie es in unserer westlichen Gesellschaft verbreitet ist, aber der den heterosexistischen und rassistischen Vorannahmen der feministischen Theorie (Engel 1999: 3) hat. Hierfur dienten insbesondere Judith Butler und Michael Foucault als Vorbilder (Degele 2008).

Ziel der Queer Studies ist es, die Genese und Realitatsmachtigkeit von ,Normalitat‘ und Naturalisierungsprozessen systematisch zu hinterfragen und zu rekonstruieren. .Queer, das wortlich so viel wie ,verstorend‘ oder im ubertragenen Sinne ,pervers‘ bedeutet, wurde im Englischen ursprunglich pejorativ genutzt, um Schwule und Lesben, aber auch andere ,Abweichler*innen‘ in Bezug auf Geschlechterrollen, sexueller Orientierung oder Neigungen zu beschimpfen, dann jedoch im Sinne des reclaiming von den Angehorigen dieser Gruppen fur ,gekapert‘ und als Selbstbezeichnung positiv neu besetzt (Jagose 2001). ,Queer" steht dabei sowohl fur die hier beschrieb ene theoretische Stromung (Queer Theory), als auch fur eine politische Bewegung, und fur eine Praxis, in der Normen, Hierarchien und Ausschlusse kritisch in Frage gestellt werden (Engel 1999: 3). Beide Dimensionen (Theorie, Aktivismus) stehen in einem engen Verhaltnis zueinander. Jagose, Degele und andere Theoretiker*innen wollen eine eindeutige Definition von ..queer nicht vornehmen, was seiner Unbestimmtheit und Kontingenz entgegenstehen wurde. Obwohl viele Schwule, Lesben und Transgender die Kategorie ,queer" als Selbstbezeichnung nutzen, darf es nicht als Synonym fur diese Gruppen, eine Praxis, die sich nur auf Geschlecht und/ oder Sexualitat bezieht oder als eine „revolutionare[] ,Outlaw‘- Identitat“ (ebd.) missverstanden werden. Vielmehr geht es bei dieser Praxis und Theoriestromung um eine Kritik an Identitatspolitik, sozialen Klassifikationen und den daraus resultierenden Macht- und Hierarchieverhaltnissen (Engel 2002: 48). So bildet sie groBe Schnittmengen mit der feministischen Theorie, zugleich aber steht sie in einer Konkurrenz zu ihr, indem sie etwa die Kategorie ,Frau‘ negiert (Schroter 2003: 7).

Eine besondere Stellung innerhalb der Queer Studies nimmt die Frage nach der Ontologie der Identitat ein: Unter Bezugnahme auf Theorien zur sozialen Konstruktion von Identitat und somit auch auf den Sozialkonstruktivismus allgemein und die Konstruktion von Geschlechtsidentitat als prozesshaftem Vorgang (Jagose: 102), soll Identitat entnaturalisiert, entselbstverstandlicht werden (Engel 2001: 45).

Ebenso entnaturalisiert werden soll die Heteronormativitat insgemein, nicht nur in Bezug auf Geschlechtsidentitat. Definiert ist ,Heteronormativitat‘ als ein Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschema, das folgende Vorannahmen als scheinbare Gewissheiten enthalt:

Es gibt genau zwei Geschlechter, die sich polar gegenuberstehen und sich in ihrer Sexualitat8 aufeinander beziehen, womit Heterosexualitat als die Norm die Grundlage fur dieses binare System liefert. Die Kategorien sex (Geschlecht), gender (Geschlechtsidentitat) und sexuelle Orientierung werden miteinander gleichgesetzt und nicht differenziert (vgl. Butler 1991a: 22-24; Ott 2000, Degele 2008). Auf diese Weise wird fur die an der Gesellschaft partizipierenden Akteur*innen Komplexitat reduziert und Erwartungssicherheit erzeugt (Degele 2008: 88 ff.) (s. ,Sozialkonstruktivismus‘).

Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualitat werden demnach als ,naturlich‘ aufgefasst, doch wurden sie tatsachlich im Zuge historischer und gesellschaftlicher Prozesse verselb stverstandlicht, zur Norm erhoben und in sozialen Strukturen institutionalisiert - zum Beispiel uber den besonderen verfassungsrechtlichen Schutz der Ehe und ihre Privilegierung durch den Staat, so die zentrale These der Queer Theory. Das Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschema der Heteronormativitat muss den Akteur*innen - vergleichbar mit Pierre Bourdieus Habitus - nicht bewusst sein, damit es ,funktioniert‘ (ebd.).

2.3 Sex und gender

Die analytische Trennung von sex und gender hat einen wichtigen Beitrag fur die Formulierung der These der Geschlechterkonstruktion geleistet. Sex als anatomisches, biologisches Geschlecht und gender als Geschlechtsidentitat im soziokulturellen Sinne zu definieren, hat sich in der feministischen Theorie bereits in den 1970er Jahren bewahrt. Ein Jahrzehnt zuvor wurde sie noch in der Medizin im Zusammenhang mit der Therapie von Trans- und Intersexuellen verwendet (vgl. Stoller 1968, vgl. Garrels 1998). Dabei ging es um die Herstellung einer Anatomie, die mit den geschlechtstypischen Verhaltensweisen - beziehungsweise im Falle der Intersexuellen - der erwarteten Geschlechtsidentitat ubereinstimmt.

Die sozial konstruierte Geschlechtsidentitat lasst sich nach dieser Auffassung, die sex und gender voneinander trennt, nicht aus dem biologisch-anatomischen sex ableiten, die Trennung lasst folglich keinen Kausalzusammenhang gelten: Gender ist keine Konsequenz des sex und ,geschlechtsspezifische‘ Verhaltensweisen oder Eigenschaften wie Harte oder Emotionalitat zum Beispiel, die alltagsweltlich haufig als ,typisch mannlich‘ und ,typisch weiblich‘ gelten, werden so zu potentiellen Eigenschaften fur alle (Degele 2008).

Fur die feministische Debatte war diese analytische Differenzierung eine Errungenschaft. In der Frauenforschung der 1970er Jahre ging es vor allem darum die Annahme einer ,Natur der Frau‘ zu bestreiten. Gerade mit Hinblick auf die Hierarchie- und Machtverhaltnisse zwischen den Geschlechtern war diese Diskussion und Errungenschaft von groBer Bedeutung. Mithilfe der Trennung konnten die Geschlechterrollen und das Verhaltnis von Mannern und Frauen als soziokulturell und nicht ,von Natur aus‘ bedingt und somit grundsatzlich kontingent betrachtet werden.

2.4 Interaktionistischer Konstruktivismus

Die Kritik an der ,Naturhaftigkeit‘ von Geschlecht geht auf Simone de Beauvoir und ihren meistzitierten Satz zuruck: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, sondern man wird es“ (de Beauvoir 1992: 334). Dass Geschlecht konstruiert ist, gilt in der Frauen- und Geschlechterforschung nicht nur als Mainstream, sondern stellt auch den Minimalkonsens unter unterschiedlichen Stromungen dar. Hinter der Geschlechterkonstruktion verbirgt sich folglich keine einheitliche Theorie (Degele, 2008). Von den drei grundlegenden Stromungen - der strukturorientierten Gesellschaftskritik, dem diskurstheoretischen Dekonstruktivismus und dem interaktionistischen Konstruktivismus - wird es Letzterer sein, auf den in der hier vorliegenden Arbeit Bezug genommen wird. Seine Perspektive ist eine anti-essentialistische, die auf der Mikro- und Interaktionsebene Identitatsprozesse und -konzepte empirisch untersucht und rekonstruiert - so auch den Prozess der Konstruktion von Geschlecht. Dabei sind alle Interaktionspartner*innen wechselseitig involviert. Daruber hinaus will sie herausfinden, welche Selbstverstandlichkeiten, Stereotype und Vorurteile in den alltaglichen Wissensbestand, aber auch in die Wissenschaften einflieBen und wie man einen vermeintlich bekannten Erkenntnisgegenstand so verfremden kann, dass man damit tatsachlich neues und kein essentialistisches Wissen (re- )produziert. Auch ist die Frage danach, wie das Konstrukt der Zweigeschlechtlichkeit beziehungsweise von ,Mannern‘ und ,Frauen‘ die Stabilitat, die es gegenwartig hat, erlangen und beibehalten kann, sodass es als kaum oder nicht veranderbar erscheint, ein Untersuchungsgegenstand (ebd.).

2.5 Doing Gender

Die Kernaussage des ,doing gender" ist, dass Geschlecht nichts ist, dass man aufgrund seiner Anatomie oder Sozialisation hat, sondern etwas, das bestandig und interaktiv ,gemacht‘ wird (darauf verweist bereits das present progressive ,doing‘). Es wurde in historischen Prozessen naturalisiert und sei somit als historisches und nicht auBerkulturelles Phanomen zu betrachten. Diese historischen Prozesse, in denen das heteronormativ-binare Geschlechtersystem zur Norm erhoben wurde, sollen hier nur am Rande erwahnt, jedoch keineswegs ausgelassen werden:

Aus konstruktivistischer Perspektive ist Geschlecht ein Produkt der Moderne und der mit ihr eingehergehenden Prozesse (Aufklarung, Ausbildung von Burgertum und Kapitalismus, Lohnarbeit und gesellschaftliche Differenzierung et cetera) (vgl. Frevert 1995), die zu einer Veranderung der Korper- und Geschlechtsbilder durch die aufstrebende Biologie und Anatomie im 17. und 18. Jahrhundert (Laqueur 1992, Duden 1987) gefuhrt haben. Die Unterschiede in der Physiologie von Mannern und Frauen wurden als naturliche festgelegt, und mit ihr die aus diesen Unterschieden scheinbar resultierenden geschlechtsspezifischen Eigenschaften, ,Charaktere‘ und Hierarchieverhaltnisse (Honegger 1989, 1991). In der modernen Gynakologie wurde der mannliche Korper zum MaB der Dinge, der weibliche Korper als seine Abweichung gedeutet, das heiBt in Abgrenzung zum mannlichen Korper als der Norm konstruiert. Die Mutterschaft von Frauen wurde zur biologischen Notwendigkeit (Honegger 1989) und ihr Verhalten und die Erwartung an eben dieses, im Gegensatz zum ,rationalen und aufgeklarten Mann‘, auf eine vermeintliche ,Natur der Frau‘ zuruckgefuhrt. Auch Kessler/ McKenna haben in ihren Studien festgestellt, dass die Geschlechtsattribution aus einer phallozentrischen Perspektive erfolgt: Ein Mensch wird erst dann als ,weiblich‘ klassifiziert, wenn er keine mannlichen Zeichen aufweist. Ein solches stellt insbesondere der Penis dar. Das Argument, dass der Penis im Gegensatz zur Vagina sichtbarer sei und so ,ganz naturlich‘ als bedeutsameres der beiden Organe wahrgenommen werde, weisen Kessler/ McKenna zuruck - auch diese Wahrnehmung sei eine sozial konstruierte (Kessler/ McKenna 1978: 153).

Der Begriff ,doing gender" wurde erstmalig in einem gleichnamigen Artikel von Candance West und Don Zimmermann (1987) eingefuhrt. West/ Zimmermann gehen in der bis dahin bekannten Differenzierung von unterschiedlichen Dimensionen des Geschlechts (sex/gender) einen Schritt weiter, indem sie mit der sex-category eine dritte analytische Ebene einfuhren. Sex als biologisch-anatomische Geschlechtsklassifikation beruhe auf der Physiologie der Geschlechtsmerkmale. Die Wahrnehmung dieser sei aber auch eine sozial vereinbarte und somit eine kulturelle. An dieser Stelle widersprechen West/ Zimmermann dem Entwurf einer sex/gender -Unterscheidung, die wie Stefan Hirschauer spater kritisiert, „sich mit der Gegenuberstellung von biologisch unveranderlichem ,sex‘ und kulturell variablem ,gender‘ [...] in ihren Grundbegriffen in [...] [einer] disziplinaren Arbeitsteilung mit den Naturwissenschaften eingerichtet“ (Hirschauer 1989: 100, vgl. Ott 1998) hat. Die soziale Dimension der Zweigeschlechtlichkeit stelle so nur die „Ausschmuckung“ (Hirschauer 1989: 100) einer scheinbar naturgegebenen Basis dar. Die sex-category hingegen beschreibt die alltagliche, interaktive Klassifikation, wofur das sex jedoch nicht ersichtlich sein muss. Im Alltag ist dies ohnehin kaum der Fall - das vermeintlich ,Offensichtliche entzieht sich hier unserer Wahrnehmung. Grundlage der Zuschreibung der sex-category ist darum die Geschlechtsattribution gemaB sozial vereinbarter Regeln, Grundgewissheiten und Normvorstellungen unseres Kulturkreises (,Alltagstheorie der Zweigeschlechtlichkeit‘) (West/ Zimmermann : 131 ff.).

Gender stellt in der Folge die interaktive Bestatigung der jeweiligen Zuschreibung dar. Alle drei Dimensionen sind analytisch voneinander unabhangig.

Die sex-category stimmt meist mit dem Geschlecht (sex) uberein, kann aber auch von ihr abweichen und unter Umstanden als eine abweichende gar nicht wahrgenommen werden, wenn die ,kulturellen Genitalien‘ eines Individuums zum passing fuhren, da die auBeren Genitalien wie bereits erwahnt, in Interaktionen keiner Verifizierung unterliegen (konnen). Auch wenn es den Partizipierenden in Interaktionen nicht bewusst sein muss, nehmen sie die Klassifikation von Alteri in eine der beiden sex-categories bestandig vor, die Kategorie Geschlecht ist in Interaktionen omnirelevant („doing gender is unavoidable“ ebd.: 137).

Die Zuschreibung sex-category ist wiederum unabhangig von der Darstellung und Wahrnehmung des gende r: Eine Frau zum Beispiel, die einmal als ,weiblich‘ klassifiziert wurde, kann ,typisch mannliches‘ beziehungsweise ,unweibliches‘ Verhalten an den Tag legen ohne dass die ihr zugewiesene Kategorie ihr abgesprochen wird. Hat sich die Zuschreibung einmal etabliert, werden Widerspruche integriert, indem jedes vom Gegenuber ausgehende Handeln im Sinne des zugeschriebenen Geschlechts interpretiert, das heiBt ,passend gemacht‘ wird.

Kessler/ McKenna fragen wie Akteur*innen wissen konnen, dass es sich beim Gegenuber um einen Mann oder eine Frau handelt. Wie konnen sie den Unterschied sehen? Dabei gehen sie davon aus, dass dieses ,Sehen‘ keine schlichte Wahrnehmung, sondern ein wechselseitiger Prozess der Geschlechtsattribution zwischen den jeweiligen Interaktionspartner*innen, bestehend aus Darstellung einerseits - mittels ,kultureller Genitalien‘ - und Wahrnehmung andererseits, und zwar stets der ,Alltagstheorie der Zweigeschlechtlichkeit‘ entsprechend, und somit „ein gegenseitiges Entgegenkommen und auch eine dichte Kollaboration“ (Hirschauer 1999: 55), ist.

2.6 Transsexualitat, Transidentitat oder Transgender?

Die Begriffe der Transsexualitat und Transidentitat werden synonym verwendet, wobei ,Transsexualitat‘ als der gelaufigere den Sachverhalt eines - wie auch immer - vom sex oder der sex­category,abweichenden‘ gender insofern nicht gerecht wird, weil sie sich auf die Ebene der Sexualitat bezieht (Schroter 2003: 16). Tatsachlich sind Transidentitat oder Transgender Begriffe, die die Identitat von Individuen und nicht einen oder etwaige Sexualpartner*innen, die Sexualorgane oder das Ausleben der Sexualitat betrifft. Darum erscheint der Begriff der Transidentitat - vorerst - als der angemessenere.

Die Konzepte der Geschlechts- und/ oder Transidentitat knupfen an das der Identitat insgemein an. Fur George H. Mead (1991) stellt ,Identitat‘ sowohl ein psychisches als auch soziales Organisations- und Strukturprinzip dar. Sie ist nichts Starres, Unveranderliches oder ,Naturgegebenes‘, befindet sich jedoch in einer Abhangigkeit zur Gemeinschaft und deren Zuschreibung an das Individuum, das in dieser Gemeinschaft interagiert. So kann es durchaus sein, dass das eigene Identitatsbewusstsein mit der Zuschreibung von auBen nicht ubereinstimmt. Mead unterscheidet folglich zwischen dem Bewusstsein, zu dem nur das Individuum selbst Zugang hat und somit subjektiv sei, und der Identitat als gesellschaftlichem Objekt, die sich in Interaktionen mit anderen Akteur*innen - intersubj ektiv - mittels kommunikativer Prozesse herausbildet (Mead 1987: 241 ff.). Das Bewusstsein als komplexen Gegenstand (ebd.: 66), der nur in einer objektiven Welt existieren konne und stets an die (Sinnes-)Wahrnehmung gekoppelt sei (ebd.: 153), unterscheidet er weiter in ein rein physiologisches und ein ,Selbst-Bewusstsein‘. Letzteres ginge uber die bloBe reflexive Wahrnehmung (ebd.: 154) hinaus und konne mit dem ,Identitatsbewusstsein‘ gleichgesetzt werden, da es das physiologische Bewusstsein und die Identitat miteinander verbinde (ebd.: 215). Sprache als Kommunikationsmittel lasst er bei der Identitatsentwicklung die wichtigste, aber auch Gesten und Symbolen als „sinnvolle[r] Sprache“ eine bedeutende Rolle zukommen (ebd.: 183).

Das Konzept der Transidentitat impliziert zwar keine ,Abweichung‘ oder eine ,Storung‘ der Sexualitat, wohl aber das Empfinden der Betroffenen, ,im falschen Korper zu stecken‘ (vgl. Smith et. al. 2005). Korper werden dabei aber weiterhin im heteronormativen Schema von ,mannlich‘ und ‘weiblich‘ konzipiert, ebenso wie Geschlechtsidentitaten. So wird bei Transidenten zwischen genau zwei, namlich Mann-zu-Frau- (MzF) und Frau-zu-Mann-Identitaten (FzM) unterschieden. Ob diese Divergenz zwischen sex und sex-category/gender im spateren biografischen Verlauf der Betroffenen operativ und/oder hormonell ,korrigiert‘ wird, spielt keine Rolle, doch fugt es sich nahtlos in das heteronorm-binare Geschlechtssystem ein.9 Geschlechtsidentitat wird hier als konstant verstanden und als eine, die sich nur auf eines der beiden Geschlechter beziehen kann, selbst wenn sie ,abweicht‘.

Das Transgender-Konzept, das der Queer Theory entstammt, jedoch stellt einen Gegenentwurf zur Transsexualitat und - identitat dar. Wie bereits in Kapitel 2.2 erwahnt, ist Identitat in der Queer Theory keine ontologische und starre Tatsache, sondern ein grundsatzlich veranderbares, flexibles soziales Konstrukt. Das gleiche gilt fur die Geschlechtsidentitat (gender).

Die Kategorie ,Transgender‘ schlieBt all diejenigen mit ein, die vom gangigen heteronormativen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschema in Bezug auf Geschlecht abweichen, die es ,queeren‘. So ist zum Beispiel moglich, dass eine Person sich mit gar keinem Geschlecht identifiziert (,Agender‘) und somit eine Geschlechtsidentitat fur sich ablehnt oder dass sie sich als Angehorige eines ,dritten Geschlechts‘ (Third Gender,,Neutrois‘) definiert und eine Geschlechtsidentitat auBerhalb des binaren Systems fur sich reklamiert. Moglich ist auch, dass eine Person sich mit beiden Geschlechtern gleichzeitig oder im Wechsel miteinander (,Bigender‘, Androgynitat, ,Demiboy‘, ,Demigirl‘10 ) identifiziert, sodass sie ihre Identitat zwar innerhalb des binaren Geschlechtersystems verortet, dieses jedoch als Kontinuum und nicht als ein Entweder-Oder deutet (Richards et. al. 2015). Uberhaupt wird (Geschlechts-)Identitat in der Queer Theory als etwas betrachtet, dass auch fluide (vgl. ,Genderfluiditat‘) oder abrupt gewechselt werden kann. Transmanner und Transfrauen sind ebenfalls eingeschlossen.

,Transgender‘ ist bei all dem eine von eventuellen (Sexual- )Partner*innen unabhangige Identitatsbezeichnung - eine Abhangigkeit entsprache nur der ,Alltagstheorie der Zweigeschlechtlichkeit‘, in der die sexuelle Reproduktion als ,naturliche‘ Vorannahme enthalten ist. Transgender konnen somit grundsatzlich jede sexuelle Orientierung aufweisen.

Weil der interaktionistisch-konstruktivistische Ansatz, der der hier vorliegenden Arbeit zugrunde liegt, Wissen generieren mochte, dass keine vermeintlichen Alltagsgewissheiten - in diesem Falle die ,Alltagstheorie der Zweigeschlechtlichkeit‘ reproduziert, wird das Konzept der Transsexualitat/ Transidentitat hier zugunsten des Transgender zuruckgewiesen.

3. Methodischer Zugang und die Bedeutung von Spielfilmanalysen in der Soziologie

Wahrend in den Geisteswissenschaften seit den 1960er Jahren eine visuelle Wende vollzogen wurde, versaumten die Sozialwissenschaften diese zunachst (Peltzer 2011). In den vergangenen Jahren scheint sich jedoch endlich auch eine „visuelle Soziologie“ (Raab 2008) als Methode fur gesellschaftsanalytische Erkenntnisse zu etablieren. Die Bedeutung von visuellen Medien fur und bei der Konstruktion von sozialer Realitat hat Eingang in die Debatten einer sich formierenden Filmsoziologe gefunden. Zentral fur diese ist die Analyse des visuell-auditiven Materials. Bisher wurden vorzugweise Fernsehshows analysiert (Scholz et. al. 2015), Spielfilmanalysen jedoch sind noch rar. Dabei sind Filme ein „globales Massenphanomen“ (Heinze/ Moebius/ Reicher 2012: 7) und bieten als solches einen komplexen Zugang zur Realitat (Schroer 2012). Wie fur die Medien insgesamt gilt fur Spielfilme als wichtigstes Medienformat moderner Gesellschaften umso mehr, dass sie an der Konstruktion der sozialen Wirklichkeit beteiligt sind. Filmgeschichte konne als „umfassende Geschichte der Sinnproduktion und Sinnzirkulation in modernen Gesellschaften begriffen werden“ (Engell 2006: 49) und wirke sozialintegrativ (vgl. Mikos 2001). Die Analyse von Filmen lasst kulturelle Normen und Leitideen erkennen. Diese konnen durch Filme plausibilisiert und stabilisiert oder auch kritisiert werden. Die Strukturen und Konflikte, die dabei ersichtlich werden, sind als ,Fiktivum‘ zwar keine Eins-zu-Eins-Abbildung der sozialen Realitat, sind von dieser aber nie entkoppelt. Entstehung und Rezeption sind in der sozialen Realitat verankert und transferieren diese in die fur das Medium Film spezifischen semiotischen und asthetischen Strukturen (Mai 2006). „Filmische Realitat ist“, ganz im Sinne des Konstruktivismus hier als eine „keineswegs [...] im fiktiven Raum verbleibende, sondern eine in andere Wirklichkeiten hinreichende Wirklichkeit“ (Schroer 2007: 10) zu betrachten.

Dass Spielfilmanalysen in der Soziologie immer noch ein „Desiderat“ darstellten, sei vor allem auf methodische Schwierigkeiten zuruckfuhren: Erstens sei die Aufarbeitung des Datenmaterials in Form von Protokollen und Transkriptionen sehr aufwendig (Scholz et al. 2014), zweitens gebe es noch ungeklarte Punkte in Bezug auf die Arbeit mit Spezifika des Films wie zum Beispiel seiner Dialoge, die anders als reale Dialoge, der filmischen Narration folgten (vgl. Schmidtke/ Schroder 2012).

Der Spielfilmanalyse in dieser Arbeit liegt, wie eingangs erwahnt, die ,Systematische Filmanalyse‘ Kortes zugrunde, die als methodischer Leitfaden diente. Korte weist auf die Komplexitat filmischer Bedeutungsvermittlung hin (Korte 2004: 14) und schlagt darum eine mehrdimensionale Analyse vor, bei der der Spielfilm auf seine Film-, Bedingungs-, Wirkungs- und Bezugsrealitat hin untersucht werden soll (ebd.: 23). Fur die Analyse dieser Arbeit wurden zunachst fur jeden der beiden Spielfilme Einstellungsprotokolle erstellt. Dabei handelt es sich um eine sehr umfangreiche Variante der Transkription und Dokumentation des filmischen Inhalts, fur die die einzelnen Einstellungen als kleinste filmische Einheit die Basis bilden. Auf visueller, auditiver, formaler und stilistischer Ebene wurden alle wesentlichen Informationen tabellarisch notiert. Die Entscheidung fur ein Einstellungs- statt fur ein (weniger differenziertes) Sequenzprotokoll und fur eine vollstandige statt einer partiellen Dokumentation erschien vor dem Hintergrund der Fragestellung und den jeweils spezifischen Filmaufbauten angebracht. Die Einstellungsprotokolle (s. Anhang) wurden jeweils mit einer fortlaufenden Nummerierung der einzelnen Einstellung versehen und der Beginn der jeweiligen Einstellung in Stunden, Minuten und Sekunden11, die Kameraaktivitaten (EinstellungsgroBen, Kamerabewegungen, Kameraperspektiven), der Inhalt (Beschreibung des Bildinhaltes, Beschreibung des Handlungsablaufes, Transkription der Dialoge) und Ton (Musik, Gerausche) dokumentiert. Anders als Korte es vorschlagt, erfolgte in dieser Arbeit eine Dokumentation der Dialoge in der gleichen Rubrik wie Bildinhalt und Handlung, da diese nicht wirklich von der ubrigen Handlung getrennt werden konnen. Die Dokumentation der Kameraaktivitaten erfolgte vor allem in Bezug auf die EinstellungsgroBen, da den Kameraperspektiven und Kamerabewegungen fur die beiden hier analysierten Filme und vor dem Hintergrund der Fragestellung keine allzu groBe Bedeutung fur die Narration und Aufmerksamkeitslenkung zukam, weshalb sie nur teilweise erfasst wurden. Mit Hilfe dieser Protokolle wurden eine filmimmanente Untersuchung bezuglich des Plots, des Filmverlaufs, seiner formalen und stilistischen Gestaltung und der Informationslenkung vorgenommen. Diese Analyse der Filmrealitat wurde durch die Recherche technischer Daten erganzt. Die Bedingungsrealitat, der historisch-gesellschaftliche Kontext also, in dem die beiden Filme erschienen sind, wurde hier bereits in der theoretischen Vorarbeit dargestellt. Die Wirkungsrealitat wurde in Bezug auf das intendierte Zielpublikum, die zeitgenossische Rezeption, die generierten Einnahmen, die Laufzeiten und -orte und die Intention der Produzent*innen hin untersucht. Ausgangspunkt fur das hier vorliegende Verstandnis von Rezeption war die Deutung von ,Film‘ als Kommunikationsangebot, in dem das Medium und seine Rezipient*innen in einem interaktiven Prozess miteinander stehen (Mikos 2001: 18).

Zuletzt erfolgte eine Analyse der Bezugsrealitat, das heiBt die Bearbeitung der Frage, in welcher Relation die filmische Darstellung des Problems (doing gender im interaktionistisch- konstruktivistischen Sinne) zu seiner realen Bedeutung steht. Dabei wurde vergleichend vorgegangen. Im folgenden Kapitel sind auch zwei kurze Inhaltsangaben der beiden Filme enthalten, da bei der Analyse in Bezug auf die Fragestellung nur auf die Einstellungen und Szenen eingegangen wurde, die sich fur die Fragestellung als relevant erwiesen haben. Untersucht wurden dabei die Selb stwahrnehmung Ludovics und Laures, der beiden jeweiligen Protagonist*innen der Filme, die Art und Weise wie sie sich selbst in ihrer Geschlechtsidentitat darstellen oder darzustellen versuchen, wann und wie ihnen diese Darstellung gelingt und wann und warum nicht, wie sie von ihren Interaktionspartner*innen wahrgenommen werden, mit welchen Argumenten die beiden Figuren in ihrer Geschlechtsidentitat nicht bestatigt werden, inwieweit sie Zweigeschlechtlichkeit als Wissenssystem bereits internalisiert haben oder nicht und wie vertraut die beiden mit gangigen Geschlechterrollen sind - das heiBt: Wie der Attributionsprozess von Geschlecht, im interaktionistisch-konstruktivistischen Sinne von doing gender, bei ihnen von statten geht.

Weil die genannten Dimensionen sich in den realen Analyseschritten jedoch uberschnitten haben und eine eindeutige Differenzierung erschweren und vor dem Hintergrund, dass eine umfassende Analyse angestrebt wird, ohnehin nicht intendiert ist, wurde auf eine Verwendung von Unterkapiteln in 4. verzichtet.

4. Die interaktionistische Konstruktion von Geschlecht in ,Mein Leben in Rosarot‘ und ,Tomboy‘ (Analyse)

,Mein Leben in Rosarot‘ ist dem Genre des Dramedys zuzurechnen. Er ist 1997 in Frankreich unter dem Originaltitel ,Ma vie en rose‘ und spater in 25 weiteren Landern12 erschienen. Drehbuch und Regie des 88-minutigen 3 5-Milimeter-Farbfilms stammen von Alain Berliner. Der Film wurde in seinem Erscheinungsj ahr auf zahlreichen Festspielen prasentiert - unter anderem auf dem New York Filmfestival13, was zu einer, fur einen franzosischen Independentfilm, vergleichsweise breiten Rezeption und hohen Popularitat in den USA fuhrte (Einnahmen in den USA 1998: 2,3 Mio. USD) Er wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Golden Globe 1998 in der Kategorie ,Bester fremdsprachiger Film‘ und gilt als „first cinematic exploration of gender identity in young children“ (Stone 1998).

,Mein Leben in Rosarot‘ handelt vom siebenjahrigen Transmadchen Ludovic Fabre, der gerade mit seinen Eltern Hanna und Pierre und seinen Geschwistern Zoe, Thom und Jean neu in eine Vorortsiedlung gezogen ist. Die Eltern richten eine Gartenparty fur die gesamte Nachbarschaft aus, um sich bekannt zu machen. Ludovic prasentiert sich den Gasten geschminkt in einem Prinzessinnenkleid und wird von den Anwesenden irrtumlich fur Zoe und somit fur ein Madchen gehalten. Als sich herausstellt, dass Ludovic nicht Zoe und ein Junge ist, ist die Nachbarschaft zunachst uber den ,Auftritt‘ vom „Meister der Uberraschungen“, wie Pierre ihn charakterisiert, amusiert.

Doch Ludovic ist kein Junge, der sich ab und an und nur zum SpaB als Madchen ,verkleidet‘, wie Hanna und Ludovics GroBmutter Elisabeth glauben, sondern uberzeugt davon, noch ein Madchen zu werden.

Er verliebt sich in seinen Nachbarn und Klassenkameraden Jerome, den Sohn von Pierres Vorgesetztem Albert. Albert ist es, der Pierre und somit die Fabres in die Vorortsiedlung bringt, als er ihm einen Posten unter sich gibt. Albert und seine Frau Lisette pflegen streng konservative Werte, spater entpuppt Albert sich homophob14. Als Lisette eines Tages beobachtet, wie Ludovic, erneut in einem Prinzessinnenkleid, Jerome im Spiel ,heiratet‘ und Jerome bereitwillig mitmacht, werden die Restriktionen, die Ludovic auferlegt werden, um sich in seiner Identitat darzustellen, immer unuberwindbarer.

Albert beginnt Pierre zu schneiden und droht Jerome damit „in die Holle zu kommen“, wenn er sich weiter mit Ludovic abgibt. Albert glaubt inzwischen, dass Ludovic homosexuell ist und furchtet, dass er Jerome ,verfuhren‘ konnte.

Hanna und Pierre, denen bereits der Vorfall vor den Nachbarn bei der Gartenparty peinlich war, greifen nach der ,Hochzeit‘ ein und schicken Ludovic zu einer Psychotherapeutin. Sie erhoffen sich, dass sein ,abweichendes Verhalten‘, das fur ihn als einen Siebenjahrigen nicht langer tolerierbar sei, auf diesem Wege bald sein Ende findet.

Pierre gerat unter Druck, da er furchtet von Albert wegen Ludovics Verhalten entlassen zu werden. Nach einem Gesprach mit Albert glaubt er, dass Ludovic ,verweichlicht‘ sei, weil er sich zu wenig Zeit fur ihn nehme. Daraufhin schickt er ihn zum FuBball und versucht ihn zu Harte und ,Mannlichkeit‘ zu erziehen.

Ludovic ist sich bis zu seinem Besuch bei der Psychotherapeutin nicht bewusst, dass er ein ,Junge‘ ist. Er bemuht sich wegen zunehmender Schuldgefuhle seinen Eltern gegenuber, die Rolle des Jungen anzunehmen, imitiert das Verhalten seiner Bruder und mannlichen Mitschuler und sperrt seine Puppen weg, scheitert jedoch. Sophie, eine andere Nachbarin und Klassenkameradin will ihn nicht kussen, weil sie ihn als „Madchen“ betrachtet und nach einem FuBballspiel wird Ludovic in der Umkleidekabine von seinen Mannschaftmitgliedern wegen seiner ,Abweichung‘ verprugelt.

Weil er weder von den Madchen noch von den Jungen in seinem sozialen Umfeld als Junge akzeptiert wird, und sich selbst auch nicht als Junge fuhlt, von den Erwachsenen aber dazu genotigt wird, gerat Ludovic in eine Identitatskrise. Letztlich erklart er sich die Tatsache, dass er im Korper eines Jungen geboren wurde als „wissenschaftliche[n] Irrtum“ - Gott wollte, dass er ein Madchen wird, doch sei ihm bei der Verteilung der X- und Y-Chromosomen ein Fehler unterlaufen und so sei er zum „Madchenjunge[n]“ geworden. Der „liebe Gott“ werde diesen Fehler jedoch bald berichtigen, ist er uberzeugt.

Als er bei der Schultheaterauffuhrung von ,Schneewittchen‘ Sophie als weibliche Hauptrolle in der Toilette einsperrt, um ihren Platz einzunehmen, wird er von Jerome, der den Prinzen spielt, vor dem Publikum entlarvt. Die Fabres werden vom Schulhof gedrangt, von den Partys in der Nachbarschaft ausgeschlossen, Ludovic per Petition durch die Elternschaft seiner Klasse der Schule verwiesen und Pierre verliert seinen Arb eitsplatz. Doch bleibt der uberraschend zuversichtlich - bis nicht zusammenbricht, als eine unbekannte Person sein Haus mit homophoben Parolen („Schwule raus!“) beschmiert. Hanna, die Ludovic fur eine „Schwuchtel“ halt, macht ihn fur den Schaden, der der Familie zugefugt wurde, verantwortlich und schneidet ihm zur Strafe, unter den Augen der Familie, die Haare kurz und bricht damit ein Versprechen. Ludovic verliert sein Vertrauen in Hanna und zieht fur eine Weile zu seiner GroBmutter.

Als Pierre eine neue Stelle in Clermont-Ferrand antritt, zieht Ludovic wieder zu den Fabres. Er lernt dort Christine kennen, die sich als Transjunge erweist. Als Christine Ludovic bei ihrer Geburtstagsparty dazu zwingt mit ihr das Kostum zu tauschen - sie tragt ein Prinzessinnenkleid, er das Kostum eines Musketiers - und Hanna das mitbekommt, eskaliert der Konflikt zwischen Hanna und Ludovic in bis dahin ungekanntem MaBe. Als Hanna realisiert, dass die neuen Nachbar*innen an Christines und Ludovics Verhalten nichts AnstoBiges finden und stattdessen sie und ihre Reaktion verurteilen, kommt ihr die Erkenntnis, Ludovic Unrecht getan zu haben. Nachdem er davonlauft und sie ihn aufgebracht sucht, kommt es zu einem Sturz, bei dem sie das Bewusstsein verliert. Als sie wieder zu sich kommt, versohnen sie und Pierre sich mit Ludovic, indem sie ihn endlich als ihr „Kind“ und nicht mehr langer als „Jungen“ bezeichnen. Pierre raumt Ludovic gegenuber, der das Prinzessinnenkleid auszuziehen bereit ist, dass er machen solle, was ihm „SpaB“ mache.

RegelmaBig fluchtet Ludovic sich in (Tag-)Traumen in die „Welt der Pam“, der fiktiven Welt einer Modepuppe, die stark an Barbie erinnert, ihre eigene Fernsehserie und magische Krafte hat. Ihre Welt vermischt sich regelmaBig mit der fantastischen Gedankenwelt Ludovics, eine bunten, kindlich vereinfachten Welt, in der er von sich und Jerome als Braut und Brautigam traumt. Hier, aber auch bei zahlreichen anderen Gelegenheiten, schopft Berliner die Stilmittel des Mediums Film voll aus: Mal lasst er Pam in Ludovics Traumen (611: 01:11:20 f.), mal in einer Mise en abyme15 (123: 00:14:16 f.) erscheinen, als Ludovic sich der Situation nach Lisettes Zusammenbruch gedanklich entzieht, andere Male scheint ihre mit der ,realen‘ Welt, die uns gezeigt wird, zu verschwimmen, wenn sie etwa durchs Fenster schwebt (167: 00:22:18 f.) oder wenn sie zum Schluss, wenn die Kamera nach oben in den Himmel schwenkt, erscheint um uns zuzublinzeln (Metalepse) (718: 01:21:38). Die eingebettete wird mit der rahmenden Erzahlung so verflochten, dass das Publikum am Ende den Eindruck hat, eine Folge aus der ,Welt der Pam‘ gesehen zu haben. Fantastische und ,reale‘ Elemente verschwimmen auch, als das Kleid aus dem Koffer der Fabres in den Himmel emporsteigt als sei es ein Drachen an einer unsichtbaren Schnur (627: 01:13:28) oder wenn wir bei der ,Hochzeit‘ Ludovics und Jeromes Kirchenglocken horen (153: 00:21:15, 155: 00:21:29).

Bemerkenswert ist die Farbsymbolik, derer Berliner sich bedient: Zu Beginn des Films sehen wir auffallend viele Gegenstande in Orange und Gelb, oder Personen, die orangefarbene und gelbe Kleidungsstucke tragen. Im Laufe des Films werden diese zunehmend durch Blau und WeiB ersetzt. Ab Filmminute 00:46:04, nach dem ,Eklat‘ um das Schultheaterstuck, sehen wir die folgenden Szenen durch einen blauen Filter.

Berliner kann die sich im Farbkreis komplementar gegenuberstehenden Farben Orange und Blau nicht zufallig gewahlt haben. Vielmehr scheinen sie ein Symbol fur die zunehmende Desillusionierung Ludovics und der ,Entzauberung‘ seiner kindlich-naiven Welt durch die feindselige Haltung seiner Umwelt zu sein.

Berliner bedient sich auch anderer Symbole - mal plakativer, mal subtiler: Da ist etwa der tropfenformigen Perlenohrring, der von Ludovics Ohr zu Boden fallt als sei er eine Trane (56: 00:07:45) und der als ,boses Omen‘ fungiert oder das Motiv des Schleiers, das jeweils dann auftaucht, wenn die Erwachsenen Ludovic fur ein Madchen halten (46: 00:07:10, 375: 00:44:32).

Auch mit der Musik, mal mit, mal ohne Gesang, transportiert er die Gefuhle der Figuren - die tranceartige Melodie in 561: 01:06:05 etwa, als Ludovic das Haareschneiden als Strafe uber sich ergehen lassen muss.

Zielpublikum von ,Mein Leben in Rosarot‘ waren ursprunglich Kinder und Familien. Das wird nicht zuletzt daran erkennbar, dass die Normalkamera, wenn Ludovic oder andere Kinder in den Einstellungen erscheinen, in den meisten Fallen auch auf ihrer Augenhohe liegt. Doch bearbeitet der Film ein ernstes Thema.

Wohl auch deshalb bedient sich Berliner der Symbolsprache, komischer und fantastischer Elemente. So wird Ludovics erster Suizidversuch (482: 00:56:05) auf Dialogebene nicht weiter thematisiert, was insofern auffallt, weil ,In mein Leben in Rosarot‘ sonst viel uber die verbal-dialogische Ebene transportiert wird. Hannas Angst, dass Ludovic erneut versuchen konnte sich etwas anzutun, nachdem sie ihn auf Christines Geburtstagsparty geschlagen hat, wird ebenfalls fur das junge Publikum zutraglicher gemacht, indem Ludovic statt auf der ,realen‘ SchnellstraBe, auf der in der ,Welt der Pam‘ gezeigt wird. Es bleibt auch unklar, ob Hanna nur befurchtet, dass Ludovic auf die StraBe rennen konnte oder ob er es tatsachlich tut. In der offentlichen Rezeption stellte diese Beschonigung teilweise einen Kritikpunkt dar (Holden 1997), wobei die sowohl das Zielpublikum als auch die stilistische Ausrichtung des Films (in Anlehnung an eine Kinderserie vergleichbar mit der ,Welt der Pam‘, in der sich die Handlung charakteristischerweise rasch und eher oberflachlich vollzieht) nicht genugend beachtet wurden.

Daruber hinaus ist ,Mein Leben in Rosarot‘ ein sozialkritischer Spielfilm. Er will zeigen, wohin es fuhren kann, wenn einem Individuum die Strategien seine Identitat gegenuber seiner sozialen Umwelt zu behaupten, ausgehen. Hannas Blick in Richtung Publikum, als sie, Pierre und Ludovic sich versohnen (717: 01:21:20) und Ludovics Aussage, dass seine Eltern ihn „trotzdem liebhaben“ (414: 00:48:51) sollen, sind als deutliche moralische Appelle an das Publikum zu verstehen.

,Tomboy‘ ist 2011 ganze vierzehn Jahre nach ,Mein Leben in Rosarot‘ erschienen und erzahlt in umgekehrter Konstellation die Geschichte des Transjungen Laure. ,Tomboy‘ ist, wie ,Mein Leben in Rosarot‘, ein franzosischer Independentfilm, Drehbuch und Regie stammen von Celine Sciamma. Bemerkenswert ist das Budget, das mit knapp 1 Million Euro16 als low budget gelten kann. Das 84-minutige Drama (35-Milimeter, Farbfilm) ist bisher - physisch - in 27 Landern17 erschienen und wurde bereits im Jahr seines Anlaufens auf zahlreichen queeren Filmfestival gezeigt und 18 ausgezeichnet18. 2016 wurde der Film als Video-on-Demand auf Netflix einem breiteren Publikum in Deutschland, Italien und Kanada zuganglich gemacht19, reicht in seiner Rezeption und Popularity nicht an ,Mein Leben in Rosarot‘ heran (129.834 USD an Einnahmen im Jahr 201220 ).

Laure ist ein Madchen, das in den Sommerferien mit ihrem Vater, ihrer hochschwangeren Mutter und ihrer kleineren Schwester Jeanne neu in einer GroBsiedlung ankommt. Sie nutzt die Gelegenheit, dass niemand in der Nachbarschaft sie kennt, sich als ,Michael‘ und somit als Jungen vorzustellen. Laure sieht aus wie ein Junge, tragt Jungenkleider und kurze Haare, sie bewegt sich wie ein Junge und kann gut FuBball spielen. Die Kinder in der Nachbarschaft schenken ihr auf Anhieb Glauben, auch Lisa, in die Laure sich bald verliebt. Von seiner sensiblen Seite angetan, verliebt auch Lisa sich in ,Michael‘ und es bahnt sich eine Sommerliebe zwischen den beiden an. Um vor ihren neuen Freund*innen nicht als Madchen aufzufliegen, was ihr beim Urinieren bereits beinahe passiert ware, perfektioniert Laure ihr ,mannliches‘ Verhalten, indem sie die Jungen aus der Nachbarschaft beobachtet und imitiert. Als die Kinder sich zum Schwimmen verabreden, schneidet Laure aus ihrem Badeanzug eine Badehose heraus und stellt eine Penisattrappe aus Knete her, die sie sich in Badehose, legt.

Als sie Robin, einen Nachbarsjungen, verprugelt, nachdem dieser Jeanne geschubst hat, fliegt Laure vor ihrer Mutter auf. Als die erfahrt, dass Laure sich in der Nachbarschaft als Junge vorgestellt hat, greift sie ein: Sie zwingt Laure dazu ein Kleid anzuziehen und sich so vor Robin und Lisa zu zeigen.

Wahrend Lisa den anderen Kindern aus der Nachbarschaft aus Scham nichts erzahlt, lasst Robin sie wissen, dass ,Michael‘ kein Junge, sondern ein Madchen sei. Die Jungen aus der Clique verfolgen Laure und drangen Lisa dazu, ihr die Hose herunterzuziehen und ihr ,wahres Geschlecht‘ festzustellen. Lisa bestatigt, sichtlich enttauscht, dass Laure ein Madchen ist und die beiden ziehen sich jeweils traurig zuruck. Doch am nachsten Tag wartet Lisa auf Laure und verlangt danach, ihren richtigen Namen zu erfahren. Laure offenbart sich ihr daraufhin und wirkt erleichtert.

‚Tomboy‘ steht inhaltlich und mehr noch, stilistisch ist einem harten Kontrast zu ‚Mein Leben in Rosarot‘: Er ist ein atmosphärischer Spielfilm, in dem nur sehr wenige und sehr kurze Dialoge gesprochen werden. Er ist minimalistisch gestaltet, es gibt keinerlei fantastische Inhalte, keinerlei Hintergrundmusik, keinerlei Symbolsprache oder besondere Effekte. Die hohe Anzahl an Totalen, die langen Einstellungen und langsamen Handlungsabläufe vermitteln dem Publikum das Gefühl eines Sommers in der Kindheit, der ewig zu dauern scheint (vgl. French Philip 2011), während die Ereignisse in ‚Mein Leben in Rosarot‘ sich geradezu überschlagen. Anders als in Berliners Film kommunizieren Laure und die anderen Figuren überwiegend nonverbal. So bleibt ‚Tomboy‘ stets im Ungefähren, ebenso wie sein Publikum, das, ebenso wie in ‚Mein Leben in Rosarot‘, vorwiegend ein Junges sein soll, was sich etwa an der Tatsache festmachen lässt, dass die Erwachsenen in ‚Tomboy‘ nur als Figuren am Rande vorkommen. Doch können auch Erwachsene sich mit Laure identifizieren, weil der Abschnitt der Kindheit, die in ‚Tomboy‘ dargestellt wird, eine „Allterweltskindheit“ (Sciamma 2014) ist – orts- und zeitunabhängig ist eine Identifikation mit Laure und den anderen Kindern möglich. Sciamma bezeichnet ihren Film als – im Rahmen der Möglichkeiten des Kinos – politisch und als „praktische[s] Gegenstück“ zu den Gender Studies (ebd.).

[...]


1,unserer‘, ,westlichen‘ Gesellschaften

2 Im englischen Original: Pease Barbara/ Pease Allen: Why Men Don't Listen & Women Can't Read Maps. How We're Different and What to Do About It, New York 2000. Wie kulturspezifisch Geschlechterstereotype sind, wird auch anhand des Unterschieds in der deutschen Ubersetzung (“warum Frauen nicht einparken konnen") ersichtlich.

3 Im englischen Original: Brizendine Louann: The Female brain, New York 2006.

4 Herman, Eva: Das Eva-Prinzip. Fur eine neue Weiblichkeit, Munchen 2006.

5 vgl. etwa: Joel, Daphna: Sex Beyond the Genitalia: The Human Brain Mosaic, in: Proceedings of the National Academy of Sciences 112, Tel Aviv 2015.

6 Die Annahme, dass die Physiologie des Geschlechts ein Kontinuum ist, ist auch in der Biologie durchaus eine gangig (Christiansen 1995, Schmitz 2006).

7 Der Begriff des ,Transgender‘ vereint mehr als nur Mann-zu-Frau- und Frau-zu- Mann-Identitaten unter sich. S. 2.6.

8 Sexualitat wird innerhalb des heteronormativen Konzeptes mit (heterosexueller) Reproduktion gleichgesetzt und die Definition und das Verhaltnis von Mannern und Frauen vor dem Hintergrund der Reproduktion und der fur die Reproduktion notwendigen Organe konstituiert.

9 Und pathologisiert die Betroffenen daruber hinaus.

10 Es existiert eine Vielzahl solcher Selbstbezeichnungen, die hier nicht alle genannt werden. Eine umfassendere Ubersicht enthalt etwa ,Trans, Genderqueer, and Queer Terms Glossary‘ (https://lgbt.wisc.edu/documents/Trans_and_queer_glossary.pdf).

11 Diese Variante erwies sich vor dem Hintergrund der Nachvollziehbarkeit durch andere als die pragmatischere gegenuber eine Angabe der Dauer der jeweiligen Einstellungen in Minuten und Sekunden.

12 Internet Movie Database. In: http://www.imdb.com/title/tt0119590/business?ref_=tt_dt_bus (01.03.2017).

13 Ebd.

14 309: 00:37:46: Als Albert sagt: „Gott hat mir ein Kind genommen, Pierre! Das zweite wird er mir nicht nehmen!", bezieht er sich offenbar auf die bei Ludovic vermutete Homosexualitat und seine Angst, dass er Jerome mit dieser ,anstecken‘ konnte.

15 Mit einer Metalepse ist das fiktionsinterne Uberschreiten der Grenze zwischen Rahmen- und Binnenerzahlung (Martinez/ Scheffel 2007, S. 79 f.) gemeint. Die mise en abyme lasst „Binnen- und Rahmenerzahlung einander wechselseitig enthalten".

16 Internet Movie Database. In: http://www.imdb.com/title/tt1847731/business?ref_=tt_dt_bus (01.03.2017).

17 Internet Movie Database. In: http://www.imdb.com/title/tt1847731/releaseinfo?ref_=tt_ov_inf (01.03.2017).

[18] Ebd.

19 Flixlist. In: http://www.flixlist.co/titles/70197207 (01.03.2017).

20 Internet Movie Database. In: http://www.imdb.com/title/tt1847731/business?ref_=tt_dt_bus (01.03.2017).

Ende der Leseprobe aus 258 Seiten

Details

Titel
Doing Gender. Die interaktionistische Konstruktion von Geschlecht
Untertitel
Eine Analyse der Filme "Mein Leben in Rosarot" und "Tomboy"
Hochschule
FernUniversität Hagen
Note
1,7
Autor
Jahr
2017
Seiten
258
Katalognummer
V509847
ISBN (eBook)
9783346077066
ISBN (Buch)
9783346077073
Sprache
Deutsch
Schlagworte
doing, rosarot, leben, mein, filme, analyse, eine, geschlecht, konstruktion, gender, tomboy
Arbeit zitieren
Josefa Aygün (Autor:in), 2017, Doing Gender. Die interaktionistische Konstruktion von Geschlecht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/509847

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