Robert Musils 'Die Schwärmer' - Kritisches und Theoretisches


Seminararbeit, 2002

25 Seiten, Note: Sehr gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Anstelle einer Biographie: Ringen an der Meisterschaft

3. Das „neue Drama“
3.1. Abgrenzungen zum zeitgenössischen Theater
3.2. Das dramatische Wort

4. Exkurs: Die Bändigung des Gefühls durch die Form

5. Die Schwärmer
5.1. Rhetorik und Stil
5.2. Zeit und Raum
5.3. Zum antitragischen Duktus

6. Bibliographie

1. Einleitung

„Nachtfalter sind wenig bekannte Geschöpfe, was nicht verwundert, führen doch die meisten Arten ein sehr verborgenes Leben. Erst wenn sich abends die Dämmerung über das Land senkt und die sonneliebenden Tagfalter längst ihre Schlafplätze aufgesucht haben, erwachen sie zum Leben. Im allgemeinen nimmt man die nächtlichen Flieger nur wahr, wenn sie im Scheinwerferlicht der Autos auftauchen, Straßen- und Hoflampen umflattern oder durch geöffnete Fenster in hell erleuchtete Fenster schwirren.“ (Marktanner 1992: 6)

Was hat dieser Passus aus einem Bestimmungsbuch für Schmetterlinge, genauer für Nachtfalter, also für Spinner, Spanner und Schwärmer, in einer literaturwissenschaftlichen Arbeit über ein Schauspiel Robert Musils verloren? In diesem Schauspiel, in den Schwärmern, treffen zwei Paare in dem hermetischen Bereich eines Landhauses in der Nähe einer Großstadt aufeinander: Thomas und Maria, Anselm und Regine – exklusive, flatterhafte und exotische Geschöpfe. Spielerisch werden verschiedene Lösungsmöglichkeiten erprobt, die sich aus den Personen- und Problemkonstellationen ergeben: „immer das gleiche Spiel Karten, nur anders gemischt und ausgespielt“ (12). Das ganze hat den Charakter einer Versuchsanordnung. Strukturell erinnert es an Goethes Wahlverwandtschaften, in denen er in anfangs idyllischer Umgebung zwei mal zwei Personen zusammenführt, um an ihnen das gesetzmäßige Wuchern der Wahlverwandtschaftsgefühle zu beobachten. Wie auch Goethe, dessen Interesse an naturwissenschaftlichen Beobachtungen sich in der Konzeption seines Romans niederschlägt, geht es Musil in den Schwärmern primär um eine Versuchsanordnung nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten im Medium der Literatur, und nicht um konkrete politische, moralische oder ästhetische Lebenshilfe.

Weiter heißt es im Naturführer: „Schmetterlinge suchen, beobachten und benennen ist für den Naturfreund eine der interessantesten und reizvollsten Freizeitbeschäftigungen.“ (Marktanner 1992: 17) Der Literaturfreund, die Germanistik-Studentin begreift dies als einen Arbeitsauftrag und als Aufforderung, Musils Schwärmer unter dem Lichtkegel germanistischen Aufklärungswillens auszuleuchten und auf relevante poetologische, ideengeschichtliche und formale Aspekte zu untersuchen. Was dabei sichtbar wird und was im diffusen Dunkel des Unsagbaren bleibt, wird sich zeigen.

Etliche Diplomarbeiten, Dissertationen und wissenschaftliche Publikationen haben sich bislang mit dem Dichter-Ingenieur Robert Musil im allgemeinen und mit den Schwärmern als der Konkretisierung von Musils Konzeption eines „neue[n] Dramas“ (Mth 196) auseinandergesetzt. Die Sekundärliteratur hierzu ist überwältigend. Dichter, Literaturwissenschafter, Philosophen und Sprachwissenschafter gleichermaßen haben auf je ihre Art versucht, der ideologisch und formal so komplexen Textur Musilscher Gedanken- und Werkwelten nahezukommen, sie zu erfassen, auf den Begriff zu bringen. Im Folgenden möchte ich einige wesentliche Aspekte der Schwärmer herausgreifen und sie in dem Sinne kontextualisieren, daß ich verwandte (poetologische) Aspekte bei anderen Dichtern und in deren Texten auszumachen suche.

2. Anstelle einer Biographie: Ringen an der Meisterschaft

„Das Kunstwerk wird aufgenommen in wenigen Stunden und erzeugt in vielen Wochen. Schon dies schließt ein adäquates Erfassen aus. Das Kunstwerk ist nicht wie eine geschwungene Linie, sondern wie eine mit immer erneutem Ansetzen gezogene. Es ist nicht stetig, sondern enthält Sprünge, die unter der Schwelle der Beobachtung bleiben, oder gar in den spezifischen Charakter einstrahlen“, schreibt Robert Musil 1918 in sein Tagebuch. Diese Äußerung offenbart zumindest zweierlei: Zum einen hält er ein adäquates Erfassen des Kunstwerks für unmöglich, wenngleich das Kunstwerk „von sich aus“, d. h. unter der Schwelle des Bewußtseins auf den Betrachter resp. Leser zu wirken vermag. Zum anderen

zieht sich bei ihm der Entstehungs-Prozeß eines Kunstwerkes über Wochen oder gar Jahre hin. Musil gehört zu jenen hart mit sich ringenden „Arbeitern“, die sich mit eiserner Disziplin jeden Tag wieder an ihren Schreibtisch zwingen; doch ist er im Laufe seines Lebens wiederholt von einer „Schreiblähmung“ befallen, seine literarischen Projekte geraten ins Stocken, bleiben Fragment. Das Schauspiel Die Schwärmer ist eines seiner wenigen größeren, fertiggestellten Werke. Sie sind eine „auf Bühnenformat verkleinerte ´Parallelaktion´ zum großen Roman Mann ohne Eigenschaften, sie wird auf der Bühne zu Ende gebracht und hat doch einen so ´offenen Schluß´[1] wie das Romanfragment.“ (Frankfurter Rundschau; zit. nach DS: Klappentext)

Mit diesen schmerzlichen Erfahrungen des Nicht-fertig-Werdens sowie des (potentiellen) Scheiterns bei der Transformation vom Gedanken ins Wort ist Musil kein Einzelfall. Gottfried Benn spricht in seiner Rede Probleme der Lyrik (1951), der sogenannten Marburger Rede, in Bezug auf seine dichterische Tätigkeit als von den Jahren der Askese, des Leidens und des Kampfes (cf. 1959: 506). Damit ist ein Komplex angesprochen, der insbesondere für Thomas Mann zentral ist. Immer ist ihm Dichten ein Ringen, ist geistige und körperliche Tortur, ist „Schwere Stunde“:

Er stand am Ofen und blickte mit einem raschen und schmerzlich angestrengten Blinzeln hinüber zu dem Werk, von dem er geflohen war, dieser Last, diesem Druck, dieser Gewissensqual, diesem Meer, das auszutrinken, dieser furchtbaren Aufgabe, die sein Stolz und sein Elend, sein Himmel und seine Verdammnis war. Es schleppte sich, es stockte, es stand – schon wieder, schon wieder! Das Wetter war schuld und sein Katarrh und seine Müdigkeit. Oder das Werk? Die Arbeit selbst? Die eine unglückselige und der Verzweiflung geweihte Empfängnis war? (Schwere Stunde; 1963: 299) (...) Ahnte man, wieviel Zucht und Selbstüberwindung ein Satz, ein strenger Gedanke ihn kostete? (303)

Aschenbach, dem geadelten Dichter im Tod in Venedig, der den „Aufstieg zur Würde“ bereits hinter sich hat, ist die Zucht „eingeborenes Erbteil von väterlicher Seite“ (363). Sein Ethos ist eines, das in der Leistung besteht. Sein Lieblingswort ist „Durchhalten“ (363). Alles Große ist ihm „ein Trotzdem“ (364 u.ö.):

Schon als Jüngling von allen Seiten auf die Leistung – und zwar die außerordentliche – verpflichtet, hatte er niemals den Müßiggang, niemals die sorglose Fahrlässigkeit der Jugend gekannt. Als er um sein fünfunddreißigstes Jahr in Wien erkrankte, äußerte ein feiner Beobachter über ihn in Gesellschaft: „Sehen Sie, Aschenbach hat von jeher nur so gelebt“ – und der Sprecher schloß die Finger seiner Linken fest zur Faust –; „niemals so“ – und er ließ die geöffnete Hand bequem von der Lehne des Sessels hängen. Das traf zu; und das Tapfer-Sittliche daran war, daß sein Name von nichts weniger als robuster Verfassung und zur ständigen Anspannung nur berufen, nicht eigentlich geboren war. (Der Tod in Venedig; 362-363)

In gewisser Weise haben diese fiktionalen Stellen aus dem Oeuvre Thomas Manns Entsprechung und Relevanz im Leben Musils. Seine lädierte Gesundheit ab Mitte der 30er Jahre und dann ab 1938 im Schweizer Exil, die schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse und die zunehmende menschliche Vereinsamung verkomplizierten die Arbeit am Mann ohne Eigenschaften. Vor allem die Unsicherheit, ob die im Roman aufgeworfenen Fragen überhaupt zu beantworten und für die Menschen nach dem Krieg noch von Belang seien, machte ihm zu schaffen. Später, das wußte er, würde man seinen Aufenthalt in der Schweiz wohlgefällig verbuchen, „(...) aber erst auf seinen Tod warten zu müssen, um leben zu dürfen, ist doch ein recht ontologisches Kunststück“ (zit. nach Berghahn 2001: 8).

3. Das „neue Drama“

3.1. Abgrenzungen zum zeitgenössischen Theater

Musil versucht in den Schwärmern seine Konzeption eines „neuen Dramas“ (Mth 196) paradigmatisch zu gestalten. Dieser „dramatische“ Erneuerungswille und die Forderung nach einer Theater-Revolution kommen nicht von ungefähr. Sie erschließen sich vor dem Hintergrund des Dramenschaffens und der Theaterlandschaft im Deutschland seiner Zeit, das Musil in seiner Funktion als Rezensent für diverse Tageszeitungen – er brauchte Geld, um sich über Wasser zu halten – mit kritischem Geist und spitzer Feder kommentierte (s. Theater: Praktisches und Theoretisches).

Wiederholt spricht er in seinen Rezensionen und programmatischen Texten von der „Pathologie des Theaters“ (Mth 222) und beklagt das „Dahinsiechen der europäischen Bühnen an dementia“ (26) durch Abwendung von den eigentlichen dichterischen und künstlerischen Aufgaben der Bühne.F Die aktuellen Strömungen und Tendenzen an den Theatern – Naturalismus, Impressionismus, Expressionismus – empfindet er als einseitig und ungenügend. Sie bedeuten eine „Bereicherung im einzelnen“ (Mth 190), werden aber seiner Forderung nach einem „schöpferischen Theater“ nicht gerecht. Im „schöpferischen Theater“, anders als im „illustrativen Theater“, wozu er u. a. bürgerliche und politisierende Stücke zählt, spiegelt „sich die Tatsache, daß wir in der Hauptsache aus Geist bestehen“.

„Geist“ ist Musil ein zentraler Begriff und basales Konstituens seiner Versuche, Form und Bedeutung des Dramas als Gattung neu zu formulieren. „Geist“ als eine Synthese aus Gefühls- und Verstandeskomponenten, als eine Haltung, in der sich tastendes Empfinden und klares Bestimmen in wechselseitiger Reaktion zu einem Komplex vereinigen. Eine solche Haltung faßt er mit dem Begriffspaar „Genauigkeit und Seele“ bzw. „Mechanik und Seele“ (Mth 191). Der Dichtung als unmittelbarer Ausdruck dieses Geistes kommt eine singuläre Funktion zu; in ihr schwingt ein utopisches Element mit: Der poetische Ausdruck ist nicht mißglückte Darstellung des Ratioiden (oder umgekehrt), sondern beide sind nur unvollständige Momente einer höheren Einheit, die sie umgreift, selbst aber nicht darstellbar ist. Der Kunst gelingt, was weder dem Wissen noch dem Gefühl glückt: die symbolische Transformation des vertrauten Gesichtes der Welt. Musils Utopie ist die eines neuen Dramas aus einem neuen Geist, er spricht vom „Ideendrama“ (Mth 178), treffender: vom „Ideenmosaik“ (Mth 146).

Den so strapazierten Gegensatz Gefühl – Ratio, Herz – Hirn hält Musil für eine falsch gestellte Alternative. „Schon der Impressionismus hat das Vorurteil ausgebildet, daß der Dichter zum Herzen sprechen müsse oder irgendeinem anderen Organ, das ohne Verbindung mit dem menschlichen Großhirn gedacht wurde, und hat dadurch wesentlich beigetragen, das Theater von der geistigen Entwicklung abzuschalten.“ (Mth 190) Die ausschließliche Betonung des Gefühl greift zu kurz und wird dann gefährlich, wenn sie in Intellektfeindlichkeit umschlägt: „Der Expressionist verzichtet auf Analyse. Deshalb ist er den von ihm anerkannten Komplexen gegenüber schlechthin gläubig. Er sucht deshalb das neue Weltgefühl so wie ein Chemiker den synthetischen Kautschuk sucht. Seine Grenze: daß es ein rein synthetisiertes Verfahren nicht gibt.“ (Tb 116) Musil polemisiert gegen die Willkür der Ausdrucksdramatiker seiner Zeit; er bezeichnet Kokoschkas dramatisches Schaffen als „geistlos“ und empfindet Kaiser und Werfel und deren antiintellektuelles, manisch-ekstatisches Anrufen großer Menschheitsideen als vage und verwaschen. In dem kunsttheoretischen Text Schwarze Magie, der als eine Unfreundliche Betrachtung im Nachlaß zu Lebzeiten abgedruckt ist, macht sich Musil Gedanken zu Fragen von Kunst, Kitsch und Leben. Nach einigen einleitenden Sätzen gelangt er zu seiner Definition des Kitsches:

[...]


[1] Dieser „offene Schluß“ im Mann ohne Eigenschaften ist nicht untypisch für die Literatur der Moderne und er ist symptomatisch für die Aporien eben dieser Epoche. Kafkas Romane sind allesamt Fragment geblieben. Und Thomas Manns Zauberberg hat zwar ein klar fixiertes Ende, mündet jedoch in die Offenheit. Begreift man den Zauberberg als einen Bildungsroman, so ist die Offenheit, in die er mündet, allerdings sein Ziel. Denn die Diskurse Settembrinis und Naphtas, auch das Schicksal des braven Joachim Ziemßen wie der großen Persönlichkeit Peeperkorn zeigen, daß konkrete und verwirklichte Bildungsideale – sei es die Erziehung zum Soldaten, zum Aufklärer, zum Bolschewisten oder zur unintellektuellen „Persönlichkeit“ in mißverstandener Goethe-Nachfolge – zu unglaubwürdigen und ideologischen Einseitigkeiten führen.

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Robert Musils 'Die Schwärmer' - Kritisches und Theoretisches
Hochschule
Universität Salzburg  (Germanistik)
Veranstaltung
Dramen zwischen Naturalismus und Exil
Note
Sehr gut
Autor
Jahr
2002
Seiten
25
Katalognummer
V50234
ISBN (eBook)
9783638464918
ISBN (Buch)
9783638598033
Dateigröße
566 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Robert Musil, einem erklärten Anhänger der empirischen Methode, präsentierte sich die Welt als 'eine unendliche Aufgabe mit fortschreitenden Teillösungen'. Er verschmähte idealistische und rationalistische Gesamtlösungen - das zeigt sich etwa in den "Schwärmern". In dieser Versuchanordnung konfrontiert er zwei Paare miteinander und hält ihre Interaktionsprozesse fest. Meine Arbeit untersucht dieses außergewöhnliche Schauspiel auf relevante poetologische, ideengeschichtliche und formale Aspekte.
Schlagworte
Robert, Musils, Schwärmer, Kritisches, Theoretisches, Dramen, Naturalismus, Exil
Arbeit zitieren
Kristina Werndl (Autor:in), 2002, Robert Musils 'Die Schwärmer' - Kritisches und Theoretisches, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/50234

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