"Männliche und weibliche Energie"

Eine Annäherung an Geschlechter-Archetypen mit der Philosophie von Yin und Yang und deren Verhältnis zu geschlechtsbezogener Zuschreibung


Hausarbeit, 2011

28 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

Zur Fragestellung der Arbeit

Einleitung: Die Zwei-Geschlechter-Ordnung

Diegeschlechtsbezogenen Urprinzipien Yin und Yang
2.1 Die Yin-Yang-Philosophie
2.2 Yang, das maskuline Prinzip
2.3 Yin, das feminine Prinzip
2.4 Yin und Yang im Zusammenspiel

Yin und Yang in Bezug zur gesellschaftlichen Wirklichkeit10
3.1 Naturalisierung und Essentialisierung mit der Vorlage von Yin und Yang

3.2 Performative Geschlechtsidentifikation in der praktischen Arbeit
3.3 Öffnung für die Vielfalt von Geschlecht (Ausblick)

Fazit& Schluss

Quellenverzeichnis
Verwendete Literatur
Sonstige Quellen

Anhang
Abbildung: Uroboros
Internet-Recherche: „männliche weibliche Energie“
Beispiele aus der Praxis
3.1 „Gebärmutter bleibt Gebärmutter“
3.2 „Papa was a rolling stone“ – und Mama?

Zur Fragestellung der Arbeit

Als Ausgangspunkt für Reflektionen in Bezug auf Geschlecht wählte ich mein Erleben in der Fachklinik für psychosomatische und psychische Erkrankungen Heiligenfeld, wo ich im Frühjahr 2011 ein dreimonatiges psychotherapeutisches Praktikum absolvierte. Auf Geschlechterthematisierungen bezogen irritierende Situationen in diesem Erfahrungsfeld brachten mich auf allerlei Denkpfade des Analysierens und des Auffindens derjenigen Fragen, die hinter der Irritation standen. In Bezug auf die vorliegende Hausarbeit entschied ich mich dazu, zu untersuchen, was sich hinter dem dort oftmals verwendeten Ausdruck der ‚ männlichen‘ und ‚weiblichen‘Energie‘ verbergen mag. Was kann darunter verstanden werden? Und in welchem Verhältnis steht das zu Mechanismen der Herstellung bzw. Reproduktion geschlechtsbezogener Zuschreibung?

Im ersten Teil werde ich einen kurzen Abriss der Kritik der Zwei-Geschlechter-Ordnung und deren Entwicklung in der Geschlechterforschung geben. Dabei soll das Anliegen der Arbeit, den ‚weiblichen‘ und ‚männlichen‘ Energiequalitäten nachzugehen, in Bezug zum aktuellen Stand der Gender-Debatte verortet werden. So soll dies auch als Hinführung zum Verstehen der Notwendigkeit dienen, weshalb die Untersuchung der beiden Prinzipien als kollektiv geteilte Auffassungen von männlicher und weiblicher Energie von Relevanz sein könnte. Der zweite Teil widmet sich dann konkret jenen ‚Energieformen‘. Dabei greife ich auf Rezeptionen östlicher Philosophie zurück, speziell der Theorie von Yin und Yang als Urprinzipien allen Seins. Maskulinität und Femininität erscheinen hier als archetypische, kosmische Prinzipien, die symbolisch gemeint sein wollen. Anschließend stellt sich die Frage, ob und in welchem Zusammenhang Elemente dieser Philosophie in der gesellschaftlichen Praxis in Erscheinung treten. Hierzu werde ich im dritten Teil problematisieren, dass sich die Idee der Urprinzipien mit dem Sein konkreter, als Männer oder Frauen sozialisierter Menschen meist unglücklich vermengt. Männer werden mit der Idee von Männlichkeit und Frauen mit der Idee von Weiblichkeit verknüpft. Was macht es aus, wenn nur eine Seinsqualität gefördert bzw. zugelassen wird? Die Beobachtung in der Klinik zeigt, dass die essentialistische Benennung von Geschlecht Identifikation bewirkt, die sowohl Stabilisierung als auch Einschränkung freier Selbstbestimmung mit sich bringen kann. Ein daran anschließender Ausblick auf die Öffnung hin zu geschlechtlicher Vielfalt fragt nach der Vereinbarkeit der Bedürfnisse sowohl von Autonomie als auch von Verbundenheit. Das Denken von Yin und Yang einzubeziehen ist letztlich aufgrund seiner Einbettung in ein Verständnis der nicht bewertenden, wechselseitigen Bedingtheit aller menschlichen (und somit auch geschlechtlichen) und kosmischen Phänomene interessant.

Einleitung: Die Zwei-Geschlechter-Ordnung

Zur Selbstverständlichkeit des Alltagswissens in unserer Gesellschaft gehört es, dass sich Menschen ‚natürlich‘ biologisch voneinander unterscheiden lassen und entweder als Männer oder als Frauen existieren. Es stellt einen normalen Vorgang im Alltag dar, zwischen Männern und Frauen zu unterscheiden, meistens ohne dass wir uns weder den Vorgang des Unterscheidens und Trennens bewusst machen noch das, was wir damit anderen von vornherein unterstellen (vgl. z.B. Voß 2011, 10f). Obwohl die Unterscheidung anhand äußerlicher Merkmale getroffen wird, sind im Alltag weniger ‚tatsächliche‘ biologisch-körperliche Unterschiede relevant, sondern Eigenschaften, die wir antizipieren und auf die wir entsprechend reagieren, schon bevor oder sogar ohne dass sie bemerkbar sind. Gleichzeitig gehen mit der Zuschreibung von Eigenschaften auch Bewertungen und Wertunterschiede einher.1 Intersexuelle und Transsexuelle fallen dabei aus dem dualen Raster und scheinen nicht ‚intelligibel‘, das heißt ‚nicht logisch‘ und werden deshalb nicht wirklich in ihrem Sosein erfassbar (vgl. Butler 1991, 37ff).

Im tagtäglichen Vorgang, Menschen anhand der Einteilung auf der körperlichen Ebene eine geschlechtliche Zugehörigkeit zuzuschreiben, vermischen sich mehrere Dimensionen: die des biologischen und physiologischen Körpers, die der Wesenseigenschaften und die der Bewertung.2 Um das kausale, biologistische Denken, das die soziale Geschlechterrolle aus dem Geschlechtskörper abzuleiten meint, aufzubrechen, brachten in der deutschsprachigen Frauen- und Geschlechterforschung insbesondere Regine Gildemeister und Angelika Wetterer (1992; vgl. Schütze 2010, 8) die seit den 1950ern im US-amerikanischen Raum längst gängige Unterscheidung von Sex als biologischem Geschlecht und Gender, der gesellschaftlichen Rolle, erneut ein. Es sollte deutlich gemacht werden, dass das sozialisierte Geschlecht (Geschlechtsidentität, soziale Geschlechterrolle) sich weder in einer angenommenen natürlichen Kohärenz zu seiner biologischen Grundlage befindet noch mit dieser gleichzusetzen ist, sondern stattdessen in Prozessen der identifizierenden „Vergeschlechtlichung“ (Becker-Schmidt 2004, 62) eingekörpert (vgl. u.a. den Ansatz des Embodiment, Fausto-Sterling 2000) und habituell verankert (Bourdieu) wird. Bis in die 1990er wurde vorrangig die deterministische Biologie als Grundlage der zweigeschlechtlichen Gesellschaftsordnung gesehen und als solche kritisiert (vgl. Schütze 2010, 9). Die Unterscheidung von Sex und Gender machte es möglich, die Einteilung der Menschen in die Kategorien männlich und weiblich als historisch wandelbare, soziokulturelle Konstruktion, die als Effekt sozialer Interaktionen stets reproduziert wird, zu demaskieren und damit Biologismen zu dekonstruieren. Allerdings wurde im Weiteren angebracht, dass Gender nicht nur die Konstruiertheit von Geschlecht ausdrückt, sondern zugleich selbst eine historisch spezifische Geschlechterkonstruktion ist (vgl. ebd., 13), da ‚Sex‘ Geschlecht immer noch als in zwei natürliche Kategorien einteilbar erscheinen lässt. Zur Biologismuskritik trat nun verstärkt die Kritik der Heteronormativität (vgl. ebd., 9f), bei der nicht mehr nur die Biologie als das das Soziale beherrschende Element erscheint, sondern das Soziale selbst sich in einer normativ zweigeschlechtlich wie heterosexuellen Matrix anordnet, organisiert und reproduziert. So stellt z.B. Butler auch den als biologisch und natürlich postulierten Geschlechtskörper (‚Sex‘) als sozial konstruiert dar, da er erst über die zuschreibende Benennung als wahrnehmbar hergestellt wird (Performativität; vgl. Butler 1991).

Bezüglich dieses theoretischen Hintergrunds wirkt die hier geplante Erläuterung zwei ‚geschlechtlicher Prinzipien‘ längst überholt – wird doch in zunehmendem Maße die Vielfalt von Identitäten und Lebensentwürfen jenseits dichotomer Geschlechtlichkeit thematisiert und sehen doch viele (queer-)feministische Ansätze in der Dekonstruktion der Geschlechtskategorie eine Lösung für Geschlechterhierarchisierung und sexistische Unterdrückung (vgl. Becker-Schmidt 1991, 392; Voß 2010, 13). Angesichts der Forderung nach Entgeschlechtlichung soll die Beschreibung dual-geschlechtlicher Prinzipien einen Zugang zu Erweiterung und Entgrenzung schaffen!? Ohne das Anliegen zu verwerfen, die Wahrnehmung und Anerkennung von geschlechtlicher Vielfalt erreichen zu wollen, meine ich dennoch, dass es unerlässlich ist, sich immer wieder den Grundlagen dessen, worauf sich bipolare Ideen von Männlichkeit und Weiblichkeit stützen, zu widmen, solange diese aktuelle Geschlechtervorstellungen dominieren. Wenn ‘Weiblichkeit‘ und ‚Männlichkeit‘ als die „extremen Endglieder“ einer „lückenlose[n] Reihe von Übergängen“ gesehen werden (Goldschmidt 1916, 5f; zit. n. Voß 2010, 213), so ist es durchaus interessant, die zwei als ‚Extreme‘ benannten Qualitäten, die die Einheit des Ganzen bilden, zu betrachten, um die Idee diesen Zusammenhangs zu begreifen. Diese Erforschung scheint sogar notwendig, denn die bestehenden, wenn auch gemachten, Differenzen zu verleugnen, trägt dazu bei, sie weiterhin in ihren subtilen Wirkmechanismen zu belassen, für die sie als Erklärung und Rechtfertigung dienen.

Die geschlechtsbezogenen Urprinzipien Yin und Yang

In den Heiligenfeld-Kliniken, deren institutionelle Kultur durch einen offenen spirituellen Bezug geprägt ist, wird der Begriff ‚Energie‘ oft und vielfältig gebraucht. Verwendung erfährt er etwa in Bezug auf die Atmosphäre in einem Raum bzw. in einer Gruppe, etwa bezüglich dessen, was als Resonanz in Bezug auf einzelne Patient_innen wahrgenommen wird, oder auch im Sinne von (Ur-)Prinzipien, also Urkräften bestimmter Qualitäten, die bestimmte Dynamiken bewirken (können). Die zuletzt genannte Begriffsbestimmung würde ich als übergeordnet fassen, da sie weiteren Bewegungen und Ausformungen zugrunde zu liegen scheint. Weniger meint hier der Begriff ‚Energie‘ im Sinne der Physik eine konkret messbare Kraft, die von a nach b gerichtet ist, sondern vielmehr eine umfassende Kraft, die sich unter bestimmten Umständen sowohl materiell als auch auf das Bewusstsein bezogen in einer bestimmten Qualität manifestieren kann. Hinsichtlich geschlechtsbezogener ‚Energie‘ erweist es sich für mich als stimmig, den Begriff des ‚Prinzips‘ in der Vorstellung einer zugrundeliegenden ‚naturgemäßen‘ Regel zu untersuchen, aus der letztlich Bewusstseins- und Energieformen hervorgehen.

Ein Weg, sich diesen Prinzipien zu nähern, ist das Verständnis von Yin und Yang. In diesem Kapitel gehe ich insbesondere von Sukie Colegraves Werk „Yin und Yang: Die Kräfte des Weiblichen und des Männlichen. Eine inspirierende Synthese von westlicher Psychologie und östlicher Weisheit“ (1984) aus. Sie rezipiert und interpretiert darin vor allem Schriften der klassisch-chinesischen Philosophie, das über 3000 Jahre alte „I Ching“ (oder „I-Ging: Das Buch der Wandlungen“3 ) und Laotses „Tao Te Ching“ (auch „Tao te king“ oder „Daodejing“). Aus der westlichen Psychologie zieht sie in erster Linie C.G. Jung sowie Rudolf Steiner heran. Das Männliche und das Weibliche erscheinen hier als Bewusstseinsstadien, die Colegrave sowohl in Bezug auf individuelle als auch auf gesellschaftliche Entwicklung (hier insbesondere der chinesischen Kulturgeschichte) bezieht. Die geschlechtlichen Prinzipien sind hier Wesenhaftigkeiten allen Lebens, jedoch mit dem Anspruch, diese nicht rückzukoppeln an die konkreten Geschlechtlichkeiten von Menschen (was nicht immer gelingt).4

2.1 Die Yin-Yang-Philosophie

Die Vorstellung von Yin und Yang ist eingebettet in die Weisheit des Tao. Das Tao beschreibt „das Eine“, „das Große Nichts“, „die Quelle allen Seins“, das sich in allem, was ist, manifestiert und gleichzeitig dessen Grundlage ist (vgl. ebd., 13-17). Jede Beschreibung des Tao ist letztlich unzulänglich, da mit Worten Trennungen produziert werden, die das Tao nicht kennt, denn es ist ohne Grenze. Das Tao ist im Grunde nicht in sprachlicher Fixierung, sondern ‚nur‘ intuitiv erfassbar (vgl. Wilhelm 1989, 24). Übersetzbar ist Tao am ehesten mit ‚Sinn‘ in einem sehr weitfassenden Verständnis des Wortes (so verdeutscht im Tao te king, vgl. ebd.).

Es ist das Universum vor seiner Differenzierung, „das Gefäß, das den Kosmos birgt und erzeugt, […] das das kindliche Bewußtsein der Menschheit behütet, leitet und durchdringt“ (Colegrave 1984, 41). Dieses „kindliche Bewußtsein“ nennt Colegrave auch das „matriarchalische“ Bewusstsein, da das Erleben der ungetrennten, unreflektierten Verbundenheit mit der Natur in vielen Kulturen mit der ‚Herr‘schaft der Großen Mutter oder Großen Göttin in Verbindung gebracht wurde und wird (vgl. ebd., 38-48). Dieses Stadium ‚vor der Geburt‘, in dem noch alle Dinge vereinigt sind, wird eindrücklich symbolisiert im Uroboros, der Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt (vgl. ebd. 18f; Abb. im Anhang (1.)). In ihr enthalten sind das Befruchtende und das Empfangende zugleich, Yang und Yin. Diese ursprüngliche Polarität geht aus dem Tao hervor, erzeugt Wandlung und ist als „die Bewegung des Tao zu verstehen“ (ebd., 70). Aus dem Zusammenspiel und Wirken dieser ursprünglichen Polarität treten alle Dinge und Erscheinungen in ihre Existenz, werden und vergehen; die kosmischen und menschlichen, die biologischen und psychischen, organischen und anorganischen, materiellen und ideellen. Yin und Yang werden in Zusammenhang mit vielen anderen Polaritäten gebracht wie dem Hellen und dem Dunklen oder dem Festen und dem Nachgebenden. Die eine Seite kann es dabei nie ohne die andere geben. Entsprechend der physischen Zeugung von Leben werden die zwei kosmischen Prinzipien als das Maskuline und das Feminine bezeichnet.

„Die Geschlechtlichkeit ist demnach ein kosmisches oder archetypisches Phänomen, das in verschiedenen Formen in der ganzen Schöpfung von der Ebene des Anorganischen bis zu der Ebene des menschlichen Bewußtseins zum Ausdruck kommt.“ (ebd., 87)

Dass Maskulinität und Femininität dabei als symbolische Größen zu denken sind, anstatt als zugehörig zu oder sogar gleichgesetzt mit den ihnen zugeschriebenen Menschen, Frauen und Männern, macht Colegrave wiederholt explizit (vgl. ebd., 34).

Die Vielfalt der Existenz entsteht durch unterschiedliche Yin- und Yang-Anteile in jedem Ding und jedem Wesen. Hierbei werden Geist und Körper nicht als getrennt verstanden, sondern als verschiedene Ausdrucksformen eines Kontinuums. Weisheit und Gesundheit hängen von der Ausgewogenheit und Harmonie zwischen femininem und maskulinem Prinzip ab. Doch die Anerkennung der Getrenntheit ihres Wesens ist die Vorbedingung für ihre Beziehung und Vereinigung (vgl. ebd., 27). Bevor die Prinzipien in einer „androgyne[n] Individualität, die jenseits der Gegensätze existiert“ (ebd., 209) harmonisiert werden können, bedarf es einer klaren Unterscheidung, sonst läuft mensch Gefahr, Harmonie lediglich als unbewusste Einheit zu suchen, geht es doch aber bei ihr um die „Fähigkeit, die Getrenntheit ebenso wie die Einheit zu erkennen“ und wahrnehmen zu können (ebd., 62). Dazu ist es erforderlich, das Wesen der beiden Prinzipien zu verstehen, die in allem, was ist, wirken und sich in Bewusstsein, Erleben, Denken, Eigenschaften, Körperlichkeit, etc. manifestieren. In einer abstrakten Schilderung folgt nun eine Annäherung daran.

2.2 Yang, das maskuline Prinzip

Das maskuline Prinzip bringt ein Bewusstsein hervor, das der Beginn der Selbst-Erkenntnis ist (vgl. ebd., 107). Yang entsteht aus dem Drang und ist gleichzeitig dieser Drang, „sich aus der Hegemonie der Natur zu lösen und das eigene Schicksal selbst zu bestimmen“ (ebd., 89). Es ist das Aufbrechen der unbewussten Verbundenheit zugunsten der Erfahrung des eigenen Selbst, der Entdeckung von Individualität und innerer Freiheit, „anstatt dem Zwang der kollektiven Impulse der Gruppe ausgeliefert zu sein“ (ebd., 100). Die Erfahrung der grundsätzlichen Individualität, vollkommen allein in der Welt zu stehen, wird durch das Vermögen, Unterscheidungen als Grenzen zu ziehen und wahrzunehmen, ermöglicht. So ist das Maskuline das Prinzip der (Selbst-)Führung, der Differenzierung und der Ordnung.

„Bedeutet doch die volle Erfahrung des maskulinen Prinzips in jedem Individuum, daß jeder in sich selbst seine Autorität entdeckt und entsprechend seiner eigenen Erkenntnis sein Leben analysiert, organisiert, kontrolliert und gestaltet, also nicht mehr entsprechend dem Diktat einer äußeren Gruppe, Institution oder Ideologie.“ (ebd., 107)

Das männliche Bewusstsein geht davon aus, dass die Menschen für die Gestaltung des Lebens selbst verantwortlich sind. So ist das Männliche auch das Formgebende. Sein Wesen ist es, den Ideen Gestalt zu verleihen (vgl. ebd., 80). Die Entwicklung und Formung der Dinge bedarf der Differenzierung und Entschiedenheit, die Yang mit sich bringt, ebenso wie analytische, rationale und organisatorische Geschicklichkeit. Es ist als aktive Kraft zu sehen, „deren Energie von keinerlei festen Gegebenheiten im Raum eingeschränkt ist und die deshalb als Bewegung verstanden wird“ (ebd.). Die Bewegungen gehen von einem Anfang aus, um ein (End-)Ziel zu erreichen; Entwicklung geschieht demnach in Zeit. Das Maskuline ist somit das Prinzip von Ursache und Wirkung, also ein zeitliches, kausales Prinzip.

Als Ausdruck des Strebens nach Autonomie und Freiheit stehen Gefühle wie Geltungsdrang und Selbstvertrauen im Zusammenhang mit dem Maskulinen (vgl. ebd., 113). Aus der vollständigen Erfahrung des für sich allein stehenden Selbst kann es wiederum von Relevanz werden, sich im wechselseitigen Bezug zur Welt zu erfahren.

„Wenn einmal genügend Unabhängigkeit von dem alten [matriarchalichen; Anm. S. Sch.] Bewußtsein erreicht ist, dann braucht die Gesellschaft ebenso wie das Individuum den Einfluß des Femininen, um Grausamkeit, Unterdrückung, Zerstörung der Umwelt und psychologische Vereinsamung zu vermeiden, die aus dem Drang, die Natur zu beherrschen und die Instinkte zu unterdrücken, entstehen können.“ (ebd., 108)

Welche Qualität birgt das Feminine?

2.3 Yin, das feminine Prinzip

Die gängige Assoziierung des Weiblichen mit Gefühl und des Männlichen mit Geist wird dem Verständnis von Yin und Yang keineswegs gerecht. Ebenso benennt Colegrave es als „verbreiteten Irrtum“, das Weibliche mit dem Unbewussten gleichzusetzen (ebd., 112). Sowohl das Maskuline als auch das Feminine haben ihren Ursprung in der unbewussten Einheit, während sie gleichermaßen fähig zu bewusstem „Begreifen und Ausdruck“ sowie zur Erlangung ihrer je eigenen Reife sind (vgl. ebd.).

Während das Männliche die Kraft individueller Bestimmung und damit Loslösung und Getrenntheit bezeichnet, so ist das Prinzip des Weiblichen das der Verbundenheit (vgl. ebd., 81). Dies drückt sich aus in einer Art wartenden Ruhe, einer zurückhaltenden Empfängnis dessen, was ist und wird. So steht im Mittelpunkt des femininen Bewusstseins das Vertrauen. Während sein Fehlen „die Menschen in voreilige Entscheidungen [treibt] und […] sie dazu [bringt], andere Menschen und Situationen, die Zeit und Raum brauchen, sich auf ihre Weise zu entwickeln, zu stören und zu behindern“ (ebd., 127), greift das weibliche Bewusstsein nicht ein. Die Dinge werden zugelassen und hingenommen - nicht gemacht. Aufnahmebereitschaft als eine wesentliche Eigenschaft des Weiblichen meint einer ruhevolle Empfänglichkeit, die sich dem, was ist, hingibt. Dabei ist wichtig, diese ‚Passivität‘ als einen aktiven Akt des Glaubens zu verstehen, nicht als Ausdruck der Verzweiflung (vgl. ebd.). Die Fähigkeit, zuzuhören, nachgiebig und unaufdringlich zu sein, zu warten, zu vertrauen und zulassen zu können ist entscheidend in einem solchen Moment, „von dem ab Handeln sinnlos oder gar zerstörerisch wäre“ (ebd., 126).

[...]


1 Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene ist das System der Zweigeschlechtlichkeit maßgeblich strukturierend in Arbeits- und Machtverteilungen, der Ökonomie, Politik und Kultur, wo den Frauen in der Tendenz eine unterlegene Rolle zukommt (vgl. etwa Stein-Hilbers et al. 2000, 13).

2 Auch wenn dies nicht vorrangiger Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit ist, soll auf keinen Fall unerwähnt bleiben, dass zudem von heterogenem sexuellen Begehren ausgegangen wird. Die wechselseitige Anziehung der ‚biologischen Gegensätze‘ sei die naturgemäße Originalform sexueller Beziehungen und Praxis. Fortpflanzung und Arterhaltung halten nach wie vor als Argumente für diese biologistische Annahme her, obschon „die generative Funktion von Sexualität heute eher marginal gegenüber ihrer psychischen, sozialen und emotionalen Bedeutung“ ist (Stein-Hilbers et al. 2000, 9).

3 Ins Deutsche übersetzt und herausgegeben von Richard Wilhelm, 1924.

4 Es geht in meiner Darstellung nicht um eine ‚richtige‘ Interpretation der alten Philosophie, weswegen die u. U. subjektive Verzerrung durch Colegraves Auslegung unproblematisch ist. Vielmehr geht es um die Möglichkeit, die Entwicklung menschlichen Bewusstseins zu denken, die sich bei ihr abzeichnet.

Ende der Leseprobe aus 28 Seiten

Details

Titel
"Männliche und weibliche Energie"
Untertitel
Eine Annäherung an Geschlechter-Archetypen mit der Philosophie von Yin und Yang und deren Verhältnis zu geschlechtsbezogener Zuschreibung
Hochschule
Philipps-Universität Marburg  (Institut für Erziehungswissenschaft)
Note
1,0
Autor
Jahr
2011
Seiten
28
Katalognummer
V507603
ISBN (eBook)
9783346063250
ISBN (Buch)
9783346063267
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Geschlecht, Essentialisierung, Yin und Yang, kritischer Feminismus, Energie, Archetypen, performative Praxis, Vielfalt
Arbeit zitieren
Sophia Schmilinsky (Autor:in), 2011, "Männliche und weibliche Energie", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/507603

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