Die Birkenrinde als Schriftquelle

Ein Scheinwerfer ins russische Mittelalter


Essay, 2019

14 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einführung

2. Nowgorod und die Birkenrinde
2.1. Bewusst gesucht oder zufällig gefunden?
2.2. Neue Erkenntnisse
2.3. Datierung und Auswertung
2.4. Ausblick

3. Sonderfall Nowgorod?
3.1. Politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen
3.2. Wasser und Lehm

4. Welche Birke?
4.1. Betula pubescens - die Moor-Birke
4.2. Wirkstoff Betulin

5. Schlussfolgerungen

Abbildungen

Quellen

Literaturverzeichnis

Danksagung

1. Einführung

Weliki Nowgorod1 ist eine rund 200 km südöstlich von St. Petersburg gelegene beschauliche russische Provinzstadt am Ufer der Wolchow. Wie andere Städte im europäischen Teil Russlands kam auch Nowgorod in der jüngeren Geschichte gleich mehrere Male unter die Räder. Nach post-revolutionären Bürgerkriegswirren, stalinistischen Säuberungswellen und einer mehrjährigen Besetzung durch die Wehrmacht folgten Jahrzehnte sowjetischer Tristesse, abgelöst durch weitere bald dreißig Jahre post- sowjetischer wirtschaftlicher Stagnation. Die Region ist strukturschwach. Der Aufschwung fand andernorts statt. Das Interesse an Nowgorod hält sich bis heute in Grenzen.

Mit einer wichtigen Ausnahme: Im Jahre 1951 entdeckten Forscher der Moskauer Staatlichen Universität in der Erde Nowgorods erste beschriftete Birkenrinden2 aus dem Mittelalter. Es war ein sensationeller Fund, der ein bis in die Gegenwart reichendes weltweites Interesse unter spezialisierten Mediävisten und Slawisten weckte.

Bis heute wurden über 1150 beschriebene Birkenrinden gefunden und ausgewertet, die meisten stammen aus der Zeit zwischen dem 11. und 15. Jahrhundert, der überwiegende Teil davon aus Nowgorod und Umgebung.3 Beschriebene Birkenrinden wurden nach Gebrauch in der Regel weggeworfen; es handelte sich meist um kurze Mitteilungen, nicht um später zu archivierende Dokumente von Wichtigkeit für die Nachwelt. Entdecken konnte man sie nur, weil sie im Müll landeten (dazu gleich mehr). Einmal entziffert, waren die Wissenschaftler in der Lage, den mittelalterlichen Alltag Nowgorods zu rekonstruieren.

Die Existenz dieser Schriftquellen wirft einige allgemeine Fragen auf, die über die Geschichte des russischen Mittelalters hinausgehen. Erstens: Wie erklärt sich die enorme Häufung von beschriebenen Birkenrinden in einer Stadt? Zweitens: Weshalb benutzte man überhaupt eine Baumrinde als Schreibpapier und weshalb eignet sich die Birkenrinde besonders gut zur Beschriftung? Drittens: Unter welchen Bedingungen wäre es zumindest denkbar, auch in unseren Breitengraden früher oder später auf beschriebene Birkenrinden zu stossen? Welche Erkenntnisse wären in dem Falle zu erwarten?

Inhaltlich werde ich die gefundenen Schriften nur am Rande thematisieren. Eine systematische Betrachtung von Erkenntnislücken, die durch beschriebene Birkenrinden geschlossen werden konnten, wäre reizvoll, aber nicht realistisch im Rahmen dieser kurzen Arbeit.

Bevor ich mich den gestellten Fragen zuwende, scheint es mir angebracht, zuerst auf die Ausgrabungen und Auswertungen der Schriften in Nowgorod und Umgebung einzugehen. Dabei stütze ich mich hauptsächlich auf russische Autoren, welche die Grabungen teilweise seit Jahrzehnten begleiten, allen voran auf den heute 90-jährigen Valentin Janin (oder Yanin in der englischen Transliteration). Als sehr hilfreich für mein Verständnis der Thematik erwiesen sich Gespräche mit Archäologen und Historikern der Universität Nowgorod, welche für die Ausgrabungen in Staraja Russa, 70 km südlich von Nowgorod, zuständig sind.

Wo ich russische Quellen paraphrasiere, werde ich diese nicht übersetzen. Für die Transliteration von russischen Namen und Ortsbezeichnungen halte ich mich an die Empfehlungen des Dudens. Russische Ausdrücke setze ich bei der ersten Erwähnung in eckige Klammern. Die in der Arbeit verwendeten Abbildungen verletzen keine Bildrechte.

2. Nowgorod und die Birkenrinde

Nowgorod war bis zur Zerstörung durch den aufstrebenden Moskauer Fürsten Iwan III4 am Ende des 15. Jahrhunderts wirtschaftlich und politisch ein Schwergewicht im ostslawischen Raum. Unüblich für diesen Raum und diese Zeit entwickelte die Stadt früh republikanische Strukturen. Fürsten wurden von einer Volksversammlung [вече; wetsche]5 gewählt, bezahlt für ihre Schutzdienste und hin und wieder auch abgewählt. Mit den Mongolen arrangierte man sich, die Stadt wurde nie geplündert. Begünstigt durch die Lage an der Wolchow, einer wichtigen Wasserstrasse zur Ostsee, kam Nowgorod früh mit der Hanse in Kontakt. Visby (Gotland) und später Lübeck eröffneten eigene Handelsniederlassungen. Die südlich der Wasserscheide entspringenden Ströme Wolga und Dnjepr stellten die Verbindungen zum Schwarzen und Kaspischen Meer - und damit zum Orient - her.6

Aufstieg, Blütezeit und Niedergang von Nowgorod wurden in den Chroniken gut dokumentiert und weckten das Interesse von Archäologen bereits wenige Jahre nach der Oktoberrevolution. Richtig Fahrt aufgenommen haben Ausgrabungen aber erst nach Ende des Zweiten Weltkrieges.

2.1. Bewusst gesucht oder zufällig gefunden?

Valentin Janin, damals junger wissenschaftlicher Mitarbeiter einer der ersten Ausgrabungen, hält in seinem Standardwerk über beschriftete Birkenrinden fest, dass der Fund nicht zufällig war. Birkenrinden wurden vor dem Aufkommen von Papier und als preisgünstige Alternative zu Pergament auch in anderen Kulturen beschrieben, es gab konkrete Hinweise aus den Chroniken, und einzelne Birkenrinden lagerten bereits in den Archiven. Allerdings wurden diese ausnahmslos mit wasserlöslichen Tinte beschrieben und es war klar, dass diese im nassen Nowgoroder Untergrund nicht lange lesbar bleiben würden. Man hoffte irgendwie auf ein wasserundurchlässiges Archiv im Boden zu stoßen.7 Was die Forscher bis zu jenem ersten Fund aus dem Jahr 1951 nicht wussten: Nowgoroder benützten nur selten Tinte. Buchstaben wurden mit einem spitzen Gegenstand, einem Griffel [писало; pisalо] aus Knochen oder Eisen in die Unterseite der Rinde eingeritzt. Man benützte die gleichen Instrumente wie zur Beschreibung von Wachstafeln, die auch in Nowgorod verwendet wurden.8 Die beschriebenen Texte konnten dadurch nicht ausgewaschen werden. Sie konservierten sich hervorragend über die Jahrhunderte hinweg. Damit änderte sich die Ausgangslage für die Archäologen fundamental, und dies gleich in mehrfacher Hinsicht:

Man musste nicht mehr nach der Stecknadel im Heuhaufen, einer wasserdichten Schatztruhe mit wenigen, wichtigen Dokumenten suchen. Beschriebene Birkenrinden konnten überall auftauchen, in allen Kulturschichten. Und das war dann auch der Fall.

Die Tatsache, dass die gefundenen Texte nicht aus einem Archiv stammten, sondern verteilt durch die Kulturschichten direkt im Erdreich lagen, konnte nur bedeuten, dass ihr Informationsgehalt für die Autoren von temporärer Relevanz waren. Nach Gebrauch wurden die Rinden achtlos weggeworfen. Die Vermutung lag nahe, dass die Inhalte alltägliche Probleme der Nowgoroder reflektierten. Diese Annahme sollte sich als korrekt herausstellen, allerdings erst nachdem die Texte und Textfragmente gelesen und verstanden werden konnten. Schriftbild und Vokabular unterschieden sich stark von dem, was man aus den Chroniken kannte. Sprachwissenschaftler waren gefordert!

2.2. Neue Erkenntnisse

Wie man es von Akteuren in einer pulsierenden Handelsstadt erwarten würde, ging es in den Texten sehr häufig um Geld. Listen von Schuldnern, geplanten Einkäufen, Bestellungen, Inventare aber auch Testamente finden sich regelmässig im nassen Untergrund. Das thematische Spektrum ist aber breiter. Psalmen wurden niedergeschrieben, Liebesbriefe verfasst, Gefühle verewigt. Wie verbreitet damals die Lese- und Schreibkultur war, ist unklar. Dass aber bereits Kinder schreiben lernten steht ausser Zweifel und konnte durch gefundene Alphabete, Schreibübungen und Zeichnungen von Kindern direkt nachgewiesen werden, alle eingeritzt in Birkenrinde.9 Dass auch Frauen im russischen Mittelalter rege am Schriftverkehr teilnahmen, ist ein weiteres Indiz für die relativ breite Bildung in der Handelsstadt, die auch Handwerker und Bauern mit einschloß.10

Sprachwissenschafter sind heute davon überzeugt, dass es klare orthografische und morphologische Regeln geben musste, die allerdings unterschiedlich gut befolgt wurden. Auch das ist ein Hinweis auf die Breite der Alphabetisierung und ein wichtiges Argument gegen die These, dass einige wenige Berufsschreiber für die Texte verantwortlich waren.11 Nach Ansicht der Historikerin Elena Rybina schrieben die Nowgoroder „unter Beachtung aller grammatikalischen Regeln und mit einer tadellosen Syntax“.12

Die konkreten Fundorte erlaubten in einigen Fällen detaillierte Aufschlüsse über die Bewohner eines Hofes. Auf diese Weise gelang es eine Ikonenwerkstatt aus dem 12. Jahrhundert dem Priester und Freskenmaler Olisej Gretschin zuzuordnen. Auf dem Hof fand man Bestellungen für Ikonen auf Birkenrinde, adressiert an den Künstler. Eine paläographische Analyse ermöglichte es zudem, ein bis heute erhaltenes Fresken-Ensemble in einer Nowgoroder Kirche demselben Olisej Gretschin zuzuordnen.13

2.3. Datierung und Auswertung

Die Forscher wussten anhand von Plänen, wo die mittelalterlichen städtischen Verkehrswege durchführten. Diese bestanden bis in die Neuzeit hinein aus Holzplanken. Kiefern wurden gefällt, längs einmal in der Mitte durchsägt, mit der glatten Oberfläche nach oben entweder auf den feuchten Boden gelegt, oder auf eine bestehende Strasse, die spätestens nach einer Generation im Morast zu versinken drohte. Im Verlauf der Jahrhunderte kam so einiges an Holz zusammen. Am Ort der ersten Ausgrabungen der fünfziger Jahre legten die Archäologen 28 Schichten halbierter Kieferstämme frei.14

Die Holzplanken wurden dendrochronologisch ausgewertet. Darauf aufbauend konnte eine relative Zeitachse realisiert werden. Absolute Referenzwerte fand man mit Hilfe einiger Fundamente aus Kiefernholz von Sakralbauten. Der Bau von Kirchen wurde in der Regel gut dokumentiert. Durch die jeweiligen Baujahre konnte die relative Skala an mehren Stellen absolut fixiert werden.

Damit stand auch einer Datierung der Kulturschichten links und rechts der Strasse nichts mehr im Wege. Dort gefundene Gegenstände mussten aus der selben Epoche stammen wie die Holzplanken der selben Schicht. Auch die Art der Gegenstände erlaubte Aufschluss über die Epoche ihres Gebrauchs. Technische Entwicklungen, neue Handelspartner und -routen, aber auch veränderte Geschmäcker hinterliessen Spuren im nassen Boden, der nicht nur Birkenrinde hervorragend konservierte, sondern auch Textilstoffe und Erzeugnisse aus Leder!

Die paläographische und inhaltliche Auswertung der Texte führte nicht selten zu einer noch engeren zeitlichen Eingrenzung. Manchmal enthielten die Rinden konkrete Namen und Ereignisse, die mit der Chronik korrelierten.15 Auch inhaltliche Querverbindungen zwischen einzelnen Schriftstücken erlaubten in manchen Fällen relativ genaue Datierungen. Forscher versuchten darüber hinaus mit diesen Querverbindungen soziale Netzwerke zu rekonstruieren. Jos Schaeken von der Universität Leiden hat auf der Basis von Funden jüngeren Datums ein solches Netzwerk eindrücklich visualisiert.16

2.4. Ausblick

Nach Valentin Janin befinden sich noch rund 20.000 beschriftete Birkenrinden im Nowgoroder Untergrund.17 Sollte diese Schätzung stimmen, wurden in den letzten siebzig Jahren weniger als 5% davon gefunden und ausgewertet. Logistische, klimatische, rechtliche und finanzielle Herausforderungen verhindern jedoch ein höheres Grabungstempo. Der für die Ausgrabungen am südlichen Ufer des Ilmensees in Staraja Russa zuständige Archäologe der Universität Nowgorod macht geltend, dass die Kosten für die gesetzlich vorgesehene archäologische Prüfung einer Bauzone auf dem Gebiet eines vermuteten mittelalterlichen Hofes vom Bauherren getragen werden müssen. Häufig werde dann an diesem Standort gar nicht gebaut. In den wenigen Fällen einer Kostenübernahme durch den Bauherren stehen die Archäologen unter massivem Zeitdruck. Die Forscher bevorzugen daher wissenschaftliche Ausgrabungsstätten18, die einen geordneten Ablauf der Arbeiten ohne Termindruck zulassen. Die kurze Ausgrabungsperiode von nur zwei Monaten pro Jahr ist einerseits dem Klima geschuldet. Andererseits fehlen schlicht die personellen und finanziellen Ressourcen.19

3. Sonderfall Nowgorod?

Wenn wir nun das Erdreich verlassen und aus der Vogelperspektive das damalige Gebiet des mittelalterlichen Russlands [Русь; Rus] betrachten, drängt sich die Frage auf, weshalb nur die Nowgoroder auf Birkenrinden schrieben.20 Wieso fand man bis heute kein einziges Schriftstück in Kiew, Polozk oder Rostow (Weliki)? Um sich dieser Frage anzunähern, ist es unumgänglich einen Blick auf die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Nowgorods zu werfen. Auch wird die schon erwähnte Bodenbeschaffenheit der Region nochmals zur Sprache kommen.

3.1. Politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen

Nowgorod wurde fast gleichzeitig mit Kiew christianisiert. Der Begründer der orthodoxen Kiewer Rus, Wladimir, entsendete einer seiner Söhne, Jaroslaw der Weise, als Statthalter in die Siedlung an der Wolchow. Der soll dort angeordnet haben, ausgewählten Kindern der Nowgoroder Oberschicht das Lesen und Schreiben beizubringen. Ob diese Massnahme wirklich eine Bildungslawine auszulösen vermochte, ist schwierig zu beurteilen. Auf alle Fälle korreliert die Ankunft von Jaroslaw in Nowgorod zeitlich mit den ersten gefundenen Birkenrinden.21

Spätestens nach seiner Ankunft muss Jaroslaw mit den bereits vorhandenen republikanischen Strukturen Bekanntschaft gemacht haben. Russische Historiker der jüngeren Generation sind der Meinung, dass die Wetsches weit verbreitet waren, notorisch pro-fürstliche Chroniken diese aber so gut wie nie erwähnten.22

Es ist müßig zu spekulieren, ob in Nowgorod nun der Fürst oder das Volk die entscheidenden Impulse zur Alphabetisierung beisteuerte. Das politische System unterschied sich nicht fundamental von dem anderer Städte. Und auch in Kiew wurden nach der Hinwendung zum Christentum Kinder gezielt in „Bücherweisheit“ unterrichtet.23

Was den Unterschied gemacht haben könnte, war die geographische Lage der Stadt: Richard Hennig bringt es auf den Punkt: „Als landinnerster Punkt Rußlands, der noch für die Ostseeschiffahrt verhältnismäßig leicht erreichbar war, gelangte Nowgorod rasch zu sehr hoher Bedeutung, da es sowohl für den von der Wolga wie den vom Dnjepr kommenden Handelsverkehr der Araber und Byzantiner als auch für den normannischen und wendischen Handel ein überaus wichtiger Umschlagplatz war.“24 Wie Richard Hennig weiter ausführt, zerstörten die Mongolenstürme die südlichen Routen weitgehend. Was blieb, war der einträgliche Pelzhandel, vorwiegend mit der Hanse.25 Routen und Handelsströme mögen sich geändert haben. Der Hub Nowgorod blieb, und nur schon diese Tatsache verlangte einen gewissen Bildungsstandard, um das wirtschaftliche Potential dieser ausgezeichneten geografischen Lage auszuschöpfen. Wie schon erwähnt, ging es bei einem Großteil der ausgewerteten Schriften um Geld, Handel und Waren.

Dass eine reiche Handelsstadt gegenüber seinem Wahlfürsten selbstbewusst auftrat, und damit der republikanische Charakter der Stadt stärker in den Vordergrund drängte als andernorts, darf vermutet werden und gilt für Nowgorod spätestens ab Mitte des 12. Jahrhunderts als gesichert. Nach der Vertreibung des Fürsten Wsewolod im Jahre 1136 ging die Wetsche dazu über, eigene Regierungs- und Verwaltungsorgane zu wählen. Den nachfolgenden Fürsten wurden nur noch die hohe Gerichtsbarkeit und das Kriegswesen anvertraut.26 Die Hypothese, dass die Wahrnehmung von neuen Aufgaben und Kompetenzen durch gewählte städtische Organe nur durch eine umfassende Bildung der Bevölkerung zu bewerkstelligen war, hat viel für sich.

Valentin Janin wirft ein weiteres Argument für den Sonderfall in die Waagschale: Das Nowgoroder Gebiet war riesig, aber menschenleer. Anders als im Süden der Rus gab es im Norden nur wenige Marktorte und Städte. Die vereinzelten Burgen in der Provinz weisen keine Kulturschicht auf, sie wurden also nicht ständig bewohnt. Es entwickelte sich keine Landaristokratie, die Grundbesitzer wohnten alle in der Stadt und nahmen dort aktiv am politischen Leben teil. Da aber die Gutshöfe oft Hunderte von Kilometern entfernt waren, konnte die Kommunikation mit Gutsverwaltern und Bauern nur schriftlich bewerkstelligt werden. Janin stellt auch fest, dass innerhalb der Stadt kaum schriftlich kommuniziert wurde. Birkenrinden-Nachrichten legten riesige Distanzen zurück. Innerhalb der Stadt tauschte man sich mündlich aus.27

3.2. Wasser und Lehm

Der lehmige Untergrund im Nowgoroder Gebiet liess das Grundwasser nicht absinken; der Boden war sehr feucht. Regelmässig trat der Ilmensee über die sumpfigen Ufer und überschwemmte die Stadt. Erst im 17. Jahrhundert verlegten die Nowgoroder überirdische Abflüsse. Die permanente Nässe verunmöglichte das Eindringen von Luft in die Kulturschicht und verhinderte damit das Auftreten von Mikroorganismen, die das organische Material hätten abbauen können. Unangenehm für damalige Bewohner, aber ein Segen für Archäologen.28

Es ist durchaus denkbar, dass in anderen, weiter südlich gelegene Städten der Rus ebenfalls Birkenrinden beschriftet wurden, diese aber aufgrund trockener Böden von Mikroorganismen abgebaut wurden. Siedlungen jenseits der Steppengrenze scheiden aus. Das Gebiet dort ist baumlos.

Gesichert ist, dass - nach heutigem Kenntnisstand - nur in Nowgorod die notwendigen geschichtlichen und geologischen Faktoren zusammentreffen. Man kann davon ausgehen, dass weitere Grabungen den exklusiven Status der Stadt als Zentrum der mittelalterlichen Schriftkultur Russlands auch in Zukunft bewahren werden.

4. Welche Birke?

Die Birke gehört sicher nicht zu den Alleinstellungsmerkmalen von Nowgorod; zwischen Steppe und Tundra ist der Baum mit der glänzend weissen Rinde überall zu Hause. Aus Birkenrinde wurden immer schon Instrumente, Behälter, Schmuck, Kleidungsstücke (!) und andere Gegenstände des täglichen Gebrauchs hergestellt, die man heute an Souvenirmärkten fast überall in Russland erwerben kann.

Birke ist aber nicht gleich Birke; es gibt Dutzende von Arten und es steht die Frage im Raum, ob sich die Rinde der in Nordwestrussland sehr häufig vorkommenden Moor-Birke besonders leicht bearbeiten lässt. Daran anschliessend wäre es interessant zu wissen, ob die Birkenrinde biologische Eigenschaften besitzt, die einer Konservierung im Erdreich über eine lange Zeit förderlich sind.

4.1. Betula pubescens - die Moor-Birke

Diese Birkenart unterscheidet sich von der in unseren Breitengraden häufig vorkommenden Hängebirke (Betula pendula) unter anderem durch die straff nach oben gerichteten Zweige. Weniger sichtbar aber für uns hoch interessant ist die Fähigkeit der Moorbirke bis zu 500 Liter Wasser täglich aufzunehmen. Ein nasser und luftarmer Boden bietet ihr optimale Wachstumsbedingungen.29 Diese Bedingungen treffen auf das Tiefland rund um den Ilmensee idealtypisch zu.

Offensichtlich lässt sich die Rinde, ohne zu brechen, relativ leicht vom Stamm lösen und eignet sich, wie vorhin erwähnt, als Material für die verschiedensten Gegenstände des täglichen Gebrauchs, die oft auch mit Ornamenten verziert wurden. Diese Verzierungen wurden eingestanzt oder eingeritzt, genau gleich wie Buchstaben. Dass man diesen vielseitig einsetzbaren Werkstoff ab einem gewissen Zeitpunkt auch zu kommunikativen Zwecken nutzte, lag nahe.

4.2. Wirkstoff Betulin

Die weissglänzende Oberfläche des Birkenrinde stammt vom nicht wasserlöslichen und antibakteriellen Wirkstoff Betulin, dem in der modernen Medizin wundheilende Eigenschaften zugeordnet werden.30

Die Rinde der Moor-Birke zeichnet sich durch eine hohe Konzentration von Betulin aus. Auch in prähistorischen Funden von Birkenrinden in Torfablagerungen konnte der Wirkstoff noch zur Genüge nachgewiesen werden.31 Die antimikrobielle Wirkung hält also auch nach Tausenden von Jahren an und könnte mit ein Grund dafür sein, dass Birkenrinden im Untergrund nicht abgebaut werden können.

Der Leiter des archäologischen Dienstes der Nowgoroder Universität bezweifelt allerdings den zusätzlichen Nutzen durch Betulin für die Konservierung mit dem Hinweis, dass anderes organisches Material (Kiefer, Leder, Stoffe) im luftleeren Erdreich ebenfalls nicht abgebaut wurde.32

Eine Anschlussfrage wäre dann, ob die antimikrobielle Wirkung von Betulin ihre volle Schutzwirkung auch in weniger wässrigen Böden entfalten könnte. Für Nowgorod lässt sich dieses Frage nicht abschliessend beantworten. Das Aufkommen von Abflusskanälen im 17. Jahrhundert korreliert zwar mit einer viel ertragsärmeren Kulturschicht im allgemeinen und konkret mit dem kompletten Verschwinden von beschrifteten Birkenrinden aus dieser Epoche. Es ist aber naheliegend zu vermuten, dass auch die Nowgoroder auf das damals schon weit verbreitete Papier umgestiegen sind. Und man darf auch nicht vergessen, das Nowgorod in der Epoche der Romanows sowohl wirtschaftlich als auch politisch keine Rolle mehr spielte. Die Blütezeit war endgültig vorbei. St. Petersburg wurde zum Zentrum eines schnell wachsenden Imperiums.

5. Schlussfolgerungen

Die Nowgoroder werden noch Jahrzehnte damit beschäftigt sein, dem Erdreich weitere Geheimnisse zu entreissen. Die Freude über jede gefundene Birkenrinde ist groß, den jeder Fund ist ein Baustein, mit dessen Hilfe der Alltag im russischen Mittelalter rekonstruiert werden kann.

In der vorliegenden Arbeit habe ich versucht Kriterien herauszuarbeiten, unter denen eine schriftliche Kommunikation auf Birkenrinde eine Möglichkeit darstellt. Zusammenfassend müsste eine Gemeinschaft in etwa die folgenden Merkmale aufweisen:

- Relativ hohe Alphabetisierungsrate
- Strategisch günstige Position für Fernhandel
- Strukturen von Selbstverwaltung
- Effektiver Schutz vor marodierenden Invasoren
- Hohe Zentrumsfunktion der Stadt in einer spärlich besiedelten Umgebung
- Ständig feuchter Untergrund ohne Abflusskanäle
- Genügend Birken in der Umgebung (die sich schälen lassen)

Es gibt keinen Grund das Vorhandensein von beschrifteten Birkenrinden an anderen Orten in Russland, im übrigen Europa oder sogar auf anderen Kontinenten kategorisch auszuschliessen. Die für Grabungen notwendigen Ressourcen sind aber nicht nur in Russland begrenzt. Der Aufwand ist beträchtlich, das Interesse ausserhalb der relativ kleinen Forschergemeinschaft überschaubar.

Um den Enthusiasmus der Forschergemeinde von Nowgorod einordnen zu können, muss man wissen, dass die mittelalterliche Quellenlage im Osten Europas sich um einiges dürftiger gestaltet als in unseren Breitengraden. Bereits 1979 schrieb Carsten Goehrke, dass in absehbarer Zeit die Zahl an editierten Birkenrinden diejenige anderer Urkunden und Akte übersteigen wird. Durch die viel breitere inhaltliche Streuung ließen sich „Bereiche des täglichen Lebens im alten Rußland erschließen (…), die der Forschung bislang nicht zugänglich waren und ungeahnte neue Erkenntnisse versprechen.“33 Auch wenn die Quellenlage im Westen viel üppiger ist, sollte man sich vertieft der Frage widmen, wo und für welche Zeit eine Möglichkeit für beschriebenes organisches Material bestehen könnte. Sollten solche Quellen gefunden werden, müssten vermutlich auch Teile unserer eigenen Geschichte neu geschrieben werden.

Nowgoroder Birkenrinden erzählen uns eine andere Geschichte als Chroniken und Urkunden. Sie konservieren Momentaufnahmen des täglichen Lebens von Grundbesitzern, Kaufleuten, Handwerkern, Bauern; von Männern, Frauen und Kinder. Alle diese Akteure haben durch die Birkenrinden eine Stimme erhalten. Die Rinden waren nie für die Nachwelt bestimmt. Gerade deshalb erlauben sie einen unverfälschten Blick in das Leben einer prosperierenden Stadt einer vergangenen Epoche. Birkenrinden sind die hellsten Scheinwerfer über die wir verfügen, um Licht ins dunkle russische Mittelalter zu bringen.

Walter Denz, August 2019.

Abbildungen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Fig. 4 The Luka-Ivan network (mid-12th c.) and Jakim network (end of 12th c.)- A vi sua li za ti on of soci a l networks ba sed on birc hbark texts publis h ed in NGB 12 (2015)

Abb. 1: Visualisierung der Netzwerke von Luka-Ivan undjakim (aus: Schaeken, S. 139)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: Ausgrabungsstatte Pjatnizkaja II, Staraja Russa (August 2019, Bild W Denz)

Quellen

Verzeichnis aller ausgewerteten Texte auf Birkenrinde im ostslawischen Raum: http://gramoty.ru/ birchbark (in russischer Sprache; Stand 15.8.2019).

Archäologisches Portal der Universität Nowgorod: https://www.novsu.ru/archeology/ (in russischer Sprache; Stand 15.8.2019).

Literaturverzeichnis

Goehrke, Carsten. Der Beitrag der Mittelalterarchäologie zur jüngsten Erforschung Groß-Novgorods. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Bd. 27 (1979). Seiten 564–572. Zitiert: Goehrke.

Hennig, Richard. Zur Verkehrsgeschichte Ost- und Nordeuropas im 8. bis 12. Jahrhundert. In: Historische Zeitschrift, Bd. 115 (1916). Seiten 1–30. Zitiert: Hennig.

Janin, Valentin. Novgoroder Birkenrindenurkunden. In: Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde, Bd. 41 (1995). Seiten 211-237. Zitiert: Janin 1995.

Lougovaya, Julia. Und Gott wird Dich belohnen. In: 5300 Jahre Schrift. Heidelberg. 2017. Seiten 114-117. Zitiert: Lougovaya.

Lukin, Pavel. Hanseatic and Russian Data. In: Russian History, Bd. 41, Nr. 4 (2014). Seiten 458–503. Zitiert: Lukin.

Rybina, Elena. Bildung im mittelalterlichen Novgorod anhand archäologischer Zeugnisse. In: Zwischen Christianisierung und Europäisierung. Beiträge zur Geschichte Osteuropas in Mittelalter und früher Neuzeit. Festschrift für Peter Nitsche zum 65. Geburtstag. Stuttgart. 1998. Seiten 69-90. Zitiert: Rybina.

Ortner, Herbert Adrian. Die Birke: ihre Bedeutung aus interdisziplinärer Sicht. Bern. 2015. Zitiert: Ortner.

Schaeken, Jos. Comments on birchbark documents found in the twenty-first century. Замечания к берестяным грамотам, найденным в XXI веке. In: Russian Linguistics. International Journal for the Study of Russian and other Slavic Languages. Bd. 41, Nr. 2 (2017). Seiten 123–149. Zitiert: Schaeken.

Yanin, Valentin. The Archaeology of Novgorod. In: Scientific American. Bd. 262, Nr. 2 (1990). Seiten 84–91. Zitiert: Yanin 1990.

Герасимов, Илья/Могильнер, Марина/Глебов, Сергей/Семенов, Александр. Новая имперская история Северной Евразии, Часть 1, Москва. 2017. Zitiert: Gerasimov/Mogilner/Glebov/ Semenov.

Янин, Валентин Лаврентьевич. Я послал тебе бересту...Москва. 1998. Zitiert: Janin 1998.

Danksagung

Zu großem Dank verpflichtet bin ich Dr. Elena Toropowa, Leiterin des Humanitären Institutes an der Universität Nowgorod sowie Sergey Toropow, Leiter des archäologischen Dienstes der selben Universität (beide links im Bild). Sie haben sich zwischen Juni und August 2019 viel Zeit und Mühe genommen, mich in diese faszinierende Thematik einzuführen.

[...]


1 Den Zusatz „Weliki“ (Groß, Großartig) erhielt Nowgorod nach der Rückbenennung des sowjetischen Gorki in Nischni Nowgorod. Damit lassen sich die beiden Nowgorods besser auseinanderhalten. Wann immer in dieser Arbeit von Nowgorod die Rede sein wird, meine ich das in der Nähe von St.Petersburg gelegene „Weliki“.

2 Birkenrindentexte wurden im alten Nowgorod Urkunden [грамота; gramota] gennant. In dieser Arbeit werde ich einfach von Texten oder Schriften sprechen.

3 Eine vollständige Liste aller beschriebenen Birkenrinden findet sich hier (in russischer Sprache): http:// gramoty.ru/birchbark/document/list/

4 Iwan der Schreckliche war ein Enkel Iwans III.

5 Historiker sind sich uneinig darüber, wer befugt war, an der Volksversammlung teilzunehmen. Valentin Janin limitiert den Kreis auf relativ wenige Grossgrundbesitzer (Yanin 1990, S. 84f.); andere ziehen einen grösseren Kreis. Siehe dazu auch Lukin, S. 460ff.

6 Vgl. Yanin 1990, S. 86.

7 Vgl. Janin, 1998, S. 33-36.

8 Ebda. S. 37 (Illustrationen).

9 Vgl Rybina, S. 81-82.

10 Ebda. S. 72; Janin 1995, S. 224.

11 Rybine, S. 72.

12 Ebda. S. 74.

13 Janin 1995, S.222f.

14 Janin 1998, S.22f.

15 Goehrke, S. 566.

16 Vgl. Abb. 1; Quelle: Schaeken, S. 139.

17 Janin 1998, S. 253.

18 Abb. 2.

19 Gespräch mit Sergej Toropow, Leiter des archäologischen Dienstes an der Universität Nowgorod (Juli 2019).

20 Vereinzelt wurden auch ausserhalb der Gegend um den Ilmensee beschriftete Rinden gefunden. Zur geografischen Verbreibung der Funde: Schaeken, S.126.

21 Vgl. Lougavaya, S. 117.

22 Gerasimov/Mogilner/Glebov/Semenov, S. 124.

23 Lougavaya, S. 117.

24 Hennig, S. 7.

25 Hennig, S. 7.

26 Gerasimov/Mogilner/Glebov/Semenov, S. 140.

27 Vgl Janin 1995, S. 226-227.

28 Janin 1998, S. 20; S. 35.

29 Vgl. Ortner, S. 50f.

30 www.pflanzenforschung.de/de/journal/journalbeitrage/birken-wirken-forscher-untersuchen-die-heilende- wirkung-10197, Stand 13.8.2019.

31 Ortner, S. 120.

32 Gespräch mit Sergej Toropow, Leiter des archäologischen Dienstes an der Universität Nowgorod (August 2019). Siehe Abb. 3.

33 Goehrke, S. 567.

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Die Birkenrinde als Schriftquelle
Untertitel
Ein Scheinwerfer ins russische Mittelalter
Hochschule
Universität Zürich  (Historisches Seminar)
Veranstaltung
MAS Applied History
Note
1
Autor
Jahr
2019
Seiten
14
Katalognummer
V502345
ISBN (eBook)
9783346029522
ISBN (Buch)
9783346029539
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Der Essay konnte nur mit Hilfe von Dozenten der Nowgoroder Universität und dessen archäologischen Dienstes geschrieben werden. Dafür herzlichen Dank.
Schlagworte
Birkenrinde, Nowgorod, Jaroslaw der Weise, Beresta, Birke, Wolchow, Moor-Birke, Betulin, russisches Mittelalter, Novgorod
Arbeit zitieren
Walter Denz (Autor:in), 2019, Die Birkenrinde als Schriftquelle, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/502345

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Die Birkenrinde als Schriftquelle



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden