Formen der wissenschaftlichen Erklärung in den Geisteswissenschaften


Doktorarbeit / Dissertation, 2019

322 Seiten, Note: Gut (2)


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

Einleitung
a)Forschungsstand zum Thema Erklärung
b)Kausalität, Gesetz und Erklärung als miteinander zusammenhängende wissenschaftliche Begriffe
c)Implikationen der Erkenntnistheorie für humanwissenschaftliche Erklärungen
d)Implikationen der Wissenschaftstheorie für humanwissenschaftliche Erklärungen
e)Hempels Verteidigung seines Schemas als auf die Geisteswissenschaften anwendbar

Kapitel 1- Implikationen der Wissenschaftsphilosophie für humanwissenschaftliche Erklärungen
1 a)Erfahrung, Erklärung und Begrifflichkeiten
1 b)Theorieabhängigkeit, Kategorien und Erklärungsprinzipien
1 c)Erklärungen, Modelle und ihr Nutzen

Kapitel 2 - Programm einer speziellen Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften
2b)Klärung des Begriffs Geisteswissenschaft
2c)Bemerkungen über individualisierende Erklärungen
2d)Handlungstheorie und Hermeneutik als paradigmenbildende Theorien geisteswissenschaftlicher Erklärung
2e)Spezielle Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften

Kapitel 3 – Einheitlichkeit der Wissenschaften
3b)Gekonnte Erklärung als Gemeinsamkeit aller Disziplinen
3c)Forschungsgeschichtlicher Exkurs - John Stuart Mills Lehre von den Humanwissenschaften als einem Sonderfall einer einheitlichen wissenschaftlichen Erkenntnis

Kapitel 4 - Der praktische Syllogismus
4b)Kritik an von Wright, Fortführung seiner Position

Kapitel 5 - Hermeneutik
5b)Interpretative Erkenntnis
5c)Gadamer über Klassiker und Aktualität
5d)Gadamer über historische Erfahrung

Kapitel 6 - Methodologien
6b) Kausalanalyse und mögliche Zustände
6c) Stegmüller über Teleologie
6d) Begriffe, logische Struktur und ontologische Implikationen geisteswissenschaftlicher Erklärungen
6e) Vorwegnahme von Motivkausalität in der Geschichte der Psychologie

Kapitel 7 – Die Rolle allgemeiner Gesetze in geisteswissenschaftlichen Erklärungen
7b)Grenzen der ökonomischen Verallgemeinerung als Sonderfall
7c)Spezialfälle gesetzesartiger (funktionstheoretischer) Aussagen in geisteswissenschaftlichen Erklärungen

Kapitel 8 – Einzelfallerklärung
8b)Gesetze in historischen Erklärungen
8c)Handlungstheoretischer Aspekt der Erklärung
8d)Wie oder warum, zwei Zugänge zum Erklären
8e)Die logische Vereinbarkeit logischer und rationaler Erklärungen

Kapitel 9 - Wahrscheinlichkeitsschlüsse und Enthymeme

Kapitel 10 - Die Begründbarkeit von moralischen Urteilen im Zusammenhang mit geisteswissenschaftlichen Erklärungen
10b)Praktische Syllogismen im Vergleich mit anderen Argumenten
10c)Mittel, Zwecke und Paradoxien des Egoismus
10d)Handlungstheorie und Handlungsgründe
10e)Präferenzentscheidungen und Einflüsse auf sie
10f)Selbstverständliches Wissen von Handelnden über Kausalität
10g)Maximen und Moralbegründung als Gegenstand bzw Komponente der Wissenschaften vom Menschen

Kapitel 11 - Das Wesen des Soziokulturellen und seiner Dynamik
11b)Überschneidung von Kausalfaktoren, Zufall und Singularität
11c)Typus, Strukturen und Grenzen der Handlungsmöglichkeiten
11d)Willensakte und Motive als Kausalfaktoren
11e)Darstellungen, Zugänge und Urteile

Kapitel 12 - Klärung des Zusammenhangs zwischen Erzählung und Erklärung
12b)Analytische Philosophie der Geschichte
12c)Beweismaterial und Paradigma als Aspekte geisteswissenschaftlicher Erklärung
12d)Erzähltexte und Erklärungsskizzen
12e)Prognoseprobleme, Handlungsfreiheit und implizite Verallgemeinerungen
12f)Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Erzählungen und geisteswissenschaftlichen Argumenten
12g)Interaktionen zwischen Individuen und Kollektiven

Kapitel 13 - Popper als Vorläufer der Theorie der geisteswissenschaftlichen H-O-Erklärung
13b)Grenzen der Sozialprognose und realistische Planungen
13c)Soziale Strukturen in Wechselwirkung mit zwischenmenschlichen Interaktionen
13d)Soziale Trends im Unterschied zu Entwicklungsgesetzen
13e)Erklärung von Trends durch singuläre Randbedingungen
13f)Methodischer Individualismus und soziokulturelle Möglichkeiten

Ausblick, Zusammenfassung und Nutzanwendung

Abschließende Stellungnahme zu verwendeten Standardautoren

Nachwort

Literaturverzeichnis

Formen geisteswissenschaftlicher Erklärung

Vorwort

Obzwar bereits Berge von Literatur über die theoretischen Grundlagen der Wissenschaften vom Menschen existieren, versucht der vorliegende Text in einem Teilbereich zu mehr Erkenntnis beizutragen. Ausgehend von logischer Analyse will er sich der Beantwortung der Frage nach dem Wesen geisteswissenschaftlicher Erklärungen annähern. Es wird sich zeigen, dass lesenswerte Schriften zu diesem Thema beweisen, dass die Anwendung des Hempel-Oppenheim-Schemas (im Folgenden mit H-O-Schema abgekürzt) auf die Geisteswissenschaften wenigstens eine mathematische Menge der möglichen Verursachungen erkennbar macht.

In das Vorwort sind auch Gedankengänge aus einem Sammelband eingeflossen, welcher sich mit Fragen des Verhältnisses von Teil und Ganzem in der Geschichtswissenschaft befasst. Besonders haben mich Ansätze zu einer allgemeinen Systemtheorie angeregt, welche die Wechselwirkungen zwischen den Elementen komplexer Systeme thematisieren (vgl die Autoren: Acham; Schulze 18). Können wir nicht vermuten, dass manche Interaktionen in unserer Sozialwelt an die unberechenbaren Zusammenstöße der Kugeln beim Lottospiel erinnern? Dieses Gleichnis ermöglicht uns eine anschauliche Vorstellung des zu lösenden wissenschaftstheoretischen Problems, wie es möglich ist, dass Geisteswissenschaftler das ihnen vorwiegend aus Quellen bekannte Individuelle an Hand allgemeiner Prinzipien für Veränderungsmöglichkeiten interpretieren. Der in der Wissenschaftsgeschichte wiederholt aufgekommene Ruf nach einer Kombination von Geschichte und Sozialpsychologie wird dadurch wieder aktuell, ohne jedoch unwiederholbare Faktoren wie die biographische Prägung der an Geschichtsprozessen beteiligten Individuen zu entwerten (aaO 21).

Dass man die Bedeutung des Einzelwillens weder über- noch unterschätzen soll, ließe sich an vielen Beispielen zeigen, angefangen von der Wirtschaftsgeschichte (Böhm 68). In dieser gilt wie auch in der Geistesgeschichte, dass sich der Einfluss des Individuums regelmäßig in Grenzen hält. Allein das Problem der unbeabsichtigten Handlungsfolgen und die selbstverständliche Berücksichtigung möglicher Tätigkeiten und Reaktionen anderer zeigt, dass bei geisteswissenschaftlichen Erklärungen Faktoren aller Art zusammenwirken können und individuenzentrierte Thesen über soziale Prozesse zu kurz greifen.

Soziologische Handlungstheorien haben wertvolle Vorarbeiten geleistet. ZB machte Karl Acham darauf aufmerksam, dass sie über die Bedingtheit sozialer Strukturen durch individuelle Absichten und typische Verhaltensweisen ebenso reflektieren wie über die Beeinflussung von Einzelnen und Kulturen durch übergeordnete Systeme. Diese komplexe Wechselwirkung lässt sich nachvollziehen, indem man das H-O-Schema sowohl auf Meinungsbildung als auch auf Traditionen bzw Interaktionen anwendet.

Eine derartige Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften widerspricht indes nicht der Ansicht Arthur Schopenhauers, der Verlauf der Weltgeschichte lasse sich nicht aus einem System herleiten (vgl Acham 81). Denn insofern nur die Möglichkeiten der Einflussnahme im soziokulturellen Bereich die Bedingungen sind, welche historische Veränderungen erklären, handelt es sich dabei um Regeln mit Ausnahmen.

Übergeordnete soziokulturelle Systeme bzw Makrostrukturen scheinen durch chaotische Schwankungen zu entstehen (aaO 84). Dies muss daran liegen, dass es um indeterminierte Systeme mit mehreren Freiheitsgraden sowie um Entwicklungsmöglichkeiten geht, in welchen nicht alles Denkbare realisierbar ist. Ich halte jedenfalls die übliche sozialphilosophische Ansicht für bewiesen, dass es den genetischen Mutationen analoge Fluktuationen der Formen menschlichen Zusammenlebens gibt (vgl aaO 85-86). Wenn das der Fall ist, müssen sich Verhaltensweisen durchsetzen, welche sich in irgendeiner Hinsicht bewährt haben. Die soeben angeführte Annahme einer kulturellen Evolution widerspricht nicht dem Diktum Wilhelm Diltheys, dass sich Geisteswissenschaften mit Phänomenen des Erlebnisausdrucks beschäftigen (aaO 93). Sie verändert lediglich die hermeneutische Perspektive, indem sie nach den ermöglichenden Bedingungen von seelischem Erleben und kulturellem Ausdruck fragt. Darum schließen sich meine Recherchenergebnisse zur Gänze der These Achams an, dass Geschichte und systematische Sozialwissenschaften auf einander angewiesen sind: Es muss nicht nur eine Logik der Ereignisse geben, sondern auch spezifische Umstände einzelner Vorfälle wie die konkreten Bedürfnisse und wertenden Vorlieben der soziokulturell Handelnden.

Ich behaupte, dass es eine zT apriorische Erkenntnis der Bedingungen historischer Möglichkeit geben muss. Wie könnte man andernfalls ohne Willkür über das Wesentliche für die Beschreibung und Erklärung geisteswissenschaftlicher Forschungsgegenstände entscheiden? Quellen setzen der deutenden Kreativität Grenzen, obwohl ihre Interpretation mit Hilfe der Gesamtheit aller humanwissenschaftlichen Erkenntnisse fruchtbare Einsichten liefert (vgl aaO 100).

Muss man sich Achams Behauptung nicht anschließen, dass einem gerade die Beschäftigung mit typischen Konstellationen und Handlungsverläufen das Bewusstsein für Neuartiges in der Weltgeschichte schärft? Die Rekonstruktion der Absichten historischer Akteure und die Beschäftigung mit Alternativen zum faktischen Geschichtsverlauf sind für mich integrale Bestandteile des hier zu erörternden Paradigmas der geisteswissenschaftlichen Erklärung von Einzelereignissen ausgehend von soziokulturellen Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten (vgl aaO 104-106).

Diese ganzheitliche Zugangsweise zu geisteswissenschaftlichen Fragen beleuchtet zugleich mit den Bedingungen soziokultureller Ereignisse die Verflochtenheit kleinerer und größerer Gruppen bzw Strukturen, welche einander gegenseitig ermöglichen sowie auf Individuen aufbauen (vgl Meier 125-126). Ausdrücklich sei aber im Anschluss an eine lange Tradition der objektiven historischen Darstellung davor gewarnt, logisch-empirisch nicht überprüfbare Spekulationen als schematische Erklärungshilfen zu verwenden. Bloß was ist der Zweck historiographischer Neudarstellungen, wenn nicht die Ersetzung chronikartiger Schilderungen von Aufeinanderfolgen durch möglichst ausführliche Kausalanalysen?

Für meine Behauptungen sprechen auch Beispiele aus der Wissenschaftsgeschichte: Schon im Zeitalter der Aufklärung gingen Gelehrte von der menschlichen Natur und ihren Trieben aus (Reill 162), welche in Abhängigkeit von Individuen und ihren Lebensumständen modifizierbar sind sowie die Möglichkeit struktureller und kultureller Veränderungen erklärbar machen. Allerdings besteht die hier zu erörternde Kunst des Historikers darin, dass derartige Erklärungen nicht auf bloßen Analogieschlüssen aufbauen, sondern zumindest auf einem als solchen erkennbaren trivialen statistischen Zusammenhang.

Schon Aristoteles schrieb historischen Wissenschaften eine Schwerpunktsetzung auf das Besondere zu. In der Tat bilden gerade Einzelfälle das Explanandum, wenn wir geistes- wissenschaftliche Kausalerklärungen analysieren. Ich glaube wie Wilhelm von Humboldt, dass die einzigartigen Situationen des soziokulturellen Wirklichkeitsbereichs die Sphäre des für uns Menschen Gestaltbaren darstellen. Nur ein verstehender Ansatz wird dem Indeterminierten und Einzigartigen an der kulturellen Evolution gerecht. Ist das konträre Weltbild, unsere heutigen Institutionen seien eine notwendige Folge der Naturgesetze und der Planetenentstehung, nicht offensichtlich absurd?

Johann Gustav Droysen meinte diesbezüglich, dass sich die Geschichte auf das Individuelle beschränken solle, da andere Geistes- und Humanwissenschaften wie die Ökonomie für das Allgemeine zuständig seien. Dies ist prinzipiell richtig. Doch halte ich es für notwendig hinzuzufügen, dass eine zeitgemäße Geschichtswissenschaft interdisziplinär arbeiten und daher über ein anthropologisches, institutionentheoretisches etc Wissen bezüglich realer Gestaltungsmöglichkeiten verfügen muss.

Mit dieser Formulierung schließe ich mich dem Standpunkt Wilhelm Windelbands an, dass sich alle Geisteswissenschaften durch ihre besondere, wertende Schwerpunktsetzung von den Naturwissenschaften unterscheiden, nicht aber durch die logische Struktur ihrer Erklärungen. Was die Vergleichbarkeit bzw Ähnlichkeit mehrerer soziokultureller Situationen betrifft, ist zu beachten, dass nur gewisse Aspekte einer Situation schlechthin wiederholbar sind (vgl Bichler 191). Darum hängt es von der Schwerpunktsetzung des Forschers ab, ob sich seine Erklärungen eher individualisierend auf Randbedingungen eines Ereignisses berufen oder systematisch auf gesetzesartige Aussagen. Um zu Erklärungen zu gelangen, benötigen Geisteswissenschaftler auch flexible Allgemeinbegriffe (Schulze 193), um zu beschreiben, inwieweit Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Modifikationen des menschlichen Ausdrucksverhaltens und Zusammenlebens bestehen. Um Einseitigkeiten zu vermeiden, gilt es auch die Spuren des Einzelnen im Sozialleben zu erkennen, wobei übertriebene Konzentrationen auf individuelle Gestaltungsmöglichkeiten wie auch auf Formen sozialer Prägung gleichermaßen Irrwege darstellen (vgl aaO 215).

Historismus und Determinismus sind wie Skylla und Charybdis für eine Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften. Denn ersterer vernachlässigt gesetzesartige Aussagen, während sie letzterer überbetont. Ich bin überzeugt, dass eine kausale Theorie der Variationsmöglichkeiten des Psychischen und Soziokulturellen beide Irrlehren überwindet und einen deutlichen Schritt in Richtung auf das Ziel eines objektiven Verständnisses des Menschlichen geht (vgl Albert 221-222).

Historische Rekonstruktion geht von Quellen aus, greift aber zugleich auf Kausalzusammenhänge zurück; letztere dienen als Mittel zum Zweck der statistischen Einzelfallerklärung (aaO 223). Eben dies nennt man seit Max Weber verstehende Erklärung, welche einfühlendes Verstehen als heuristisches Mittel akzeptiert und hermeneutische Horizontverschmelzung zum Ziel hat, dennoch aber deduktiv-nomologisch vorgeht. Dh in der Wissenschaftstheorie versteht man, um zu erklären, in der Praxis ist es zT umgekehrt.

Ist es nicht intuitiv klar, dass Geisteswissenschaftler regelmäßig von den Vorlieben und Befürchtungen einzelner ausgehen, ohne die Wechselwirkung zwischen Individuen und Gruppenphänomenen aller Art zu vernachlässigen (vgl aaO 235-236)? Hans Albert macht darauf aufmerksam, dass dies bei der Analyse des Einflusses historischer Persönlichkeiten, zB Gesetzgeber, geschieht. In diesem Zusammenhang spielen angesichts der Möglichkeit, aber nicht Notwendigkeit von Neuerkenntnissen wohl auch Zufallsprozesse eine Rolle (vgl aaO 239).

Auch im soziologischen Schrifttum wird gelegentlich auf das Entscheidungsverhalten des Einzelnen rekurriert. Dies kann allerdings ein Element der stillschweigenden Voraussetzungen sein. Zudem wäre es ein Kunstfehler, vom Zusammenwirken der Individuen zu abstrahieren (Mozetič 250). Ich glaube im Anschluss an den Ökonomen Ludwig von Mises, dass uns dies zur apriorischen Erkenntnis einer probabilistischen Handlungs- und Interaktionstheorie befähigt. Indes wäre es ein grobes Missverständnis, mir zu unterstellen, ich hätte soeben für einen psychologischen Determinismus argumentiert. Vielmehr glaube ich wie Karl Popper, welchem das Abschlusskapitel der vorliegenden Arbeit gewidmet ist, dass sich Geisteswissenschaftler mit der Logik der zu erklärenden Situation zu befassen haben.

Liegt es nicht auf der Hand, dass der Verlauf etwa der Philosophiegeschichte das Verhalten von institutionell gebundenen oder wenigstens geprägten Individuen zur notwendigen Voraussetzung hatte? Meine Stellungnahme kann deshalb kein übertriebener Individualismus sein, da auch laut Friedrich Engels die Willensregungen der Einzelnen zu Spannungen führen und nicht unverändert verwirklichbar sind (vgl aaO 264).

Ich behaupte hiermit wie Maurice Mandelbaum, dass es zwar zutreffende Verallgemeinerungen über soziokulturelle Sachverhalte gibt, aus welchen sich aber keinerlei Spekulationen über eine vermeintliche historische Unvermeidlichkeit herleiten lassen (aaO 269). Wenn ich für einen theoretischen Pluralismus eintrete, befürworte ich nicht, dass sich mehrere Theorien auf ein und denselben Aspekt eines geisteswissenschaftlichen Problems beziehen (vgl aaO 271). Wenn die Logik historischer Rekonstruktionen verbessert werden soll, muss daher geklärt werden, ob eher funktionalistische, eher systemtheoretische oder eher entscheidungstheoretische Ansätze zu einer logisch und empirisch bewährten Erklärung beitragen (vgl aaO 273, 276).

Eine weitere Begründung dieser vertieften Bemühungen um eine objektive Hermeneutik ist folgende: Der Sachverhaltsbezug von Texten über geisteswissenschaftliche Probleme äußert sich ua in einer bestimmten Erklärungsform (vgl Elisabeth Ströker 279). Der Hauptunterschied zwischen objektiver und intuitiver Hermeneutik lässt sich dadurch veranschaulichen, dass die an Taschenspielerei grenzende Metapher des hermeneutischen Zirkels verworfen wird. Hermeneutisches Arbeiten gleicht eher einem zickzackförmigen Weg, welcher die schrittweise Korrektur des forschenden Verstehens von menschlichen Lebensäußerungen an Hand ihrer relevanten Kontexte und wesentlicher Bedingungen darstellt (aaO 291). Der vorliegende Text soll auch in kritischer Auseinandersetzung mit Hans Georg Gadamer zeigen, dass die komparativ-induktive Methode der Geistesgeschichte nichts mit „Zirkel“ und „Vorurteil“ zu tun hat. Zu diesem Zweck muss allerdings das allgemein Menschliche in seinen unterschiedlichen kulturellen Spielarten sichtbar gemacht werden (vgl Rüsen 302), damit durch die vergleichende Vorgehensweise nicht lediglich oberflächliche Analogien erarbeitet werden.

Der Zweifel daran, dass sich historische Erklärungen nicht-historischer Erkenntnisse bedienen, ist eine widerlegbare Lehrmeinung. Wer würde etwa leugnen, dass sich marxistische Historiker auch auf ökonomische Gesetzmäßigkeiten beriefen? Zeigt nicht dieses wissenschaftshistorische Beispiel, dass die Geschichtswissenschaft eines Weltbildes und der interdisziplinären Zusammenarbeit bedarf? Diese von mir postulierten zwei Voraussetzungen jeder geisteswissenschaftlichen Erklärung dürfen jedoch weder zu einem pseudowissenschaftlichen Dogmatismus noch zu einem Verkennen des Fachspezifischen entarten (aaO 307).

Disziplinen wie die Geschichte werden durch die Reflexion ihrer Fundamentalkategorien zu einer speziellen Wissenschaftstheorie ihrer selbst (aaO 308). Diesbezüglich wird mir ein besonderes Anliegen sein, die Erzählbarkeit (vgl Kapitel 12) als ein spezifisches Merkmal mancher geisteswissenschaftlicher Forschungsergebnisse aufzuzeigen (vgl aaO 309). Historische Universalien (aaO 314) erlauben uns zudem eine begriffliche Beschreibung aller denkbaren Geschichtsverläufe. Werden reale historische Vorgänge geschildert, ergänzen einander deduktiv-nomologische Erklärung, Beschreibung der Randbedingungen und Erzählung (vgl aaO 316). Dh der erklärende Aspekt ist von anderen Facetten des wissenschaftlichen Schreibens zu unterscheiden, wobei nur das Ineinandergreifen von Kausalität und Zufall dazu führt, dass Geisteswissenschaftler gewisse Entwicklungen am besten als Geschichten darstellen. Trotz diverser außerwissenschaftlicher Einflüsse macht auch in diesem Fall die Argumentationsstruktur bestimmte Behauptungen zu wissenschaftlichen (aaO 318).

Sogar bei Lenin findet sich trotz seines Fanatismus die Einsicht in die Existenz mehrerer möglicher Geschichtsverläufe (vgl Küttler 327). Dies lässt sich so deuten, dass der Erfolg konkreter politischer Maßnahmen ua von der Mitarbeit und den Motiven Einzelner abhängt. Spricht das nicht gegen deterministische Gegenthesen zu meiner Position einer „analytischen Historik“? Um aber möglichst viele Aspekte des Geschichtsverlaufs zu erklären, müssen probabilistische Untersuchungen der funktionalen, motivationalen und genetischen Bedingungsfaktoren zur rein nomologischen Analyse hinzutreten (vgl aaO 336). Umfassende geisteswissenschaftliche Untersuchungen können daher, so Küttler, den Charakter der Ausarbeitung einer spezifischen Theorie annehmen. Die dabei hervortretenden gesetzesartigen Aussagen mit begrenztem Geltungsbereich liefern uU die Antwort auf Fragen wie die, ob eine bestimmte Kulturveränderung primär sozioökonomisch bedingt ist oder im Gegenteil mit anderen soziokulturellen Phänomenbereichen wie der technologischen Entwicklung zusammenhängt (aaO 338).

Diese Arbeit soll anregen, durch Anwendung des H-O-Schemas die Angebrachtheit allgemeiner Gesellschafts- und spezifischer Kulturtheorien objektiv zu überprüfen. Dadurch soll nicht nur einer Beliebigkeit der erklärenden Hypothesen vorgebeugt werden (aaO 346), sondern auch die in der Herleitung vom kulturgeschichtlichen Erbe enthaltenen Werturteile expliziert und zweckrational begründet werden (vgl aaO 343). Im zehnten Kapitel der vorliegenden Arbeit soll darüber hinaus gezeigt werden, dass auch Zwecksetzungen nicht völlig willkürlich sind.

Schon im 18. Jahrhundert war Denkern wie Hume und Schiller indes bekannt, dass das Kausalitätsprinzip sowie die Kenntnis anthropologischer Konstanten die Arbeit guter Historiker leiten (vgl Oexle 358). Macht man diese stillschweigenden Vorannahmen explizit und wendet das H-O-Schema an, hütet man sich vor bloßen Analogien, welche Pseudobegründungen zur Folge haben können. Damit baue ich auf der Tradition Diltheys auf (vgl Kapitel 5), welcher die historische Kontinuität letztlich mit bestimmten mit dem menschlichen Leben verknüpften Bedingungen identifizierte. Lediglich diesen Gedanken verknüpfe man mit der analytischen Geschichtsauffassung Hempels (siehe Einleitung), nicht aber romantische Träumereien über die Erkenntnis eines Weltplans (vgl aaO 365). Obwohl geisteswissenschaftliche Arbeit eine Auswahl aus einem unübersehbaren Daten- und Quellenmaterial impliziert (aaO 369), stellt sie für mich folgende allgemeine Frage: Welche konkreten Umstände und allgemeinen Möglichkeiten bzw Wahrscheinlichkeitsgesetze machen ein soziokulturelles Ereignis verständlich?

Die von mir hiermit geforderten humanwissenschaftlichen Allgemeinbegriffe sind keineswegs mysteriös. Außerdem kann ich mich für sie auf geistesgeschichtliche Vorläufer wie zB Montesquieu berufen: Dieser konnte mit seinem Begriff der Verfassungsform alle spezifischen Formen des höher zivilisierten Zusammenlebens erfassen. Ebenso bezog er sich auf Handlungsmotive, physische Umweltbedingungen, Lebensweisen, Einstellungen und Gebräuche von Menschen. Kurzum, auf Variable, welche im Laufe der Geschichte unterschiedliche Werte annehmen (aaO 379). Variable dieser Art ermöglichen Prognosen von Wahrscheinlichkeiten, aber keine exakten Vorhersagen (vgl Kapitel 13).

Kunstgerechte geisteswissenschaftliche Erklärungen befassen sich systematisch mit allgemeinen Variablen und historisch mit deren „zufälligen“ oder „individuenabhängigen“ Variationen. Andere Vorgehensweisen sind gewissermaßen eine „Docta ignorantia“ (vgl aaO): Etwa Verallgemeinerungen, welche alles historische Geschehen ihrem Schema wie einem Prokrustesbett anpassen, oder auch das Übersehen der zahllosen wechselseitigen Einflüsse bzw Kausalketten.[1]

Einleitung

Zunächst geht es um die Feststellung des Forschungsstandes: Dazu ist es notwendig, sich mit gewissen etablierten Lehrmeinungen der theoretischen Philosophie und Wissenschaftsphilosophie auseinanderzusetzen. Es soll geklärt werden, was unter wissenschaftlicher Erkenntnis zu verstehen sei, um darüber spekulieren zu können, was das Spezifische an geisteswissenschaftlichen Erklärungen ist, die durch ihre logische Form und insbesondere den im Hempel-Oppenheim-Schema dargestellten Syllogismus beweisen, dass sie seriös und objektiv sind und nicht etwa bloß intuitiv. Ausgehend von Standardwerken der theoretischen Philosophie werden naheliegende Parallelen zwischen allgemeinen Möglichkeiten wissenschaftlicher Erklärung und ihren spezifisch geisteswissenschaftlichen Formen aufgezeigt, welche der Autor der vorliegenden Arbeit zT durch Beispiele anschaulich macht.

a)Forschungsstand zum Thema Erklärung

Eine Erklärung nach dem Hempel-Oppenheim-Schema (H-O- oder D-N-Schema) ist dadurch gekennzeichnet, dass aus mindestens einer situativen Anfangsbedingung und aus mindestens einem Gesetz, die zusammen das Explanans ausmachen, logisch das Explanandum, der zu erklärende Sachverhalt, hergeleitet wird.

Man mag einwenden, dass das Wort „Erklärung“ in der Umgangssprache vieldeutig ist, aber nur drei seiner Bedeutungen können gemeint sein, wenn von einer geisteswissenschaftlichen Erklärung die Rede ist, und zwar das Verständlichmachen fremden Handelns, die Einordnung in einen größeren Zusammenhang und die Zurückführung eines Phänomens auf Gesetzmäßigkeiten. Obwohl der dritte Fall das Paradebeispiel einer wissenschaftlichen Erklärung ist, liefern Deutungen und Einordnungen in Zusammenhänge uU auch plausible Kausalhypothesen oder statistisch-induktive Erklärungen, dh mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit zutreffende Erklärungen.

Geisteswissenschaftliche Kausalbehauptungen sollen mE auch die Form des H-O-Schemas aufweisen, so dass die von ihnen zu erklärende Wirkung aus den von ihnen postulierten Ursachen logisch (zumindest mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit) folgt, obgleich Verallgemeinerungen unzulässig bleiben, damit die Wissenschaftlichkeit von Disziplinen wie den Geschichtswissenschaften gesichert ist.[2]

In der wissenschaftstheoretischen Diskussion besteht weitgehend Konsens, dass jede Kausalerklärung die Struktur des H-O-Schemas aufweist, da sie etwas unter Bezug auf Anfangsbedingungen und Gesetzmäßigkeiten erklärt. Allerdings existiert auch ein Diskurs über nicht-kausale Erklärungen, und zwar dispositionelle Erklärungen, in deren Prämissen ein Gesetz vorkommt, dass ausdrücklich auf ein Individuum (bzw auf ein individuelles Objekt) und dessen realisierbare und nicht immer gegebene Eigenschaften Bezug nimmt; weiters genetische Erklärungen, bei welchen ein Ereignis in eine Ereigniskette eingeordnet und mit mehreren Kausalerklärungen verknüpft wird; schließlich intentionale Erklärungen, die expressis verbis auf menschliche Ziele, Motive und Willensregungen eingehen.

Genetische Erklärungen können historisch sein, dh sich auf sich nicht identisch Wiederholendes beziehen, oder systematisch, dh sich unter bestimmten Bedingungen wiederholende Ereignisse zum Gegenstand haben. Intentionale Erklärungen wurden zu Recht von allen Vertretern der Hermeneutik gefordert, weil sie einmaliges menschliches Verhalten am adäquatesten beschreiben. Allerdings fanden analytische Philosophen die zutreffenden Gegenargumente, dass sich menschliche Handlungen so erklären lassen, dass man ihre Motive als Handlungsursachen auffasst und dass sich alles Menschliche mit allgemeinen Begriffen beschreiben lässt, sodass jede humanwissenschaftliche Erkenntnis eine allgemeine Komponente hat, wie sich auch Naturwissenschaften auf Singuläres (wie zB komplex bedingte Wettererscheinungen) beziehen können.

Die hermeneutische Methode des Verstehens basiert nämlich zT auf Analogien zum eigenen Empfinden, sodass sie durch begriffliche Analysen und empirisch-psychologische Untersuchungen abgesichert werden muss, um objektiv zu sein. Die objektive Hermeneutik sucht Verständnis des Besonderen als einer Variation des Allgemeinen.

Georg Henrik von Wright entwickelte das intentionalistische Erklärungsschema (ein von diesem Autor geprägter Fachausdruck), das sich an den praktischen Syllogismus anlehnt, also sich darauf bezieht, was getan werden soll, wenn etwas erstrebenswert ist. In intentionalistischen Erklärungen können auch allgemeine Gesetze vorkommen.

Argumentative Erklärungen sind im Prinzip Sonderfälle des H-O-Schemas, da sie eine logische Herleitung aus etwas Allgemeinem und etwas Besonderem sein müssen. Allerdings ist es auch legitim, nicht-argumentative Erklärungen in wissenschaftlichen Texten zu formulieren, welche sich auf die Motivation eines Handelnden beziehen.

Diese sind aber unvollständige Erklärungen, insofern sie Erklärungen sind, welche ein Gesetz oder Wahrscheinlichkeitsgesetz, zB „Manche Menschen sind von Gier geblendet“, stillschweigend voraussetzen und das Explanans zT unbekannt lassen, oder Erklärungen, die das Explanandum nicht zur Gänze erläutern, oder Erklärungen mit vagen Begriffen oder unabgeschlossene Erklärungsskizzen. Die geisteswissenschaftliche Erklärung wird sich dem Ideal des D-N-Schemas dennoch annähern, sodass ihre Erklärungen in der Regel Sonderfälle dieser logischen Form darstellen werden.

Das Aufzeigen einer wahrscheinlichen Motivation des Handelnden ist der Anfang eines Erklärungsprozesses, wobei berücksichtigt werden muss, dass unbekannte Tatsachen über das Explanans das wissenschaftliche Weltbild modifizieren können, wenn auch in vielen Fällen nur in einem vernachlässigbaren Ausmaß. Pseudoerklärungen enthalten hingegen einen logischen Argumentationsfehler, eine unzulässige Vermengung von Explanans und Explanandum etc[3]

b)Kausalität, Gesetz und Erklärung als mit einander zusammenhängende wissenschaftliche Grundbegriffe

Erklärungen zählen zu den Hauptzwecken der wissenschaftlichen Tätigkeit. Kausalität, Gesetzlichkeit und Erklärung waren im philosophischen Diskurs jahrhundertelang mit einander verknüpft, wobei in der Regel an Naturerscheinungen und an kausale Erklärungen für diese gedacht wurde. Autoren wie Wolfgang Stegmüller beziehen sich ausführlich auf das Hempel-Oppenheim-Schema und stellen fest, dass sich Ereignisse durch den Bezug auf allgemeine Gesetze und zufällige (kontingente) Tatsachen (so genannte Randbedingungen) erklären lassen, während der ausschließliche Bezug auf Gesetze eher Eigenschaften zuschreibt als ein Einzelereignis erklärt. Bei der Überprüfung geisteswissenschaftlicher Erklärungen müssen wir uns an vier Adäquatheitsbedingungen erinnern, welche in der Fachliteratur (Hempel, Stegmüller) genannt werden: 1.) die logische Ableitbarkeit des Explanandum aus dem Explanans; 2.) die Tatsache, dass das Explanans mindestens ein allgemeines Gesetz enthalten muss; 3.) den empirischen und prüfbaren Gehalt des Explanans und 4.) die Wahrheit sämtlicher Aussagen (=Prämissen) des Explanans.

Man wird hinzufügen, dass das Explanandum wahr sein muss und dass aus Gesetzen, wie Nelson Goodman feststellte, anders als aus sonstigen Aussagen irreale Konditionalsätze deduzierbar sind. Dh aus zutreffenden Gesetzesaussagen lässt sich schlussfolgern, was passiert wäre, wenn ein wichtiger situativer Faktor anders gewesen wäre. In der Praxis der wissenschaftskritischen Beurteilung von historischen uä Erklärungen begnügt man sich indes mit Verallgemeinerungen, die keine streng allgemeinen Gesetze sind, welche sozusagen Ausnahmen aufweisen können, weswegen eine derartige Erklärung zu einer bloß statistischen Erklärung wird. Auch in den Naturwissenschaften werden statistische Erklärungen akzeptiert.

Allerdings sind von deduktiv-statistischen die induktiv-statistischen Erklärungen zu unterscheiden. Erstere beziehen sich auf langfristige Wahrscheinlichkeiten des Eintretens von Ereignissen einer besonderen Art, welche logisch aus bestimmten Prämissen folgen. Induktiv-statistische Erklärungen können sich laut Carl Gustav Hempel zwar nicht auf eine ausnahmslose Regel stützen. Sie führen aber zu praktischem Wissen, dass, wenn die erklärenden Prämissen zutreffen, die zu erklärende Konklusion logisch folgt. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn Heilmittel wahrscheinlich zur Genesung des Patienten oder im geschichtswissenschaftlichen Denken militärische Überlegenheit wahrscheinlich zur Niederlage des Gegners führen. Die induktive Wahrscheinlichkeit, die im letzten Satz beschrieben wurde, ist eine Beziehung zwischen dem Explanans (militärische Überlegenheit) und dem Explanandum (militärische Entscheidung, also Niederlage bzw Sieg) und nicht bloß die statistische Wahrscheinlichkeit für das Eintreten des im Explanandum beschriebenen Ereignisses, wie Stegmüller zutreffend feststellt.

Wahrscheinlichkeiten von Ereignissen können sich infolge der Randbedingungen verändern. ZB variiert die Wahrscheinlichkeit einer Reaktion von Politikern auf eine bestimmte Provokation in Abhängigkeit von der jeweiligen Intelligenz. Dieses Problem lässt sich nicht völlig auflösen, aber doch signifikant verkleinern, indem man sämtliche für die Hypothese relevanten Informationen in seine Erklärungsskizze aufnimmt. Überhaupt muss das Explanans präzise formuliert sein, um eine gute induktiv-statistische Erklärung zu erreichen.

Obwohl es lebhafte Diskussionen darüber gegeben hat, lässt sich doch sagen, dass aus induktiv-statistischen Schlüssen die Möglichkeit einer bestimmten Verursachung logisch folgt, wie es folgerichtig ist, dass ein zufällig ausgewähltes Pferd vielleicht bzw wahrscheinlich weiß ist, weil es weiße Pferde gibt. Für historische Ereignisse muss daher eine „Logik des Vielleicht“ postuliert werden. Führt eine bestimmte Politik mit einer Wahrscheinlichkeit von nur einem Zehntel zum Ausbruch eines Religionskriegs, kann sie ihn dennoch verursachen.

Stegmüller behauptet in diesem Zusammenhang im Unterschied zu Hempel, dass mehrere „hinreichend starke“ statistische Informationen zu mehreren gleichwertigen Erklärungen führen können. Statistische Begründungen sind, wenn sie sich auf ein indeterministisches System beziehen, so fährt er fort, niemals sicher wahr. Statistische Analysen von Bekanntem und statistische Begründungen von Unbekanntem liefern, wie Hempel zu Recht feststellt, stets doch die bestmöglichen hypothetischen Erklärungen für Ereignisse in indeterministischen Systemen.

Statistisch-induktive Erklärungen beziehen sich indes nicht auf relative Häufigkeiten von Ereignissen, sondern enden in einer Aussage über die Wahrscheinlichkeit einer Verursachung. Dies erfordert die Abkehr von der Vorstellung einer lückenlos determinierten Kausalkette zu Gunsten einer Kausalitätsauffassung, welche die für geisteswissenschaftliche Erklärungen essentiellen Faktoren Zufall und Willensfreiheit einkalkuliert und für den Ausgangspunkt neuer Kausalketten hält, wozu auch Hempel neigt.

Das führt uns zur Frage zurück, ob es nicht-kausale Erklärungen geben könne: Genetische Erklärungen sind per definitionem eine Verkettung nomologischer oder statistischer Erklärungen, bei denen immer wieder zu erklärende neue Daten hinzukommen, sodass sie keine nicht-kausale Erklärung sein können. Analoges gilt auch für die vor allem von Rudolf Carnap und Gilbert Ryle erörterten dispositionellen Erklärungen, welche ein Ereignis nicht auf ein anderes Ereignis zurückführen, sondern auf eine Dispositionseigenschaft eines Objekts, zB auf die Zerbrechlichkeit eines Trinkglases. Wie Stegmüller zutreffend feststellt, ist dies aber keine nicht-kausale Erklärung, da es sich um eine unvollständige Kausalerklärung handelt, bei der bloß ungesagt bleibt, welche Umstände zur Verwirklichung des durch die Dispositionseigenschaft ermöglichten Vorgangs geführt haben, zB der Umstand, dass das zerbrechliche Trinkglas an die Wand geschleudert wurde.

In den Geisteswissenschaften werden rationale Erklärungen verwendet, welche ein Sonderfall dispositioneller Erklärungen sind. Der Begriff der rationalen Erklärung stammt von William Dray und ist im Prinzip mit dem der intentionalen Erklärung (siehe oben) identisch, da sie Handlungen aus Maximen des Handelns erklärt. Karl Acham führt treffend aus, dass genuin historische rationale Erklärungen ein Sonderfall von kausalen Erklärungen sind. Denn bei der Erklärung historischer Prozesse verwendet man im Explanans der Erklärungsskizze triviale psychologische oder soziologische Gesetze oder setzt diese stillschweigend voraus, wann immer man dem Explanandum wissenschaftlich begegnen will. Zum Beispiel setzt man stets voraus, dass sich geistig normale Menschen überwiegend vernünftig verhalten, worauf bereits Popper hinwies.

Obwohl komplexe Einflüsse auf die Psyche des Handelnden, wie zB durch unterbewusste Prägungen, vorkommen, ist Hempel zuzustimmen, dass Kausalerklärungen die methodologische Einheit der empirischen Wissenschaften ausmachen und in Geisteswissenschaften ebenso wie in der Geschichte den Versuch wert sind, da selbst eher erzählend-beschreibende Chroniktexte gelegentlich in analoger Weise auf Ursachen von Strukturveränderungen wie Erfindungen Bezug nehmen.

Intentionale Erklärungen von Handlungen sind eine notwendige methodische Ergänzung in den Geisteswissenschaften. Sie sind keine nicht-kausale Erklärungsform, weil Ziele Beweggründe des Handelnden darstellen und zur Tat in der Beziehung einer Empfehlung zur Ausführung durch einen historischen Akteur stehen. Der praktische Syllogismus liefert eine logische oder zumindest induktiv-wahrscheinliche Herleitung der Explananda aus den Explanantia, wenn man diesen auch Prämissen über den psychischen Zustand des Handelnden hinzufügt. Daher ist der praktische Syllogismus eine Kausalerklärung, die auf dem hermeneutischen Verständnis historischer Akteure aufbaut.

ME gibt es keine nicht-kausalen Erklärungen in den Geisteswissenschaften, da stets auf eine, wenn auch triviale oder bloß statistische Gesetzmäßigkeit und auf ein zeitlich gleichzeitiges oder vorangegangenes Ereignis Bezug genommen wird, sobald ein historisches Ereignis oder ein kulturelles Phänomen wissenschaftlich nicht beschrieben, sondern erklärt wird. Voraussagen und Retrodiktionen sind gewiss Kausalerklärungen, obwohl bei Unkenntnis der tatsächlichen Ursachen Vorhersagen und Retrodiktionen getätigt werden, die induktiv von Gleichförmigkeiten ausgehen.[4]

Beschäftigen wir uns nun eingehender mit Gesetzesaussagen, welche im Explanans einer geisteswissenschaftlichen Erklärung enthalten sein müssen. Wissenschaftliche Gesetze machen Aussagen über die wesenhaften Eigenschaften einer Klasse von Objekten, womit sie sich von anderen kontingenten Allsätzen unterscheiden. Es gibt neben Naturgesetzen Kulturgesetze, welche sich empirisch bewährt haben, ihren Objektbereich aber in abgeschwächter Form widerspiegeln. Deren Allgemeingültigkeit ist selten im selben Umfang wie bei physikalischen Gesetzen gegeben. Eine deduktiv-nomologische Erklärung wird daher bei vielen geschichtswissenschaftlichen Problemen eine unzureichende Idealisierung mannigfaltiger Erfahrungstatsachen bedeuten und muss unterbleiben, wenn sie nicht als hermeneutisch und statistisch begründete Hypothese gekennzeichnet wird, also als Behauptung mit Wahrscheinlichkeitscharakter.

Es ist unproblematisch, wenn in Kulturgesetzen auch nicht messbare Größen vorkommen, zB in der historischen Sprachwissenschaft die Annahme einer Tendenz zur Sprachvereinfachung bei Sprachkontakt. Sie ist aus den Spuren der Sprachgeschichte in den heutigen Sprachen und aus alten Sprachdenkmälern nachweisbar. Verbesserte Erklärungen kommen der Wahrheit näher, wenn sie sich auf empirisches Material über den Ursache-Wirkung-Zusammenhang beziehen, etwa auf Berichte von Zeitzeugen über die Sprachgeschichte.

Wissenschaftliche Gesetze werden meist als Behauptungsaussagen ausgedrückt, sie können aber in Ableitungsregeln von der Form „Wenn a, dann b“ überführt werden. Historische Erklärungen enthalten laut Dray neben verursachenden Tatsachen (Randbedingungen) letzten Endes Regeln, die durch Bedingungen so spezifiziert werden, dass sie sich nur auf den einen zu erklärenden Fall beziehen. Geschichtliche Kausalerklärung funktioniert demnach durch eine Modifikation allgemeiner Gesetze, wie das auch bei komplizierten nicht identisch wiederholbaren physikalischen Prozessen der Fall ist. Historische Einzelfallerklärungen müssen dennoch ein triviales Gesetz über menschliches Verhalten enthalten, welches durch Zusatzbedingungen nur modifiziert wird, und auch bei zukünftigen Kulturereignissen anwendbar bleibt.

In diesem Zusammenhang muss auf den Unterschied zwischen zufälligen und nomologischen (kausal-erklärenden) Allsätzen hingewiesen werden, wobei zufällige Allaussagen nur für endlich viele prüfbare Fälle relevant sind und keinen Kausalnexus zum Ausdruck bringen. Zufällige Allaussagen für nomologische zu halten, führt zu einer Geschichtsgesetztäuschung (vgl Poppers antihistorizistische Thesen), welche auf der Verwendung von Klischees und bloßen Zufallskorrelationen für Pseudoerklärungen beruht.

Weiters gibt es einen Unterschied zwischen deterministischen Gesetzen, dh ausnahmslosen Allaussagen, und stochastischen Gesetzen, die auf Wahrscheinlichkeits- oder Häufigkeitsaussagen rekurrieren. Im Explanans einer geschichtswissenschaftlichen Erklärung wird uns meist ein stochastisches Gesetz begegnen, weil die von Psychologie und Soziologie beschriebenen Systeme meist indeterministisch sind.

Dies muss man stets im Auge behalten, wenn man zur Erkenntnis vordringt, dass nicht jedes Ereignis der soziokulturellen Realität durch ein deterministisches Gesetz, sondern viel eher durch ein stochastisches Gesetz mitbedingt sein kann. Kausalität auf Grund von Notwendigkeit ist etwa gegeben, wenn Naturkatastrophen eine Kultur auslöschen, Kausalität aufgrund von Zufällen hingegen bei unwiederholbaren Entscheidungen von Personen, denn Zufälliges wiederholt sich kaum. Gesetze beziehen sich auf den Aspekt der Strukturen der Wirklichkeit, der konstant ist und somit Vorhersagen und Retrodiktionen ermöglicht. Der variable und indeterministische Aspekt von sozialen und psychischen Strukturen macht Prognosen unsicher und zwingt den Einzelnen mE zur freien, rationalen Entscheidung.

Dies erklärt die unbestreitbare Tatsache, dass es auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften weniger zuverlässige Gesetze gibt als auf dem Gebiet der Naturwissenschaften. Die Tätigkeiten des menschlichen Geistes lassen sich nicht völlig nomothetisch erfassen, vielmehr muss man sie in ihren Möglichkeiten als nicht verallgemeinerbar verstehen. Die eigentlich stabilen Gesetze der menschlichen Kulturäußerungen stammen aus dem Bereich der Psychologie, während soziologische Gesetze nur das Durchschnittsverhalten in einem System von Interaktionsschemata zwischen bestimmten Individuen angeben und die Historie die Dynamik solcher Systeme (vgl Karl-Dieter Opp; Hans Joachim Hummell 1970).

Verstehen lässt sich auch als ein Erklären durch Handlungsgründe auffassen und nicht nur als Gegenentwurf zur Kausalerklärung. Daher lässt sich die hermeneutische Bemühung sowohl um die Psychologie von Kulturen und Gesellschaften als auch deren statistische Möglichkeiten modernisieren. Die Handlungsmotive fehlen in elliptischen Erklärungen bisweilen, da sie als trivial gelten.

Emergenzphänomene (zB Gruppenphänomene) dürfen bei der eben vorgeschlagenen Reduktion auf Psychologisches nicht übersehen werden. Soziokulturelle Gesetze müssen erfahrungsgemäß auf bestimmte Kulturen eingeschränkt werden, weshalb sie Quasigesetze (ein von Hans Albert geprägter Ausdruck) sind. Außerdem ist etwa das Verhalten von Außenseitern eine Ausnahme von den Regeln dieser Quasigesetze.

Diese nur für bestimmte Kulturen gültigen Gesetzmäßigkeiten können, wie Ernst Topitsch feststellte, auf allgemeinen Eigenschaften der Kultur als einer solchen beruhen, die aber von bestimmten Umständen wesentlich geprägt sind. Daraus ziehe ich folgenden Schluss: Gesetze der anthropologischen Dynamik bewirken Kulturveränderungen unter Umständen wie ökonomischer Not oder Einsicht in Irrtümer, doch sind diese nicht wie Ereignisse in einem deterministischen System (zB Sonnenfinsternisse) prognostizierbar, sondern bloß wahrscheinlich.[5]

Kausalität wird im Sinne Immanuel Kants verstanden als eine Beziehung zwischen Ursache und Wirkung, bei der erstere letztere unter bestimmten Bedingungen notwendigerweise verursacht. Kant ist zuzustimmen, dass unsere Erfahrungen ohne die Kategorie der Kausalität unverständlich bleiben und dass weder das Gesehene als gesehen noch die Taten eines Menschen als von diesem gemacht erfasst werden können.[6]

Geisteswissenschaftliche Erklärungen müssen sich auf Ursachen beziehen, da sie sonst Tatsachen bloß beschreiben und konstatieren würden. Diese Ursachen müssen auf empirisch überprüfbare Weise ein Ereignis bewirken wie physikalische Kräfte Bewegungen. Sonst wäre der geforderte empirische Gehalt des Explanans nicht gegeben. Eine vollständige Kausalerklärung liegt nur dann vor, wenn das Verursachte unter den gegebenen Umständen nicht hätte ausbleiben können.

Bei begrifflicher Analyse von Verursachung wird zwischen notwendigen und hinreichenden Bedingungen eines Ereignisses unterschieden. Eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung des Ausbruchs eines Atomkriegs ist etwa die Existenz von Atombomben. Ursachen müssen Teil einer hinreichenden Bedingung in diesem Sinn sein und irgendwie mit einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit zusammenhängen. Dennoch stehen Geisteswissenschaftler ebenfalls vor dem Problem, dass es sich um einen zufälligen Zusammenhang, um das Symptom einer tiefer liegenden Ursache oder um mehrere gleichermaßen mögliche Ursachen handeln kann, wenn sie ein Ereignis durch ein anderes kausal zu erklären versuchen. Um irrelevante Faktoren einer Situation von gleichzeitig auftretenden Bedingungen eines Ereignisses zu unterscheiden, ist sicherlich empirische Arbeit notwendig, zT auch apriorisches Überlegen.

Wenn A aber die Ursache von B ist, weiß man, dass B nicht eingetreten wäre, wenn A nicht vorangegangen wäre. Dies unterscheidet Kausalität von Zufall und lässt sich laut David Lewis mit einer Theorie über mögliche Welten begründen. Sämtliche Ursachen eines Ereignisses sind letzten Endes für sich genommen dessen notwendige Bedingungen und zusammen seine hinreichenden Bedingungen. ZB wird ein Künstler nur berühmt, wenn sein Werk vielen Menschen durch Ausstellungen usw bekannt werden kann.

Viele Ursachen führen ausschließlich unter Standardbedingungen zu bestimmten Wirkungen, etwa ein Axthieb zur Spaltung eines Holzblocks. Dies rechtfertigt die Tatsache der Wissenschaftspraxis, dass es von Regeln, welche in hermeneutischer Erklärung den Platz eines allgemeinen Gesetzes einnehmen, häufig Ausnahmen gibt. Selbstverständlich gilt auch für humanwissenschaftliche Erklärungen, dass die Wirkung nicht vor der Ursache gewesen sein kann und dass nichts ohne Grund geschieht, dass also jedes Produkt einer bewussten menschlichen Tätigkeit von einem ihr vorangehenden Denkakt bedingt ist.[7]

c)Implikationen der Erkenntnistheorie für humanwissenschaftliche Erklärungen

Man kann davon ausgehen, dass sich Schulen der Erkenntnistheorie in Anbetracht der offensichtlich gegebenen Ziele objektiver Wahrheitsfindung lediglich in Einzelfragen unterscheiden, im Allgemeinen uns über die Anforderungen an geisteswissenschaftliche Erklärungen aber korrekt unterrichten. Erkenntnis als Methode der Erkenntnisgewinnung und epistemisch gerechtfertigtes Wissen sind nicht wandelbar, vielmehr entwickeln sich die erkenntnistheoretischen modellartigen Vorstellungen über Erkenntnis sowie der wissenschaftliche und philosophische Wissensstand im Laufe der Geistesgeschichte. Hier wird versucht, von in der Forschungspraxis de facto gewonnenem Wissen auszugehen, dabei aber angesichts der Fülle der einzelwissenschaftlichen Methoden nicht jenes Gemeinsame zu übersehen, welches wissenschaftliche Erkenntnis als solche auszeichnet.[8]

Ich sehe dieses Gemeinsame in der Form logischer Ableitung einer wahren Konklusion über Kausalrelationen aus wahren Prämissen, welche Tatsachenbehauptungen sind. Außerdem gehört es mE zum Wesen wissenschaftlicher Erkenntnis als solcher, dass sie ihren Gegenstand analysiert und festgestellt hat, inwiefern er etwas Besonderes bzw eine spezielle Erscheinungsweise von etwas Allgemeinem ist. Dabei kommt es regelmäßig zu einer apriorischen Klärung der Struktur des Forschungsgegenstands.

Denn Phänomene zu erklären heißt, das Besondere im Licht des Allgemeinen zu verstehen sowie Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Einzelerscheinungen zu erkennen. Durch eine Analyse einzelwissenschaftlicher Erklärungen wechselt man allerdings vom Gebiet der Erkenntnistheorie in das speziellere Gebiet der Wissenschafts-theorie.[9]

Geisteswissenschaftliche Erklärungen sind Produkte einer Beziehung zwischen einem denkenden Subjekt und seiner Umwelt, wobei wissenschaftliches Erkennen eine andere Form der Weltbeziehung darstellt als eine alltägliche emotionale Reaktion auf Reize. Auch in den Naturwissenschaften interessieren regelmäßig nicht die Beschreibungen von sinnlich Gegebenem, sondern Ordnung und Gesetzlichkeit von Abläufen in der Natur. Regeln von Abläufen, ihre Möglichkeiten und Notwendigkeiten kann man im Idealfall aus der Erfahrung und aus der apriorisch erkennbaren begrifflichen Struktur des Forschungsgegenstandes ableiten. Man muss dem Postulat Kants einer apriorischen Komponente von typisch erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnissen aus diesem Grunde beipflichten.

Es ist ein Gemeinplatz erkenntnis- und wissenschaftstheoretischer Literatur, dass die Arten von Erkenntnis und Erklärung ihrem Gegenstand angemessen sein müssen. Die Realerkenntnis (dh der Wissenserwerb über die Wirklichkeit) bezieht sich nicht nur auf Gegenstände der belebten und unbelebten Natur, sondern auch auf sämtliche Tätigkeiten und Produkte menschlichen Geistes. Mit Letzterem befasst sich die spezielle Wissenschaftstheorie der Humanwissenschaften.

Mein besonderes Anliegen ist es, der Hermeneutik ihre Existenzberechtigung als Methode der Hypothesenbildung und einer anthropologischen Kausalerklärung in Bezug auf das Geistesleben zu geben, deren Resultat jedoch deduktiv-nomologische Erklärungen eigener Art sind. Das Verstehen diverser Manifestationen des Seelischen und Geistigen ist für mich im Anschluss an das hermeneutische Schrifttum ein Sonderfall des Erkennens. Diese Manifestationen sind in Form von Texten, Artefakten usw empirisch gegeben.

Als Explanandum im Sinne der Wissenschaftstheorie liegen den hermeneutischen Disziplinen zB Aussagen bzw Inhalte von Texten und deren Entstehungszusammenhang vor. Auch wenn sich Verstehen auf etwas Individuelles bezieht, erfasst es, sofern es gelingt, Sinngehalte bzw Ausdrucksabsichten. Im Anschluss an ein geflügeltes Wort Diltheys ist eine naturwissenschaftliche Erklärung in diesem Zusammenhang als eine Rückbeziehung des Einzelnen auf das Allgemeine und als die Erkenntnis gleichförmiger Vorgänge aufzufassen, wohingegen Verstehen so bestimmt werden muss, dass es sich eindeutig auf etwas Einmaliges richtet, das allerdings in einem Sinnzusammenhang steht und daher wissenschaftlich erklärt werden kann. Die Objektivität dieses wissenschaftlichen Verständnisses kann nur durch philosophisch reflektierte und empirisch bewährte Methodologien für die einzelnen Geisteswissenschaften gesichert werden.

Die Deutung von Belletristik erfordert gewiss andere Zugänge als die Auslegung philosophischer Texte, auch andere als die Auswertung historischer Quellen oder das Hineindenken in Individuen oder Kulturen, wobei die methodologischen Unterschiede notwendige Folge der unterschiedlichen Forschungsgegenstände sind. Es ist ein wesentlicher Bestandteil geisteswissenschaftlicher Methodenlehren, dass sie das in selbstverständlichen Vorannahmen versteckte Vorverständnis reflektieren, um ein allgemeingültiges Verstehen als intersubjektives Abbild des Subjektiven zu erlangen.[10]

Die hermeneutischer Sinnerkenntnis ähnliche moralwissenschaftliche Werterkenntnis (zB die Erkenntnis des Werts von Rücksichtnahme im Zusammenleben) wird in einem eigenen Kapitel dieser Arbeit behandelt werden, da sie die logische Ableitung von Normbegründungen aus mehr oder weniger evidenten Axiomen zum Ziel hat. Werterkenntnis wird durch derartige logische Ableitungen und durch den Bezug auf objektiv anerkannte Werte wie den Wert eines „guten Lebens“ möglich, obwohl sie von Gefühlen ausgeht.[11]

Geisteswissenschaftliche Erklärung setzt voraus, dass es keine widersprüchlichen Sachverhalte geben kann. Diese selbstevidente Annahme steckt hinter den deduktiven und induktiven Schlussfolgerungen (letztere gelten nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit), welche der Theoriebildung vorangehen, und durchdringt auch hypothetische Elemente in Erklärungen. Daher gehört die Prüfung logischer Folgerichtigkeit von Argumenten zur Analyse der Form und Gültigkeit geisteswissenschaftlicher Erklärungen. Nur wenn in einer Mehrzahl von Prämissen schon Enthaltenes (bestimmte Tatsachenfeststellungen) in einer einzigen Konklusion deutlicher formuliert vor uns liegt, ist irrtumssichere wissenschaftliche Erklärung (dh Erkenntnis realer Zusammenhänge) möglich. Ein derartiger Herleitungsvorgang gleicht arithmetischen Operationen wie dem Kürzen von Brüchen.

Wahrheitskriterien sollten dem Forscher ermöglichen, die Wahrheit nicht nur von Prämissen, sondern auch die der Konklusion zu prüfen. Das bedeutet für jeden seriösen Wissenschaftstheoretiker die Verpflichtung, die Übereinstimmung zwischen Erkenntnisgegenstand (dem zu Erforschenden) und Erkenntnisinhalt (dem Forschungsergebnis) streng zu überprüfen. Dafür bestehen in den Wissenschaften vom Menschen empirische Methoden wie Quellenkritik auf der einen Seite und logische Verfahren auf der anderen. Es gehört zu den Aufgaben spezieller Wissenschaftstheorien, derartige Prüfmethoden und eo ipso Wahrheitskriterien zu spezifizieren. Aber auch die logische Vereinbarkeit von neu Erkanntem mit anderem gesicherten Wissen ist zu überprüfen, um die Unwahrheit einer bestimmten Erklärung auszuschließen.[12]

d)Implikationen der Wissenschaftstheorie für humanwissenschaftliche Erklärungen

Wissenschaftstheoretische Auseinandersetzungen bleiben ohne ein Eingehen auf die korrekte wissenschaftliche Begriffsbildung unvollständig. In vielen Humanwissenschaften werden häufig aus der Alltagssprache stammende Begriffe wie etwa „König“ oder „Roman“ auch im theoretischen Zusammenhang verwendet. Die nähere Bestimmung solcher Begriffe durch eine Nominal- (dh konventionell festgelegte Bedeutung des Fachausdrucks) oder besser noch Realdefinition (dh Angabe von wesentlichen Merkmalen des Begriffsworts) scheint überflüssig. Es gibt jedoch auch humanwissenschaftliche Fachausdrücke, wie „philosophische Schule“ in der Philosophiegeschichte, deren Begriffsexplikation im Sinne Carnaps zum besseren Verständnis einer Theorie beiträgt, weil der Begriff der „philosophischen Schule“ sonst vage bliebe. Er könnte Schule als Lehreinrichtung (Institution) bedeuten, jedoch ebenso das Festhalten an bestimmten Überzeugungen wie den Glauben an die Existenz eines Urstoffs. Auch für eine textwissenschaftliche Erklärung kann die Klarstellung notwendig sein, dass sie sich nur auf eine genau umschriebene Bedeutung eines Begriffs - etwa „Literatur“ - bezieht. Häufig wird nicht ein Begriff allein expliziert, sondern mehrere Begriffe, die sich zT zu einem System ergänzen. Begriffsexplikationen und ähnliche Analysen sind das Resultat komplexer Gedankengänge, die aus Bedeutungsanalysen (dh Zerlegung eines schon bekannten Begriffs in seine Komponenten), empirischen Analysen (dh Feststellung der Erfahrungstatsachen über notwendige und hinreichende Bedingungen der Anwendung eines Begriffs), aus wissenschaftlichen Hypothesen und Nominaldefinitionen bestehen.[13]

Die allgemeine Wissenschaftstheorie unterscheidet klassifikatorische (zB Mensch), komparative (zB glücklicher) und quantitative Begriffe (zB teuer), wobei erstere in den Geisteswissenschaften am häufigsten sind und einen Gegenstandsbereich in mehrere Arten einteilen, zB die Staatsformen in Monarchie und Republik und die Weltanschauungen in Faschismus, Humanismus usw. Für die Anwendung komparativer und quantitativer Begriffe muss es empirisch feststellbare Kriterien ihrer Anwendbarkeit geben, die in Einzelfällen wie beim Begriff der Textlänge evident sein können, in anderen Fällen aber wie beim Begriff der Leserzufriedenheit schwerer feststellbar sind.

Das mit Abstand größte Problem bei der Beurteilung wissenschaftlicher Erklärungen ist der Zusammenhang, der zwischen dem empirisch Gegebenem und der allgemeinen Gesetzesaussage besteht, wobei letztere stets Erklärungen, aber nicht immer Prognosen erlaubt. Mit anderen Worten muss die Wissenschaftstheorie aufzeigen, inwieweit spekulative Verallgemeinerung angebracht ist und zu Erkenntnissen führt und inwieweit sie bloß hypothetisch oder gar verfehlt ist. Obwohl die Begriffe „Beobachtungssprache“ und „theoretische Sprache“ in der Geschichte der Wissenschaftstheorie eher auf die physikalische Forschung gemünzt waren, lassen sie sich auf jede Wissenschaft anwenden, so dass etwa in der Philosophiegeschichte „Aristoteleshandschrift“ eher zur Beobachtungssprache und „aristotelische Kernaussage“ eher zur theoretischen Sprache zählen. Ein fehlender Zusammenhang zwischen erklärenden und beschreibenden Begriffen einer Theorie deutet auf ihren möglicherweise bloß hypothetischen Charakter hin. Der Wahrheitsgehalt humanwissenschaftlicher Erklärungen hängt anders als der formalwissenschaftlicher Theoreme von Erfahrungstatsachen ab. Die objektive Beurteilung von Beobachtungsaussagen muss zwar nicht ausschließlich, doch grundsätzlich auf tatsächlich gemachten Beobachtungen beruhen. Anders ausgedrückt muss sich jede geisteswissenschaftliche Erklärung auf eine intersubjektiv zugängliche Äußerung des menschlichen Geistes beziehen.[14]

Allen wissenschaftlichen Erklärungen und Prognosen ist somit gemeinsam, dass sie Antworten auf die Frage liefern, warum es zu bestimmten Erscheinungen kommt und also letzten Endes ausführen, auf Grund welcher Kausalzusammenhänge und unter welchen Bedingungen diese Phänomene auftreten (können). Das zu erklärende Phänomen muss aus den es erklärenden Bedingungen und Gesetzmäßigkeiten auch logisch ableitbar sein, was im Rahmen der hermeneutischen Methode zwar meistens keine eindeutige Lösung liefert, aber absurde Deutungen doch als bloße Pseudoerklärungen entlarvt. Gewiss haben Naturgesetze die Gestalt von Allsätzen, was ein Ideal ist, welchem die Beschäftigung mit dem Individuellen, wie sie für alle Geisteswissenschaften typisch ist, nicht genügen kann. Doch gibt es auch logisch folgerichtige deduktiv-nomologische Erklärungen, die keine deterministischen oder nur sehr triviale Allsätze (zB „Alle Menschen werden von ihren Mitmenschen beeinflusst“) enthalten.

Der Begriff des Bestätigungsgrades einer Hypothese und die Theorie der induktiven Wahrscheinlichkeit erlauben die Formulierung humanwissenschaftlicher Erklärungen, die nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit gelten. Diese Wahrscheinlichkeit bezieht sich nicht auf ein Einzelereignis, sondern auf die Wahrscheinlichkeit, dass eine Hypothese zutrifft, wenn bestimmte Bedingungen gegeben sind. Vor leichtfertigen Verallgemeinerungen muss dennoch gewarnt werden, denn nur seinem Wesen nach Ähnliches lässt sich allgemein durch gesetzesartige Aussagen beschreiben. Gesetzesartige Aussagen sind das eigentliche Ziel der Forschung, wobei es sich nicht um Allsätze handeln muss. Einzelne bloß zufällige Wahrheiten sind durch Beobachtungssätze beschrieben, aber keine vollwertigen wissenschaftlichen Erklärungen.[15]

e)Hempels Verteidigung seines Schemas als auf die Geisteswissenschaften anwendbar

Hempel stellte 1972 in einem kurzen Aufsatz zutreffend und zeitlos die Existenz prinzipiell gleichartiger Erklärungsformen in allen Wissenschaften fest. Er verneint die Behauptung, dass die Erklärung menschlicher Handlungen durch Motive usw nicht auf gesetzesartige Aussagen zurückgreift, ohne den heuristischen Wert der Hermeneutik zu bestreiten. Hempel fasste seine eigenen Auffassungen mit eben diesen Kerngedanken zusammen, womit er wohl die in dieser Arbeit ebenfalls zitierten Lexika nachhaltig beeinflusst hat.

Er erkennt, dass jede Wissenschaft bei allen Ereignissen auch die Warum-Frage stellt. Antworten auf diese Fragen liefern wissenschaftliche Erklärungen. Hempel bezieht sich damit auf alle Wissenschaften und zeigt auf, dass sie auch alle zum Verstehen führen. Er findet die Meinung, unterschiedliche Wissenschaftszweige besäßen eigene Methoden, verständlich. Er konstatiert, Physik und Chemie fragten nach Ursachen, Biologie und Psychologie hingegen auch nach der Funktion von Organen und Phänomenen für ein Lebewesen, menschliches Tun und Denken wiederum werde von Wissenschaftlern unter Bezugnahme auf Gründe und Motive erklärt. Soziale Ereignisse wie Feste können, so fährt er fort, nicht rein naturwissenschaftlich verstanden werden, weil sie eine Sinndimension haben. Er unterscheidet die beobachtbaren und in Raum und Zeit lokalisierbaren Ursachen von den nur durch Methoden wie Empathie feststellbaren Gründen, Funktionen und Bedeutungen, zB des Handelns historischer Persönlichkeiten.

Hempel bemüht sich zu beweisen, dass alle wissenschaftlichen Erklärungen auch Argumente einer besonderen Art sind. Diese besagen, dass die zu erklärenden Phänomene auf Grund von Gesetzmäßigkeiten zu erwarten waren. Zu diesem Zweck führt er naturwissenschaftliche Kausalerklärungen an. Er analysiert sie dann meisterhaft mit Hilfe der Feststellung, dass solche Erklärungen eine gemeinsame Form aufweisen, und zwar folgende: Wenn ein Ereignis des Typs U stattgefunden hat und solche Ereignisse immer Vorkommnisse der Art W nach sich ziehen, ist ein Ereignis des Typs W zu erwarten.

Die logische Folgerungsbeziehung zwischen Explanans und Explanandum beschreibt das Phänomen der naturgesetzlichen Notwendigkeit. In einer Fußnote führt Hempel ähnliche Gedanken Stegmüllers an. Er nimmt einige meiner eigenen von Letzterem inspirierten Thesen vorweg, mit welchen ich das Ziel einer Abkehr von einem bloß intuitiven Zusammenhangsverständnis verfolge.

Hempel zählt auch probabilistische Erklärungen zur Klasse der nomologischen Erklärungen. Beruft sich eine Erklärung auf statistische Gesetze, tritt das Explanandum-ereignis nicht wie bei anderen Kausalzusammenhängen mit Naturnotwendigkeit ein, sondern nur mit hoher Wahrscheinlichkeit. Am Beispiel eines Schülers, welcher wegen seiner mathematischen Begabung ziemlich oft ein Spiel gewinnt, erläutert er Erklärungen, die sich nur scheinbar völlig von physikalischen Erklärungen unterscheiden. Geistige Fähigkeiten wie Begabungen sind zwar keine Ereignisse, welche ihren Platz in Raum und Zeit haben. Rudolf Carnap, Otto Neurath und Gilbert Ryle kannten jedoch, wie Hempel ausführt, eine Lösung für dieses Problem, und zwar dass psychologische Dispositionen auf dieselbe Art wie die physikalische Eigenschaft „Elastizität“ Ereignisse bewirken.

Die Dispositionseigenschaft „elastisch“ definiert Hempel als latente Eigenschaft, die sich in bestimmten Situationen in der charakteristischen Reaktion des Dings mit dieser Eigenschaft äußert. Er macht dann auf die Tatsache aufmerksam, dass die Dispositionsaussage eine implizite Gesetzesaussage ist. Dabei werden ihm zufolge Einzelfälle als „individuelle Manifestationen einer gesetzmäßig begründeten Disposition“ (Formulierung von Hempel) aufgefasst, zB das gerade beobachtete Verhalten eines Balls (Hempel 10).[16]

Hempel weist nach, dass die Erklärung für Ottos Erfolg beim Go-Spiel auf der Zuschreibung einer Dispositionseigenschaft beruht. Seine mathematische Begabung ist nämlich eine Eigenschaft, die sich im relativ geschickten Umgang mit mathematischen Aufgaben äußert. Also liefert das eine nomologische Erklärung im Sinne Hempels (aaO) .

Daraufhin wechselt er zur Erklärung durch Gründe, indem er auf das Beispiel einer Addition eingeht: Arithmetische Gründe allein vermögen es nicht, ein Rechenverhalten zu erklären. Vielmehr ist auch die Vertrautheit mit Rechenregeln eine Dispositionseigenschaft. Denn nach Unterricht und Übung wendet man diese Regeln bei Bedarf an. An Hand seines Beispiels mit der Rechnerin Anna will Hempel den Unterschied zwischen der Begründung von Handlungen als klug und ihrer kausalen Erklärung demonstrieren. Heutzutage wäre zudem auch die Lösung von Addieraufgaben mit Taschenrechnern sinnvoll, wenngleich das Lernen der arithmetischen Regeln zur Nachprüfung wegen möglicher Maschinenfehler vernünftig geblieben ist.

Anschließend beginnt er die allgemein übliche Handlungserklärung unter Bezugnahme auf die Motive der Handelnden bzw Entscheidenden zu erörtern. Etwa ist es eine Kausalerklärung für fleißiges Lernen, dass jemand genau diese Prüfung für seine Karriere als Arzt braucht. In diesem Fall sind die Absichten des Lernenden und seine Ansicht über mögliche Mittel zu seinem Zweck Bedingungen seines Lernverhaltens. Dann nimmt Hempel auch auf Dray Bezug. Drays rationale Erklärung bedeutet ja, dass man ein besonderes Verständnis von Handlungen gewinnt, wenn man weiß, dass sie angesichts der Ziele und des Wissenstands des Handelnden vernünftig waren (vgl Kapitel 8).

Dray erklärt ua mit Hilfe normativer Prinzipien. Hempel entdeckte aber einen logischen Fehler in dieser Theorie: Er merkt überaus treffend an, dass sich normative Prinzipien nur dann auswirken, wenn Handelnde sie sich zu eigen gemacht haben. Dies ist jedoch wieder eine dispositionelle Erklärung. Dies erläutert Hempel an Hand des Beispiels, dass Historiker, um Phänomene wie Harakiri im Japan des 18. Jahrhunderts zu erklären, „deskriptiv-psychologische Annahmen“ benötigen. In diesem Fall ist die entsprechende Annahme, dass die Internalisierung kulturspezifischer Ehrvorstellungen die damaligen japanischen Edelleute zum Selbstmord in gewissen Situationen verpflichtete bzw anhielt (aaO 12). Zur näheren Erläuterung dieser Gedanken beruft sich Hempel auf Kurt Hübners Begriff „geschichtliches System“. Denn Entscheidungen fällt man „im Rahmen zeitgenössischer moralischer, juristischer und wissenschaftlicher Systeme“. Das gilt auch für Rechenstrategien und Lernbemühungen in unserem Alltag.

Hübners Vorschlag, bei historischen Erklärungen neben Randbedingungen und gesetzesartigen Aussagen Beschreibungen historischer Systeme ins Explanans aufzunehmen, wird von Hempel indes abgelehnt. Hübner wollte seine Idee an Hand eines Beispiels illustrieren, in welchem ein Politiker wegen seines Charakters und seiner moralischen Überzeugungen auf eine scheinbar erfolgversprechende politische Maßnahme verzichtet. Hempel kann jedoch zeigen, dass Beschreibungen geschichtlicher Systeme im Explanans nicht stehen sollten, da nur psychologische Beschreibungen die Handlungen wirklich erklären. Es kommt letztlich darauf an, ob ein historischer Akteur bestimmte politische, moralische und pragmatische Überzeugungen für wahr hält oder nicht. Dh um historisch zu erklären, muss man historischen Persönlichkeiten komplizierte Dispositionen zuschreiben. „Geschichtliche Systeme“ spielen wohl eine Rolle, aber ihretwegen braucht man keine nicht-nomologischen Erklärungen. Charakterzüge und Überzeugungen von Menschen sind nämlich Dispositionseigenschaften und als solche Handlungsbedingungen. Allerdings räumt Hempel ein, dass geisteswissenschaftliche Erklärungen durch seine eben angeführte Deutung vereinfacht und schematisiert werden (aaO 13).

Physikalische Dispositionen wie Wasserlöslichkeit lassen sich durch allgemeine Gesetze mit ausschließlich physikalischen Begriffen beschreiben. Bei Sachverhalten wie Hunger ist das anders: Denn das Verhalten hungriger Menschen kann nicht vorhergesagt werden, wenn man nicht zu diesem Zweck zusätzlich Psychologisches berücksichtigt, wie die Überzeugungen des Hungrigen über Essbarkeit, Fastenzeiten usw. Psychologische Eigenschaften sind daher laut Hempel Dispositionen, jedoch nicht in einem physikalistischen oder behavioristischen Sinn. Hunger, Ehrgeiz, Frömmigkeit usw sind für ihn „komplexe Bündel von Dispositionen“ (Formulierung von Hempel aaO 14): Sie manifestieren sich in Abhängigkeit von psychischen und physischen Faktoren durchaus unterschiedlich, weshalb man für Handlungserklärungen Wissen über ein Netzwerk psychischer und psychophysischer Zusammenhänge benötigt. Allerdings werden bei psychologischen Handlungserklärungen die vorausgesetzten gesetzesartigen Zusammenhänge nicht gleich explizit angegeben wie bei physikalischen Überlegungen. Als nächstes wendet sich Hempel der häufigen Überzeugung zu, es gehe in Humanwissenschaften um Verständnis und Einfühlung, die einen Zugang zu anderen Menschen und ihren Handlungen liefern, auch wenn keine Zusammenhänge feststellbar sind.

Hempel grenzt sich von allen Formen der „Volkshermeneutik“ ab, indem er zwei Arten des Verstehens unterscheidet, und zwar empathisches und begriffliches Verstehen (aaO 15). Begrifflich Verstandenes ist prüf- und mitteilbar, wobei man durch Argumente, welche das Hempel-Oppenheim-Schema anwenden, zu diesem Verständnis gelangt. Empathisches oder einfühlendes Verstehen ist hingegen ein Erlebnis, das man hat, nachdem man sich das Fühlen, Denken und Tun anderer Menschen lebhaft vorgestellt hatte.

Hempel merkt leicht spöttisch an, dass dieses Nacherleben unvollkommen bleiben muss, weil ein vorgestellter Krieg etwa weniger erregend als ein realer ist. Er warnt außerdem zu Recht vor der Möglichkeit von Fehlinterpretationen, die ua entstehen, wenn eigene Motive in andere Menschen hineinprojiziert werden. Humanwissenschaftliche Erklärungen hält er unabhängig von den mehr oder weniger überzeugenden Einfühlungserlebnissen für gültig, falls sie an Hand empirischer Befunde überprüfbar sind. Außerdem lässt sich auch schwer Nachvollziehbares erklären, etwa das Verhalten von Psychopathen.

Hempel erkennt, dass es zB auch begriffliches Verstehen ist, wenn man das Verhalten eines Einzelnen als Symptom einer Geisteskrankheit erfasst. Anschließend stellt er zu Recht fest, dass alle geisteswissenschaftlichen Erklärungen begriffliches Verstehen erstreben, da eigentlich nur dieses überprüfbar ist. Er räumt ein, dass Einfühlung dennoch von heuristischem Wert ist (vgl Kapitel 2). Die Einfühlung liefert psychologische Hypothesen, die empirisch prüfbar sind und zeigen, dass Einzelhandlungen Sonderfälle „einer komplexen Disposition“ (Formulierung von Hempel aaO 16) sind, wenn sie zutreffen. Der letzte Abschnitt von Hempels Aufsatz bezieht sich auf die Frage, ob es für die Wissenschaft Unerklärbares gebe. Er diskutiert dies an Hand des Fragenkomplexes, warum es das Universum gibt und warum es und seine Gesetze so beschaffen sind, wie sie sind.

Ein philosophischer Wissenschaftsskeptiker könnte laut Hempel kritisieren, dass Phänomene wie die Schwerkraft von der modernen Physik einfach vorausgesetzt werden und von ihr nicht gesagt wird, warum es zum Urknall kam. In diesem Fall scheint die Wissenschaft überfordert zu sein. Ein Explanandum wie dieses müsste durch ein besonderes Explanans erklärt werden. Wie soll es möglich sein, alle Tatsachen der Welt zu erklären, ohne dass man etwas über die Welt annimmt?

[...]


[1] vgl Karl Acham und Winfried Schulze (Hg): Teil und Ganzes. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1990, 18-19, 21, 47, 68, 70, 75, 81, 84-86, 93, 98, 100, 102, 104-106, 125-126, 143, 159, 162-163, 171, 173, 175, 178, 181, 187, 191, 193, 215, 221-223, 233, 235-236, 239, 248, 250-251, 262-264, 269, 271, 273, 276, 279, 291, 297, 302, 306-309, 314, 316, 318-319, 321, 327, 336-338, 343, 346, 358, 361, 365, 369, 377-379

[2] Die Zulässigkeit von Wahrscheinlichkeitsschlüssen sei vorübergehend vorausgesetzt, sofern die Nichtgleichwertigkeit von Alternativerklärungen leicht einsehbar ist, weil der Rahmen der Arbeit sonst gesprengt würde. Dazu: Gerhard Kwiatkowski (Hg): Schülerduden „Die Philosophie“. Mannheim, Wien, Zürich: Dudenverlag 1985, 125-126

[3] Siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Erklärung (Abrufdatum: 25.02.2017, 11:45 Uhr)

[4] Josef Speck (1980): Erklärung. In: Josef Speck (Hg): Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe. Band 1 (A-F). Göttingen: Vandenhoeck 1980, 175–190

[5] Bernulf Kanitscheider (1980): Gesetz in Natur- und Geisteswissenschaften. In: Josef Speck (Hg): Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe. Band 2 (G-Q). Göttingen: Vandenhoeck 1980, 258–268

[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Kausalität (Abrufdatum, 17.03.2017, 16:02 Uhr); vgl auch Immanuel Kant (1781): Die Kritik der reinen Vernunft. KdrV A 202-203, A 448-451; B 248, B 476-479

[7] Das Angeführte bedeutet nicht, dass ein und dasselbe Ereignis nicht mehrere Ursachen gehabt haben könnte, von welchen jedoch nur eine wirklich wirksam wurde. Lorenz Krüger; Rosemarie Rheinwald (1980): Kausalität. In: Josef Speck (Hg): Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe. Band 2 (G-Q). Göttingen: Vandenhoeck 1980, 318–327

[8] Wilfried Stache (1958): Erkenntnistheorie. In: Alwin Diemer; Ivo Frenzel (Hg): Philosophie. Frankfurt am Main: Fischer Bücherei 1958, 51-52

[9] Ebenda 60

[10] Ebenda 62-65

[11] Ebenda 66

[12] Ebenda 67-69 und 71

[13] Wolfgang Stegmüller (1958): Wissenschaftstheorie. In: Alwin Diemer; Ivo Frenzel (Hg): Philosophie. Frankfurt am Main: Fischer Bücherei 1958, 327-329 und 332-333

[14] Ebenda 337-339

[15] Ebenda 343-346

[16] Carl Gustav Hempel: Formen und Grenzen des wissenschaftlichen Verstehens. In: Conceptus 6 (1972), 5-10

Ende der Leseprobe aus 322 Seiten

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Titel
Formen der wissenschaftlichen Erklärung in den Geisteswissenschaften
Hochschule
Karl-Franzens-Universität Graz
Note
Gut (2)
Autor
Jahr
2019
Seiten
322
Katalognummer
V509770
ISBN (eBook)
9783346080295
ISBN (Buch)
9783346080301
Sprache
Deutsch
Schlagworte
formen, erklärung, geisteswissenschaften
Arbeit zitieren
Magister (Mag. phil.) Ivo Marinsek (Autor:in), 2019, Formen der wissenschaftlichen Erklärung in den Geisteswissenschaften, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/509770

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