Phönix aus der Asche. Emanzipatorische Ansätze in Wu Mings Erzählung "Arzèstula"


Hausarbeit, 2019

18 Seiten, Note: Keine


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Zeit

3. Raum

4. Kollektiv als Gegenhegemonie

5. Protagonistin

6. Literaturverzeichnis

Einleitung

Im Jahr 2009, zur Hochzeit der Wirtschaftskrise, die der Bankenkrise 2008 folgte, veröffentlichte Mark Fisher, ein britischer Kulturwissenschaftler, sein Buch „Capitalist Realism“, in dem er die ideologische Wirkungsweise des modernen Spätkapitalismus analysierte. Darin beschreibt er den Kapitalismus als eine kafkaeske und adaptive Ideologie, die jeglichen Gedanken an eine Alternative zu sich unterbindet und sich einverleibt. In Anlehnung an Deleuze spricht Fisher von einer dunklen Potenzialität. Hervorgegangen aus der Thatcher Ära und den damit verbundenen neoliberalen Reformen, die im Zuge der Krise insbesondere im Süden Europas durchgesetzt wurden, schuf diese Ideologie ein Klima der Alternativ- und Zeitlosigkeit. Eine Alternative wurde für die Menschen spätestens mit dem Fall der Sowjetunion unvorstellbar, argumentiert Fisher. Der Kapitalismus ist zu verzweigt und undurchsichtig geworden, als dass man hinter ihm noch eine Zukunft sehen könne.

Im März des gleichen Jahres erscheint die Anthologie „Anteprima nazionale. Nove visioni del nostro futuro invisibile“. In der namhafte Autor*innen u.a. Vasta und Genna, versuchten eine italienische Zukunft zu skizzieren. In Anknüpfung an Fishers These fällt diese aber denkbar düster aus. Lediglich Wu Mings‘ 1 Erzählung „Arzèstula“ trotzt der scheinbaren Aussichtslosigkeit in dem sie zwar, angesichts der Umstände, nüchtern eine post-apokalyptische Welt entwirft, doch auch einen Lösungsansatz bietet wie eine zerrütte Menschheit gerettet werden kann. Mit dem New Italian Epic hatte Wu Ming bereits eine revolutionäre Denkweise wieder in den literarischen Diskurs einfließen lassen und der Idee einer letteratura impegnata neues Leben eingehaucht. In „Arzèstula“ verbinden sich somit literarischer und politischer Anspruch des Autors in den gegenwärtigen Diskurs eines postmodernen Spätkapitalismus einzugreifen. Im folgenden will ich also anhand von Zeit, den Orten, dem Kollektiv und schließlich der Protagonistin selbst untersuchen in wie fern die Erzählung „Arzèstula“, sowohl einen Eingriff in den politischen als auch literarischen Diskurs darstellt.

Zeit

Zunächst ist es wichtig, das Element der Temporalität genauer anzuschauen, den gerade dieses steht besonders prominent im Fokus der Erzählung und entfaltet sich auf vier Ebenen. Der der Histoire, des Discours, der Historizität und der Zeit als deleuzesches Konzept. Auf der Ebene des Dicours als verbindende Dimension der Erzählung die dem Text eine Struktur verleiht. Sie ist progressierend und beginnt in der Vergangenheit um nach einem Abwechseln im mittleren Teil der Erzählung zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart schließlich in der Zukunft zu münden. Gerade im mittleren Teil wo Flashbacks und Erinnerungen die zeitliche Abfolge bestimmen wird der Eingriff der Vergangenheit in die Gegenwart und damit der Ebene des Dicours in die Ebene der Histoire, deutlich. Es zeigt wie sehr noch die Vergangenheit die Gegenwart bestimmt, selbst im Rahmenwerk der Erzählung. Die diegetischen Sprünge innerhalb der erzählten Zeit erinnern stark an die Struktur von „Q“ in der, der Protagonist ebenfalls wiederholt in die Vergangenheit zurückfällt um den Verlauf der eigenen Geschichte zu vervollständigen.

Als drittes ist gerade die Reetablierung der Historizität ein besonders tragendes Element des Werks. Wie anfangs erwähnt, beschreibt in seinem Werk „Capitalist Realism“ Mark Fisher, den modernen Spätkapitalismus als ein zeitloses System, das weder Vergangenheit noch Zukunft kennt, sondern in einem ewigen Jetzt verharrt1. Was dazu führt, dass die Gesellschaft, ihre Vergangenheit als überflüssig wahrnimmt und eine Zukunft als nicht notwendig. Das Konzept der Wiedereinführung der Geschichte als ein materialistisch-dialektischer Prozess2 steht der zuletzt genannten Entwicklung entgegen, da es zeigt, dass konkrete Umstände von Menschen gemacht sind und diese folglich in der Lage sind diese auch zu verändern. Die Protagonistin ist das primäre Beispiel dafür.

Ferner präsentiert sich die Historizität innerhalb des Werkes auf zweierlei Weise. Die Historizität der Protagonistin und die Historizität der Orte. Beide greifen im Narativ in einander ein und ergeben ein symbiotisches Verhältnis. Die Protagonistin kann erst durch die Orte an denen sie sich befindet ihre volle Wirkung als Figur entfalten, zeitgleich gewinnen Orte erst durch ihre Anwesenheit an Bedeutung. Sie beeinflussen sich gegenseitig und ergeben ein dialektisches Verhältnis, was an späterer Stelle genauer besprochen werden soll.

Das beste Beispiel für die Funktion der Historizität in der Erzählung erbringt die Schlussszene. Auf dem Dach des alten Rasthof versammelt sich das Kollektiv um ein Ritual zu vollziehen, dass ihnen erlaubt in die Zukunft zu blicken. Es ist zeitgleich der einzige magische Moment der Erzählung unnd deutet somit auf die Besonderheit des Geschehenden. Das Ritual, das das Kollektiv vollführt verbindet die Gegenwart mit der Zukunft und lässt die Mitglieder des Kollektivs wie auch die Leser*innen in der Gewissheit einer Zukunft blicken. Es verbindet auf lebendige Weise die zeitlichen Abfolgen, was durch die Eigenheit des Rituals, das Zuführen einer Kugel in den Bauch als Symbol für Befruchtung, gezeigt wird, während die Verbindung mit der Vergangenheit eine tote Verbindung bleibt was am besten an den Orten und an ihnen fungierenden Gebäuden sichtbar wird.

Doch birgt die Thematik der Temporalität, mehr als bloße Historizität in sich, sondern offenbart die deleuzesche Ewigkeit als eine Emergenz des Neuen durch das Werden in der Zeit. In seinem Werk „Körperlose Organe“ versucht Slavoj Zizek eine Annäherung zwischen Deleuze und Lacan. Speziell analysiert Zizek darin das deleuzesche Zeitkonzept. Nach Deleuze meint Zizek, dass die Zeit das Streben der Ewigkeit sei zu sich selbst zu gelangen, die das Neue an sich hervorbringt.3 Kurz gesagt, das deleuzesche Werden (ein Werdendes) transzendiert die Zeiten und erschafft damit beständig Neues4. Die Wiederholung trägt unweigerlich dazu bei, dass Neues immer dann entsteht wenn die Zeit über sich hinaus als reine Zeit existiert. In der Erzählung kann man dieses Phänomen gut beobachten. Die temporale Überwerfung und die Protagonistin die durch die Zeiten hinweg agiert, praktisch also die Essenz der Zeit in sich trägt, wird zu einer Repräsentanz sowohl des Neuen als auch des deleuzeschen Zeitkozepts.

Somit schafft Wu Ming 1 eine komplexe Struktur der Zeit die sowohl in die Zeit (und ihr Werden), die Geschichte selbst, wie in ihren diskursiven Rahmen eingreift. Durch das Konzept der Historizität bricht Wu Ming mit dem postmoderenen politischen und auch literarischen Verständnis einer letargischen Zeitlosigkeit und etabliert mit dem deleuzeschen Zeitkonzept eine lebendige Vision des Neuen und einer Zukunftsgerichtetheit.

Raum

In Arzèstula, spielen Räume für die Struktur des Werkes eine bedeutende Rolle. Sie sind nicht nur der narrative Anker der Erzählung, sondern tragen zum Realismus der Erzählung in besonderer Weise bei. Gerade die Orte sind sehr objektgebunden. Sie sind immer an Gebäuden festzumachen. Hier entfalten sie zwei ineinander greifende Bedeutungen. Einerseits bekommt die Erzählung durch die Orte an denen sie stattfindet eine zeit-räumliche und somit historische Einbindung. Sie verbinden die Vergangenheit mit der Gegenwart, da sie im Gegensatz zum Menschen eine beharrlichere Kontinuität haben. Andererseits aber fungieren sie gerade aus dieser Funktion heraus als Träger des sguardo obliquo5, da sie gerade als alles überdauernde Instanz, die gesamte Geschichte erzählen können. Sie erzählen die Geschichte der Kindheit der Protagonistin, anhand ihres Verfalls die der Krise und anschließend des post-apokalyptischen Lebens.

Das Dorf in dem die Protagonistin einst gelebt hatte, wird zu einer Reflexion auf die Lebensweise vor der Krise und zeigt das Leben einer kleinen Gemeinschaft im Zerfall. Das Beispiel des Porno-Kinos dient am besten dafür. Einst ein Ort der simulierten Liebe und des Lebendigen, an dem sich junge Menschen mangels einer Alternative treffen, wird es geschlossen und erst ab und an fürs Bingo geöffnet. Bingo fungiert dabei als Symbol für die Überalterung des Dorfes, da gemeinhin Bingo als ein Zeitvertreib für Senioren gilt. Letztlich wird das Kino gänzlich geschlossen. Gut demonstriert auch die ehemalige Fabrik, das Aussterben des italienischen Dorfes. Die ehemalige Produktionsstätte für Gummienten ist nun verfallen und die Gummienten selbst fortspült, wie die (jungen) Einwohner*innen des Dorfes. Die Protagonistin spekuliert ob sie den großen Müllhaufen im Meer erreichen werden. Mit dem Großen Müllhaufen ist wohl das Groß der Menschheit gemeint, die einerseits die Krise mit verursacht hat, doch selbst gerade ausgestoßen ist aus der Natur und der Welt. Somit ist sowohl die ökonomische wie auch die kulturelle Grundlage des kleinen italienischen Dorfes zerstört und die Menschen sind gezwungen auszuwandern und ihr Glück wo anders zu suchen.

Einzig die Krise ist das Ereignis, was nicht zwangsläufig an ein Objekt gebunden ist. Zwar sieht man ihre Auswirkungen an den Gebäuden in der Erzählung, doch deutlicher sieht man ihre Abwesenheit. Die Rückeroberung der Natur, die durch die Krise verursacht wurde, begegnet der Protagonistin auf ihrer Wanderung durch die Po-Ebene durch den unaufhaltsamen Wasseranstieg. Das Alte wird von einer unaufhaltsamen wilden Kraft hinweggefegt um Platz für Neues zu schaffen.Daher sind die Gedanken der Protagonistin über die Arbeiter*innen die zum Abpumpen des Wassers eingesetzt werden, mitfühlend. Weiß sie doch, dass die Entwicklung nicht aufzuhalten ist und bemitleidet die Arbeiter*innen. Die Natur der Po-Ebene wird damit zum Symbol eines lebendigen Jetzt, das rhizomartig in die Zeitstruktur hineinwächst. Sie taucht erst an späterer Stelle wieder auf.

Auch der Rasthof spielt für die Erzählung besonders wichtige Rolle, denn er ist der Ort an dem alle Zeiten zusammentreffen. Die Vergangenheit des Ortes reflektiert die Welt vor der Krise. Eine problematische Zeit, mit faschistischen Politikern und menschlicher Verzweiflung. Doch, auch ein Ort der Hoffnung und des Widerstandes. Die Mitarbeiter treten in einen wilden Streik um sich dem Faschisten entgegenzustellen und der unglückliche Suizidbomber, der aus Verzweiflung über seine finanzielle und persönlichen Probleme die durch die Einführung des Euro verursacht wurden mit einem erweiterten Suizid droht,wird zur Vernunft gebracht und gibt schließlich auf um weiter zu leben. Im intradiegetischen Jetzt lebt dort ein progressives Kollektiv aus verschiedensten Persönlichkeiten, die alle in einer zukunftsgewandten Gemeinschaft leben. Als letztes zu nennen ist der Ort in der Zukunftsvision. Der Rasthof als solcher existiert nicht mehr, doch der Ort wird nach wie vor als zeremonielle Stätte genutzt. Die Nachfahren des Kollektivs versammeln sich noch immer an dem Ort um das Ritual durchzuführen. Der Rasthof wird zum Wirt der Historizität. An ihr kann man die Veränderung der Zeiten und ihren Einfluss sehen, sowohl auf die Umstände als auch auf sich selbst.

[...]


1 Fisher, Mark „Capitalist Realism Is there no alternative?“ 2009 Zero Books, Winchester S 6 ff.

2 Marx, Karl Engels, Friedrich „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ Marx Engels Werke Band 13, 1961 Dietz Verlag, Berlin S 8 ff.

3 Zizek, Slavoj „Körperlose Organe Bausteine für eine Begegnung zwischen Deleuze und Lacan“ 2005 Suhrkampverlag, Frankfurt am Main S 23 ff.

4 Deleuze geht davon aus, dass die Produktion des Neuen immer vor dem Sein im zwischenzeitlichen Bereich des Werdens stattfindet. Ähnlich dem lacanianischen Übergang vom Imaginären zum Symbolischen. Hier progressiert die Protagonistin in einem ständigen Prozess des Werdens durch die Zeit und produziert, durch ihre zwischenzeitliche Stellung, Neues.

5 Wu Ming 1 „New Italian Epic versione 2.0. Memorandum 1993-2008: narrativa, sguardo obliquo, ritorno al futuro,“ 2008 S 14 ff.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Phönix aus der Asche. Emanzipatorische Ansätze in Wu Mings Erzählung "Arzèstula"
Hochschule
Freie Universität Berlin
Note
Keine
Autor
Jahr
2019
Seiten
18
Katalognummer
V509757
ISBN (eBook)
9783346077165
ISBN (Buch)
9783346077172
Sprache
Deutsch
Schlagworte
phönix, asche, emanzipatorische, ansätze, mings, erzählung, arzèstula
Arbeit zitieren
Julius Zukowski-Krebs (Autor:in), 2019, Phönix aus der Asche. Emanzipatorische Ansätze in Wu Mings Erzählung "Arzèstula", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/509757

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