Wilhelm von Humboldts Bildungsideal in Zeiten nach Bologna

Die Diskrepanz zwischen dem humboldtschen Bildungsideal und dem gegenwärtigen universitären Bildungswesen


Bachelorarbeit, 2019

59 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Der Begriff ‚Bildung‘

3. Ursprung und Ziele des Bologna-Prozesses

4. Wilhelm von Humboldts Bildungsideal
4.1. Wilhelm von Humboldt
4.2. Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie
4.3. Die Universität nach Humboldt

5. Die gegenwärtige Situation des universitären Bildungswesens
5.1. Die Ökonomisierung der Bildung
5.2. Die Folgen des Bologna-Prozess

6. Diskussion des humboldtschen Bildungsideals im aktuellen Bezug

7. Fazit

8. Wissenschaftliche Gütekriterien

9. Literaturverzeichnis

Abstract

Wilhelm von Humboldts Bildungsverständnis wird in aktuellen bildungspolitischen Diskursen immer wieder aufgegriffen und von vielen Bildungstheoretikern oftmals als ein Ideal für Bildung postuliert. Die rezenten Entwicklungen im universitären Bildungswesen durch die Tendenzen einer Ökonomisierung der Bildung und der strukturellen Veränderungen durch die Auswirkungen des Bologna-Prozesses haben jedoch zu einer Distanzierung von diesem Ideal geführt. Die vorliegende Bachelorarbeit erörtert die Diskrepanz zwischen dem Bildungsideal nach Humboldt und dem gegenwärtigen universitären Bildungswesen anhand des Einflusses der Ökonomisierung und der Folgen des Bologna-Prozesses. Nach einer Veranschaulichung des Ursprungs sowie der Ziele dieses Prozesses und einer Auslegung des humboldtschen Bildungsideals, werden die Tendenzen der Ökonomisierung der Bildung und die Auswirkungen des Bologna-Prozesses dargelegt. Anhand einer Diskussion des humboldtschen Ideals in Bezug auf diese Entwicklungen, wird anschließend aufgezeigt, dass viele Kernelemente des humboldtschen Bildungsverständnisses unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht gegeben sein können.

1. Einleitung

Wilhelm von Humboldt reformierte das preußische Bildungssystem im 19. Jahrhundert von Grund auf und prägte auf diese Weise das Ideal der Bildung nachhaltig. Er postulierte eine auf Freiheit basierende Bildung mit dem Ziel der Mündigkeit und des Selbstbewusstseins des Menschen. Die Entfaltung seines Selbst soll Humboldt zufolge vom Menschen durch Bildung angestrebt werden. Die Aktualität seiner Bildungslehre wird in bildungspolitischen Diskursen immer wieder neu aufgegriffen. Einerseits wird versucht Humboldts Bildungsidee zu entwerten, mit dem Vorwurf, sie würde in einer Utopie münden und könne den Erfordernissen der Gegenwart nicht mehr gerecht werden. Andererseits werden die rezenten Entwicklungen und Reformen im Bildungswesen, wie etwa das Universitätswesen nach dem Bologna-Prozess, als eine Abweichung vom humboldtschen Bildungsideal angesehen, die zu einer verwerflichen Abwertung der geschichtlichen Entwicklung von Bildung geführt habe. Der Bologna-Prozess – die Schaffung des einheitlichen europäischen Hochschulraums – wird von vielen Politikerinnen bzw. Politkern, Wissenschaftlerinnen bzw. Wissenschaftlern sowie Studierenden sowohl in der Umsetzung als auch bezüglich der Auswirkungen bemängelt und oftmals für den Bedeutungswechsel der Bildung verantwortlich gemacht. Der Bologna-Prozess scheint aber nur Folge eines Trends zu sein: der Ökonomisierung der Bildung. Kritiker dieses Trends, wie etwa Dieter Lenzen1 oder Konrad Liessmann 2, sind der Ansicht, dass Bildung zunehmend ökonomisiert werde und vorwiegend der Marktwirtschaft diene. Es handele sich um eine „Verzweckung“ 3 der Bildung mit dem Ziel der Konkurrenz- und Wettbewerbsfähigkeit. Viele Bildungstheoretiker (unter anderem Liessmann, Ribolits, Lederer oder Lenzen) sehen in diesen Entwicklungen eine Degradierung der traditionellen Vorstellung von Bildung und zeigen sich beunruhigt über die derzeitigen Tendenzen des Bildungswesens. Wo Adorno noch von „Halbbildung“4 sprach, spricht Liessmann heutzutage von „Unbildung“5 und Erich Ribolits von „Bildung ohne Wert“6. Vom humboldtschen Ideal der Bildung scheint jedenfalls gegenwärtig nur noch wenig übrig zu sein.

In dieser Bachelorarbeit wird aufgezeigt und erörtert, dass das humboldtsche Bildungsideal im gegenwärtigen Universitätswesen aufgrund der Ökonomisierung der Bildung und der Folgen des Bologna-Prozesses kaum noch vorzufinden ist. Die Arbeit wird sich dabei auf das Universitätswesen im deutschsprachigen Raum (überwiegend auf Deutschland und Österreich) beziehen, weil Humboldts Überlegungen hier ihren Ursprung finden und hauptsächlich die deutsche n Universitäten von seinem Wirken geprägt wurden.

Die Arbeit orientiert sich an folgender Struktur: Zunächst wird eine Annäherung an den Begriff der Bildung unternommen, seine Abgrenzung zum Erziehungsbegriff verdeutlicht sowie kurz auf seine Einzigartigkeit in der deutschen Sprache eingegangen. Aufgrund der Relevanz der Auswirkungen des Bologna-Prozesses auf das Bildungswesen werden dessen Ursprung und dessen Ziele zum besseren Gesamtverständnis dargestellt. Im späteren Verlauf der Arbeit wird das Hauptaugenmerk auf den Folgen und den Auswirkungen des Prozesses liegen. Nach einer kurzen Vorstellung der Person Wilhelm von Humboldt und seines Schaffens im Rahmen der neuhumanistischen Geistesströmung wird anschließend das Ideal der Bildung nach Wilhelm von Humboldt dargestellt. Nicht nur sein Verständnis von Bildung, sondern auch die damit einhergehenden Bedingungen und Voraussetzungen sowie seine Vorstellung von Universität sollen nach einer ausführlichen Bearbeitung dazu dienen, sein Bildungsideal zu verdeutlichen. Im Anschluss wird zunächst der Bedeutungswechsel von Bildung im Zuge von deren Ökonomisierung erörtert und auf die langwierigen, teils unbeabsichtigten Folgen und Auswirkungen des Bologna-Prozess eingegangen, um dem schließlich Humboldts Bildungsideal gegenüberzustellen und sein Ideal im Rahmen dieser Entwicklungen zu diskutieren. Anhand dieser Diskussion soll hervorgehoben werden, dass die vielen zeitgenössischen Entwicklungen der Hochschullandschaft und der damit einhergehende Bedeutungswechsel der Bildung kritisch zu betrachten sind.

Die Diskussion orientiert sich an folgender Fragestellung:

Inwiefern hat sich das gegenwärtige universitäre Bildungswesen dur ch dessen Ökonomisierung und die Folgen des Bologna-Prozesses vom humboldtschen Bildungsideal entfernt?

Anzumerken ist, wie bereits an der Fragestellung erkennbar ist, dass der Fokus überwiegend auf die Diskrepanz zwischen dem humboldtschen Bildungsideal und den gegenwärtigen Tendenzen gelegt wird. Gemeinsamkeiten und Elemente aus Humboldts Theorie der Bildung, die heute noch vorzufinden sind, werden nicht bearbeitet. Vielmehr ist die Arbeit auf die kritische Sichtweise begrenzt und soll vorwiegend die aus Humboldts Perspektive negativ konnotierten Entwicklungen aufzeigen.

2. Der Be grif f ‚Bildung‘

Um die Arbeit einzuleiten wird zunächst der Begriff ‚Bildung‘ definiert. Die vielseitige Benutzung und der Mangel einer universell anerkannten, präzisen Bedeutungszuschreibung erfordern es, das Verständnis des Begriffs für diese Arbeit zunächst einzugrenzen.

Der Begriff ‚Bildung‘ hat im Laufe der Zeit im Bereich der Geschichte, Philosophie und Pädagogik eine erhebliche Bedeutungsverschiebung erfahren und eine große Bedeutungsvielfalt erlangt. Die Wurzeln des deutschen Begriffes reichen bis in das 14. Jahrhundert zurück, wo er erstmals von Meister Eckart geprägt wurde. Etymologisch ist ‚Bildung‘ mit ‚Bild‘ verwandt und bezieht sich auf die äußere Gestalt beziehungsweise das Erscheinungsbild des Menschen. Der Begriff bezog sich bei Meister Eckart ursprünglich auf Gott und wurde im Sinne einer Ebenbildlichkeitswerdung Gottes verstanden. Im Laufe des 18. Jahrhunderts löste sich der Begriff sukzessiv von seinen Wurzeln ab und bezog sich immer mehr auf die Entwicklung der gesamten Person und nicht mehr nur auf die äußere Gestalt.7

Der kontinuierliche Wandel des Begriffsverständnisses im Laufe der Geschichte führte dazu, dass es heute unmöglich scheint, der Literatur eine einheitliche Definition zu entnehmen. Lederer zufolge gilt Bildung dennoch generell als „ die Letztbegründung allen pädagogischen Handelns, als deren Letzt- und Leitnorm, die darum umso mehr einer inhaltlichen Präzisierung und Konkretisierung ihrer unverzichtbaren Wesensmerkmale bedarf.“ 8 Gerade an dieser Präzisierung scheint es jedoch zu mangeln. Der Bildungsbegriff wird zwar in vielen Bereichen benutzt, ob in der Pädagogik, der Philosophie, im Journalismus oder in der Politik. Wird jedoch nachgefragt, was damit konkret gemeint ist, wird schnell deutlich, dass jeder etwas Anderes darunter versteht. Missverständnisse sind dementsprechend unvermeidbar. Eine klare und eindeutige Antwort auf die Fragen zu finden, was Bildung ist, was es heißt gebildet zu sein, und wer gebildet ist, kann und soll hier nicht das Ziel sein. Aber in Anbetracht dessen, dass das Konzept der Bildung einen fundamentalen Stellenwert in dieser Arbeit zu übernehmen hat, ist eine Begriffserklärung, wenngleich diese dem Ausmaß der Diskussion um den Begriff nicht gerecht werden kann, erforderlich. Auf diese Weise soll der Rahmen der Diskussion in dieser Hinsicht verständniserleichternd abgesteckt werden.

Zunächst handelt es sich bei dem Begriff ‚Bildung‘ im Wesentlichen um einen Begriff, der spezifisch in der deutschen Sprache existiert. Im Deutschen wird nämlich, im Gegensatz zu anderen Sprachen, zwischen den Begriffen ‚Bildung‘ und ‚Erziehung‘ klar unterschieden. In anderen europäischen Sprachen, wie beispielsweise im Französischen oder Englischen, sind beide Begriffe in dem Wort ‚education‘ vereint. Die zu differenzierenden Ausdrücke werden oftmals jedoch im Sprachgebrauch synonym benutzt, obwohl sie tatsächlich unterschiedliche Bedeutungen tragen. Weder für das eine noch für das andere gibt es eine umfassende allgemeingültige Definition. 9 Aus der zeitgenössischen Forschungsliteratur lässt sich anhand der Ausführungen von Bernd Lederer und Helmwart Hierdeis für den weiteren Verlauf der Arbeit aufzeigen, was der Erziehungsbegriffs in Abgrenzung zum Bildungsbegriff bedeutet. Lederer beschreibt ‚Erziehung‘ wie folgt:

Erziehung bezeichnet das wechselseitige Verhältnis zwischen einem Erzieher und einem zu Erziehenden, mit der Absicht, den zu Erziehenden als denjenigen, der an Erfahrung, Reife und Wissen ärmer ist, gemäß bestimmter Erziehungsziele auf das Niveau des Erziehers heraufzuführen und ihn so gewissermaßen in die Selbständigkeit zu entlassen.10

Dieser Ausgleich des Niveaus findet durch von außen veranlasste Prozesse statt. Hierdeis formuliert in dieser Hinsicht noch trefflicher:

‚Erziehung‘ meint […] eher das, was im Umgang von Erwachsenen mit Kindern und Jugendlichen durch Anregen, Vormachen, Erklären, Hinwenden, Ermutigen, Einschränken, Gewöhnen, Schutz gewähren, Zuwendung und Schaffen einer förderlichen Umwelt geschieht.11

Der Bildungsbegriff hat eine andere Bedeutung. Der Begriff ist stark geprägt durch seinen geschichtlichen Wandel, seine unterschiedliche Nutzungsweise sowie dem teilweise umgangssprachlichen Gebrauch. Der Bildungstheoretiker und Humboldt-Experte Clemens Menze kommt hier zu folgender Erkenntnis:

Es gibt (...) keine Definition, mit der festgelegt werden könnte, was Bildung ein für allemal inhaltlich bedeutet, so daß jedermann einer solchen Bestimmung beipflichten müsste. Lediglich eine formale Kennzeichnung ist möglich, der zufolge sich Bildung als komplexer Prozeß begreifen läßt, in dem eine als wünschenswert ausgegebene Persönlichkeitsstruktur hervorgebracht werden soll. Der Prozeß selbst unterliegt gesellschaftlichen, ökonomischen, auch institutionellen Bedingungen.12

Obwohl sich der Bildungsbegriff nicht klar eingrenzen lässt, so lassen sich die zentralen, wiederkehrenden Aspekte und Elemente eines allgemeinen Verständnisses von Bildung doch benennen. Aus pädagogischer Sicht kann der Begriff ‚Bildung‘ aufgrund seiner Vieldeutigkeit durch keinen anderen adäquat ersetzt werden, selbst wenn sich viele Äquivalenzbegriffe wie ‚Kompetenz‘, ‚Lernen‘, ‚Identität‘, ‚Qualifikation‘, ‚Emanzipation‘ oder ‚Sozialisation‘ im alltäglichen Umfeld gebildet haben. 13 Im Lexikon der philosophischen Begriffe bezeichnet Alexander Ulfig Bildung sowohl als einen Prozess als auch als ein Resultat und Ziel, genauer gesagt als „die geistig-intellektuelle Ausformung des Menschen und […] [den] Prozeß, der den Menschen zu dieser Ausformung führt“.14

Ein weiteres charakteristisches Merkmal von Bildung ist deren Unabschließbarkeit. Vollständig gebildet, demnach allwissend und noch dazu umfassend selbstbestimmt in jeder möglichen Situation, zu jedem beliebigen Zeitpunkt des Lebens zu sein, ist ein unerreichbares Ideal. Ebenso ist Bildung aufgrund der Komplexität nie ganzheitlich planbar, weder der Prozess noch das Ziel.15

Ein zusätzlicher Aspekt von Bildung ist, dass es sich hierbei um eine gesellschaftliche Praxis handelt, in der sich die Subjekte selbständig fortentwickeln und sich ihre Kultur aneignen, so bezeichnet es unter anderem Heinz-Elmar Tenorth in seiner Geschichte der Pädagogik. Bildung umfasse das gesamte Bündel von universalen Kompetenzen und jenen speziellen Fertigkeiten, die im Prozess der Aneignung der Welt genutzt werden.16

Zusammenfassend handelt es sich um einen schwer einzugrenzenden Begriff, dessen Bedeutung stetig im Wandel ist und der sowohl den Prozess als auch das Ziel benennt, das jedoch nie vollständig erreichbar sein kann. Um den Prozess und das Ziel beziehungsweise ein Ideal von Bildung für den weiteren Verlauf dieser Arbeit zu erfassen, wird das Verständnis des preußischen Gelehrten, Schriftstellers und Staatsmannes Wilhelm von Humboldt dargestellt, der das Konzept der Bildung maßgeblich geprägt hat. Nicht nur sein Verständnis von Bildung, sondern auch die damit einhergehenden Bedingungen von Bildung und seine Vorstellung von Universität sollen nach einer ausführlichen Erarbeitung im folgenden Verlauf dazu dienen, aufzeigen zu können, dass gegenwärtige Tendenzen und Veränderungen in der Bildungslandschaft von diesem Ideal wegführen. Zunächst wird jedoch der Bologna-Prozess, der meist als Hauptauslöser und Beschleuniger dieser Entwicklungen erachtet wird, veranschaulicht.

3. Ursprung und Ziele des Bologna -Proze sse s

In Hinsicht auf die Relevanz des Bologna-Prozesses als größte Hochschulreform Europas und demnach Treiber für viele Veränderungen und Bedeutungswechsel im Bildungswesen wird in diesem Kapitel auf den Ursprung, die Entstehung und die Ziele des Bologna-Prozesses eingegangen.

Die Bologna-Deklaration, eine gemeinsame Erklärung der europäischen Bildungsminister aus dem Jahr 1999, führte zu einer Harmonisierung in der europäischen Hochschulpolitik und prägte das europäische Hochschulwesen nachhaltig. Das Harmonisierungsstreben war ein langwieriger und konfliktreicher Prozess, der seinen Ursprung bereits im Vorfeld des Bologna-Vertrags hatte. Die Tendenzen einer gemeinsamen Bildungspolitik in Europa haben ihren Ursprung in zwei Gravier-Urteilen des Europäischen Gerichtshofes im Februar 1985 und 1988. Diese begründeten ein eigenes Bildungsrecht, das allen Bürgern der EU, unabhängig von ihrem beruflichen Status oder dem ihrer Angehörigen, zustand, und legitimierte bildungspolitische Initiativen der europäischen Gemeinschaft. In der Folge wurde 1987 das Aktionsprogramm European Action Scheme for the Mobility of University Students (ERASMUS) mit dem Ziel der Förderung der Mobilität von Hochschulstudierenden gestartet. Erstmals wurde eine Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten auf Hochschulebene angeregt und gefördert. Das Programm bot neben finanzieller Unterstützung eine Erleichterung der Anerkennung von Studienleistungen, die im Ausland erworben wurden. Vor allem aber in Deutschland war das europäische Programm umstritten und wurde bereits zu Beginn teils als ein Eingriff in die Autonomie der Hochschulen und als ein Verlust eigener Zuständigkeiten gesehen. 17 Im Zusammenhang mit dem ERASMUS-Programm wurde auch erstmals das European Credit Transfer System ECTS) eingeführt, das später im Bologna-Prozess übernommen wurde. Es handelt sich um ein europäisches System „zur Übertragung und Akkumulierung von Studienleistungen“, um „verschiedene Studiengänge und Abschlüsse in Europa vergleichbar zu machen und die Anerkennung von Studienleistungen zu verbessern.“18

Gründe für diese Programme und Systeme waren vor allem Entwicklungen am Arbeitsmarkt, unter anderem die Öffnung der Märkte und der steigende Bedarf an jungen und qualifizierten Arbeitskräften. Die Europäische Kommission sprach 1996 vom Einfluss der Globalisierung der Weltwirtschaft, der Herausbildung einer wissenschaftlich-technischen Gesellschaft und einer Umwandlung der Europäischen Union in eine Informationsgesellschaft. 19 Die Kommission sah in diesem Zusammenhang starre Studienstrukturen wie das Diplomstudium zunehmend als eine Bedrohung, die die wirtschaftliche Entwicklung schwächten.20

Während Bildung bis dato vor allem in den deutschsprachigen Ländern primär an die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit gekoppelt war und ihr eine partizipatorische Rolle zukam, zeichnet sich hier erstmals ein Bedeutungswandel ab, denn Bildung wurde jetzt zunehmend als eine Investition in die Zukunft gesehen, in der die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse in Ökonomie und Technik die Grundvoraussetzung für eine positive wirtschaftliche Entwicklung darstelle.21 (Dieser Aspekt wird im Kapitel 5.2 Die Folgen des Bologna-Prozesses vertieft.) 1998 wurde mit der Sorbonne-Erklärung in einer Zusammenarbeit der Bildungsminister Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens und Italiens die Grundlage eines gemeinsamen Rahmens für die europäische Hochschulbildung geschaffen. Auf dieser aufbauend kam es 1999 dann zur Bologna-Deklaration, die in den folgenden Jahren mit weiteren Kommuniqués ausgebaut und verfeinert wurde und der inzwischen 48 Staaten angehören. Die folgenden Forderungen und Ziele für die Errichtung des europäischen Hochschulraums wurden formuliert:22

- Einführung eines Systems leicht verständlicher und vergleichbarer Abschlüsse mit dem Ziel, die arbeitsmarkrelevanten Qualifikationen der europäischen Bürger ebenso wie die internationale Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Hochschulsystems zu fördern;
- Einführung eines Systems, das sich im Wesentlichen auf zwei Hauptzyklen stützt: einen Zyklus bis zum ersten Abschluss (Undergraduate) und einen Zyklus nach dem ersten Abschluss (Graduate) [Bachelor und Master];
- Ausbau des Leistungspunktesystems ECTS als geeignetes Mittel der Förderung größtmöglicher Mobilität der Studierenden;
- Förderung der europäischen Zusammenarbeit bei der Qualitätssicherung im
-inblick auf die Erarbeitung vergleichbarer Kriterien und Methoden;
- Förderung der erforderlichen europäischen Dimension im Hochschulbereich, insbesondere in Bezug auf Curriculum-Entwicklung, Zusammenarbeit zwischen Hochschulen, Mobilitätsprojekte und integrierte Studien-, Ausbildungs- und Forschungsprogramme.

Zwanzig Jahre nach der Bologna-Erklärung lässt sich sagen, dass diese Ziele in den meisten Staaten zunehmend, wenn auch nicht ganz ohne Komplikationen und Widerstand und mit einer Mischung aus politischem Druck und finanziellen Versprechungen, umgesetzt wurden. In Deutschland und Österreich ist dies vor allem anhand der Einführung der gestuften Struktur der Studiengänge, des ECTS- Systems und der Schaffung gemeinsamer Grundlagen für die Qualitätssicherung sichtbar.23

Im weiteren Verlauf der Arbeit wird darauf eingegangen, dass die Umsetzung dieser Ziele und die derzeitige Situation der Hochschullandschaft vor allem der deutschsprachigen Länder in bestimmten Punkten kritisiert wird. Es scheint, dass dieser Prozess zu einem Großteil mitverantwortlich ist, dass eine Neuorientierung der Bildung aufgekommen ist, die sich immer mehr von den Wurzeln und Kernideen der Universität und der Bildung, wie sie von Wilhelm von Humboldt im 19. Jahrhundert postuliert wurden, entfernt. Zunächst wird im Folgenden auf die Person Wilhelm von Humboldt eingegangen und anschließend werden sein Bildungsideal und seine Vorstellung von Universität veranschaulicht.

4. Wilhelm von Humboldt s Bildungsideal

4.1. Wilhelm von Humboldt

Friedrich Wilhelm Christian Carl Ferdinand Freiherr von Humboldt, kurz Wilhelm von Humboldt, wurde 1767 in Potsdam geboren und starb 1835 in Berlin. Als Sohn eines Offiziers genoss er eine hohe Bildung und erhielt zunächst eine universelle Ausbildung in Geschichte, Deutsch, Mathematik, Latein, Griechisch und Französisch. Später studierte er Jura, vor allem Sprache war für ihn jedoch sein Leben lang von größter Bedeutung und er befasste sich ausführlich mit den Werken von Kant, Schiller und Goethe. Letztere lernte er persönlich kennen und sie förderten und beeinflussten sich gegenseitig konstruktiv in ihrem Schaffen.24

Anfangs des 19. Jahrhunderts besetzte Wilhelm von Humboldt kurzzeitig eine zentrale Stelle in der preußischen Regierung in der Abteilung für Kultus und Unterricht. In dieser Zeit des Umbruchs nach der Französischen Revolution und nach der Philosophie der Aufklärung von Kant wirkte er in seinem Amt bei einigen Bildungsreformen mit. Dazu gehörte etwa die Verbesserung der allgemeinbildenden Schulen sowie die Einführung des modernen Universitätswesens.25

Anzumerken ist, dass Humboldt neuhumanistisch orientiert war. Bei der Geistesströmung des Neuhumanismus, die in Deutschland etwa um 1750 begann, handelte es sich um ein Wiederaufgreifen des Gedankenguts der klassischen Antike, bei der die Bestimmtheit des Menschen und die Humanität im Mittelpunkt standen. Der Neuhumanismus richtete sich dabei gegen das Nützlichkeitsdenken der Aufklärung und kann als eine Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen der Zeit gesehen werden.26 „Der sich seiner selbst bewusste und gewisse Mensch löst den brauchbaren Bürger ab“27, so beschreibt Menze eines der Leitmotive des Neuhumanismus. Ab dieser Zeit richtete sich der Bildungsbegriff nicht mehr nur auf die äußere Gestalt des Menschen, sondern auf die Entwicklung der gesamten Person. Die Sprache galt dabei als wesentliches Kriterium der Unterscheidung von Mensch und Tier wie auch des Gebildeten vom Ungebildeten. Vor allem der lateinischen und griechischen Sprache wurde eine besondere Bedeutung zugesprochen.28

Geprägt vom neuhumanistischen Gedanken stellte sich Humboldt vor allem in seinen Werken Theorie der Bildung des Menschen und Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen unter anderem folgende Fragen in Bezug auf die Bildung: Was kennzeichnet Bildung mit dem Menschen im Mittelpunkt? Wie kann Bildung organisiert und gestaltet werden? Inwiefern hängen Bildung und Staat zusammen? Was sind die Bedingungen für eine freie Bildung?

Seine Auffassung von Bildung wird im Folgenden veranschaulicht, jedoch wird aufgrund der Fülle von Humboldts Überlegungen der Fokus hier auf die Kernaussagen seiner Bildungstheorie gelegt, die bereits von vielen Autoren wie etwa Menze (1975), Benner (1990) und Koller (2012) aufgearbeitet wurden und allgemein als ausschlaggebend für Humboldts gesamtes Bildungsverständnis erachtet werden.

4.2. Wilhelm von Humboldt s Bildungst heorie

Im Mittelpunkt von Humboldts Auffassung der Bildung des Menschen steht dessen individuelle, freie Entfaltung. Bildung soll nicht nur auf die Vorbereitung für das Handeln des Menschen in Beruf oder Staat – demnach seiner Teilnahme an Gesellschaft und Kultur – abzielen, sondern vielmehr auf den Sinn des individuellen Daseins. Humboldt zufolge soll sich dieser Sinn des individuellen Daseins auch weder auf religiöse oder politische Autoritäten noch auf gesellschaftliche oder wirtschaftliche Erfordernisse der Zeit berufen. 29 Wie Humboldt zu diesem Entschluss kam, wie er sich ideale Bildung vorstellt und welche Bedingungen er dafür als notwendig erachtet, soll im Folgenden dargestellt werden.

[...]


1 (Lenzen 2014)

2 (Liessmann 2008)

3 (Lederer 2015)

4 (Adorno 2003)

5 (Liessmann 2008)

6 (Ribolits 2009)

7 vgl. (Koller 2012, S. 73)

8 (Lederer 2015, S. 11)

9 vgl. (Lederer 2015, S. 10)

10 (Lederer 2015, S. 10)

11 (Hierdeis 2003, S. 76)

12 (Menze, Bildung 1995, S. 350)

13 vgl. (Lederer 2015, S. 16 f.)

14 (Ulfig 2003, S. 64)

15 vgl. (Lederer 2015, S. 18 f.)

16 vgl. (Tenorth 2008, S. 25)

17 vgl. (Eckardt 2005, S. 16 ff.)

18 (Eckardt 2005, S. 25)

19 vgl. (Europäische Kommission 1996, S. 11 ff.)

20 vgl. (Europäische Kommission 1996, S. 22)

21 vgl. (Hödl und Zegelin 1999, S. 83)

22 Bologna-Deklaration. Gemeinsame Erklärung der Europäischen Bildungsminister, Bologna am 19. Juni 1999. ( Übersetzung aus dem Englischen)

23 (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2018)

24 vgl. (Konrad 2014)

25 vgl. (Koller 2012, S. 73 f.)

26 vgl. (Baumgart 2007, S. 83 f.)

27 (Menze 1975, S. 14)

28 vgl. (Blankertz 1982, S. 89 f.)

29 vgl. (Koller 2012, S. 74 f.)

Ende der Leseprobe aus 59 Seiten

Details

Titel
Wilhelm von Humboldts Bildungsideal in Zeiten nach Bologna
Untertitel
Die Diskrepanz zwischen dem humboldtschen Bildungsideal und dem gegenwärtigen universitären Bildungswesen
Hochschule
Leopold-Franzens-Universität Innsbruck  (Institut für Bildungs- und Erziehungswissenschaften)
Note
1,0
Autor
Jahr
2019
Seiten
59
Katalognummer
V498815
ISBN (eBook)
9783346019165
ISBN (Buch)
9783346019172
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Humboldt, Bologna, Bildung, Bildungsideal, Universität, Bologna Prozess, Wilhelm von Humboldt, Ökonomisierung, Ökonomisierung der Bildung, Bildungswesen
Arbeit zitieren
Eric Lehmeier (Autor:in), 2019, Wilhelm von Humboldts Bildungsideal in Zeiten nach Bologna, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/498815

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