Der Flüchtlingsdiskurs in Deutschland

Eine Analyse überregionaler Tageszeitungen


Bachelorarbeit, 2016

58 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Die wissenssoziologische Perspektive
2.1 Wissen, soziales Handeln und Wirklichkeit
2.2 Institutionalisierung, Objektivierung und Legitimierung
2.3 Der Diskursbegriff
2.4 Die Rolle der Medien

III. Zur Methodologie
3.1 Wissenssoziologische Diskursanalyse als Forschungsperspektive
3.2 Forschungsgegenstand und Eingrenzung
3.3 Darstellung des Datenkorpus
3.4 Vorgehensweise

IV. Forschungsfragen und leitende Vermutungen

V. Analyseergebnisse
5.1 Die Flüchtlingsthematik als Chance
5.2 Die Flüchtlingsthematik unter dem Aspekt des Versagens
5.3 Die Flüchtlingsthematik als Krise der Krisen
5.4 Zusammenfassung
5.5 Reflexion der wissenssoziologischen Diskursanalyse als Forschungsperspektive

VI. Fazit und Ausblick

VII. Literaturverzeichnis

VIII. Anhang

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Übersicht der rekonstruierten Haupt-, Sub- und untergeordneten Rahmungen

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Anzahl der analysierten Artikel je Zeitraum und Zeitung; verwendetes Datenkorpus

Tabelle 2: Übersicht aller analysierten Zeitungsartikel (Zeitungen mit Kürzel benannt)

I. Einleitung

„Die Einstellungen der Deutschen zu den ethnischen Minderheiten hängen nicht so sehr davon ab, wie sich ethnische Minderheiten real verhalten, welche reale Rolle sie spielen, welche reale Bedeutung sie für die deutsche Gesellschaft haben; sie hängen vielmehr vor allem davon ab, was Deutsche über deren Verhalten, deren Rolle, deren Funktion denken. Sie hängen ab vom Bild der ethnischen Minderheiten in den Köpfen der Deutschen.“ (Geißler 2000: 131)

Diese Darstellung des Thomas-Theorems verweist auf die Bedeutsamkeit der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit für das Wissen, die Einstellungen, das soziale Handeln sowie das Verhalten der Menschen in einer Gesellschaft, welche insbesondere in der wissenssoziologischen Grundlegung von Peter L. Berger und Thomas Luckmann 1980 formuliert wurde. Die Meinungen und Einstellungen sind dabei das Resultat diskursiver Aushandlungsprozesse von Bedeutungszuschreibungen (vgl. Keller 2004: 207), welche Machtstrukturen darstellen (vgl. Knoblauch 2014: 216). Die Macht der Diskurse kann von verschiedenen Diskursteilnehmern, Akteuren, Institutionen, Organisationen etc. ausgehen. In diesem Zusammenhang stellen insbesondere die Medien, aufgrund der gezielten Artikulation und Verbreitung von Meinungen, einen relevanten Akteur in Bezug auf die öffentliche Meinungsbildung dar (vgl. Dohrendorf 1990: 132f.). Im Weiteren kann die Wirkmächtigkeit von Zeitungen u.a. auf die Größe des angesprochenen Publikums und auf die stets angewendeten Selektionsmechanismen zurückgeführt werden (vgl. Gerhards et al. 1998: 87).

In thematischer Hinsicht verweist das Einstiegszitat bereits auf den weitreichenden Diskurs um die Meinung über ethnische Minderheiten in Deutschland. Als Diskurs ähnlicher Thematik zeichnet sich seit ca. 2014/2015 die Berichterstattung über die sogenannte Flüchtlingskrise ab, welche jedoch nicht als vollständig neues Diskursphänomen zu verstehen ist, sondern bereits in den Jahren 1980 und 1990 auftrat (vgl. Luft 2016: 9) und sich nun zumindest begrifflich in eine Reihe von Finanz- und Wirtschaftskrisen sowie einer Euro- und Griechenlandkrise etc. einreiht.

Unter Voraussetzung der wissenssoziologischen Annahmen in Bezug auf die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, steht im Weiteren die folgende Forschungsfrage im Mittelpunkt: Inwiefern konstruiert der Diskurs um die Flüchtlingsthematik diese als Krise? Zur Beantwortung dieser und sich daraus ergebender Fragestellungen wird auf die wissenssoziologische Diskursanalyse zurückgegriffen. Im Mittelpunkt steht dabei die Rekonstruktion und Analyse der im Diskurs herausgebildeten, sozial legitimierten und objektivierten Sinn-, Handlungs- und Deutungsstrukturen sozialer Phänomene (vgl. Keller 2004: 197ff.).

Im weitesten Sinne ähnliche Arbeiten zum Migrationsdiskurs und entsprechend angelehnten Diskursen wurden z.B. von Jäger und Link (vgl. 1993) zur Verknüpfung des Migrations- mit dem Kriminalitätsdiskurs durchgeführt. Die gleiche Thematik wurde etwas später erneut von Jäger et al. (vgl. 1998) aufgegriffen. In Bezug auf Studien die über eine Perspektive des deutschen Migrationsdiskurses hinausgehen, lässt sich beispielsweise die zwischen Deutschland und Australien vergleichende Analyse von Luchtenberg (vgl. 1997) angeben. Des Weiteren liegen methodisch nahe, aber thematisch abweichende wissenssoziologische Diskursanalysen z.B. zum gesellschaftlichen Diskurs um Müll (vgl. Keller 2004) oder zum Klimadiskurs (vgl. Viehöver 2004) vor. Darüber hinaus wurden sowohl zur Darstellung von Ausländern in der deutschen Presse (vgl. Merten 1986) als auch explizit zum vermittelten Bild von Flüchtlingen (vgl. Predelli 1995), sowie zum Diskurs über den Islam (vgl. Schiffer 2005) systematische Inhaltsanalysen durchgeführt. Untersuchungen zur Kontinuität der entsprechenden Argumentationslinien in Bezug auf den Migrationsdiskurs wurden u.a. von Wengeler (vgl. 2006) vorgenommen.

Die vorliegende Analyse erfolgt dabei unter Rückgriff auf die vier überregionalen Qualitätstageszeitungen Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Die Tageszeitung (taz), Süddeutsche Zeitung (SZ) und Die Welt und beschränkt sich damit in räumlicher Hinsicht auf die Berichterstattung in Deutschland. Stellvertretend für den, zum Zeitpunkt dieser Arbeit, andauernden Flüchtlingsdiskurs wird die Berichterstattung der genannten Zeitungen zu mehreren Zeitpunkten jeweils über einen bestimmten Zeitraum analysiert und ausgewertet. Dazu wird nachfolgend die wissenssoziologische Perspektive expliziert. Dementsprechend beginnt die Arbeit mit einer Erklärung der zugrundeliegenden wissenssoziologischen Begriffe des Wissens, des sozialen Handelns und der Wirklichkeit (2.1), sowie der Konzepte der Institutionalisierung, Objektivierung und Legitimierung (2.2). Gefolgt von der Erläuterung des für diese Analyse grundlegenden Diskursbegriffs (2.3) und der Rolle der Medien (2.4). Im Anschluss wird die besondere Perspektive der wissenssoziologischen Diskursanalyse als Forschungsmethode ausführlich dargelegt (3.1), der Forschungsgegenstand entsprechend der Forschungsfrage eingegrenzt (3.2) sowie das sich ergebende Datenkorpus (3.3) und die konkrete Vorgehensweise (3.4) vorgestellt. Nach einer Offenlegung begleitender Fragestellungen und Vermutungen (4.) erfolgt eine Darstellung der Analyseergebnisse. Diese teilt sich in die Herausstellung der Flüchtlingsthematik als Chance (5.1), als Versagen (5.2) und als Krise (5.3), gefolgt von einer Herausstellung der wichtigsten Aspekte in einer entsprechenden Zusammenfassung (5.4) sowie der Reflexion der wissenssoziologischen Methode (5.4). Abschließend wird der gesamte Analyseprozess in einem Fazit rekapituliert (6.).

II. Die wissenssoziologische Perspektive

Die Ausführungen zur Theorie der Wissenssoziologie, welche den Rahmen dieser Arbeit bildet, beziehen sich im Kern auf die Ausarbeitungen, Annahmen und Konzepte von Peter L. Berger und Thomas Luckmann. Diese verbinden in Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit u.a. die phänomenologischen Ansätze von Alfred Schütz sowie deutscher und amerikanischer wissenssoziologischer Theorierichtungen, was als „[…] Meilenstein in der Geschichte der Wissenssoziologie […]“ (Knoblauch 2014: 153) bezeichnet wird. Ihre Erkenntnisse fassen sie selbst in einer kreisförmigen Satzkonstruktion zusammen, welche insbesondere die dialektische Beziehung der soziologischen Untersuchungsgegenstände Gesellschaft und Mensch hervorhebt: „Gesellschaft ist ein menschliches Produkt. Gesellschaft ist eine objektive Wirklichkeit. Der Mensch ist ein gesellschaftliches Produkt.“ (Berger / Luckmann 1999: 65) In den folgenden Abschnitten wird anhand dieses Zitats rekonstruiert, welche Begriffe, Konzepte und Annahmen diesem vorangehen. Dadurch können die grundlegenden theoretischen Fragen – was diese wissenssoziologische Perspektive charakterisiert und worauf sie gerichtet ist – beantwortet werden. Im Weiteren sollen dadurch auch die drei Prämissen der Wissenssoziologie verständlich herausgearbeitet werden, die in der Relativität und Seinsgebundenheit des Wissens, der sozialen Konstruiertheit der Wirklichkeit sowie dem Verstehen als Grundprozess des Alltags und der Wissenschaft bestehen (vgl. Reichertz 2006: 295).

2.1 Wissen, soziales Handeln und Wirklichkeit

Bereits der Titel des Werkes von Berger und Luckmann – Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit – legt nahe zu vermuten, dass unter dem Begriff der Wirklichkeit in der Wissenssoziologie keine vermeintlich objektive oder gar allgemeingültige Beschreibung der Welt zu verstehen ist. Um diese erste Vermutung zu überprüfen, soll zunächst der zentrale Begriff dieser soziologischen Theorierichtung näher erläutert werden. Wissen ist nach Berger und Luckmann als ein sehr weiter Begriff zu verstehen, den sie selbst definieren als „[…] die Gewißheit, daß Phänomene wirklich sind und bestimmbare Eigenschaften haben.“ (Berger / Luckmann 1999: 1) Als Phänomene werden dabei nicht nur Objekte oder Subjekte angesehen, sondern auch wissenschaftliche Konzepte, Religionen, Gesetze und Normen sowie Deutungsmuster etc. (vgl. Keller 2014: 16). Daraus lässt sich eine Verschiebung erkennen, von einem Wissen im Sinne individueller, beobachtbarer Erkenntnis zu einem sozialen Wissen, das der intersubjektiven Vermittlung bedarf (vgl. Knoblauch 2013: 9ff.). Hubert Knoblauch (vgl. 2014: 155) beschreibt Wissen in Anlehnung an Berger und Luckmann daher auch als gesellschaftlich objektivierten und vermittelten Sinn. Auch wenn der Begriff der Objektivierung im nächsten Abschnitt ausführlicher erläutert wird, lässt sich bereits jetzt durch die Beschreibung von Wissen als Sinn besser erfassen, dass es bei dem hier dargelegten Verständnis von Wissen insbesondere um den Aspekt der intersubjektiven Bedeutungszuschreibung geht. Da mit Bedeutungszuschreibungen auch immer ein konstruktives Moment verknüpft ist, ergibt sich dadurch einerseits wieder der Bezug zum Titel des Werkes von Berger und Luckmann.

Andererseits lässt sich Wissen damit auch als primärer konstitutiver Bestandteil von sozialem Handeln darstellen, da erst durch die Bedeutungszuschreibung aus dem Verhalten zu etwas, dessen Wirklichkeit man sich gewiss ist, intendiertes soziales Handeln wird (vgl. Knoblauch 2014: 142), was seinerseits wiederum Wissen und damit Sinn produziert (vgl. Knoblauch 2013: 14). Somit stellt soziales Handeln durch die notwendige Bedeutungszuschreibung eine Konstruktion dar. Dieses ist jedoch nicht notwendiger Weise auf ein Individuum beschränkt, sondern kann als intendierter gesellschaftlicher Prozess verstanden werden (vgl. Luckmann 1999: 28). Soziales Handeln erhält, bei der Absicht die Wirklichkeit als gesellschaftliche Konstruktion darzustellen, folglich eine zentrale Bedeutung: „Gesellschaftliche Wirklichkeit setzt intentionales Handeln voraus. Sozialwelten werden konstruiert, erhalten, übermittelt, verändert und gegebenenfalls zerstört in und durch soziales Handeln, das für die Handelnden sinnvoll ist.“ (Luckmann 2006: 20) Das Konzept des sozialen Handelns der Wissenssoziologie erinnert somit an die drei Prämissen des symbolischen Interaktionismus, indem die Bedeutungszuschreibung als zentraler und intersubjektiv zu vermittelnder Prozess herausgestellt wird (vgl. Keller 2009: 64).

Wirklichkeit kann, wie bereits bei den Ausführungen zum Konzept des wissenssoziologischen Wissensbegriffs zu erahnen, als eine Eigenschaft von Phänomenen im weiteren Sinne verstanden werden. Dabei kommt der Wirklichkeit auch ein objektiver Aspekt zu. Nämlich in der Form, dass die Phänomene in ihrer Existenz objektiv vorhanden sind. Was nicht implizieren soll, dass ihnen von allen Individuen die gleiche Bedeutung zugeschrieben wird (vgl. Berger / Luckmann 1999: 1). Demnach sind Phänomene für alle Individuen in der Form objektiv wirklich, da sie existieren. Jedoch nicht, wie bzw. mit welcher Bedeutung sie existieren. Dies widerspricht der intuitiven Annahme, dass die alltägliche Welt vom Individuum weitgehend unabhängig zu sein und bereits in objektiven Strukturen vorzuliegen scheint (vgl. Berger / Luckmann 1999: 24ff.). Dieser intuitive Widerspruch lässt sich darauf zurückführen, dass Individuen die Wirklichkeit nicht ohne zugeschriebene Bedeutung wahrnehmen. Dieser Umstand führt dazu, dass das Hauptinteresse der Wissenssoziologie – wie sie Berger und Luckmann darstellen – in der Rekonstruktion der Alltagswelt liegt, da diese als zentrale Wirklichkeit der Individuen erscheint, von ihnen verstanden und durch eine subjektive Bedeutungszuschreibung sinnhaft aufgeladen wird. (vgl. Berger / Luckmann 1999: 21). Aus wissenssoziologischer Perspektive kann der Erkenntnis- bzw. Beobachtungsprozess nur in rekonstruktiver Form erfolgen, da auch auf den wissenssoziologischen Forscher die gleichen Annahmen anzuwenden sind, wie zuvor dargestellt. Um wieder den Begriff der Konstruktion aufzugreifen, kann diese Bedeutungszuschreibung und das darauffolgende soziale Handeln der Individuen auf Basis der Gewissheit der Wirklichkeit ihrer Alltagswelt als Konstruktion 1. Ordnung beschrieben werden. Dementsprechend stellt die wissenssoziologische Betrachtung und die im Verlauf dieser Arbeit erfolgende wissenssoziologische Diskursanalyse eine Konstruktion 2. Ordnung, also eine Rekonstruktion, dar (vgl. Soeffner 1999: 40f.). Die somit erläuterte Annahme einer zweifachen Konstruktionsleistung führt zu dem Schluss, dass sich die Wissenssoziologie von den vermeintlichen sogenannten harten Fakten abwendet (vgl. Luckmann 2006: 20) und „[…] die menschliche Wirklichkeit als eine gesellschaftlich konstruierte Wirklichkeit“ (Berger / Luckmann 1999: 200f.) begreift. In Verbindung mit den vorherigen Ausführungen erscheint die Verbindung von Wissen, sozialem Handeln und Wirklichkeit in zwei Richtungen möglich zu sein. Einerseits erscheint soziales Wissen als konstitutive Voraussetzung sozialen Handelns. Das somit vom Verhalten unterscheidbare soziale Handeln erzeugt dadurch Strukturen sinnhafter Bedeutungszuschreibungen und ist daher seinerseits konstitutiv für die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (vgl. Knoblauch 2013: 10f.). Andererseits erzeugt diese Konstruktion der Wirklichkeit abermals Wissen und strukturiert durch das konstitutive Moment des Wissens für das soziale Handeln wiederum jenes vor. Bevor im weiteren Verlauf näher auf den Diskursbegriff eingegangen werden kann, müssen die Prozesse der Legitimierung, Objektivierung und Institutionalisierung dargelegt werden.

2.2 Institutionalisierung, Objektivierung und Legitimierung

Berger und Luckmann greifen in ihrer Darstellung der Wissenssoziologie u.a. auf Grundlagen des symbolischen Interaktionismus von George Herbert Mead und Herbert Blumer sowie auf die Phänomenologischen Ausarbeitungen von Alfred Schütz zurück (vgl. Berger / Luckmann 1999). Die daraus gewonnenen Erkenntnisse über Bewusstsein, Selbstbewusstsein, Identität, Sozialisation, Rolle etc. gehen den zentralen Konzepten dieses Abschnitts zwar voraus, können aufgrund der Einhaltung des Rahmens dieser Arbeit jedoch nicht vollumfänglich wiedergegeben werden. Der Inhalt dieses Abschnitts zielt vielmehr auf die Beantwortung der Frage, durch welche Prozesse die gesellschaftlich konstruierte Wirklichkeit zu einer objektiven Wirklichkeit wird.

Der Wissenssoziologie geht u.a. die Annahme voraus, dass der Mensch ein Mängelwesen sei, woraus hervorgehen soll, dass Individuen ihr soziales Handeln aus Gründen der Entlastung routinisieren bzw. habitualisieren (vgl. Berger / Luckmann 1999: 49ff.). Auch wenn Berger und Luckmann (vgl. 1999: 57) an dieser Stelle mit dem Konzept der psychologischen Entlastung durch Gewöhnung argumentieren, erscheint dies als Folge ihres Rückgriffs auf das Konzept des Mängelwesens konsequent und eröffnet den Weg von der Habitualisierung über Typisierung zur Institutionalisierung zu gelangen. Während der Prozess der Routinisierung in erster Linie an die Handlung gebunden ist, bindet der Prozess der Institutionalisierung das typisierte soziale Handeln an den typisierten Handelnden und umgekehrt. Der Prozess der Institutionalisierung ist also reziprok und erzeugt dadurch Handelnde und Handlungen eines bestimmten Typus, die vorher individuell oder zumindest nicht typisiert waren (vgl. Berger / Luckmann 1999: 56ff.). Der Schritt von der Institutionalisierung reziprok typisierten Handelns und Handelnder erfolgt zum einen über das Medium der Sprache, welche damit eine ähnliche Position wie beim Wissen einnimmt, da sie intersubjektive Nachvollziehbarkeit von Institutionen erzeugt (vgl. Keller 2013a: 25). Zum anderen entsteht der objektive Charakter von Institutionen dadurch, dass sie für nachfolgende Individuen bereits existieren (vgl. Berger / Luckmann 1999: 62f.). Dies erklärt auch die vorher widersprüchlich erscheinende Annahme der vermeintlichen Unabhängigkeit der Alltagswelt von den Individuen. Wie erlangen jedoch die Institutionen für diejenigen, die den nachfolgenden Individuen hervorgehen ihren objektiven Charakter? Berger und Luckmann erklären dies über einen Effekt der rückwirkenden stärkeren Verallgemeinerung der Institutionen durch die vorherige Generation in der Form, dass „[aus] dem »Da wären wir wieder einmal« […] ein »so macht man das« [wird].“ (Berger / Luckmann 1999: 63) An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass das bisher erfolgte Gedankenexperiment von Berger und Luckmann trotz der gegebenen Nachvollziehbarkeit und Plausibilität Grenzen erreicht und deutlich wird, dass es sich um eine konstruierte Situation handelt, die verdeutlichen soll, wie die Wirklichkeit gesellschaftlich konstruiert wird. Dennoch kann an dieser Stelle nicht weiter auf diese Problematik eingegangen werden, da dies nicht die Fragestellung der vorliegenden Arbeit ist.

Um das Dreiergespann zu vervollständigen, ist nun noch der bereits durchscheinende Begriff der Legitimierung zu erklären. Dieser bezieht sich auf die Festigung des objektiven Charakters von Institutionen für die nachfolgenden Individuen und ist aufgrund der fehlenden Historizität notwendig (vgl. Berger / Luckmann 1999: 63ff.). Mit fehlender Historizität ist der zuvor erwähnte Umstand gemeint, dass die nachfolgenden Individuen nicht wie die vorherigen (vorstellbar als Kinder und Eltern) an den Institutionalisierungsprozessen beteiligt waren und daher die entsprechenden Institutionen zwar als objektive Größe anerkennen, deren Sinnhaftigkeit aber nicht notwendiger Weise nachvollziehen können. Institutionen erlangen durch deren Legitimierung in Form intersubjektiver Vermittlung im fortlaufenden Sozialisationsprozess also Nachvollziehbarkeit und Relevanz (vgl. Berger / Luckmann 1999: 72ff.).

Institutionen sind für die zu verfolgende Fragestellung von Interesse, da ihnen eine Kontrollfunktion zukommt, indem sie soziales Handeln in definierte Richtungen lenken und dabei Alternativen ausblenden (vgl. Berger / Luckmann 1999: 58f.). Betrachtet man im Weiteren soziales Wissen nun auch als durch Institutionalisierung objektiviert (vgl. Knoblauch 2013: 11) so wird aus der Kontrollfunktion der Institutionen eine Machtfunktion (vgl. Knoblauch 2009: 211f.). Zusätzlich hält Luckmann (vgl. 2006: 24) als grundlegendes Interesse von Institutionen u.a. die Vermittlung von Moralvorstellungen fest. Demzufolge erscheinen auch Medien – in diesem konkreten Fall in Form von Qualitätstageszeitungen – als Institutionen mit Macht und Interesse. Bevor jedoch die Rolle der Medien in Bezug auf die Fragestellung ausführlich dargestellt wird, soll im Folgenden zunächst der Diskurs als Ort der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit herausgestellt werden.

2.3 Der Diskursbegriff

„Die Welt ist kein Komplize unserer Erkenntnis. Es gibt keine prädiskursive Vorsehung, welche uns die Welt geneigt macht.“ (Foucault / Konersmann 1991: 34) Foucault stellt den Diskurs hier als omnipräsentes Medium der Weltwahrnehmung bzw. der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit heraus und legt der wissenssoziologischen Diskursanalyse damit eine Grundannahme zurecht. Bevor jedoch genauer auf die Methode eingegangen werden kann, muss zunächst der Begriff des Diskurses näher erläutert werden.

Während die Definition von Diskursen als „[…] Gesamtheit von Aussagen mit gleichem Bezugsobjekt […]“ (Foucault / Köppen 1973: 49) vermeintlich simpel wirkt, hebt die folgende Definition die Komplexität des Diskursbegriffs hervor: „Diskurse sind institutionalisierte, nach verschiedenen Kriterien abgrenzbare Bedeutungsarrangements, die in spezifischen Sets von Praktiken (re)produziert und transformiert werden. Sie existieren als relativ dauerhafte und regelhafte, d.h. zeitliche und soziale Strukturierung von (kollektiven) Prozessen der Bedeutungszuschreibung.“ (Keller 2004: 205) Der Diskurs als Institution besteht somit als eine dem Menschen gegenübergestellte Wirklichkeit (vgl. Berger / Luckmann 1999: 62) und besitzt daher beschreibbare Eigenschaften, welche sich zum Teil bereits in der zuvor genannten Definition finden. Diskurse sind demzufolge prozesshaft (vgl. Keller 2004: 205) und nicht abgeschlossen sowie interdiskursiv (vgl. Keller 2011: 78). Daraus folgt, dass konkrete Diskurse zum Teil schwer abgegrenzt werden können bzw. eine Betrachtung von Diskursen nur schwer den gesamten Diskurs wiedergeben kann. Beispielsweise bringen Jäger et al. (vgl. 1998) innerhalb einer Diskursanalyse den Migrations- und Kriminalitätsdiskurs in Verbindung. Daraus folgt jedoch nicht, das jeder Diskurs mit jedem Diskurs zusammenhängt oder sinnvoll in Verbindung gebracht werden kann, da Diskurse auch auf entgegengesetzte Diskurse verweisen können (vgl. Bublitz 2009: 239ff.) und die Eigenschaft der Diskontinuität aufweisen (vgl. Foucault / Konersmann 1991: 34).

Des Weiteren ist es an dieser Stelle hilfreich, Diskurse als Bereitstellung von Räumen für die öffentliche Konfliktaustragung aufzufassen (vgl. Schwab-Trapp 2009: 263), da dies einerseits deren Prozesshaftigkeit verdeutlicht und andererseits den interpretativen Akt der Bedeutungszuschreibung betont (vgl. Gerhards 2004: 300). Weiterhin verweist dies auch auf die durch soziales Handeln erfolgende Produktion, Reproduktion und Veränderung von Diskursen (vgl. Keller 2013b: 71) und damit auf deren soziale Strukturiertheit. Dennoch ist es notwendig, den Diskursbegriff in der hier verwendeten Form als duale Struktur aufzufassen, die nicht nur strukturiert ist, sondern auch strukturierend wirkt (vgl. Keller 2013b: 72). Dies stellt eine der grundlegendsten Annahmen für die folgende Analyse heraus, in der Diskurse „[…] als Praktiken [behandelt werden], die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen.“ (Foucault / Köppen 1973: 74).

Diskurse lassen sich somit in zweierlei Hinsicht mit dem Begriff Macht in Verbindung bringen: Einerseits werden Diskurse durch Macht beschränkt, ermöglicht und reglementiert (vgl. Knoblauch 2014: 216), indem beispielsweise bestimmte Aspekte von der Thematisierung ausgeschlossen werden (vgl. Foucault / Konersmann 1991: 9ff.). Andererseits können Diskurse als „[...] machthaltige Konflikte um Deutungsmacht“ (Keller 2004: 207) beschrieben werden, die die Wirklichkeit ordnen und ihr eine Realität erst zuschreiben (vgl. Bublitz 2009: 231). Daraus folgt auch, dass durch Diskurse Konzepte wie Normalität und Abnormalität sinnhaft gefüllt und dadurch variabel werden (vgl. Bublitz 2009: 241ff.). In Bezug auf die vorliegende Forschungsfrage ist daher festzuhalten, dass Phänomene bzw. Ereignisse – wie zum Beispiel die sogenannte Flüchtlingskrise – erst durch die diskursive Auseinandersetzung mit ihnen zu dem werden, was sie sind (vgl. Keller 2004: 206 & Schwab-Trapp 2009: 261). Trotz ihres Institutionalisierungsaspekts weisen Diskurse die Möglichkeit der Delegitimierung auf und können dementsprechend mit Ereignisdeutungen, die ggf. institutionelle Objektivität erlangt haben, brechen (vgl. Keller 1997: 316). Der Diskurs als Institution nimmt daher eine interessante Position ein, da dieser selbst nur eine zeitweise Stabilität aufweist (vgl. Keller 2013b: 71) und somit die Stabilität anderer Institutionen bzw. institutionalisierter Deutungsmuster einschränken kann.

Im folgenden Abschnitt wird die Rolle der Medien diskutiert die den darauffolgenden Analysen zugrunde liegt, da Diskurse der Artikulation bedürfen (vgl. Knoblauch 2009: 215f.) und, wie bereits im Vorfeld erwähnt, eine Zeichengebundenheit des sozialen Handelns und Wahrnehmens angenommen wird (vgl. Soeffner 1999: 39f.).

2.4 Die Rolle der Medien

Wissen ist von Medien abhängig, da diese dessen notwendige Vermittlung gewährleisten (vgl. Knoblauch 2014: 325). Im Hinblick auf die Erläuterungen zur Legitimierung von Institutionen, um Nachvollziehbarkeit bei nachfolgenden Individuen herzustellen, treten Medien als Mittel indirekter Erfahrbarkeit auf (vgl. Bonfadelli / Moser 2007: 95) und überbrücken so die fehlende Historizität. Die Fragestellung der vorliegenden Arbeit zielt dabei konkret auf Printmedien, da diese eine strukturierende Wirkung aufweisen (vgl. ebd.). Wie zuvor bei den Diskursen herausgestellt, folgt aus der strukturierenden Wirkung der Printmedien eine Form der Machtausübung. Die Macht besteht darin, die Informationen zu bearbeiten und somit auch umzudeuten (vgl. Baerns 1987: 160). Diesem Umstand scheint das journalistische Selbstverständnis zu widersprechen, das nach Brosius und Esser (vgl. 1995: 31f.) darin besteht, ein Abbild der Realität zu erzeugen. Jedoch bilden Zeitungen durch die ausdrückliche Äußerung von Meinungen, z.B. in Form von Kommentaren, die öffentliche Meinung in nicht geringem Maße (vgl. Dohrendorf 1990: 132f.). Daraus lässt sich ableiten, dass u.a. Printmedien als Katalysatoren öffentlicher Diskurse angesehen werden können (vgl. Rosenthal 2000: 196), denen neben einer gesellschaftlichen Spiegel- auch eine Meinungsbildungsfunktion zukommt (vgl. Gerhards 2004: 308). Durch das Hinausgehen über eine reine Wirklichkeitsabbildung – insofern dies überhaupt möglich ist – erzeugen sie, wie Diskurse, eigene Realitäten, indem den Ereignissen über die sie berichten, sinnhafte Bedeutungen zugeschrieben werden. Aus dem Selbstanspruch, die Leser zu informieren, wird eine Formierung der Leser (vgl. Jäger et al. 1998: 19).

Neben der Spiegel- und Meinungsbildungsfunktion ist eine Identitätskonstruktionsfunktion der Medien anzunehmen. Durch die Vermittlung und Darstellung von Werten, Haltungen und Lebensstilen werden Identitäten konstruiert, die für den Sozialisationsprozess von Bedeutung sind (vgl. Bonfadelli / Moser 2007: 96). Dies ist u.a. von Bedeutung, da somit die Position der Vermittlung in Bezug auf die Legitimierung von Institutionen einen Handlungsträger findet. Da auch Bedeutungszuschreibungen institutionalisiert werden können und in der Folge der Legitimierung bedürfen, können Printmedien in Bezug auf die zugrundeliegende Fragestellung beispielsweise die Deutung der Zuwanderung als Krise legitimieren. Die Legitimierungsfunktion der Printmedien schließt auch die Delegitimierungsfunktion ein (vgl. Keller 2004: 211f.). Auch wenn die Hypothesen zur Selektionsfunktion der Medien im vierten Abschnitt genauer erläutert werden, sei an dieser Stelle zumindest darauf hingewiesen, dass bereits durch die gezielte Aufmerksamkeitssetzung Deutungsmacht vorliegt (vgl. Schiffer 2005: 24). Medien, genauer Printmedien, erscheinen in diesem Zusammenhang also als Träger des entsprechenden Diskurses und insbesondere durch die konkret gekennzeichneten Meinungsäußerungen in Form von Kommentaren etc. auch als Akteure im Diskurs selbst. Als Institutionen konstruieren sie daher durch gezielte Bedeutungszuschreibungen gesellschaftlich eine Wirklichkeit, wirken sich strukturell auf das gesellschaftliche Wissen aus und stellen damit soziale Handlungsfähigkeit her (vgl. Brosius / Esser 1995: 34f. & Gerhard 1993: 240 & Knoblauch 2014: 325).

Neben der bisher dargestellten Relevanz der Medien im Hinblick auf die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit lässt sich dies auch auf den Bereich der Fragestellung annähern. Da Medien aufgrund der vorhergehenden Ausführungen Bedeutungszuschreibungen vornehmen, sind sie auch für die Konstruktion des Fremden relevant (vgl. Poferl / Walter 2013: 236). In dieser Hinsicht sind sie also beispielsweise für die Akzeptanz von Migranten als gleichwertige Bevölkerungsgruppe von hoher Bedeutung (vgl. Geißler 2000: 131). Des Weiteren kann durch die Bewertung von Ereignissen als normal bzw. abnormal entsprechender Handlungsbedarf suggeriert werden (vgl. Jäger et al. 1998: 24f.). Auch wenn Medien insgesamt und auch Printmedien im konkreten differenziert betrachtet werden müssen (z.B. Qualitätstageszeitungen, Sensationspresse, lokale und überregionale Zeitungen etc.) tragen sie an der Bildung und Stabilisierung z.B. ethnischer Vorurteile, aber auch bei deren Abbau Verantwortung (vgl. Scheffer 1997: 22). Letztlich lässt sich die Rolle der Medien in Form des Lippmann-Theorems zusammenfassen: „Bei der Entstehung der Bilder in unseren Köpfen [...] spielen die Massenmedien eine zentrale Rolle. In [...] einer komplexen Umgebung, die vom Einzelnen nur in kleinsten Ausschnitten direkt erfahren und wahrgenommen werden kann[,] verleihen sie [die Massenmedien] der äußeren Welt Konturen und Struktur.“ (Geißler 2000: 132). Durch die somit dargestellte Rolle der Medien als gesellschaftlicher Diskursträger und Diskursakteur ergibt sich deren Relevanz im Hinblick auf die Frage, welche Bedeutungszuschreibungen im Flüchtlingsdiskurs vorzufinden sind. Bevor diese nun im Weiteren analysiert werden, wird zunächst die Methode der wissenssoziologischen Diskursanalyse ausführlich dargestellt.

III. Zur Methodologie

Die wissenssoziologische Diskursanalyse ist eine Methode der qualitativen Sozialforschung. Sie lässt sich von weiteren diskursanalytischen Forschungsansätzen sowie von verschiedenen qualitativen Forschungsmethoden abgrenzen und führt eigene Begriffe ein, die die Darstellung der Ergebnisse und deren Beschreibung systematisieren. Im Weiteren steht sie als qualitative Forschungsmethode in einem Konfliktverhältnis mit den Gütekriterien der empirischen Sozialforschung. Daher wird im folgenden Abschnitt die Forschungsperspektive der wissenssoziologischen Diskursanalyse umfassend erläutert sowie erste Aussagen zu möglichen Problemen geäußert. Eine ausführlichere Erläuterung möglicher Probleme und Kritik erfolgt in Abschnitt 5.5.

3.1 Wissenssoziologische Diskursanalyse als Forschungsperspektive

Diskurse sind aus wissenssoziologischer Perspektive aus mindestens zwei Gründen relevant: Zum einen stellen sie einen Raum dar, der die öffentliche Konfliktaustragung ermöglicht und durch den damit einhergehenden Prozess der Bedeutungszuschreibung Wissen und soziales Handeln institutionalisiert, objektiviert und legitimiert. Zum anderen regen Diskurse, dadurch bedingt, Interaktionen in Form sozialen Handelns an und leiten dieses entsprechend der vorhergehenden Legitimierung bzw. Delegitimierung sozialen Wissens und/oder Handelns. Dementsprechend ist es naheliegend, Diskurse zum Untersuchungsgegenstand wissenssoziologischer Forschung zu machen. Obwohl – oder gerade weil – Diskurse die Phänomene, von denen sie handeln, erst mit ihrer spezifischen Bedeutung erzeugen, können diese nicht ohne Weiteres durch eine rekonstruktive Betrachtung der Phänomene erschlossen werden (vgl. Keller 2011: 72). In Bezug auf die vorliegende Forschungsfrage folgt daraus, dass nicht allein durch eine Beobachtung der Ereignisse, die gegebenenfalls mit der Zuwanderung von Flüchtlingen in Verbindung stehen, rekonstruiert werden kann, inwiefern diese als Krise gedeutet wird. Daher stellt sich die Frage, mittels welcher Methode dieser Fragestellung nachgegangen werden kann.

Die wissenssoziologische Diskursanalyse knüpft an den theoretischen Rahmen der Wissenssoziologie von Berger und Luckmann an. Das lässt sich u.a. auf die wissenssoziologischen Konzepte der Institutionalisierung, Objektivierung und Legitimierung zurückführen, da insbesondere diesen eine zentrale Bedeutung in Bezug auf die grundlegenden Begriffe des Wissens, des sozialen Handelns und der Wirklichkeit zukommen. Im Weiteren ist die Betonung der Akteure (eine Erklärung dieses Begriffs folgt im weiteren Verlauf) in diskursiver Hinsicht durch die Wissenssoziologie von Bedeutung (vgl. Keller 2013a: 45). Zusammengefasst unterliegt die wissenssoziologische Diskursanalyse entsprechend der wissenssoziologischen Theorie der zentralen Annahme, dass jegliches Wissen sozial konstruiert und die Wirklichkeit in ihrer Sinnhaftigkeit nicht unmittelbar erfahrbar ist (vgl. Keller 2011: 58f.).

Die zu Beginn hervorgehobenen Diskursrivalitäten sind aus diskursanalytischer Perspektive bedeutsam, da Diskurse somit zu einer „[…] wirklichen gesellschaftlichen Praxis “ (Keller 2013a: 46; Hervorhebungen im Original) werden. Weiterhin werden sowohl die Diskursrivalitäten als auch die daraus hervorgehenden Bedeutungszuschreibungen durch das soziale Handeln von Akteuren reproduziert, erneuert und dadurch typisierbar (vgl. Keller 1997: 315). In Bezug auf die Akteure übernimmt die wissenssoziologische Diskursanalyse die Annahme von der hermeneutischen Wissenssoziologie, dass deren Handeln sinngeleitet und nicht unintendiert ist. Daraus folgt jedoch nicht, dass jegliche potentielle Handlungsfolgen notwendig beabsichtigt sind (vgl. Keller 2008: 78).

Zur genaueren Einordnung der wissenssoziologischen Diskursanalyse in das Feld qualitativer (Sozial)Forschung, kann diese u.a. von weiteren diskursanalytischen Forschungsansätzen differenziert werden. Der englische Begriff der discourse analysis ist dabei als allgemeine Bezeichnung der diskursanalytischen Forschungsrichtungen zu verstehen und findet neben interdisziplinärer Anwendung insbesondere in der Sprachwissenschaft Verwendung (vgl. Keller 2011: 20ff.). In diesem Zusammenhang ist auch eine Abgrenzung von der Korpus-linguistischen bzw. linguistisch-historischen Diskursanalyse sinnvoll, da sich diese eher mit Fragestellungen in Bezug auf den Zusammenhang von Texten sowie Kontexten etc. auseinandersetzt. Weiterhin kann die wissenssoziologische Diskursanalyse von der Kritischen Diskursanalyse unterschieden werden. Die dabei verfolgten Fragestellungen befassen sich beispielsweise mit den gesellschaftlichen Auswirkungen von Diskursen aus häufig gesellschaftskritischer Perspektive und sind daher zum Teil normativen Charakters (vgl. Keller 2011: 23ff.). Daraus folgt nicht, dass eine Diskursanalyse aus wissenssoziologischer Perspektive nicht normativ sein kann. So hält Schwab-Trapp (vgl. 2009: 268) für Diskursanalysen im allgemeinen einen politischen Kern fest, da Diskurse in der Regel eine Legitimierungsfunktion einnehmen, die sich daher z.B. auch in Form der Legitimierung politischen Handelns niederschlägt. Die vorliegende Arbeit verfolgt die Forschungsfrage dennoch in rein deskriptiver Absicht.

Das einzelne Sprachereignis ist für die wissenssoziologische Diskursanalyse daher von geringerer Bedeutung als die zugrundeliegende Regelmäßigkeit, die durch die Rekonstruktion typisiert werden soll. Dementsprechend werden Metaphorik- und Rhetorikanalysen insbesondere dann vorgenommen, wenn sie bzw. wenn vermutet wird, dass sie zur Wirkung des Diskurses beitragen (vgl. Keller 1997: 312 & 2011: 70 & 2013b: 70). Daraus folgend kann die wissenssoziologische Diskursanalyse als „[…] die Methode der Rekonstruktion der Regelhaftigkeit sozialer Wirklichkeit “ (Bublitz 2009: 234; Hervorhebung im Original) definiert werden. Indem die Konstruktion 1. Ordnung (die Alltagswelt bzw. soziale Wirklichkeit) rekonstruiert wird, liegt eine Konstruktion 2. Ordnung vor. Dadurch wird betont, dass der Forscher im Verlauf des Rekonstruktionsprozesses eigene Deutungen, Interpretationen und Kausalitäten unterstellt bzw. konstruiert. Dies wirft einige Problemstellungen qualitativer Sozialforschung auf, die im späteren Verlauf diskutiert werden. An dieser Stelle ergibt sich jedoch schon die Ziel- bzw. Aufgabenstellung der wissenssoziologischen Diskursanalyse: Das Ziel bzw. die Aufgabe besteht also darin, soziale Strukturen durch die Rekonstruktion der diskursiven Institutionalisierungs-, Objektivierungs- und Legitimierungsprozesse aufzudecken und zu analysieren. Die zugrundeliegenden Deutungs-, Sinn- und Handlungsstrukturen werden daher als Diskurs und damit als gesellschaftliche Praxis verstanden und entsprechend rekonstruiert (vgl. Keller 2004: 205 & 2011: 59). Nach den bisherigen Erläuterungen zur wissenssoziologischen Diskursanalyse lässt sich diese mindestens als Legitimierungs- und Prozessanalyse sowie als Öffentlichkeits- und Konfliktanalyse charakterisieren (vgl. Schwab-Trapp 2009: 264).

Da sich die vorliegende Arbeit an den methodischen Ausführungen zur wissenssoziologischen Diskursanalyse von Reiner Keller orientiert (siehe dazu u.a. Keller 2004 & Keller 2011) und bereits der Begriff des Akteurs erwähnt wurde, werden zunächst die wichtigen grundlegenden Begrifflichkeiten geklärt.

Wenn im Folgenden von Diskurs die Rede ist, so ist dieser, wie zuvor beschrieben, als Träger von Bedeutungszuschreibungen bzw. als Oberbegriff für eine bestimmte Menge von Aussageereignissen zu verstehen und damit von anderen abgrenzbar. Aussageereignisse stellen die sprachlichen Äußerungen innerhalb eines Diskursfragmentes dar und produzieren, reproduzieren bzw. aktualisieren den entsprechenden Diskurs. Als Diskursfragmente werden die entsprechenden Analysematerialien bezeichnet, welche im Fall dieser Arbeit aus Zeitungsartikeln bestehen. Die jeweiligen Aussageereignisse werden von individuellen oder kollektiven Akteuren produziert und können zu allgemeineren bzw. zusammengefassten Aussagen typisiert werden. Akteure aktualisieren, produzieren und reproduzieren demzufolge die Diskurse durch die entsprechenden Aussageereignisse. In Bezug auf Zeitungen können dies beispielsweise Journalisten und Redakteure, aber auch zu Wort kommende Politiker, Unternehmer, Wissenschaftler oder ganze Organisationen sowie die gesamte Redaktion der Zeitung etc. sein. Das potentielle Publikum – in Bezug auf Zeitungen also die Leserschaft – nimmt dabei sowohl eine diskursbeobachtende aber auch -produzierende, -reproduzierende und -aktualisierende Position ein. Zeitungen ermöglichen dem Publikum, z.B. durch das Veröffentlichen zugeschickter Leserbriefe, selbst zum Akteur zu werden. Darüber hinaus kann das Publikum stets in anderen diskursiven Praktiken selbst zum Akteur werden und ist nicht auf den Bereich der textförmigen Produktion von Aussageereignissen beschränkt. Der zuvor mehrfach erwähnte Raum der potentiell rivalisierenden diskursiven Bedeutungszuschreibung kann als Diskursfeld bezeichnet werden. Die diskursive Institutionalisierung und Legitimierung sozialen Wissens oder Handelns erfolgt häufig durch die implizite und explizite Darstellung von Subjektpositionen durch die Akteure, die vom Publikum übernommen und im Weiteren, beispielsweise durch das Eintreten in die Akteursposition in anderen diskursiven Praktiken, reproduziert und somit verbreitet werden können. Aufgrund der Annahme der Sinnhaftigkeit des Handelns der Akteure kann von bestimmten Intentionen der Akteure ausgegangen werden, womit diese ein bestimmtes Ziel verfolgen. Diese Diskursstrategien können im Allgemeinen darin bestehen, die entsprechend angelegte Bedeutungszuschreibung zu etablieren und gegebenenfalls zu legitimieren. Bei Zeitungen ist u.a. zu vermuten, dass das politische Handeln durch konkrete Bewertungen beeinflusst werden soll. Weiterhin können in Zeitungen auch Politiker Artikel verfassen, die u.a. Inhalte des jeweiligen Parteiprogramms enthalten können. Die hier dargestellten Begriffsbestimmungen (vgl. Keller 2011: 65ff.) können je nach diskursanalytischer Perspektive und entsprechender zugrundeliegender Disziplin variieren.

Während sich die quantitative Sozialforschung in Bezug auf die Begründung der Ergebnisse auf Gütekriterien wie Reliabilität und Validität beruft, steht die qualitative Sozialforschung – und damit auch die wissenssoziologische Diskursanalyse – vor einem Bewertungsproblem: Die Gütekriterien der quantitativen Sozialforschung lassen sich nicht problemlos auf die qualitative Sozialforschung übertragen. Eine genaue Übertragung des Kriteriums der Reliabilität würde einerseits gleiche Ergebnisse bei wiederholter Messung oder bei Messung durch andere Forscher voraussetzen. Andererseits bedingt dies, dass sich die zu untersuchenden Phänomene nicht verändern, was häufig dem Interesse am zu untersuchenden Forschungsgegenstand widerspricht (vgl. Flick 2012: 489ff.). Der Anspruch der Validität - also der Gültigkeit der Forschungsergebnisse – steht vor dem Problem, dass in der Regel nicht bis ins kleinste Detail zurückverfolgt oder konkret geprüft werden kann, ob die Interpretationen des Forschers aus dem zugrundeliegenden Datenmaterial an der entsprechenden Stelle stammen, diese eventuell mit biographischen Ereignissen des Forschers zusammenhängen oder in der Auswertung der Daten keine widersprechenden Beispiele dargestellt werden (vgl. Flick 2012: 492ff.). Dieses Problem wird u.a. durch die wissenssoziologischen theoretischen Grundlagen verstärkt: Die Analyse erzeugt eine Konstruktion 2. Ordnung, die letztlich auch eine Bedeutungszuschreibung darstellt, die ähnlichen Bedingungen wie die der Alltagskonstruktion (diese wurden im gesamten 2. Abschnitt ausführlich dargestellt) unterliegt. Im Weiteren sind die angestrebten Typisierungen, Kategorienbildungen und Kodierungen stets selektiv und klassifizierend (vgl. Gerhards et al. 1998: 193). Um die Ergebnisse qualitativer Sozialforschung dennoch an Maßstäben im weiteren Sinne messen zu können, wird das Kriterium entsprechender Transparenz bemüht, dessen Einhaltung zu einer nachvollziehbaren Darstellung und daraus folgender Plausibilität der Forschungsergebnisse führen soll (vgl. Flick 2012: 500ff.). Weiterhin wird auch empfohlen, das jeweilige Datenkorpus auf aussagekräftige Elemente zu reduzieren und dadurch die methodische Sicherheit zu erhöhen (vgl. Gerhards 1992: 315). Bevor das Datenkorpus dieser Arbeit vorgestellt wird, wird zunächst der Forschungsgegenstand eingegrenzt.

3.2 Forschungsgegenstand und Eingrenzung

Diskurse finden in verschiedenen (Kommunikations-)Formen statt und weisen unterschiedliche Akteure, Institutionen und Handlungen auf (vgl. Knoblauch 2009: 214). Da der Umfang von Diskursanalysen mit dem Anspruch, einen Diskurs in seiner Gesamtheit zu analysieren und abzubilden den möglichen Umfang der meisten Untersuchungen übersteigt, bedarf es einer Eingrenzung in räumlicher, zeitlicher und sachlicher Hinsicht (vgl. Keller 2004: 214). Der Forschungsgegenstand dieser Arbeit ist der Diskurs zur Flüchtlingsthematik in Deutschland unter der Fragestellung, inwiefern dieser die Flüchtlingsthematik als Krise konstruiert. In Abschnitt 2.4 wurde die Rolle der Medien in allgemeiner Form als Diskursträger und Diskursakteur erläutert und damit auf deren Relevanz für den Prozess der diskursiven Bedeutungszuschreibung und anschließender Institutionalisierungs-, Objektivierungs- und Legitimierungsprozesse verwiesen. Um dem Grenzziehungsproblem (vgl. Keller 2011: 80) bereits in der Konzeptionsphase zu begegnen und den Anspruch der vorliegenden Arbeit in einem bearbeitbaren Rahmen zu halten, wird die Rekonstruktion des Diskurses in dreierlei Hinsicht begrenzt: Aufgrund der relativ einfachen Verfügbarkeit und der Bedeutung von Tageszeitungen im Prozess der Meinungsbildung (vgl. Hasebrink / Hölig 2014: 16ff.) wird der Diskurs in Bezug auf die vorliegende Forschungsfrage anhand von vier überregionalen Qualitätstageszeitungen rekonstruiert. Konkret wird die Analyse an Artikeln der folgenden vier Zeitungen durchgeführt: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Süddeutsche Zeitung (SZ), die Tageszeitung (TAZ) und die Welt. Aus zeitlicher Perspektive und da der Diskurs zum Zeitpunkt der Bearbeitung noch nicht abgeschlossen ist, wird eine Einschränkung auf drei Zeiträume vorgenommen: Die erste zu analysierende Phase des Diskurses erstreckt sich vom 01.09.2015 bis zum 09.09.2015, wobei das Wochenende (hier: 05./06.09.2015) aus Gründen der besseren Vergleichbarkeit der vier Zeitungen in allen Phasen ausgelassen wurde. Die zweite Phase erstreckt sich vom 28.12.2015 bis zum 07.01.2016 (Neujahr am 01.01.2016 und Wochenende vom 02./03.01.2016 ausgelassen) und die dritte vom 04.04.2016 bis zum 12.04.2016 (Wochenende vom 09./10.04.2016 ausgelassen). Diese Eingrenzung beschränkt den Diskurs auf einen Zeitraum von ca. acht Monaten, die in drei ungefähr gleich lange und voneinander entfernte Phasen eingeteilt wurden. Abschließend wurde die Auswahl der zu analysierenden Artikel auf die Kommentare der jeweiligen Zeitung und Ausgabe eingegrenzt, was in erster Linie der Herstellung eines in angemessener Zeit bearbeitbaren Datenkorpus dient. Im Weiteren orientiert sich diese Beschränkung auch an der Annahme, dass insbesondere in den Kommentaren bzw. Leitartikeln die konstruierte Wirklichkeit der einzelnen Autoren als auch der jeweiligen Redaktionen wiedergegeben wird (vgl. Dohrendorf 1990: 118ff.). Um eine entsprechende Nachvollziehbarkeit herzustellen, finden sich die analysierten Artikel der FAZ jeweils in der Rubrik Zeitgeschehen (im Wechsel Seite 8 oder 10), der SZ im Abschnitt Meinung (Seite 4), der TAZ unter Meinung + Diskussion (Seite 12) und in der Welt unter Forum (Seite 3).

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Ende der Leseprobe aus 58 Seiten

Details

Titel
Der Flüchtlingsdiskurs in Deutschland
Untertitel
Eine Analyse überregionaler Tageszeitungen
Hochschule
Universität Rostock  (Institut für Soziologie und Demographie)
Note
1,3
Autor
Jahr
2016
Seiten
58
Katalognummer
V498023
ISBN (eBook)
9783346001504
ISBN (Buch)
9783346001511
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Diskursanalyse, Flüchtlinskrise, qualitative Methoden, Flüchtlingsdiskurs, Medienanalyse, Tageszeitungen, Wissenssoziologie
Arbeit zitieren
Martin Radtke (Autor:in), 2016, Der Flüchtlingsdiskurs in Deutschland, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/498023

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