Ausgegrenzt und allein gelassen? Die Auswirkung sozialer Ungleichheit auf junge wohnungslose Erwachsene


Bachelorarbeit, 2014

86 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

Abbildungsverzeichnis

1 Einleitung

2 Die Theorie Pierre Bourdieus
2.1 Eine erste Orientierung
2.2 Zentrale Themen und Gegenstände der Theorie Bourdieus
2.2.1 Habitus
2.2.2 Soziale Felder
2.2.3 Kapital
2.2.4 Sozialer Raum, soziale Positionen, Klassen, Lebensstil und Geschmack
2.3 Herrschaft, Macht und soziale Ungleichheit

3 Die Theorie Bourdieus vor dem Hintergrund der Theorie von Hans Thiersch
3.1 Eine kurze Einführung in das lebensweltorientierte Konzept
3.2 Theoretischer Hintergrund des lebensweltorientierten Konzepts
3.2.1 Traditionslinien und Theoriebezüge
3.2.2 Dimensionen der Lebensweltorientierung
3.2.3 Struktur- und Handlungsmaxime
3.3 Das lebensweltorientierte Konzept mit Bezug zur Theorie Bourdieus

4 Junge wohnungslose Erwachsene
4.1 Begriffsdefinitionen
4.1.1 Wohnungslosigkeit
4.1.2 Jung, erwachsen und wohnungslos
4.2 Das Phänomen in Wissenschaft und Forschung
4.3 Die Situation junger wohnungsloser Erwachsener
4.4 Hintergründe und Erklärungsansätze
4.4.1 Entwicklungsbedingte Faktoren
4.4.2 Familiäre Faktoren
4.4.3 Strukturelle Faktoren

5 Zusammenfassung und Fazit

Literaturverzeichnis

ABBILDUNGSVERZEICHNIS

Abbildung 1 Habitus (in Anlehnung an Bourdieu 1998: 280, Essen 2013: 36)

Abbildung 2 Der Raum der sozialen Positionen (in Anlehnung an Bourdieu 1998: 212f., Schwingel 2011: 108, Trebbin 2013: 108)

Abbildung 3 Der soziale Raum (in Anlehnung an Burzan 2011: 131)

Abbildung 4 Kapitalausstattung – Herausforderung/Belastung – Habitus (in Anlehnung an Schütte 2013: 86)

Abbildung 5 Zusammenhang von Schutz- und Risikofaktoren (in Anlehnung an Schütte 2013: 88)

Abbildung 6 Anteil junger Erwachsener unter 25 Jahren nach Geschlecht an allen Wohnungslosen 2004-2010 (BAG Wohnungslosenhilfe e.V. 2013: 4)

Abbildung 7 Maslowsche Bedürfnispyramide (in Anlehnung an Exner 2010: 124, Maslow 2008: 62-74)

Abbildung 8 Zusammenhang zwischen Individuations- und Integrationsprozessen (in Anlehnung an Hurrelmann 1994: 75)

Abbildung 9 Zusammenhang zwischen Lebensverhältnissen, individuellen Dispositionen und Symptomen der Problembewältigung (in Anlehnung an Hurrelmann 2007: 160, Hurrelmann 1994: 197)

Abbildung 10 Gegenüberstellung der Häufigkeiten einer Beanspruchung von Unterstützungsstrukturen und den Tätigkeiten zum Gelderwerb (Tillmann/Gehne 2012: 25)

Abbildung 11 Risikofaktoren, die zu sozialer Ausgrenzung junger Menschen führen können (Tillmann/Gehne 2012: 23)

1 EINLEITUNG

Ein bedeutendes Merkmal unserer Gesellschaft ist die soziale Differenzierung ihrer Mit- glieder nach Merkmalen aller Art. Dabei sind die von den Mitgliedern einer Gesellschaft eingenommenen sozialen Positionen, bestehende Lebensverhältnisse und praktizierte Lebensstile einem kontinuierlichem Wandel unterworfen, der in seinem Ergebnis zu einer Aufgliederung der Gesellschaft führt. Die sozialen Akteure bilden ein vielfältiges Spektrum mit unterschiedlichsten Besonderheiten in Bereichen wie Bildung, Beruf, Einkommen, dem sozialen Status sowie der sozialen Herkunft. Daraus resultiert ein Kreislauf, indem die Strukturen und Mechanismen der Gesellschaft und gleichzeitig die sozialen Positionen anderer Personen beeinflusst werden. Entscheidend ist hierbei, dass die durch die soziale Differenzierung festgelegten Positionen der Individuen in gesellschaftlichen Strukturen die Chancen bestimmen, welchen Zugang der Einzelne zu strukturellen Ressourcen und ge- sellschaftlicher Teilhabe hat. Demzufolge kommt es innerhalb der Gesellschaft zu einer ungleichen Verteilung von Chancen, Möglichkeiten und Risiken. In diesem Zusammen- hang steht die Frage nach der sozialen Ungleichheit im Mittelpunkt. Soziale Ungleichheit herrscht, „wenn beobachtbare Unterschiede Auswirkungen auf die sozialen Lebensweisen und -formen, auf Lebenschancen und auf den ungleichen Zugang zu Ressourcen haben.“ (Nassehi 2011: 166) Diese Unterscheidungen beziehen sich auf die verschiedensten zur Verfügung stehenden und für die Gesellschaft als relevant erachteten Ressourcen, wie Geld oder Macht, welche Individuen bzw. Gruppen von Individuen privilegieren und zu einer Benachteiligung der ausgeschlossenen Personen führen (vgl. Endruweit/Trommelsdorff/Burzan 2014: 573).

Ein Thema, das in Deutschland aktuell häufig diskutiert wird, ist die Frage, ob soziale Un- gleichheit zunimmt. Die Entwicklung von sozialer Ungleichheit steht im Fokus des Interes- ses bei den professionellen Helfern der Sozialen Arbeit, den verschiedenen Fachdiszipli- nen, wie beispielsweise der Soziologie, aber auch in der Politik und der öffentlichen Mei- nung. Es besteht ein kontroverser Disput über die Art der Ausprägung sozialer Ungleich- heit, ob sie im zeitlichen Verlauf eher zu- oder abgenommen hat, welche Ursachen ihr zugrunde liegen und ob und vor allem wie ein Auf- oder Abstieg ermöglicht wird. Dabei sind die Wissenschaften und Theorien Moden unterworfen, die zu unterschiedlichen Zei- ten auf verschiedenste Art und Weise wahrgenommen werden. Beispielsweise wurde in den 1970er Jahren für die Erklärung sozialer Phänomene die Perspektive auf Randstän- digkeit und Marginalität eingenommen, welche heutzutage eher in den Hintergrund ge- rückt ist. Die daraus resultierenden kontroversen Diskurse haben wiederum Auswirkungen auf die Gesellschaft, Politik und Gesetzgebung.

Eine wichtige Quelle für die aktuellen Dispute sind die verschiedenen Institutionen und Akteure, wie die Bundesministerien oder die Boulevardpresse, die mit ihren Publikationen auf ein hohes mediales Interesse stoßen. Sie bestimmen das Gefühl in der Gesellschaft für Armut, Reichtum, Ungleichheit und Teilhabe mit, indem das, was sie publizieren, in besonderer Art und Weise wahrgenommen wird. Zum einen sind dies Publikationen, die von der Bundesregierung in Auftrag gegeben werden, wie der 4. Armuts- und Reichtumsbericht des Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2013), aber auch Veröf- fentlichungen, wie die Stellungnahme des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit (2013) oder Berichte, wie der 14. Kinder- und Jugendbericht des Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2013). Darüber hinaus wird in der Boulevardpresse soziale Ungleichheit regelmäßig thematisiert, welche sich in publizierten Artikeln wie „Viel Reichtum, wenig Zusammenhalt“ (Woratschka 2014: o.S.) oder „Gerecht war gestern. Mehr Arme und mehr Millionäre: In Deutschland wächst die Ungleichheit – ist der Trend noch zu stoppen?“ (Rudzio 2011: o.S.) äußern.

Menschen, die in besonderer Art und Weise von Armut, Ausgrenzung und Stigmatisierung betroffen sein können, sind wohnungslose Menschen. In der Praxis der Wohnungslosenhilfe erlebt man häufig gerade bei jungen wohnungslosen Erwachsenen, dass sie in ihrem bisherigen Leben sozioökonomische und soziokulturelle Benachteiligun- gen erfahren haben. Es ist auffällig, dass junge Menschen oftmals schon von Kindheit an von sozialer Ausgrenzung betroffen sind und im Elternhaus prekäre soziale und ökonomi- sche Verhältnisse sowie ein unzureichender Zugang zur Kultur bestehen. Je mehr sich die prekären Lebensverhältnisse verschärfen und multiple Problemkonstellationen zu- sammentreffen, desto höher scheint die Wahrscheinlichkeit zu sein, wohnungslos und an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden, sei es durch wirtschaftliche oder gesell- schaftliche Exklusion. Wohnungslosigkeit stellt in diesem Sinne eine Form extremer sozia- ler Ausgrenzung dar, die durch die bestehenden prekären Lebensverhältnisse von Betrof- fenen nur unzureichend positiv beeinflusst werden kann.

Es kommt die Frage auf, ob und wie sozioökonomische und soziokulturelle Benachteili- gungen im Kindes- und Jugendalter zu einem erhöhten Risiko führen, wohnungslos zu werden. Die zugrunde liegende Annahme ist hierbei, dass, bezogen auf ökonomische, kulturelle und soziale Ressourcen, eine von Kindheit an existierende Mangelsituation zu einer Verschärfung der prekären Lebensverhältnisse bis hin zu Wohnungslosigkeit führen kann, sofern die Mobilisierung der personalen, strukturellen und sozialen Ressourcen durch die Individuen, ihr soziales Umfeld oder institutionelle Hilfesysteme nicht ermöglicht werden kann.

Die theoretische Arbeit Pierre Bourdieus scheint in besonderer Art und Weise geeignet, diese Frage zu untersuchen bzw. gesellschaftliche Wirklichkeit darzustellen und Un- gleichheitsverhältnisse zu analysieren. Pierre Bourdieus soziokulturelle Klassentheorie analysiert die sozialstrukturelle Bedeutung von Lebensstilen und fügt diese Zusammen- hänge systematisch in einen großen dreidimensional gestalteten Rahmen ein. Dadurch ist es möglich, die Lebensverhältnisse und -stile der Individuen abzubilden und im Hinblick auf gegebene Möglichkeiten und zukünftige Auswirkungen zu analysieren.

Um den theoretischen Rahmen abzurunden und eine weitere Perspektive einzunehmen, wird das lebensweltorientierte Konzept von Hans Thiersch ergänzend zu der Theorie Bourdieus hinzugezogen. Thiersch betrachtet die spezifischen Lebensverhältnisse der Individuen näher, verbindet sie mit ihrer individuellen, subjektiv erfahrenen Lebenswelt und ermöglicht dadurch eine alltags- und lebensweltorientierte sozialpädagogische Arbeit. Die lebensweltorientierte Arbeit verfolgt das Ziel, mit Hilfe professioneller Unterstützung einen für das Individuum gelingenden Alltag zu schaffen, indem alternative Lebensver- hältnisse aufgezeigt und tragfähige Kompetenzen und Fähigkeiten vermittelt werden.

Es ist nicht das Ziel dieser Arbeit, einen einfachen Wirkmechanismus zu konstatieren. Vielmehr soll der Blick auf mögliche Wirkungszusammenhänge mit all ihrer Komplexität geschärft und vorhandene Abhängigkeiten dargestellt werden. Um dies zu erreichen, wird die Arbeit inhaltlich in zwei Teile aufgeteilt, dem theoretischen und praxisbezogenen Teil. Im ersten Teil soll zunächst die Theorie Pierre Bourdieus dargestellt werden, um diese in Verbindung mit sozialer Ungleichheit zu setzen. Im Anschluss daran wird das Konzept der Lebensweltorientierung von Hans Thiersch vor dem Hintergrund der Theorie Bourdieus dargestellt. Im zweiten Teil werden aktuelle wissenschaftliche Forschungen zur Problem- situation und den Lebensverhältnissen junger wohnungsloser Menschen dargestellt. In- dem die Situation Betroffener abgebildet wird und der Hilfeprozess anhand eines exemp- larischen Fallbeispiels aus Sicht der Wohnungslosenhilfe näher erläutert wird, soll ein Verständnis der prekären Lebensverhältnisse, in denen sich junge wohnungslose Er- wachsene befinden, erfolgen. Es werden drei verschiedene Erklärungsstränge vorgestellt, die die Ursache für Wohnungslosigkeit näher erläutern und mit den zuvor dargestellten Theorien von Bourdieu und Thiersch verknüpft. Das Ziel ist es, einen Überblick über die Situation, Hintergründe und Erklärungsansätze zu bekommen, um die Ausgangsfragestel- lung beantworten zu können. Im letzten Kapitel wird abschließend eine Zusammenfas- sung und Beantwortung der These erfolgen.

Da viele der folgenden Konzepte sehr abstrakt und komplex sind, werde ich wichtige Sachverhalte anhand exemplarischer Beispiele der Wohnungslosenhilfe erläutern. Diese dienen zur Illustrierung und nicht der empirischen Untermauerung. Sollten Personenbezeichnungen aufgrund der besseren Lesbarkeit des Textes lediglich in männlicher, weiblicher oder geschlechtsneutraler Form verwendet werden, gilt dies sinn- gemäß immer für beide Geschlechter.

2 DIE THEORIE PIERRE BOURDIEUS

2.1 EINE ERSTE ORIENTIERUNG

„Patrick Süßkinds Stück Der Kontrabaß vermittelt ein äußerst gelungenes Bild von der schmerzhaften Erfahrung, die all jene von der sozialen Welt haben können, die – wie der Kontrabassist in einem Orchester – eine untere und unbedeutende Stellung innerhalb ei- nes prestigereichen und privilegierten Universums einnehmen; wobei diese Erfahrung um so schmerzhafter sein dürfte, je weiter oben im globalen Raum dieses Universums ange- siedelt ist, an dem sie ausreichend partizipieren, um ihre niedere Position wahrnehmen zu können.“ (Bourdieu et al. 1997: 18f.; Hervorhebung im Original)

Pierre Bourdieu (1930-2002) war ein französischer Soziologe, dessen umfangreiche Ver- öffentlichungen bis in die 1950er-Jahre zurückreichen und inzwischen dem standardmä- ßigen Repertoire der Sozialwissenschaften angehören. Bourdieu dürfte während seines Schaffens nicht nur zu den bedeutendsten Soziologen des 20. Jahrhunderts avanciert sein, sondern erhielt weit über sein eigenes Fach hinaus Respekt und Kritik (vgl. Manderscheid 2008: 155). In Deutschland erlangte Bourdieu vor allem durch sein Werk DIE FEINENUNTERSCHIEDE (1998) Rezeption, welches in der französischen Originalfas- sung 1979 unter dem Titel LA DISTINCTION erschien (vgl. Krais 2004: 171).

Über die Rolle als Soziologe hinaus engagierte sich Bourdieu an politischen Diskursen und erlangte mit seiner Kritik an aktuellen Debatten Beachtung, die sich thematisch mit der Globalisierung und der Wirtschafts- und Europapolitik in Zeiten des Neoliberalismus befasste (vgl. Vester 2010: 132). Bourdieus vielzählige Publikationen in den verschiede- nen Fachwissenschaften dürften der ausschlaggebende Punkt für die Diversität an Re- zeptionen in den unterschiedlichsten Fachwissenschaften und einer an soziopolitischen Themen interessierten Öffentlichkeit gewesen sein, welche durchaus kontrovers diskutiert werden und Anlass zu hitzigen Debatten geben (vgl. Schwingel 2011: 17). Grund hierfür ist, dass Bourdieu häufig vorgeworfen wird, seine Theorie nur unzureichend konkretisiert zu haben. Jedoch hat Bourdieu während seines Schaffens immer Wert darauf gelegt, Empirie und Theorie miteinander zu verknüpfen, d.h. konkrete, soziologisch zu analysie- rende Gegenstände systematisch mit empirischem Material und ethnografischen Deskrip- tionen zu verbinden und darüber hinaus eine theoretische Reflexion und Auseinanderset- zung zu erreichen. In diesem Sinne ist die Entwicklung einer Theorie für Bourdieu eine Genese analytischer Konzeptionen und Kategorien, welche nie vollständig abgeschlossen ist (vgl. Krais 2004: 172). Die Theorie stellt damit ein „‚Erkenntniswerkzeug‘“ (ebd.: 173) dar. Die Anwendung dieser Erkenntniswerkzeuge wird von den Interessen bestimmt, die der forschungsleitenden Frage zu Grunde liegen und erfolgt in Bezug auf die verschie- densten, soziologisch zu untersuchenden Gegenstände. Demzufolge dienen die analyti- schen Konstrukte in Bourdieus Wissenschaftsverständnis als Mittel zum Zweck, um die soziale Wirklichkeit empirisch zu untersuchen (vgl. Schwingel 2011: 19f., Bourdieu 1993: 56). Begriffe sind für Bourdieu „ offen … und bestimmt zur Orientierung empirischer Arbei- ten“ (Bourdieu 1989: 396; Hervorhebung im Original). So wird auch im Folgenden selektiv nur dasjenige Erkenntniswerkzeug eingehender betrachtet und verwendet, das für die vorliegende Fragestellung als relevant erachtet wird.

2.2 ZENTRALE THEMEN UND GEGENSTÄNDE DER THEORIE BOURDIEUS

In den folgenden Kapiteln spielen die Begriffe „Habitus“, „Soziale Felder“, „Kapital“, „Sozi- aler Raum“, „soziale Positionen“, „Klasse“, „Lebensstil“ und „Geschmack“ eine wichtige Rolle. Zum besseren Verständnis werden die Begriffe zuvor kurz umschrieben und deren Zusammenhang dargestellt.

Bourdieu zeichnet ein Bild gesellschaftlicher Wirklichkeiten, indem er diese in einem sozi- alen Raum vorstellbar macht. Er entwirft den sozialen Raum als einen mehrdimensional strukturierten Raum, der die soziale Welt repräsentiert und als ein analytisches Konstrukt gesellschaftliche Verhältnisse beschreibt. Aus diesem Prozess leitet er seine Theorie ab. Jedes menschliche Individuum kann in seiner Eigenschaft als soziales Wesen mit seinen vielfältigen und besonderen Dispositionen im sozialen Raum verortet werden. Zum einen im Raum der sozialen Positionen, zum anderen im Raum der Lebensstile, die beide über eine komplexe Theorie mit den Hauptbestandteilen Kapital, Klasse und Habitus zueinan- der in Bezug stehen.

Die vorhandene Ausstattung mit Kapital in ökonomischer, kultureller, sozialer und symbo- lischer Form sowie die strukturellen Gegebenheiten, die sich aus der im sozialen Raum eingenommenen Position und der Zugehörigkeit zu einer Klasse ergeben, wirken sich auf das Denken, Wahrnehmen und Handeln der Individuen aus und bestimmen deren Habitus und damit die Art und Weise, wie sie ihr Leben verbringen. Die spezifischen Unterschiede innerhalb der von den Individuen vorgefunden Gegebenheiten werden beispielsweise in alltäglicher Ausformung deutlich: Wie viele Kinderbücher liegen zu Hause im Regal? Wo werden Lebensmittel eingekauft? Wird auf die Qualität der Lebensmittel geachtet? Wohin verreist man? Sind Musikinstrumente zu Hause vorhanden? Kocht man zu Hause, kocht das Hausmädchen oder werden nur Fast-Food Produkte gekauft?

Der Habitus, der das Erscheinungsbild, d.h. das Denken, Wahrnehmen und Handeln der Individuen bestimmt, stellt das Kernstück der Theorie Bourdieus dar und wird im nächsten Kapitel erläutert.

2.2.1 HABITUS

Während eines Aufenthalts in Algerien führte Bourdieu Untersuchungen durch, die sich thematisch mit der vorkapitalistischen Gesellschaft auseinandersetzten. Gekennzeichnet war diese von Ausbeutungen zugunsten der herrschenden Klasse und den Umgestaltun- gen, die Algerien auf dem Weg in die Moderne begleiteten. Bourdieu scheiterte an dem Versuch, das zum Zeitpunkt der Untersuchung vorherrschende philosophische Weltbild auf das soziale Handeln der Akteure1 zu übertragen. Dies veranlasste ihn dazu, sich in- tensiver mit den sozialen Verhältnissen Algeriens zu beschäftigen. Daraufhin entwickelte er die Grundlagen für sein Habitus-Konzept (vgl. Krais 2004: 183).

„Als Produkt der Geschichte produziert der Habitus individuelle und kollektive Praktiken, also Geschichte, nach den von der Geschichte erzeugten Schemata; er gewährleistet die aktive Präsenz früherer Erfahrungen, die sich in jedem Organismus in Gestalt von Wahr- nehmungs-, Denk- und Handlungsschemata niederschlagen.“ (Bourdieu 1987: 101)

Im weitesten Sinne wird durch den Habitus die innere Grundeinstellung, die die Wahr- nehmung sowie das Handeln und Denken der Akteure in der sozialen Welt prägt, die indi- viduellen Dispositionen, die selbstverständlich gewordenen, unbewussten Handlungen, die subjektiven Vorstellungen ideeller Werte sowie die Art und Weise, wie man sein Leben verbringt zum Ausdruck gebracht. Dadurch ist es möglich, in der Gesellschaft zusammen zu leben und Erfahrungen, Fähigkeiten und Wissen auszutauschen (vgl. Fuchs- Heinritz/König 2005: 113f.).

Der Habitus zeigt sich bei jedem sozialen Akteur in Form von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata. Demzufolge kann die analytische Trennung dreier Aspekte folgen: Zum einen die Wahrnehmungsschemata, die rezeptiv die alltäglichen Wahrnehmungen ordnen und strukturieren. Zum anderen die Denkschemata, zu denen die „‚Alltagstheo- rien‘“ (Schwingel 2011: 62) gehören und die in Form von Klassifikationsmustern die kogni- tive Systematisierung und Interpretation der sozialen Welt ermöglichen. Diese implizieren ethische Normen, mit deren Hilfe die Individuen gesellschaftliche Handlungen beurteilen sowie ästhetische Maßstäbe, die von Bourdieu als „Geschmack“ (Bourdieu 1998: 278) bezeichnet werden. Darüber hinaus existieren Handlungsschemata, die die individuellen und kollektiven Handlungsweisen der Individuen generieren (vgl. Schwingel 2011: 62). Das Habitus-Konzept versucht zwischen Objektivismus, bei dem der gesellschaftliche Zusammenhang im Mittelpunkt steht, und Subjektivismus, bei dem sich das Individuum als Subjekt im Zentrum befindet, zu vermitteln. Hierzu verknüpft Bourdieu die objektiven Strukturen, die individuellen Wahrnehmungen und die soziale Praxis miteinander (vgl. Fröhlich/Rehbein 2009: 65). Bourdieu versteht Habitus auch als „Kollektives in Form von Kultur – im subjektiven Sinne des Wortes ›cultivation‹ oder ›Bildung‹“ (Bourdieu 1970: 132). Insofern stellt der Habitus ein „System(.) dauerhafter Dispositionen “ (Bourdieu 1976: 165; Hervorhebung im Original) dar und entspricht einer „Theorie der Praxis oder [einer] Theorie des Erzeugungsmodus der Praxisformen“ (ebd.: 164), wodurch gesellschaftliche Praxis hervorgebracht und auch erfahren wird. Dies hat zur Folge, dass das Habitus- Konzept keine reine Handlungstheorie darstellt, sondern wie Bourdieu betont, eine „Theo- rie der praktischen Erkenntnis der sozialen Welt“ (ebd.: 148) ist.

Die Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata sind in der Realisierung der Praxis unauflöslich miteinander verknüpft und wirken permanent zusammen, sie werden nicht bewusst kognitiv eingesetzt, sondern sind auf der intuitiven Ebene des Bewusstseins ver- ortet (vgl. Trebbin 2013: 55). Dieses System der Dispositionen bildet die Grundlage für alltägliche Handlungen und ist auf diese Weise die Basis dessen, was Bourdieu als „prak- tische[n] Sinn“ (Bourdieu 1987: 107) oder „sozialen Sinn (le sens pratique)“ (Schwingel 2011: 63) bezeichnet.

„Der praktische Sinn als Natur gewordene, in motorische Schemata und automatische Körperreaktionen verwandelte gesellschaftliche Notwendigkeit sorgt dafür, daß Praktiken in dem, was an ihnen dem Auge ihrer Erzeuger verborgen bleibt und eben die über das ein- zelne Subjekt hinausreichenden Grundlagen ihrer Erzeuger verrät, sinnvoll, d.h. mit All- tagsverstand ausgestattet sind.“ (Bourdieu 1987: 127)

Dabei dient der praktische Sinn nicht nur zur Ausführung von Handlungen, sondern all- gemein zur Orientierung in der sozialen Welt und umfasst alle Sinne2. Darüber hinaus wird es am menschlichen Körper sichtbar, indem die Wahrnehmung-, Denk- und Hand- lungsschemata verinnerlicht werden, „automatisiert“ ablaufen und die Körperhaltung, den Bewegungsablauf und auch die Art zu sprechen beeinflussen (vgl. Schwingel 2011: 63f.). Bourdieu bezeichnet dies als „leibliche Hexis“ (Bourdieu 1987: 136) oder „körperliche Hexis“ (Bourdieu 1967: 129).

Praxisbeispiel

Klient A und Klient B lernen sich in der Notübernachtungsstelle kennen. Nach einem ersten Ge- spräch stellt sich heraus, dass sie völlig aneinander vorbei reden. Klient A ist aus bürgerlichem Hause und verwendet eine Sprachstil und Redewendungen, mit denen Klient B, aus einer Arbei- terfamilie, nichts anzufangen weiß. Die Sprache, der Wortschatz, das Ausdrucksvermögen und die Art zu gestikulieren beider Klienten unterscheiden sich grundlegend. Während Klient A durch das Aufwachsen in einer bürgerlichen Familie die Standardsprache erlernte, wuchs Klient B in einer Arbeiterfamilie auf, in der das Sprechen in Dialektform zum Alltag gehörte. Darüber hinaus wurde in der Familie von Klient B das Sprechen von Hochdeutsch als hochnäsig und eitel em p- funden. Aus diesen Gründen denkt Klient B, dass sich Klient A für etwas Besseres hält und rea- giert auf seine Gestik, Sprach- und Wortwahl aggressiv. Die Situation zwischen beiden eskaliert in einem Streit, so dass beide getrennt werden müssen.

In diesem Beispiel soll gezeigt werden, welche Auswirkung die unterschiedliche Herkunft auf die Art zu sprechen hat. Der weitreichende Einfluss des Habitus auf das „Wahrneh- men, Denken, Handeln und Urteilen [als] auch das Unbewusste, die Psyche und den so- zialisierten Körper“ (vgl. Rehbein 2006: 90) wird deutlich.

„Die für einen spezifischen Typus von Umgebung konstitutiven Strukturen (etwa die eine Klasse charakterisierenden materiellen Existenzbedingungen), die empirisch unter der Form von mit einer sozial strukturierenden Umgebung verbundenen Regelmäßigkeiten ge- faßt werden können, erzeugen Habitusformen, d.h. Systeme dauerhafter Dispositionen “ (Bourdieu 1976: 165; Hervorhebung im Original).

Der Habitus stellt ein „Erzeugungs- und Strukturierungsprinzip“ (ebd.) dar. Er beeinflusst zum einen, wie Menschen sich verhalten und zum anderen, wie sie das Verhalten der anderen erwarten und bewerten, d.h. es bestimmt ihr Wahrnehmen, Denken, Handeln, Fühlen und ihre Erwartungen. Indem Akteure eine bestimmte Erwartung an das Verhalten der Anderen antizipieren, reproduziert der Habitus die ihm inne liegenden Wahrneh- mungs-, Denk- und Handlungsschemata und kann sie wiederum mit neuen Handlungssi- tuationen verknüpfen (vgl. Rehbein 2006: 87). Dies geschieht durch die schablonenartige Anwendung der individuellen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata auf neue Situationen, wodurch eine Vielfalt an möglichen Aufgaben denkbar ist (vgl. Bourdieu 1976: 173). Bourdieu spricht auch von einer „geregelte[n] Improvisation“ (ebd.: 170).

Praxisbeispiel

Klient A hat mit 24 Jahren die Fachberatungsstelle der Wohnungslosenhilfe aufgesucht. Er bat um Unterstützung bei der Wohnraumsuche. Während der Anamnese stellte sich heraus, dass er seit seinem Auszug mit 14 Jahren aus dem elterlichen Haus verschiedene Jugendhilfemaßnah- men und Heimaufenthalte hinter sich hat. Mit der Zeit wurde deutlich, dass er sich selbst ablehnt und wenig Selbstwertgefühl besitzt. Dies versucht er mit aggressivem Verhalten zu kompensie- ren. Einem Verhaltensmuster, wie er es aus seinem Elternhaus kennt. Aggressives Verhalten wird dort als eine anerkannte und passende Methode zur Durchsetzung und Zielerreichung an- gesehen, die woanders jedoch zu ablehnenden Reaktionen führt. Dies hatte zur Folge, dass er immer wieder gegen Regeln und Verbote verstieß, was wiederum dazu führte, dass Maßnahmen aufgrund regelverletzenden Verhaltens wiederholt beendet werden mussten.

Wie im Beispiel deutlich wurde, beeinflussen internalisierte Muster das eigene Verhalten, aber auch die Reaktionen der anderen, wodurch wiederum die Struktur reproduziert wird. Der Habitus ist also „nicht nur strukturierende, die Praxis wie deren Wahrnehmung orga- nisierende Struktur, sondern auch strukturierte Struktur“ (Bourdieu 1998: 279). Auf der einen Seite ist der Habitus ein Erzeugungsprinzip, „strukturierende(.) Struktur (modus operandi) “ (ebd.: 281; Hervorhebung im Original), sofern er gesellschaftlich geprägte Pra- xisformen hervorbringt. Auf der anderen Seite ein nachbildendes Prinzip, „strukturierte Produkte (opus operatum) “ (Bourdieu 1998: 281; Hervorhebung im Original), in dem Ma- ße wie er individuelle, von äußeren Einflüssen geprägte Praxisformen generiert und damit die strukturierende Struktur reproduziert. Auf diese Weise verbindet der Habitus die indi- viduelle mit der kollektiven Dimension (vgl. Stein 2006: 152). Bourdieu schreibt, dass sich „im opus operatum und in ihm allein … der modus operandi “ (Bourdieu 1976: 209; Hervorhebung im Original) enthüllt, womit die unbewusste Inkorporation des Habitus und die damit verbundenen Handlungsformen verdeutlicht werden: Obwohl man etwas kann oder tut, ist es einem nicht möglich zu erklären, warum man dies kann oder warum man auf diese Art und Weise reagiert. Man eignet sich im intuitiven Bereich Fertigkeiten an, die man in ihrer Regelhaftigkeit kaum zu bestimmen vermag. Häufig geht es dabei um die unbewusste Kenntnis der Regel. Beispielsweise können manche Personen genau unter- scheiden zwischen Rotwein-, Weißwein-, Sekt- oder Wasserglas, während andere darü- ber kein Wissen besitzen.

Diese intuitiven Kenntnisse und Fertigkeiten liegen im Habitus begründet, der im Laufe der Sozialisation durch gegebene strukturelle Bedingungen angeeignet und verinnerlicht wird. Die Inkorporation erfolgt dabei für den Akteur üblicherweise unbewusst (vgl. Schütte 2013: 40). Das Unbewusste ist für Bourdieu „das Vergessen der Geschichte“ (Bourdieu 1872: 79), das Vergessen der Habitusgenese.

Die Aneignung des Habitus geschieht durch kontinuierliche Lern- und Sozialisationspro- zesse, während derer die gesellschaftlichen Strukturen internalisiert werden (vgl. Trebbin 2013: 56). Ausschlaggebend für die Habitusgenese ist für Bourdieu die Familie, in die man hineingeboren wird und in der man aufwächst, sowie die dort vorhandenen Ressour- cen (vgl. Fuchs-Heinritz/König 2005: 120).

Bourdieu betont, dass der Habitus als Ergebnis sozialer Konditionierung unaufhörlich in einen Prozess involviert ist, bei dem die handelnden Akteure immer wieder vor neuen Herausforderungen stehen und Erfahrungen machen, die im Laufe der sozialen Laufbahn den Habitus modifizieren (vgl. Bourdieu 1989: 406f.). Jedoch verhält sich der einmal in- korporierte Habitus träge: Bourdieu bezeichnet dies als den „Hysteresis[-Effekt]“ (Bour- dieu 1976: 183), wodurch die Wirkung neuer Erfahrungen ausbleibt. Dies wird dann sicht- bar, wenn man trotz eines sozialen Auf- oder Abstiegs das soziale Verhalten seiner ur- sprünglichen Herkunft zeigt, da es über Generationen hinweg von Familienmitgliedern weitergegeben wird. Demzufolge kann das soziale Verhalten, wie beispielsweise die Sprache oder der Geschmack, nicht einfach abgelegt werden. Die starke Dominanz der Erziehung durch die primären Bezugspersonen, die Prägung durch die Herkunftsfamilie und die durch Beobachtungs- oder Modellernen in den ersten Lebensjahren angeeigneten Denk-, Wahrnehmungs- und Verhaltensmustern, wird deutlich (vgl. Lenger/Schneickert/Schumacher 2013: 25). Der Habitus funktioniert wie ein psychologi- scher Filter, der unbewusst zuvorderst unbewusst inkorporierte Muster und Schemata auf neue Situationen anwendet und dabei definiert, welches Verhalten angemessen oder un- angemessen ist.

Praxisbeispiel

Klient A wuchs in einer schwierigen familiären Situation auf. Sein an Alkoholsucht erkrankter Vater und seine manisch depressive Mutter konnten sich angesichts eigener Probleme kaum um ihren Sohn kümmern und waren darüber hinaus nicht in der Lage, ihm ein nur annähernd stabi- les emotionales Umfeld zu bieten. Aufgrund dieser Thematik ist Klient A mit 18 Jahren aus der elterlichen Wohnung ausgezogen.

Nach seinem überstürzten Auszug kam er ein Jahr bei Freunden unter und hat es dann mit Un- terstützung durch soziale Hilfesysteme geschafft, eine Lehre zu beginnen und in eine Wohnge- meinschaft einzuziehen. Mittlerweile hat er eine Freundin gefunden, aber die Beziehung ist schwierig. In seiner Kindheit erlebte er es nie, dass seine Eltern sich umarmten, küssten oder wertschätzend miteinander und mit ihm umgingen. Dadurch, dass er keine positive, liebevolle Nähe durch seine Eltern erfahren hat, ist er nun auch nicht in der Lage, in der Partnerschaft Nä- he zuzulassen und seine Gefühle auf positive Art und Weise auszudrücken. Körperliche oder verbale Gewalt im Umgang untereinander war das im Elternhaus vorherrschende und anerkann- te Ausdrucksmittel. Klient A hat eine niedrige Toleranzschwelle und reagiert vor allem in Situati- onen, in denen er das Gefühl des emotionalen Kontrollverlustes hat, mit Gewaltausbrüchen. Da er dieses Verhaltensmuster als natürlich und passend erfahren hat, fällt es ihm umso schwerer, zu verstehen, weswegen Menschen mit denen er jetzt zu tun hat, dieses Verhalten als störend und abstoßend empfinden.

Kritisch anzumerken ist an dieser Stelle, dass bei der Lektüre der Werke von Bourdieu der Eindruck entsteht, dass dem Willen des Einzelnen kaum Relevanz zukommen würde und der handelnde Akteur durch die äußeren Bedingungen in so hohem Maße determiniert sei, dass er keine Autonomie besitze. Denn Bourdieus grundlegende Annahme über Indi- viduen und deren Entwicklung ist, dass sie mit ihren vorstrukturierten Dispositionen nicht in freier Entscheidung ihren Lebensentwurf verwirklichen, sondern durch den Habitus ge- sellschaftlich vorbestimmt sind (vgl. Schwingel 2011: 61). Jedoch sind die Akteure nicht völlig in ihrer Eigenständigkeit begrenzt, da der Habitus nicht die exakten Handlungen festlegt, sondern die Grenzen generiert, innerhalb derer durchaus die Möglichkeit besteht, Individualität darzustellen (vgl. ebd.: 69). Dabei beeinflusst die innerhalb der Sozialstruktur eingenommene spezifische Position des handelnden Akteurs oder der Gruppe den Habi- tus (vgl. ebd.: 65).

„In den Dispositionen des Habitus ist somit die gesamte Struktur des Systems der Exis- tenzbedingungen angelegt, so wie diese sich in der Erfahrung einer besonderen sozialen Lage mit einer bestimmten Position innerhalb dieser Struktur niederschlägt. Die fundamen- talen Gegensatzpaare der Struktur der Existenzbedingungen (oben/unten, arm/reich, etc.) setzen sich tendenziell als grundlegende Strukturierungsprinzipien der Praxisformen wie deren Wahrnehmung durch.“ (Bourdieu 1998: 279)

Abbildung 1 veranschaulicht die beschriebene Struktur des Habitus.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1 Habitus (in Anlehnung an Bourdieu 1998: 280, Essen 2013: 36)

Durch die eingenommenen sozialen Positionen können die Habitusformen der Mitglieder einer Gruppe oder Klasse kollektiv übereinstimmen, da sie von ihnen als gegeben und verbindlich verstanden werden und dadurch Allgemeingültigkeit besitzen. Dadurch können sich klassenspezifische Neigungen, Fähigkeiten und Handlungen entwickeln, wie bei ei- nem kollektiv gültigen Code (vgl. Bourdieu 1976: 177f.). Letztlich bleibt Bourdieu jedoch bei der Frage, welche Chance auf Veränderung der Einzelne aufgrund seines Habitus, seiner psychologischen Komponenten und seiner personalen Ausstattung in sich trägt, welche die Gesellschaft ihm anerkennt und vor allem wie eine Modifizierung dessen mög- lich ist, sehr offen.

Die vom Habitus erzeugte Praxis findet in einem strukturierten Umfeld statt. Dieses Um- feld bezeichnet Bourdieu als soziales Feld, in welchem die vom Habitus erzeugte Praxis stattfindet (vgl. Schwingel 2011: 82).

2.2.2 SOZIALEFELDER

Es herrscht eine prozessuale Abhängigkeit zwischen Habitus und Feld: Indem die Akteure in Interaktion mit anderen Personen treten, werden durch den Habitus Praxisformen her- vorgebracht und soziale Strukturen als materielle Wirklichkeit existent. Demzufolge kann ohne leibliche Akteure keine Praxis entstehen und ohne Praxis gibt es keine objektiven Strukturen (vgl. ebd.: 76f.). Dies führt zu einer Wechselwirkung, welche Bourdieu als Ent- wicklung umschreibt, „die objektiven Bedingungen, deren Produkt sie in letzter Analyse sind, zu reproduzieren.“ (Bourdieu 1976: 165) Indem der Habitus systematisch eine Aus- wahl seines Umfeldes, d.h. von Orten, Personen und Ereignissen schafft, schützt er sich vor krisenhaften Situationen und kreiert relativ stabile Alltagssituationen, in denen die Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata noch verstärkt werden (vgl. Bourdieu 1987: 114). Demzufolge befinden sich soziale Felder bzw. Räume3 in einer unauflöslichen Wechselbeziehung zum Habitus.

„Das heißt, es ist jenes geheimnisvolle Doppelverhältnis zwischen den Habitus – den dau- erhaften und übertragbaren Systemen der Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungs- schemata, Ergebnis des Eingehens des Sozialen in die Körper (oder in die biologischen Individuen) – und den Feldern – den Systemen der objektiven Beziehungen, Produkt des Eingehens des Sozialen in die Sachen oder in die Mechanismen, die gewissermaßen die Realität physischen Objekten [!] haben; und natürlich alles, was aus dieser Beziehung ent- steht, das heißt die sozialen Praktiken und Vorstellungen oder die Felder, sobald sie sich in Form von wahrgenommenen und bewerteten Realitäten darstellen.“ (Bourdieu/Wacquant 1996: 160)

Folglich stellt Bourdieu Relationen in den Mittelpunkt: Ein Feld stelle „ein Netz oder eine Konfiguration von objektiven Relationen zwischen Positionen“ (ebd.: 127) dar. Demnach sind die von den Akteuren eingenommenen Positionen im Verhältnis zu den objektiven Strukturen definiert. Den Akteuren ist damit gesellschaftlich eingezeichnet, wie sie etwas ausführen sollen und sinnstiftend erscheint (vgl. ebd.). Die eingenommenen Positionen der Akteure in den sozialen Feldern unterscheiden sich je nach ihren individuellen Eigen- schaften und ihrem vorhandenen Kapital (vgl. Engler 2003: 241). Der Wert des Kapitals im Sinne von Handlungschancen, Verwirklichungsoptionen und Umsetzbarkeit ist dabei feldbezogen und unterscheidet sich folglich von Feld zu Feld. Akteure erhalten Eintritt in ein soziales Feld, indem sie eine bestimmte Zusammensetzung an Kapital haben (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996: 139). Demzufolge können die einzelnen Akteure durch ihre verschiedenen Kapitalzusammensetzungen gleichzeitig in verschiedenen Feldern aktiv sein.

Praxisbeispiel

Klient A kommt in die Wohnungslosenhilfe, nachdem er aufgrund von Mietversäumnissen woh- nungslos geworden ist. Er hatte vor einem Jahr einen Unfall und ist seither dauerhaft erwerbsun- fähig, wodurch er an Depressionen erkrankte. Wegen seiner diagnostizierten psychischen Er- krankung und der damit verbundenen Rückzugstendenz hatte er sich weder um seine Existenz- sicherung noch um die Bezahlung der Miete gekümmert. Im weiteren Verlauf kam es zu einer Zwangsräumung, weswegen er nun wohnungslos ist.

Klient A hat kein ökonomisches Kapital mehr, wodurch er zu spezifischen gesellschaftlichen Be- reichen, zu denen er in Zeiten, in denen er erwerbstätig war und ein monatliches Einkommen hatte, keinen Zugang mehr hat. Mit einigen seiner Nachbarn übte er ein gemeinsames Hobby, das Golfen, aus. Doch durch die Wohnungslosigkeit und die fehlenden finanziellen Mittel besteht auch seitens der Nachbarn kein Interesse an der Aufrechterhaltung der Beziehung. Er gehört nun nicht mehr zu „ihnen“, sondern ist „abgerutscht“ in Milieus, in denen ökonomisches Kapital keine vakante Rolle mehr spielt und mit denen die Nachbarn keinen Kontakt haben möchten.

Bourdieu unterscheidet unter anderem zwischen dem ökonomischen, religiösen sowie künstlerischem Feld (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996: 127). Die thematische Variationsbrei- te ist praktisch unerschöpflich, beispielsweise von Mode, Reisen, Sport, Politik bis hin zu Bildung. Die einzelnen Felder differenzieren sich wiederum nach unten, etwa in das Un- terfeld Schule (vgl. Abels/König 2010: 205).

Bourdieu beschreibt das soziale Feld als Kampffeld, Kraftfeld oder auch Magnetfeld (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996: 37, Bourdieu 1985: 49). Zum einen existieren in ihm Zwänge, die den handelnden Akteuren auferlegt werden und sie neben dem Habitus in ihren Hand- lungen einschränken. Zum anderen konkurrieren die einzelnen Akteure miteinander um Macht, Anerkennung und soziales Ansehen (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996: 37f.).

Um zu verstehen, was das Feld ist und wie es funktioniert, gebraucht Bourdieu bisweilen den Begriff des „Spiels“. Die Akteure spielen mit Einsätzen, die ihre Kapitale darstellen, welche sie investieren müssen, um am Spiel teilnehmen zu können. Das verfolgte Ziel wird durch das Interesse der Spieler definiert und ist in jedem Feld ein anderes (vgl. ebd.: 127f.). Dieses feldspezifische Interesse teilen die Spieler miteinander, welches Bourdieu als „ illusio (von ludus, Spiel)“ (ebd.: 128; Hervorhebung im Original) bezeichnet. Die illusio verleiht dem Spiel Sinnhaftigkeit und ermöglicht die Entstehung des Feldes und bestimmt das feldbezogene Engagement, die Interessen und Strategien (vgl. Fuchs-Heinritz/König 2005: 145).

Die Spiele unterstehen, analog zu den Spielen im Sport, spezifischen Spielregeln. Die konkreten Praktiken sind jedoch nicht vollständig durch die Regeln determiniert, sondern obliegen dem strategischem Ermessen der Spieler (vgl. Schwingel 2011: 83f.). Dieses wird einerseits von der verfügbaren Kapitalmenge, als auch von der Entwicklung des Ka- pitalumfangs und der Kapitalstruktur, der sozialen Laufbahn und dem Habitus des Ak- teurs, bestimmt. Dabei liegt die Entscheidung, welche Strategien verfolgt werden, um die feldspezifische Macht zu erlangen, in der Hand des Spielers: Das Kapital kann vermehrt, erhalten, reduziert oder verloren werden (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996: 129).

Um die Abhängigkeit zwischen Habitus und Feld zu erklären, stößt man auf einen weite- ren von Bourdieu verwendeten Begriff: Das Kapital. Die spezifischen Kapitalzusammen- setzungen bilden die Grundlage, um Eintritt in ein bestimmtes soziales Feld zu erhalten. Damit wird die Abgrenzung zu anderen sozialen Feldern ermöglicht und die Vorausset- zungen zur Teilnahme am Spiel geschaffen. Folglich wird Kapital benötigt, um Handlun- gen der Akteure zu ermöglichen, welche wiederum in einem wechselseitigen Verhältnis zum Habitus und den sozialen Feldern stehen. Wie Bourdieu den Kapitalbegriff definiert, wird im nächsten Kapitel erörtert.

2.2.3 KAPITAL

Bourdieu definiert Kapital im Allgemeinen als „soziale(.) Energie“ (Bourdieu 1998: 194) bzw. „Energie der sozialen Physik“ (Bourdieu 1987: 222, Bourdieu 1976: 357). Kapital ist „akkumulierte Arbeit, entweder in Form von Materie oder in verinnerlichter, ‚inkorporierter‘ Form“ (Bourdieu 1983: 183) und wird als solches von den Akteuren des sozialen Raums angeeignet. Dies schafft die Voraussetzung für die verschiedensten Möglichkeiten zu handeln (vgl. ebd.). Das über einen gewissen Zeitraum akkumulierte Kapital kann inner- halb der sozialen Felder, in denen es wirksam ist, für die Erlangung, Erhaltung und Aus- übung von Macht, d.h. der Möglichkeit Anderen den eigenen Willen aufzuzwingen, einge- setzt werden. Damit können gesellschaftliche Strukturen reproduziert und gleichzeitig die Verteilung von sozialer Macht zwischen den Akteuren dargestellt werden (vgl. Diaz-Bone 2010: 27). Anzumerken ist an dieser Stelle, dass Macht erst durch die Umsetzung in an- dere Formen, wie Objekten, Güter, Eigenschaften und Handlungen sichtbar wird. In dieser Form ermöglicht Macht Chancen und Handlungsspielräume, wie sie dann beispielsweise als Mittel zur Erlangung von Herrschaft genutzt werden kann. Macht ist damit der Herr- schaft übergeordnet und notwendig, um diese zu erlangen.

Praxisbeispiel

Klient A hat seine Gefängnisstrafe verbüßt und wird aus der Haft entlassen. Während der Zeit im Gefängnis hat er sich einen durchtrainierten Körper angeeignet und die Fähigkeit, Gewichte zu heben, um in einem Wettkampf den Anforderungen gerecht zu werden. Den Nutzen, den er da- raus ziehen kann ist jedoch sehr begrenzt. Im Gegensatz dazu kann ein Sportler mit dem glei- chen durchtrainierten Körper und den Möglichkeiten sich im Wettkampf zu behaupten deutlich mehr profitieren, denn er hat eine andere Kapitalausstattung, bewegt sich in anderen sozialen Feldern und ist im sozialen Raum anders positioniert wie Klient A. Der Sportler hat die Möglich- keit sein Kapital gewinnbringend einzusetzen. Er hat einen Trainer, der es ihm ermöglicht die besten Techniken beim Gewichtheben, aber auch seine Schnelligkeit, Beweglichkeit, Kraft, Ko- ordination und mentalen Fähigkeiten, die notwendig sind, um erfolgreich im Wettkampf zu beste- hen, optimal zu trainieren und einzusetzen, während dies Klient A aufgrund seiner mangelnden Kapitalausstattung nicht auf die gleiche Weise möglich ist.

Die Akteure bzw. Spieler verfügen durch ihr Kapital über „ Trümpfe, mit denen sie andere ausstechen können und deren Wert je nach Spiel variiert: … [wie] die Hierarchie der ver- schiedenen Kapitalsorten (ökonomisch, kulturell, sozial, symbolisch)“ (Bourdieu/Wacquant 1996: 128; Hervorhebung im Original). Es wird deutlich, dass Bourdieu die Kapitalformen nicht nur, wie es aus der Wirtschaftstheorie bekannt ist, in ökonomisches Kapital unter- teilt, sondern den Kapitalbegriff in weitere Subformen untergliedert (vgl. Marx 2011: 115, Bourdieu 1983: 184). Als Hauptdifferenzierungen unterscheidet Bourdieu ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches Kapital. Während die drei erstgenannten Kapitalar- ten zu den in der Sekundärliteratur am häufigsten rezipierten Unterscheidungsformen gehören, nimmt das symbolische Kapital eine Schlüsselfunktion mit vermittelnder Wirkung ein.

ÖKONOMISCHES KAPITAL

Dem ökonomischen Kapital sind alle Formen des materiellen Vermögens zugehörig, die direkt oder über Umwandlungen in Barmittel in andere Formen ökonomischen Kapitals eingetauscht werden können (vgl. Bourdieu 1983: 185). Dazu gehören Geld, Aktien, In- vestmentfonds, Ware, Schmuck oder auch Kunstwerke. Mit ökonomischem Kapital kön- nen alle anderen nicht ökonomischen Kapitalarten erworben werden. Diese bestimmen wiederum auch den Umgang und Nutzen, der aus dem ökonomischen Kapital gezogen werden kann (vgl. Fuchs-Heinritz/König: 161).

KULTURELLES KAPITAL

Kulturelles Kapital oder auch „Bildungskapital“ (Brüsemeister 2013: 128) existiert in drei Zuständen.

Inkorporiertes Kulturkapital zeigt sich in verinnerlichter Form, in dem es sich die Person völlig aneignet, sodass es in den Neigungen, Fähigkeiten und Handlungen der Person widergespiegelt wird. Es besteht aus kulturellem Interesse, Fähigkeiten und Kenntnissen und wird durch Bildung, als Erwerb von Wissen im allgemeinen Sinne, erworben. Es kann weder direkt durch Geld erworben werden, noch direkt in solches konvertiert werden. Der Zugang zu inkorporiertem Kulturkapital wird geregelt durch das vorhandene ökonomische Kapital. Dadurch kann gewährleistet werden, wie viel Zeit der Akteur investieren kann, um Bildung zu erwerben. Bildung wird nicht nur durch die formale Bildung definiert, die in Bil- dungsinstitutionen vermittelt wird, sondern stellt in diesem Rahmen vor allem die informel- le Bildung dar, bei der das Lernen im Alltag im Mittelpunkt steht. Informelles Lernen findet in der Familie, bei Freunden, durch die Medien und in der Freizeit statt und erfolgt größ- tenteils unbewusst. Dazu gehört jede Form des Lernens, die nicht über Bildungseinrich- tungen vermittelt wird. Folglich kommt der familiären Primärerziehung, der Prägung durch die Herkunftsfamilie und den Beobachtungs- und Modellernen in den ersten Lebensjahren ein entscheidender Einfluss zu: Wie alle inkorporierten Dispositionen des Habitus wird ebenso das kulturelle Kapital von den Gegebenheiten der erstmaligen Aneignung geprägt, beispielsweise indem die Voraussetzungen für die Art zu sprechen geschaffen werden (vgl. Bourdieu 1983: 186f.).

Dies erklärt, warum man bei vielen Menschen aufgrund ihrer Sprache, ob sie die Stan- dardsprache oder Dialektform gebrauchen, dem Wortschatz und dem Ausdrucksvermö- gen auf ihre soziale Herkunft schließen kann.

Objektiviertes Kulturkapital existiert in vergegenständlichtem Zustand in Form kultureller Güter bzw. Gegenstände mit kultureller Prägung, wie beispielsweise Bücher, Kleidung, Kunstwerke, Musikinstrumente oder Denkmäler. Damit kann es materiell übertragen wer- den. Voraussetzung für deren Erwerb ist einerseits das Vorliegen inkorporierten Kulturka- pitals, denn nur dadurch können die objektivierten Formen des kulturellen Kapitals ihre Wirksamkeit entfalten, sowie ökonomisches Kapital, welches die Aneignung ermöglicht (vgl. Bourdieu 1983: 188f.).

Institutionalisiertes Kulturkapital stellt als „offizielle Komponente“ den Nachweis von Bil- dung dar, der legitimiert wird durch Titel und Auszeichnungen, die von einer Person er- worben werden und nicht übertragbar auf andere Personen sind. Die allgemeine Gültig- keit dieses Bildungszertifikats ist jedoch weder personenbezogen, noch kann letztlich eine Angabe über das Ausmaß, des zum Zeitpunkt der Vergabe des Bildungsnachweises vor- handene real existierende kulturelle Kapital gemacht werden. Institutionalisiertes Kapital stellt damit eine „schöpferische Magie“ (ebd.: 190) dar, die Menschen dazu veranlasst, etwas anzuerkennen, Macht verleiht und damit soziale Wirklichkeit kreiert (vgl. ebd.: 189f.).

SOZIALES KAPITAL

Bourdieu verbindet mit sozialem Kapital alle Ressourcen, die man durch soziale Bezie- hungen in Anspruch nehmen kann. Hierzu zählen beispielsweise Berufsverbände und außerberufliche Netzwerke (Vereine, Initiativen, Freunde, Nachbarn, Familie). Der Um- fang des Sozialkapitals hängt vom Ausmaß des Netzes von sozialen Beziehungen ab und dem Umfang des Kapitals, welches diejenigen besitzen, mit denen die Individuen in Be- ziehung stehen. Das soziale Kapital sichert dabei den Erhalt sowie die Vermehrung der anderen Kapitalarten durch den „Multiplikatoreffekt“ (ebd.: 191) (vgl. ebd.: 190f.). Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Qualität der Beziehungen. Es kommt nicht nur darauf an, möglichst viele soziale Beziehungen einzugehen, sondern auf deren Dichte, Tragfä- higkeit und Verlässlichkeit. Das Beispiel verdeutlicht diese Aussage.

Praxisbeispiel

Klient A hat seinen Wohnraum aufgrund einer langen Alkoholsucht verloren. Er hatte ein großes soziales Umfeld. Diese Beziehungen waren jedoch nicht hilfreich, um den drohenden Woh- nungsverlust zu verhindern bzw. schnellstmöglich neuen Wohnraum zu erlangen. Alle seine so- zialen Beziehungen entstanden aufgrund einer Gemeinsamkeit: Dem gemeinsamen Genuss von Alkohol. Erst durch Unterstützung sozialer Hilfesysteme konnte er eine Entgiftung beginnen, durchziehen und erfolgreich beenden. Da er im Anschluss daran immer noch wohnungslos war, nutzte er die Notübernachtungsstelle, bekam Unterstützung bei der Wohnraumsuche und der Verbesserung seiner prekären Lebensverhältnisse. Nach einem halben Jahr Wohnungssuche konnte er schließlich durch einen glücklichen Umstand eine Wohnung beziehen. In der Notüber- nachtungsstelle lernte Klient A Klient B kennen, der zügig Individualwohnraum beziehen konnte, aber immer noch Kontakt zu Klient A hielt. Durch Zufall hörte Klient B, dass seine Nachbarin bald umziehen werde. Sofort berichtete er Klient A davon, der dadurch schon bevor die Wohnung öffentlich ausgeschrieben wurde, einen Besichtigungstermin vereinbaren konnte.

Soziales Kapital muss zunächst durch die Akteure initiiert und durch aktive Beziehungsar- beit gepflegt werden, was Zeit und Geld, also indirekt ökonomisches Kapital, erfordert. Je größer das soziale Kapital an sich ist, desto größer ist die erforderliche Arbeit dieses zu erhalten (vgl. Bourdieu 1983: 193).

SYMBOLISCHES KAPITAL

Das symbolische Kapital hängt eng mit dem Gewinn und Erhalt von Anerkennung und sozialem Ansehen zusammen. Dazu zählen alle Formen und Symbole, die zu Anerken- nung, Wertschätzung, Prestige und Respekt des sozialen Umfelds beitragen. Je nachdem in welchen sozialen Kreisen man sich bewegt, gehören institutionalisiertes kulturelles Ka- pitel, wie Bildungszertifikate, ökonomisches Kapital, wie Geld, Aktien, Autos, Immobilien und prestigereiche Freizeitbeschäftigungen oder soziales Kapital, wie die Beziehung zu einem angesehenen Politiker oder Manager, dazu. Es wird deutlich, dass die Form des symbolischen Kapitals verschieden ist, seine Wirkung jedoch die gleiche ist (vgl. Fuchs- Heinritz/König 2005: 169).

Die eingenommene Schlüsselfunktion des symbolischen Kapitals mit der vermittelnden Wirkung zwischen den anderen Kapitalarten tritt deutlich hervor. Daraus kann folgende These abgeleitet werden: Je mehr symbolisches Kapital vorhanden ist, desto größer ist die Macht, die man innehat, um seinen Willen gegenüber dem Willen eines anderen durchzusetzen. Anerkennung und soziales Ansehen sind dann gleichbedeutend mit einem vielfältigeren Spektrum an unterschiedlichsten Handlungsmöglichkeiten.

Erst durch das symbolische Kapital bekommt das Leben einen Sinn und die eigene Exis- tenz erhält eine Berechtigung, denn erst die Anerkennung des spezifischen Kapitals, er- hält dieses seinen Wert. Infolgedessen kommt es zu einer Aberkennung des Lebenswerts der Individuen, deren symbolisches Kapital keine Anerkennung findet (vgl. ebd.: 171).

KAPITALUMWANDLUNG

Die Kapitalsorten sind nach Bourdieu ineinander konvertierbar. Dies ist jedoch nicht ohne „ Transformationsarbeit “ (Bourdieu 1983: 195; Hervorhebung im Original) möglich, um die in dem jeweiligen Gebiet wirksame Form der Macht zu produzieren (vgl. ebd.). Beispiels- weise können bestimmte Güter, wie Immobilien oder Kunstwerke, nur durch ökonomi- sches Kapital erworben werden, außer sie wurden durch eine Erbschaft erhalten. Wohin- gegen kulturelles Kapital in Form von Bildungsqualifikationen und einer entsprechend gut bezahlten Arbeitsstelle in ökonomisches Kapital umgewandelt werden kann. Der Transfer von einer Kapitalsorte in eine andere ist dabei mit Verlustrisiko behaftet, beispielsweise kann Geld entwertet werden, Beziehungen getrennt werden oder Qualifikationen nicht mehr zeitgemäß sein (vgl. Diezinger/Mayr-Kleffel 2009: 94).

[...]


1 Bourdieu spricht in seinen Werken vorzugsweise von „Akteuren“ (Rehbein 2006: 95), die den Begriff des Subjekts bzw. Individuums ersetzen, jedoch diesen nicht trennscharf von einer Gruppe abtrennen, sondern zugleich auch dessen Bedeutung annehmen (vgl. ebd.). Ein Akteur stellt eine „handlungsfähige Verkörperung sozialer Strukturen“ (ebd.) dar. Im Folgenden wird Akteur als Be- griff im Sinne Bourdieus verwendet.

2 Bourdieu (1976: 270) verbindet damit nicht nur die traditionellen fünf Sinne (visuell, auditiv, olfak- torisch, gustatorisch, taktil), sondern spricht darüber hinaus von dem „Sinn für die Verpflichtung und die Pflicht, dem Orientierungs- und Wirklichkeitssinn, dem Gleichgewichts- und Schönheits- sinn, dem Sinn für das Sakrale, dem Sinn für Wirkung, … und so weiter und so fort …“ (ebd.; Hervorhebung im Original).

3 Die Begrifflichkeiten Feld und Raum werden von Bourdieu bisweilen synonym eingesetzt (vgl. Schwingel 2011: 83). Während Bourdieu „Raum“ vorrangig in seinen früheren Arbeiten nutzte, sprach er später vermehrt von „Feldern“. So nutzt er themenspezifisch mal die eine, mal die andere Begrifflichkeit. Bourdieu thematisiert diesen Widerspruch jedoch nicht (vgl. Rehbein 2003: 84).

Ende der Leseprobe aus 86 Seiten

Details

Titel
Ausgegrenzt und allein gelassen? Die Auswirkung sozialer Ungleichheit auf junge wohnungslose Erwachsene
Hochschule
Duale Hochschule Baden-Württemberg, Stuttgart, früher: Berufsakademie Stuttgart
Note
1,7
Autor
Jahr
2014
Seiten
86
Katalognummer
V505504
ISBN (eBook)
9783346058065
ISBN (Buch)
9783346058072
Sprache
Deutsch
Schlagworte
soziale Ungleichheit, Wohnungslosigkeit, junge wohnungslose Erwachsene, Obdachlosigkeit, Ausgrenzung, Pierre Bourdieu, Soziologie, Hans Thiersch, lebensweltorientierte Konzept, Lebenswelt, Habitus, alltags- und lebensweltorientiert, Wirkmechanismen, Wirkungszusammenhänge, soziokulturelle Klassentheorie, Wohnungslosenhilfe
Arbeit zitieren
Julia Lunkenheimer (Autor:in), 2014, Ausgegrenzt und allein gelassen? Die Auswirkung sozialer Ungleichheit auf junge wohnungslose Erwachsene, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/505504

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