Wilhelm Tell - Selbsthelfer oder politischer Befreier der Schweiz?


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

23 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Das Fremdbild des Wilhelm Tell

3. Tells Selbstbildnis
3.1 Jäger Tell
3.2 Das unermüdliche Vertrauen in Gott und die Natur
3.3 Die Folgen für Tells Handeln
3.3.1 Der apolitische Tell
3.3.2 Tells Naivität

4. Die Apfelschuss-Szene und ihre Folgen
4.1 Der innere Bruch und die Auferstehung Wilhelm Tells
4.2 Der Bruch in der Handlung: Wie das Private öffentlich wird

5. Der Tod Geßlers
5.1 Private oder politische Beweggründe ?
5.2 Wird Tell seiner Rolle als Befreier des Landes gerecht (Fazit)

6. Bibliographie

1. Einleitung

Schon von Anfang an erfreute sich das Drama Wilhelm Tell einer außerordentlichen Beliebtheit beim Publikum. Den gelungenen Einstieg der Uraufführung in Weimar konnte nur noch eine Aufführung in Berlin am 4. Juli 1804 übertrumpfen. Die Kapazitäten der Theater schienen dem überdurchschnittlich starken Andrang nicht gerecht werden zu können, so dass einige Wiederholungen nötig waren, um die Neugierde des Publikums zu befriedigen.[1] Begeistert äußerte sich auch August Wilhelm Schlegel zu Schillers Drama, der sich eine Aufführung „im Angesicht von Tells Kapelle am Ufer des Vierwaldstätter – Sees, unter freiem Himmel, die Alpen zum Hintergrunde“[2] wünschte. Woher rührt diese allgemeine Verehrung des Stückes?

Seinen Ursprung hat der Wilhelm Tell-Stoff in einer Überlieferung des dänischen Geschichtsschreibers Saxo Grammaticus aus dem 12. Jahrhundert. Bereits im 15. Jahrhundert galt die Geschichte des Wilhelm Tell als Inbegriff des Schweizer Befreiungskampfes gegen die Habsburger Fremdherrschaft und wurde mit der Gründung der Eidgenossenschaft verbunden. Mit den Befreiungskriegen der Jahre 1813–1815 und der Märzrevolution von 1848 wurde das Schillerdrama auch in Deutschland zum Sinnbild der Freiheit. Abgesehen von dem Verbot des Stückes für den Unterricht durch Adolf Hitler 1941[3], erfreut sich das Stück bis heute noch großer Beliebtheit, prägt es doch den deutschen Schulunterricht wie kein zweites Schillerdrama. Tell–Zitate sind im Alltagsleben tief verankert, so z. B. „Die Axt im Haus erspart den Zimmermann“ oder „Früh übt sich, was ein Meister werden will“.[4] Entstammt schon der Ursprung des Tell–Stoffes einer Sage, so hat sich über die Jahrhunderte ein wahrer Mythos um den furchtlosen Mann gebildet, der mit einem Meisterschuss das Leben seines Sohnes, durch die Tötung des Gewaltherrschers Geßler die Eidgenossenschaft rettete. Eine Tat mit patriotischem Hintergrund? Schiller charakterisierte seinen Protagonisten folgendermaßen: „Die Rolle erklärt sich selbst: eine edle Simplicität, eine ruhige, gehaltne Kraft ist der Charakter; mithin wenige, aber bedeutende Gesticulation, ein gelassenes Spiel, Nachdruck ohne Heftigkeit, durchaus eine edle schlichte Manneswürde“[5]. Wird diese Beschreibung einem Mythos gerecht? Kann ein Mann mit diesen Eigenschaften ein Land retten? Wie kann eine gemäßigte Natur, wie sie Schiller dargestellt, eine derart tragende Rolle spielen?

Was die wahren Beweggründe für Tells Befreiungstat sind, und ob er tatsächlich der verehrte Volksheld mit den patriotischen Motiven ist, was angesichts des Schillerzitates beinahe unglaubwürdig erscheint, gilt es zu untersuchen. Dazu ist es erst einmal notwendig, den Gegensatz zwischen dem ruhigen, schlichten, fast schon primitiven Tell und dem heldenhaften Erlöser von der Tyrannei darzustellen, das heißt, eine Darstellung des Fremdbildes von Tell, da ihn die Eidgenossen als göttlichen Helden verehren, und des Selbstbildes, da er das zurückgezogene Leben eines fürsorglichen Familienvaters und des einzelgängerischen Jägers führt.

2. Das Fremdbild des Wilhelm Tell

Schon in der ersten Szene des ersten Aufzuges wird Wilhelm Tell unmissverständlich zu einem Helden stilisiert. Der Landsmann Baumgarten ist auf der Flucht vor den habsburgischen Reitern, die ihn für seine Bluttat bestrafen wollen. Ein aufkommendes Unwetter scheint die rettende Überfahrt über den See unmöglich zu machen, da sich der zuständige Fährmann vor den Naturgewalten fürchtet und ein Übersetzen verweigert. Wie aus dem Nichts taucht Tell auf und exemplarisch für sein Auftreten ist sein erster Satz: „Wer ist der Mann, der hier um Hilfe fleht?“ (127)[6]. Ohne innezuhalten und die riskante Situation zu überdenken, in die er sich begibt, setzt er sein Leben aufs Spiel, um einen Fremden zu retten, und bietet sich als furchtloser Rudermann an. Im weiteren Dialog mit Ruodi wird das Bild des scheinbar von Gott gesandten Helden weiter ausgemalt. „Wo´s not tut, Fährmann, lässt sich alles wagen“ (136), so Tell furchtlos angesichts des „Höllenrachen“ (137), der sich vor ihm ausbreitet.[7] Selbstlos bekennt Wilhelm Tell: „Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt“ (139). Sein großes Selbstvertrauen scheint auf Tells Gottesglauben: „Vertrau auf Gott und rette den Bedrängten.“(140) und auf sein Vertrauen in die Natur: „Der See kann sich, der Landvogt nicht erbarmen / Versuch es Fährmann“ (142f.), begründet

Nur kurz ist sein Auftritt, dafür umso bedeutungsvoller, da er jenes Bild zeigt, das die Landsleute von Tell haben, den sie als ihren Helden verehren. Symbolisch deutet Schiller an dieser Stelle eine nicht zu übersehende Parallele zum „Beglaubigungswunder Jesu auf dem See Genezareth“[8] an, so dass von Anfang an, Tells Handeln als die Taten eines Messias, eines Erlösers gedeutet werden können, die Lobpreisungen verdient haben. So ruft beispielsweise Baumgarten: „Mein Retter seid ihr und mein Engel, Tell!“ (154). Ruodi macht deutlich, wie sehr das Land nach Heldentaten dürstet und welche Hoffnungen die Menschen auf Tell setzen: „Wann wird der Retter kommen diesem Lande?“ (183). Gleichzeitig wird die Einzigartigkeit des Wilhelm Tell außerordentlich hervorgehoben: „Wohl beßre Männer tun´s dem Tell nicht nach / Es gibt nicht zwei, wie der ist, im Gebirge.“ (163f.) Die Glorifizierung von Tells Charakterzügen und Fähigkeiten zieht sich durch das gesamte Stück, so etwa bei der Apfelschuss–Szene durch die Worte von Tells Sohn: „Der Vater trifft den Vogel ja im Flug“ (1949) und wenig später durch den Ausruf von Geßlers Soldaten Leuthold: „Das war ein Schuß! Davon / Wird man noch reden in den spätsten Zeiten.“ (2038f.) Nicht zuletzt durch den Apfelschuss werden Tell und seine Taten in ein sagenhaftes und legendäres Licht gerückt, so dass der Scharfschütze dem antiken Heroenzeitalter entsprungen zu sein scheint[9], dem allein es möglich ist, die schlimmen Zustände zu ändern, das Schicksal zum Besseren zu wenden. Die intensivste Lobeshymne erhält er jedoch von seiner Gattin Hedwig, die gleichzeitig auf theatralische Art und Weise die prekäre Situation des Landes weismacht: „Was könnt ihr schaffen ohne ihn? – Solang / Der Tell noch frei war, ja, da war noch Hoffnung / Da hatte noch die Unschuld einen Freund / Da hatte einen Helfer der Verfolgte / Euch alle rettete der Tell – Ihr alle / Zusammen könnt ihr nicht seine Fesseln lösen!“ (2366–2371) Ueding bezeichnet dies als eine Messiaserwartung.[10] Die Hoffnung auf messianische Erlösertaten zeigt sich auch in den metaphysischen Deutungsversuchen der Eidgenossen, die die Erfolge Tells als Zeichen göttlichen Willens deuten. In ihren Augen scheint sich das göttliche Walten an Tell zu zeigen, zum einen als er das Unmögliche schafft und den Apfel trifft, zum anderen, als es ihm zweimal gelingt, den Naturgewalten auf dem See zu entkommen. Auch Tells Rettung aus der Gefangenschaft grenzt für seine Mitmenschen an ein Wunder. Als ein Fischer erfährt, dass Tell wider Erwarten seine Freiheit wieder erlangt hat, ruft er aus: „Befreit! O Wunder Gottes!“ (2208) und: „Tell, Tell, ein sichtbar Wunder hat der Herr / An Euch getan, kaum glaub ich´s meinen Sinnen“ (2272f.). Auch die Gefangennahme Tell lässt eine Parallele zu Jesu Christi entdecken, welcher ebenfalls verhaftet und verurteilt wurde, jedoch von den Toten wiederauferstand. Tells Rückkehr aus dem Verlies erinnert an eine Wiederauferstehung. Es scheint, als hielte Gott seine Hand schützend über Tell. So empfinden es zumindest seine Landsleute, denn beispielsweise appelliert Stauffacher an Geßler: „Wie, Herr / So könntet Ihr an einem Manne handeln / An dem sich Gottes Hand sichtbar verkündigt?“ (2069ff.) Das wunderbare Ergebnis von Wilhelm Tells Schießkünsten hat laut Stauffacher seine Wurzeln in „Gottes gnäd´ge[r] Schickung“.

3. Tells Selbstbildnis

3.1 Jäger Tell

Wilhelm Tell wird von seinen Mitbürgern zum heldenhaften Retter des Landes erklärt und die an ihn gerichtete Forderung nach Wirkungskraft erreicht legendäre, bald mythische Sphären. Allerdings operiert er als Einzelgänger, einen befreienden Schlag für sein Land durch gemeinschaftliches Handeln scheint er offenbar nicht im Sinne zu haben, politisches Engagement ist ihm fremd.

Markant an Tells Verhalten ist von Anfang an das überraschende Erscheinen, das unbedarfte, spontane Handeln, sein Mut und sein Vertrauen in die Natur. Das sind Attribute, die immer wieder mit Tell in Verbindung gebracht werden können, Attribute, die ihren Ausdruck im Jägerberuf des Protagonisten finden. Vor seinem Aufbruch nach Altdorf offenbart er die Eigenschaften seines Charakters in dem Dialog mit seiner Gattin Hedwig und gibt gleichzeitig einen Einblick in seinen Beruf als Jäger. Um auf der Jagd Erfolg zu haben, muss sich Tell auf seine Instinkte verlassen können. Denn nur „[w]er frisch umherspäht mit gesunden Sinnen“(1509), kann ein erfolgreicher Jäger sein. Dazu ist ebenfalls der geübte Umgang mit Waffe und Handwerkszeug notwendig: „Wer durchs Leben / Sich frisch will schlagen, muß zu Schutz und Trutz / Gerüstet sein.“ (1482-1484) Wilhelm Tells Auftreten mit der Armbrust[11] ist deutliches Indiz für seine Jägernatur. Auch bei seinem Ausflug nach Altdorf besteht er gegenüber Hedwig auf seiner Waffe, was kaum nachvollziehbar erscheint, handelt es sich doch um einen Verwandtschaftsbesuch. Martialisch begründet er: „Mir fehlt der Arm, wenn mir die Waffe fehlt.“ (1537) Tell verlässt sich nur auf sich selbst. Angedeutet wird dies auch in der 1. Szene 3. Aufzug, als Tell mit einer Axt auftritt, was hier auch auf einen Mann, der sein Handwerk versteht und auf Hilfe scheinbar nicht angewiesen ist, hindeutet. Tell ist Selbsthelfer - „Die Axt im Haus erspart den Zimmermann“ (1514) - und ist sich seiner Überlebenskünste bewusst: „Der Tell holt ein verlornes Lamm vom Abgrund“ (440). Seinen Tatendrang und seine Abenteuerlust rechtfertigt er mit seiner Naturanlage: „Zum Hirten hat Natur mich nicht gebildet / Rastlos muß ich ein flüchtig Ziel verfolgen.“ (1488f.) Er folgt nur seiner Natur, die ihm keine andere Wahl lässt, was das muss verdeutlicht. Eine ähnliche Erklärung für sein Handeln liefert Tell auch in seinem Monolog vor der Ermordung Geßlers:

„Ich laure auf ein edles Wild – Läßt sich´s / Der Jäger nicht verdrießen, tagelang / Umherzustreifen in des Winters Strenge / Von Fels zu Fels den Wagesprung zu tun / Hinanzuklimmen an den glatten Wänden / Wo er sich anleimt mit dem eignen Blut / - Um ein armselig Grattier zu erjagen / Hier gilt es einen köstlicheren Preis“ (2636-2643).

Darin vergleicht Tell die Verfolgung von Geßler mit der Jagd auf Wild und schildert sie als Naturspektakel. Um seinen inneren Drang befriedigen zu können und die Faszination des Jägerlebens genießen zu können, scheut er selbst vor gesundheitlichen Risiken nicht zurück. Dies ist auch bei der Rettung Baumgartens zu erkennen. Er handelt impulsiv, von seinen Instinkten geleitet und folgt seiner Natur.

3.2 Das unermüdliche Vertrauen in Gott und die Natur

Doch vertraut Tell nicht nur auf sich selbst, seine Fähigkeiten, sondern auch auf eine höhere Instanz: Gott, bzw. auf die Natur. Das Vertrauen in Gott und dessen Wohlwollen, im Bezug auf die Eingangsszene wurde es bereits erwähnt, zieht sich wie ein Strang durch das gesamte Stück.[12] In prekären Situationen appelliert Tell oftmals direkt an Gott in der Hoffnung, Böses dadurch abzuwenden: „Verhüt´ es Gott, dass ich nicht Hilfe brauche.“ (1535), ebenso kurz vor dem Apfelschuss: „Verhüt´s der gnäd´ge Gott“ (1893). Schließlich ist es auch „Gottes gnäd´ge Fürsehung“ (2212), die ihm die Flucht von Geßlers Schiff ermöglicht. Die enge Bindung an die göttliche Instanz ist in Tells Selbstverständnis unbedingte Voraussetzung für sein effizientes Handeln als Selbsthelfer.[13] Benno von Wiese hat Tells Beziehung zu Gott folgendermaßen charakterisiert: „Die in diesem Drama immer wieder angerufene Instanz der Gottheit entbindet den durch „Gewalt“ im politischen Sinne bedrohten Menschen nicht davon, in frei gewählter Verantwortung oder Selbsthilfe seinen eigenen Weg zur Rettung zu suchen, wenn auch nur im „Vertrauen“ zu dieser Gottheit die Furcht vor der Macht der Elemente und der noch weit schlimmeren der Menschen überwunden werden kann.“[14]

[...]


[1] Safranski, Friedrich Schiller, S. 505.

[2] Zit. nach Safranski, Friedrich Schiller, S. 505.

[3] Schulz, Wilhelm Tell,.

[4] Zymner, Friedrich Schiller, S. 148.

[5] NA 32, S. 118. Zit. nach Benno v. Wiese, Friedrich Schiller, S. 770.

[6] Zitate und Verszählung nach: Friedrich Schiller. Wilhelm Tell. Schauspiel. Reclam. Stuttgart 1999.

[7] Vgl. Regieanweisung: „(Heftige Donnerschläge, der See rauscht auf.)“

[8] Ueding, Wilhelm Tell, S. 276.

[9] Schulz, Wilhelm Tell, S. 218

[10] Ueding, Wilhelm Tell, S. 277.

[11] Vgl. z. B. Regieanweisung bei der Rettung von Baumgarten.

[12] Vgl. z. B. bei der Rettung Baumgartens: „ In Gottes Namen denn ! „ (151), ebenso: „Wohl aus des Vogts Gewalt errett ich Euch / Aus Sturmes Nöten muß ein andrer helfen / Doch besser ist´s, Ihr fallt in Gottes Hand / Als in der Menschen!“ (155-158) Im Dialog mit Hedwig: „Auf Gott vertraut und die gelenke Kraft“ (1510).

[13] Ueding, Wilhelm Tell, S. 278.

[14] Wiese, Friedrich Schiller, S. 768.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Wilhelm Tell - Selbsthelfer oder politischer Befreier der Schweiz?
Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena  (Germanistische Literaturwissenschaft)
Veranstaltung
Hauptseminar
Note
2,0
Autor
Jahr
2005
Seiten
23
Katalognummer
V50399
ISBN (eBook)
9783638466295
ISBN (Buch)
9783638598095
Dateigröße
568 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Wilhelm, Tell, Selbsthelfer, Befreier, Schweiz, Hauptseminar
Arbeit zitieren
Philipp Gaier (Autor:in), 2005, Wilhelm Tell - Selbsthelfer oder politischer Befreier der Schweiz?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/50399

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