Pindar in freien Rhythmen. Wandrers Sturmlied als Nachahmung der pindarischen Hymnendichtung?


Hausarbeit (Hauptseminar), 2018

20 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Biographische Elemente der Entstehungssituation
2.1 Die zeitgenössische Situation an Zielsetzungen und Erwartungen literarischer Art
2.2 Die Odentheorien Batteuxs und Klopstocks als erste Vorbilder

3 Eine mögliche Pindarnachahmung im Wan drers Sturmlied und deren Rezeption
3.1 Anlehnung an Horaz
3.2 Herders Einfluss auf Goethe und die übermittelte Pindartradition
3.3 Eine „geniale Gelehrtendichtung“ in der Pindartradition
3.3.1 Die Struktur der pindarischen Ode
3.3.2 Die Stil und Denkbilder des Sturmliedes
3.3.3 Die reine Ode als hohe Forme der Poesie

4 Ausblick: Die Auseinandersetzung mit der „Furores-Lehre“ des Agrippa von Nettesheim als Abgrenzung reiner Pindarrezeption

5 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

„[…] ich wohne jetzt in Pindar, und wenn die Herrlichkeit des Palasts glücklich mach- te, müßt` ichs sein […]“1, schrieb Goethe in seinem berühmten Brief an Herder. Es war sein Freund Herder, der Goethe damals den Pindar-Stoff lehrte. Wann genau Goethe Wandrers Sturmlied geschrieben hat, kann nicht genau definiert werden. Der Umstand, dass sich Goethe ausweislich eines bedeutenden Briefes an Herder im Sommer 1772 intensiv mit dem altgriechischen Chorlyriker Pindar beschäftigte, der auch im Gedicht eine eminente Rolle spielt, legt die Vermutung nahe, es sei auch zu diesem Zeitpunkt entstanden.

Mit seiner Bezugnahme auf Pindar verweist Wandrers Sturmlied wie kaum ein ande- res Jugendgedicht Goethes auf den lyriktheoretischen Diskurs der Sturm-und-Drang- Jahre. Denn analog zum Dramatiker Shakespeare galt der Lyriker Pindar als ein Dichter, der das zentrale Genie-Paradigma der Epoche beispielhaft verkörperte. Wa- rum er das tat, lässt sich mit nur einem Ausdruck beschreiben – ‚naturhafte Regello- sigkeit‘. Pindar hat sich in seinen von Göttern und Helden handelnden Epinikien (sog. Siegeslieder) an relativ freien metrischen Vorgaben gehalten, überdies hat er neue Worte erfunden und hohes Pathos an die Stelle von nüchterner Rationalität gesetzt. An dieses Pindar- Bild wurde von Goethe sowohl in seinem Brief an Herder wie auch in der Schlussstrophe des Sturmlied s angeknüpft. Wenn Goethe schließlich sein ei- genes Gedicht „eine Ode“ nennt, so deutet er damit schon an, dass er sich in die Traditionen eines solchen pindarisierenden Dichtens einreiht. Sozusagen galt als Ode (Etymologisch: ‚Gesang‘) primär die pindarische Ode. Die ersten Oden dichtete Klopstock, darauf folgte Herder und dank seiner Freundschaft zu ihm schließlich auch Goethe. Goethe schrieb in ‚Dichtung und Wahrheit‘ (12. Buch) über die Entste- hung des Sturmlied s auf einer seiner Wanderungen: „Unterwegs sang ich mir selt- same Hymnen und Dithyramben, wovon noch eine, unter dem Titel Wandrers Sturm- lied, übrig ist. Ich sang den Halbunsinn leidenschaftlich vor mich hin, da mich ein schreckliches Wetter unterwegs traf, dem ich entgegen gehen mußte.“2. Die Beto- nung des Irrationalen (siehe „Halbunsinn“), des unmittelbaren Singens („ich sang…“), sowie der Enthusiasmus (die Leidenschaft) verweisen noch auf die Muster Pindars und dessen Auffassung einer Ode, wie sie dem jungen Goethe einst durch Herder vermittelt wurde.

Inwiefern die Muster Pindars in Goethes Wandrers Sturmlied zu finden sind und wie sie sich interpretieren lassen oder sich möglicherweise auch abgrenzen, soll im Laufe dieser Arbeit erörtert werden.

2 Biographische Elemente der Entstehungssituation

Bevor man sich der genaueren Betrachtung des Gedichtes widmet, sollte man eine grundsätzliche Frage beantworten: unter welchen Umständen ist das Gedicht ent- standen? Was veranlasste Goethe, abweichend von allem, was er bisher gedichtet hatte, ein solch dunkles, ja fast schon mystisches Gedicht zu verfassen. Pindar, der aus dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert dichtende Odensänger und Dithyram- biker und einer der bedeutendsten griechischen Lyriker, ist so sehr Bezugspunkt von Wandrers Sturmlied, dass dieses in der Zeit um 1772, einer Zeit intensivsten Pindar- Studiums, einzuordnen ist.3 Wissenschaftlich belegt werden kann dies darüber hin- aus in einem Brief Goethes an Herder in „Dichtungen und Wahrheit“: […seit ich nichts von euch gehört habe, sind die Griechen mein einzig Studium. Zuerst schränkt ich mich auf Homer ein, dann um den Sokrates forscht ich in Xenophon und Plato, da gingen mir die Augen über meine Unwürdigkeit erst auf, gerieth an Theokrit und Ana- kreon, zuletzt zog mich was an Pindar, wo ich noch hänge…]4.

Durch die Eingrenzung des Entstehungsdatums und die Bestimmung der inneren und äußeren Situation Goethes, ergeben sich zwei wesentliche Hinweise für das Verständnis von Wandrers Sturmlied. Erstens geht man davon aus, dass das Ge- dicht „in einer Periode starker existentieller Labilität entstanden sei“5 und es war hin- sichtlich seiner Entstehungssituation „eine Ode, zu der Melodie und Kommentar nur der Wandrer in Noth erfindet“, wie Goethe es wohl in einem Brief an Franz Jacobi erwähnte6. Das Gedicht handelt demnach von der Not des selbstzweifelnden Dich- ters, der auf innere „Expansion“ hoffte. So heißt es nun auch in dem Brief an Herder: […Mut und Hoffnung und Furcht und Ruhe wechseln in meiner Brust…]7. Der zweite und wichtigere Hinweis ist, dass das Gedicht, wenn man den Worten Goethes Be- achtung schenkt, einer Periode intensivster Beschäftigung mit der Praxis und der Theorie der griechischen Literatur und insbesondere der Lyrik entstammt.8 Es muss schlussendlich also als Auseinandersetzung mit der antiken Literaturüberlieferung aufgefasst werden – als ein Versuch auf pindarische Art und Weise zu dichten.

2.1 Die zeitgenössische Situation an Zielsetzungen und Erwartungen li- terarischer Art

Zunächst hat das Interesse einer Dichtung, die sich bevorzugt auf die griechische Lyrik und somit auch Pindar hinwendet, in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts gar nichts Außergewöhnliches an sich. Die Zeit war prädestiniert dafür. „Die Säkularisati- on der geistigen Welt, wie auch die Aufwertung der natürlichen Welt im Gefolge von Deismus, Physiktheologie und newtonischer Naturwissenschaft taten ein übriges“9, was bedeutet: Das neu erlangte Wissen von Natur wollte mit dem Glauben verbun- den werden – Verstand mit Herz in einem dichterischen Kontext. Die dichterische Theorie des Erhabenen rückte in den Fokus eines jeden philosophischen Dichters. Oder wie es Rolf Zimmermann formuliert: „in solchen Gedichten einer gefühlvoll er- habenen Feier der göttlichen Schöpfung und des eigenen, diese Schöpfung begrei- fenden Ich, (…) und im Dienste einer unverdorbenen „Natur“, meinte man sich auch die größte Freiheit von poetischen Gattungen und Regeln herausnehmen zu dürfen (…)“, und „auch alles allzu regelhaft Festgelegte der Form allmählich zu verwerfen“10. Man erlaubte es sich also, alles Regelhafte abzulegen, um einer gefühlvollen Inner- lichkeit Ausdruck zu verleihen. Diese formale Entwicklung kann man sehr gut am Übergang von der Ode der horazischen Form zu den freien Rhythmen, sprich Pindar, aufzeigen. Von nun an wird die pindarische Ode gleichbedeutend mit einem Gedicht in freiem Metrum.11

2.2 Die Odentheorien Batteuxs und Klopstocks als erste Vorbilder

In „ Einschränkung der schönen Künste auf einem einzigen Grundsatz“ von Batteux (1746) schreibt er, wie man „von nun an nicht nur die Odendichtung, sondern über- haupt die erhabene Dichtung und immer mehr besonders Pindar sehen wird: dichte- rische Begeisterung zeichnet sie aus! ... Auf diese Weise sind die geistlichen, die heroischen, die moralischen, die anakreontischen Oden verfertigt worden. Man hat Empfindungen der Verwunderung, der Dankbarkeit, der Freude, der Traurigkeit, des Hasses, welche sie ausdrücken vorher entweder durch die Natur oder durch die Kunst an sich erfahren.“12 Dieser Ansatz der Batteux-Übermittlung diente Goethe für seine Oden an meinen Freund (1767). Doch der wirkliche literarische Wendepunkt bezüglich der Odendichtung reifte mit der Odensammlung Klopstocks. „Sie war durch und durch ein Monument jener Dichterbegeisterung, die nun vom ängstlichen Bat- teux weg – und zu ihrem Urbild in Pindar hinführte.“13 Klopstocks Haltung beruhte darauf, zwar inhaltlich eine begeisternde, aber dennoch am Kirchenglauben festhal- tende Religiosität, zu verkörpern. Auch genau deswegen konnten die Oden Klopstocks noch nicht die Erhabenen-Dichtung bedeuten.

Den Abschluss der Odenüberlieferung, so könnte man meinen, liefert Herder. Bei ihm geht es um eine Ode, deren Charakter vom erhabenen Gegenstand bestimmt wird. Die „begeisternde Einbildungskraft“ aber habe bei jedem dieser Gegenstände ihre eigene Art. Was es also für Goethe anzustreben gilt, ist eine völlig freie Form - auch frei von je- der Religiosität – ganz im Sinne und in der Tradition Pindars: Die pindarische Form- tritt ihm in ursprünglicher Kraft und in höchster Würde des dichterischen Ausdruck gegenüber14.

3 Eine mögliche Pindarnachahmung im Wandrers Sturmlied und deren Rezeption

Wie vielleicht kein anderes Gedicht des jungen Goethes ist Wandrers Sturmlied ge- radezu als eine praktische Erprobung von theoretischen Studien anzusehen, wenn- gleich das Gedicht durchaus in einem Augenblick voller Dichterbegeisterung verfasst wurde. Eine solche Doppelpoligkeit des dichterischen Schaffens konnte nur durch lange Gedankenarbeit, der tatsächlichen Lehre aus Pindarstudien und dem plötzli- chen Produktionsmonument hervorgehen. „Aber ‚Ausdruck‘ werden konnte auch da- bei sicherlich nur, was vorher zu Sinn und Form eines solchen pindarisierenden Ver- suchs theoretisch zusammengetragen worden war.“15 In den folgenden Abschnitten soll geklärt werden, von wem sich Goethe bei der Erarbeitung bzw. bei der Nacheife- rung Pindars leiten lies.

[...]


1 Max Morris: Der junge Goethe. Neue Ausgabe in sechs Bänden, Bd. 2. Leipzig 1910, S. 293-296

2 Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe. 40 Bde. Hrg. von Friedmar Apel u.a. Frankfurt a.M.1985ff., 14, S.567

3 Rolf Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe – Studien zur Hermetischen T r a - dition des Deutschen 18.Jahrhunderts, Zweiter Band, München 1979, S. 78, Z. 1-8

4 Rolf Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe – Studien zur Hermetischen T r a - dition des Deutschen 18.Jahrhunderts, Zweiter Band, München 1979, S. 78, Z. 8-10

5 Rolf Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe – Studien zur Hermetischen T r a - dition des Deutschen 18.Jahrhunderts, Zweiter Band, München 1979, S. 79, Z. 1

6 Rolf Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe – Studien zur Hermetischen T r a - dition des Deutschen 18.Jahrhunderts, Zweiter Band, München 1979, S. 78, Z. 2-3

7 Rolf Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe – Studien zur Hermetischen T r a - dition des Deutschen 18.Jahrhunderts, Zweiter Band, München 1979, S. 79, Z. 7

8 siehe oben genanntes Zitat : [ ich wohne jetzt in Pindar…]

9 Rolf Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe – Studien zur Hermetischen T r a - dition des Deutschen 18.Jahrhunderts, Zweiter Band, München 1979, S. 79, Z. 29-30

10 Rolf Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe – Studien zur Hermetischen Tradition des Deutschen 18.Jahrhunderts, Zweiter Band, München 1979, S. 79, Z. 1-5 (von un- ten)- S.80, Z.1-3

11 Vgl. Francesca Fantoni, Deutsche Dithyramben: Geschichte einer Gattung im 18. und 19. Jahrhundert, Königshausen 2009, S.146ff.

12 Charles Batteux: Einschränkung der schönen Künste auf einem einzigen Grundsatz, Leipzig 1751 , S.385, Z. 4-8

13 Rolf Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe – Studien zur Hermetischen Tradition des Deutschen 18.Jahrhunderts, Zweiter Band, München 1979, S. 81, Z. 21-24

14 Rolf Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe – Studien zur He r metischen T radit ion des Deutschen 18.Jahrhunderts, Zweiter Band, München1979, S.82,Z.18-20

15 Rolf Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe – Studien zur Hermetischen Tradition des Deutschen 18.Jahrhunderts, Zweiter Band, München 1979, S. 84, Z. 2-5

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Pindar in freien Rhythmen. Wandrers Sturmlied als Nachahmung der pindarischen Hymnendichtung?
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München
Note
1,7
Autor
Jahr
2018
Seiten
20
Katalognummer
V503743
ISBN (eBook)
9783346055910
ISBN (Buch)
9783346055927
Sprache
Deutsch
Schlagworte
pindar, rhythmen, wandrers, sturmlied, nachahmung, hymnendichtung
Arbeit zitieren
Yaki Bilmez (Autor:in), 2018, Pindar in freien Rhythmen. Wandrers Sturmlied als Nachahmung der pindarischen Hymnendichtung?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/503743

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