Überschreitungsphänomene vom 18. Jahrhundert bis heute


Essay, 2018

12 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


„Alle Schranken sind bloß des Übersteigens wegen da.“1 Dies sind einst die Worte des deutschen Lyrikers Georg Philipp Friedrich Leopold Freiherr von Hardenberg (1772 – 1801), welcher besser unter dem Namen Novalis bekannt ist. Übersteigen bedeutet das Übersteigen von Grenzen, das Schauen über den Tellerrand, das letztendliche Umsetzen dessen. Es beschränkt uns nicht in unserem Tun oder in unserer Wahrnehmung, vielmehr ermöglicht es uns eine weitere Sichtweise und mehr Handlungsmöglichkeiten. Manchmal erfordert es Mut, etwas zu machen, was nicht der Norm entspricht, manchmal bedarf es aber auch an Talent, um das Überstiegene erfolgreich umzusetzen. Bedarf dieses erfolgreiche Umsetzen des Übersteigens also die Fähigkeit des Genies? Der Geniebegriff wird über Jahrhunderte immer wieder neu definiert. Während des 17. Jahrhunderts umfasst dieser Begriff ein großes Spektrum.

„[E]s bezeichnet also die Gesamtheit der charakterlich-geistigen Fähigkeiten (son noble génie, son génie étroit), dann das Talent, die spezifische Neigung, Anlage, Begabung (son génie de la géométrie), schließlich, metonymisch, die Person selbst (être un grand génie).2

Im 18. Jahrhundert verlagert sich das Kriterium des Genies vom erschafften Gegenstand selbst zum Prozess des Erschaffens. Das Genie ist in dieser Vorstellung endlich, es erreicht nach dem langen Schaffensvorgang selbst die Vollkommenheit.3 Diderot unterscheidet hier zwischen dem, was wir heutzutage genetisch und nicht-genetisch bezeichnen würden. Er bezeichnet das Genie als „esprit observatuer“4, also als ein Genie, dessen Geniefähigkeit von genetischer Herkunft ist. Es ist somit nicht lernbar, gar trainierbar. Entweder ist es gegeben oder nicht. Mit dieser Aussage hat Diderot aber auch Gegner. William Sharpe sei der oppositären Meinung gewesen, dass das Genie nicht genetischer Herkunft ist, sondern ebendieses antrainiert, erworben ist. Shakespeare ist eine weitere, bedeutsame Person, welche der Kontroverse um den Geniebegriff neue Impulse gab. So wurde „[d]urch seine dichterische Leistung […] im Kantischen Sinne entschieden, daß im G. <<die Natur der Kunst die Regel gibt>>.“5 Kant versucht zu seiner Zeit, den undeutschen Geniebegriff durch „eigenthümlicher Geist“6 zu ersetzen, da das Wort „Genie“ für einige Deutsche zu undeutsch war. Doch es blieb beim ursprünglichen Begriff, welcher sich in der genannten Zeit in die deutsche Sprache der Philosophen, der Kritik als auch der Literatur etablierte.

Goethe fertigt die Deutung des Dichters und Künstler als besagtes Genie ab.7

Die literarische Epoche des Sturm und Drangs ist geboren, aus welcher eine Vielzahl „genialer Männer mit aller Mutigkeit und Anmaßung hervorbricht [und] alle vorhandenen Grenzen überschreitet“.8 Somit sind wir wieder bei den Schranken, die um des Übersteigens wegen da sind. Das Maß ist Maß. Zwischen zwei Polen befindet sich die Mitte. Anhand des Geniebegriffs und dessen umfassende Begriffsgeschichte, die im Vorigen kurz skizziert wurde, lässt sich erkennen, dass die beiden metaphorischen Pole einen größeren Abstand zueinander gewinnen. Da sich einer der beiden Pole insofern verändert, indem er die Übersteigung miteinschließt, lässt sich annehmen, dass sich dadurch die Mitte bereits in der Genie-Kontroverse verschoben hat. Die Maß-Frage lautet stets „Was ist genug?“ und hier lässt sich bereits erkennen, dass das vermeintliche genug noch nicht genug zu sein scheint.

„In >>allem Künstlertum, aller Außerordentlichkeit und allem Genie<< - dieser synonymen Formel aus Tonio Kröger zufolge hebt sich der Künstler vom Mittelmaß ab. Seine extraordinäre Geisteskraft hält ihn in hohen geistigen Sphären fest.“9

Thomas Mann befasst sich in seiner Novelle mit der fiktiven Figur Tonio Kröger, dessen Entwicklung er in einem Zeitraum von 16 Jahren darstellt. Kröger ist ein künstlerisches Talent und befindet sich mit allen Geschehnissen und Meinungen im Widerstreit. Seine Kunst wird oft missverstanden, weshalb er nur selten als Künstler gesehen wird. Mit seiner Kunst hebt er sich allerdings nur von den üblichen Künsten und somit vom Mittelmaß ab. Mit „hohen geistigen Sphären“ scheint die Spitze des Denkens gemeint zu sein, wodurch auch hier der Geniebegriff hervorgebracht werden kann.10 Das Genie als solches wird in dieser Literatur mit dem Begriff der Außerordentlichkeit in Verbindung gebracht und im vorigen Zitat synonym betrachtet. Der Begriff der Außerordentlichkeit bringt den Übertreibungsbegriff mit sich. Das Abheben vom Mittelmaß ist ein Überschreitungsphänomen, welcher oftmals mit Begriffen wie Natur und Künsten einhergeht. Die genannten Begriffe sind welche, auf die sich Mann in seinen Erzählungen und Novellen oftmals stützt. Außerordentlichkeit bedeutet also, nicht dem Gewohnten zu entsprechen. Es bedeutet, von der Norm abzuweichen, um Grenzen zu überschreiten. Kant wirkt dem entgegen, indem er versucht, den Geniebegriff zu entkräftigen. Vorab postuliert er, dass „[s]chöne Künste notwendig als Künste des Genies betrachtet werden müssen“.11

Weiter nennt er vier Aspekte, die der Geniebegriff bezüglich der Genieästhetik mit sich bringen müsste und bestätigt diese auch. Allerdings müsse man das Genie vom Nachahmungsgeiste gänzlich unterscheiden und sie vor allem in Opposition betrachten.

„Wenn man aber auch selbst denkt oder dichtet, und nicht bloß was andere gedacht haben, auffaßt, ja sogar für Kunst und Wissenschaft manches erfindet; so ist doch dieses auch noch nicht der rechte Grund, um einen solchen (oftmals großen) Kopf (im Gegensate mit dem, welcher, weil er niemals etwas mehr als bloß lernen und nachahmen kann, ein Pinsel heißt) ein Genie zu nennen: weil eben das auch hätte können gelernt werden, also doch auf dem natürlichen Wege des Forschens und Nachdenkens nach Regeln liegt, und von dem, was durch Fleiß vermittelst der Nachahmung erworben werden kann, nicht spezifisch unterschieden ist.“12

Weiter betont er, dass die Talentoriginalität nur einen Teil des Geniecharakters ausmache und Gelerntes mit Genetischem verknüpft werden müsse.

„[S]o glauben seichte Köpfe, daß sie nicht besser zeigen können, sie wären aufblühende Genies, als wenn sie sich vom Schulzwange aller Regeln lossagen, und glauben, man paradiere besser auf einem kollerichten Pferde, als auch einem Schulpferde. Das Genie kann nur reichen Stoff zu Produkten der schönen Kunst hergeben; die Verarbeitung desselben und die Form erfordert ein durch die Schule gebildetes Talent, um einen Gebrauch davon zu machen, der vor der Urteilskraft bestehen kann. Wenn aber jemand sogar in Sachen der sorgfältigsten Vernunftuntersuchung wie ein Genie spricht und entscheidet, so ist es vollends lächerlich; man weiß nicht recht, ob man mehr über den Gaukler, der um sich so viel Dunst verbreitet, wobei man nichts deutlich beurteilen, aber desto mehr sich einbilden kann, oder mehr über das Publikum lachen soll, welches sich treuherzig einbildet, daß sein Unvermögen, das Meisterstück der Einsicht deutlich erkennen und fassen zu können, daher komme, weil ihm neue Wahrheiten in ganzen Massen zugeworfen werden, wogegen ihm das Detail (durch abgemessene Erklärungen und schulgerechte Prüfung der Grundsätze) nur Stümperwerk zu sein scheint.“13

Das Genie selbst wird nach Kant von großem und notwendigem Nutzen sein, sofern schöne Gegenstände hinsichtlich seiner Genieästhetik hervorgebracht und beurteilt werden sollen, da sich das Genie als Talent zur schönen Kunst betrachten lässt.14

[...]


1 Novalis: Fragmente. Erste, vollständig geordnete Ausgabe hg. von Ernst Kamnitzer, Jess Verlag, Dresden 1929. Originaltext. Fragmente über den Menschen.

2 Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter. Band 3: G-H. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt. Schwabe & Co. Basel 1974. S.279

3 Vgl. ebd.

4 Ebd. S. 280

5 Ebd.

6 Ebd. S.285

7 Vgl. ebd. S. 293

8 Ebd. S.294

9 Roffmann, Astrid: „Keine freie Note mehr“: Natur im Werk Thomas Manns. Königshausen & Neumann GmbH. Würzburg 2003, S.52.

10 Ebd.

11 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Philipp Reclam jun. Stuttgart 1963. § 46.

12 Ebd. §47

13 Ebd.

14 Ebd. §48

Ende der Leseprobe aus 12 Seiten

Details

Titel
Überschreitungsphänomene vom 18. Jahrhundert bis heute
Hochschule
Christian-Albrechts-Universität Kiel
Note
1,3
Autor
Jahr
2018
Seiten
12
Katalognummer
V500315
ISBN (eBook)
9783346029409
ISBN (Buch)
9783346029416
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Überschreitung, Überschreitungsphänomene, Maß, Mitte, Rücksichtslosigkeit, Wandel der Zeit
Arbeit zitieren
Justine Vivian Prentki (Autor:in), 2018, Überschreitungsphänomene vom 18. Jahrhundert bis heute, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/500315

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