Psychoedukation bei AHS und ADHS. Evaluation im Rahmen eines Elterntrainings


Diplomarbeit, 2010

204 Seiten, Note: 1.0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

Teil I: Einführung in die Thematik

2 . Das Störungsbild Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit bzw. ohne Hy peraktivität
2.1. Begriff
2.2. Klassifikation
2.2.1. Subtypen
2.2.2. Ausschlusskriterien
2.2.3. Komorbidität
2.3. Symptomatik
2.3.1. Kernmerkmale
2.3.2. Problemsituationen
2.3.3. Begleit- und Folgesymptomatik
2.3.4. AD(H)S als Entwicklungsgefährdung bzw. nachhaltiges
Entwicklungsrisiko
2.4. Pathogenese
2.4.1. Neurobiologische Befunde
2.4.2. Genetische Faktoren
2.4.3. Psychosoziale Bedingungen
2.4.4. AD(H)S als multifaktorielles Geschehen
2.5. Behandlungsansätze
2.5.1. Multimodaler Behandlungsansatz
2.5.2. Psychoedukation
2.5.3. Pharmakotherapie
2.5.4. Klassische und kognitive Verhaltenstherapie
2.5.5. Biofeedbackverfahren
2.5.6. Systemisch-ökologische Sichtweise
2.5.7. Wirksamkeit der Behandlungsansätze

3 . Elterntrainings

Teil II: Empirische Untersuchung

4 . Beschreibung des Evaluationsgegenstands
4.1. Das Fundament des evaluierten Trainings
4.1.1. Therapieprogramm für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem Problemverhalten nach MANFRED DÖPFNER
4.1.2. Parent Effectiveness Training (Familienkonferenz) nach THOMAS
GORDON
4.2. Wesentliche Komponenten des Trainings
4.3. Beschreibung der einzelnen Trainingseinheiten
4.3.1. Erste Trainingseinheit
4.3.2. Zweite Trainingseinheit
4.3.3. Dritte Trainingseinheit
4.3.4. Vierte Trainingseinheit
4.3.5. Fünfte Trainingseinheit
4.3.6. Sechste Trainingseinheit
4.3.7. Siebte Trainingseinheit
4.3.8. Achte Trainingseinheit
4.3.9. Neunte Trainingseinheit
4.3.10. Zehnte Trainingseinheit

Teil III: Methodenteil

5 . Eigene Fragestellungen und Hypothesen

6 . Variablen

7 . Methodik und Untersuchungsdesign

7.1. Messinstrument Fremdbeurteilungsbogen für Aufmerksamkeitsdefizit-
/Hyperaktivitätsstörungen
7.1.1. Inhaltlicher Aufbau.85
7.1.2. Reliabilität und Validität
7.1.3. Objektivität
7.2. Stichprobe
7.3. Durchführung der Untersuchung
7.4. Datenauswertung

Teil IV: Ergebnisteil

8 . Darstellung der Ergebnisse
8.1. Stichprobenbeschreibung
8.2. Symptomausprägung
8.3. Kompetenzen
8.4. Problembelastung
8.5. Hypothesenprüfung
8.5.1. Symptomausprägung
8.5.1.1. Aufmerksamkeitsstörung
8.5.1.2. Überaktivität
8.5.1.3. Impulsivität
8.5.1.4. Gesamtskala „Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung“

8.5.2. Kompetenzen
8.5.3. Problembelastung
8.5.3.1. Klinische Bedeutsamkeit
8.5.3.2. Generalisierungsgrad der Symptomatik
8.6. Zusammenfassung der Ergebnisse

Teil V: Diskussion

9 . Diskussion
9.1. Diskussion der Ergebnisse
9.1.1. Symptomausprägung
9.1.2. Kompetenzen
9.1.3. Problembelastung
9.2. Diskussion der Behandlungsansätze
9.3. Diskussion des empirischen und methodischen Vorgehens

10 . Ausblick

11 . Literatur

12 . Anhang

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten1

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Behandlungsmöglichkeiten bei AD(H)S, gruppiert nach Interventionsmodus (in Anlehnung an D Ö PFNER & S O BANSKI 2010, S. 273 und mit eigenen Ergänzungen versehen)

Tabelle 2: Interne Konsistenzen (Cronbachs Alpha) und Skalenwerte FBB-ADHS (n=713) (vgl. DÖPFNER ET AL. 2008, S.58)

Tabelle 3: Interne Konsistenzen der Skalen des Fremdbeurteilungsbogen für hyperkinetische Störungen (FBB-HKS/Elternurteil (Symptomausprägung) (DÖPFNER ET AL. 2006a, S.63)

Tabelle 4: t- Test bei gepaarten Stichproben für Aufmerksamkeitsstörung, Überaktivität, Impulsivität und Gesamtskala „Aufmerksamkeitsdefizit- /Hyperaktivitätsstörung“

Tabelle 5: Wilcoxon-Test bei der Variable Aufmerksamkeitsstörung

Tabelle 6: Wilcoxon-Test der Variable Gesamtskala „Aufmerksamkeitsdefizit- /Hyperaktivitäts-störung“

Tabelle 7: t- Test bei gepaarten Stichproben für Kompetenzen, Klinische Bedeutsamkeit und Generalisierungsgrad der Symptomatik auf verschiedene Lebensbereiche

Tabelle 8 Komorbide Störungen bei AD(H)S und ihre Häufigkeit (SCHLEIDER 2009, S.22)

Tabelle 9 Problematisches Verhalten von hyperaktiven und normalen Kindern in 14 häuslichen Situationen (Prozentangaben) und durchschnittlicher Schweregrad des störenden Verhaltens (nach BARKLEY 1981 in BARKLEY 2005, S.157)

Tabelle 10 Übersicht über die Instrumente von DISYPS-II (DÖPFNER ET AL. 2008a, S.14) mit zusätzlicher Hervorhebung des im Rahmen der Arbeit verwendeten Fragebogens

Tabelle 11: Kolmogorov-Smirnov-Anpassungstest auf Normalverteilung für die einzelnen Merkmalsausprägungen Aufmerksamkeitsstörung, Überaktivität, Impulsivität und die Gesamtskala „Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung“

Tabelle 12 Mittelwerte der einzelnen Merkmalsausprägungen der Variable Symptomausprägung

Tabelle 13 Mittelwerte der Kompetenzen, Klinischen Bedeutsamkeit und Generalisierungsgrad der Symptomatik auf verschiedene Lebensbereiche

Tabelle 14 Kolmogorov-Smirnov-Anpassungstest auf Normalverteilung für Kompetenzen, Klinische Bedeutsamkeit und Generalisierungsgrad der Symptomatik auf verschiedene Lebensbereiche

Tabelle 15 Wilcoxon-Test für abhängige Stichproben (SEDLMEIER & RENKEWITZ 2008, S.802)

Tabelle 16 Wilcoxon-Test bei der Variable Überaktivität

Tabelle 17 Wilcoxon-Test bei der Variable Impulsivität

Tabelle 18 Wilcoxon-Test bei der Variable Kompetenzen lxi Tabelle 19 Wilcoxon-Test bei der Variable Klinische Bedeutsamkeit

Tabelle 20 Wilcoxon-Test bei der Variable Generalisierungsgrad der Symptomatik auf verschiedene Lebensbereiche A b b il dung sverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Gliederung der vorliegenden Arbeit

Abbildung 2: Bausteine des Therapieprogramms für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem Problemverhalten (THOP) (mod. nach LEHMKUHL & DÖPFNER 2008, S.220)

Abbildung 3: Zusammensetzung der Indexkinder anhand vorliegender Diagnostik- Ergebnisse

Abbildung 4 Kriterien für die Diagnose einer hyperkinetischen Störung nach ICD-10 und einer Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung nach DSM-IV- TR (DÖPFNER ET AL. 2007, S.14)

Abbildung 5 Die langfristigen Folgen von ADHS (nach MANNUZZA ET AL. 1993 in COMER 2008, S.457)

Abbildung 6 Entwicklung negativ kontrollierender Interaktionen (DÖPFNER ET AL. 2007, S.26)

Abbildung 7 Integratives klinisches Modell zur Entstehung von ADHS (DÖPFNER ET AL 2010, S.147)

Abbildung 8 Das integrative Modell (Lauth & Schlottke 2009, S.59)

Abbildung 9 Das KAP-Konzept der Psychoedukation (SCHÜRMANN & DÖPFNER 2010, S.260)

Abbildung 10 Eltern-Kind-Programm: Makro- und Mikroperspektive (DÖPFNER ET AL 2007, S.118)

Abbildung 11 Entscheidungsbaum: Multimodale Therapie von external auffälligen Schulkindern (DÖPFNER ET AL. 2007, S.60)

Abbildung 12 Entscheidungsbaum: Multimodale Therapie von external auffälligen Kindern im Kindergartenalter (DÖPFNER ET AL. 2007, S.65) Danksagung

Danksagung

Meinen Eltern, die mir ermöglicht haben, zu studieren, die mich in meinemLeben stets bestärken und immer für mich da sind.

Monika Wentlandt und Stephan Kolbe für lehrreiche Erfahrungen und die Mög- lichkeit, das von Ihnen geleitete Elterntraining zu evaluieren.

Stefan Demuth für seine Geduld und Liebe.

Ganz besonders Sabrina Happich für Ihre fachliche Kompetenz, vielseitige Unterstützung und grenzenlose Herzlichkeit.

Danke.

1. Einleitung

„ Sie steigt und fällt, kommt und geht, höher schießt die Fontäne, fällt zurück, in nimmermüdem Wechselspiel“

(DE FLORIAN in FRAGNIÈRE 1996, S.85)

Das Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) stellt gegenwärtig eines der häufigsten psychischen Gesundheitsprobleme dar (vgl. STEINHAUSEN ET AL. 2010, S.9). Mit einer weltweiten Prävalenzrate von durchschnittlich 5.3% bei Kindern und Jugendlichen (vgl. ebd.) ist ADHS die häufigste psychiatrische Erkrankung des Kindes- und Jugendalters (vgl. SCHLACK ET AL. 2007, S.827- 835) und gehört neben aggressiven Verhaltensstörungen zu den meisten Vor- stellungsanlässen bei psychosozialen Diensten, kinderpsychiatrischen Einrich- tungen und Psychotherapeuten (vgl. DÖPFNER ET AL. 2008, S.258). Das Stö- rungsbild erweist sich als relativ stabil, indem die Problematik bzw. einzelne Symptome laut BUNDESÄRZTEKAMMER (2005) bei 1/3 der Erwachsenen bestehen und meist mit Ängsten, Depressionen, dissozialem Verhalten und antisozialen Persönlichkeitsstörungen assoziiert sind (vgl. NEUHAUS 2009, S.31). Zur be- trächtlichen Persistenz weist das Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts- syndrom mit Diagnosen zusätzlicher psychischer Störungen von bis zu 80% eine hohe Komorbidität auf (vgl. DÖPFNER ET AL. 2008, S.260).

Aufgrund seiner starken Therapieresistenz und anzutreffenden Häufigkeit zählt die psychische Störung ADHS neben oppositionellen Verhaltensauffälligkeiten derzeit zu den größten Herausforderungen in der Kinder- und Jugendpsycho- therapie, -psychiatrie und in der klinischen Kinderpsychologie (vgl. DÖPFNER ET AL. 2007, S.XXI). Aus verschiedenen wissenschaftlichen Fachrichtungen hat sich in den letzten Jahrzehnten ein breites Spektrum an Behandlungsansätzen herausgebildet. Dieses reicht von medikamentösen über verhaltenstherapeuti- sche Interventionen, homöopathische Behandlungsansätze, Biofeedback, Diä- ten und Nahrungsergänzungen bis hin zu nondirektiven Therapieverfahren, sys- temische Familientherapie, Ergotherapie sowie tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapiemethoden, um nur einige exemplarisch zu nennen (vgl. NEU- HAUS 2002, S.202-204, 206-213; STEINHAUSEN ET AL. 2010a S.256).

Aus den Kernsymptomen Aufmerksamkeitsstörungen, Impulsivität und Hyper- aktivität, welche verschiedene Lebens- und Funktionsbereiche in unterschiedli- cher Intensität beeinträchtigen können, ergeben sich gehäuft Begleitmerkmale und typische Folgeprobleme (vgl. DÖPFNER ET AL. 2000a, S.178). Diese können sich u.a. in schulischen Leistungsproblemen, Schwierigkeiten in der sozialen Eingliederung sowie einem beeinträchtigten Selbstwerterleben manifestieren und wirken sich insgesamt erheblich auf die psychosoziale Situation des Betrof- fenen und seine weitere Entwicklung aus (vgl. LAUTH & SCHLOTTKE 2009, S.5-8, 29-30; DÖPFNER ET AL. 2000a, S.178).

Die Person mit ADHS kann nicht unabhängig von ihrer sozialen Lebenswelt gesehen werden, da sie mit dieser in permanenten Austauschprozessen und wechselseitigen Interaktionen steht (vgl. SIMON 1991, S.114-115). Die vorlie- gende Symptomatik, ihre Begleit- und Folgeprobleme und nachhaltigen Ent- wicklungsbeeinträchtigungen werden besonders in der Familie als permanente Belastung erlebt (vgl. STAPPER 1991, S.18; BARKLEY 2005, S.181-182). Die Er- ziehung ist erschwert und fordert die Eltern täglich heraus: aufgrund der bei ADHS anzutreffenden Symptome bedürfen die Kinder ein erhöhtes Maß an Kontrolle, Struktur, Grenzsetzungen etc. (vgl. BARKLEY 2005, S.23-24, 181-182). Vor allem die externalisierenden Merkmale der Störung (extreme motorische Unruhe und Impulsivität) belasten die Eltern und deren Beziehung zu ihrem Kind. Es kommt zu Störungen in den Familieninteraktionen, die sich zusammen mit gestörten Eltern-Kind-Beziehungen negativ auf das Erziehungsverhalten und das familiäre Klima auswirken können (vgl. DÖPFNER ET AL. 2000a, S.178; LAUTH & SCHLOTTKE 2009, S.6-7). Heftige Konflikte, Streitigkeiten und Eskalati- onen gehören zum Familienalltag. Die Eltern erfahren mehrmals täglich, dass von ihnen gesetzte Regeln missachtet, gegebene Anweisungen oftmals nicht erfüllt werden. Infolgedessen fühlen sie sich in ihrer Erziehungskompetenz ein- geschränkt und erleben, dass ihre erzieherischen Methoden beim Kind nicht zur intendierten Wirkung führen (vgl. DÖPFNER ET AL. 2007, S.27; DÖPFNER ET AL. 2000a, S.178). Zudem sind sie oft Schuldzuweisungen von Seiten der sozialen Umwelt ausgesetzt, welche die Eltern für die Symptomatik ihres Kindes verant- wortlich macht und ihnen Nachlässigkeit in der Erziehung, wenig Strukturierung, Konsequenz und Grenzsetzungen unterstellt (vgl. BARKLEY 2005, S.43-44).

Gerade im Zuge unserer heutigen Gesellschaft lastet auf den Eltern im Allge- meinen und bei Eltern eines Kindes mit ADHS im Besonderen ein enormer Druck – nicht zuletzt wegen der hohen Leistungsorientierung der westlichen Industrieländer (vgl. HURRELMANN & BRÜNDEL 2003, S.130-132). Obwohl die Familie immer noch als elementare Sozialisationsinstanz fungiert, ist das Kind Einflüssen von außen (z.B. Erziehungs- und Bildungsinstitutionen, Massenme- dien und Freizeiteinrichtungen) stärker ausgesetzt als noch vor 40 Jahren (vgl. www.erziehungstrends.de; HURRELMANN & BRÜNDEL 2003, S.96, 110; NAVE- HERZ 2004, S.88-91; ROLFF & ZIMMERMANN 1997, S.139, 143-144). Soziologi- sche Gegenwartsdiagnosen weisen auf eine Vervielfältigung der Lebensstile hin, mit vermehrten Individualisierungstendenzen, einem Verlust traditioneller Werte und Normen gepaart mit einer Orientierungslosigkeit angesichts des brei- ten Spektrums an biographischen Möglichkeiten: einer Multioptionsgesellschaft (vgl. GROSS 1994, S.58-64, 68-70; HURRELMANN & BRÜNDEL 2003, S.37-38).

Das Kernproblem der psychosozialen Situation der Eltern besteht darin, dass sie „beschuldigt, aber nicht geschult“ werden (GORDON 2009, S.11). Hieraus ergibt sich der Bedarf von Elterntrainings als Behandlungsmaßnahme bei ADHS. Elterntrainings stützen sich auf die durch die Forschung bestätigte Er- kenntnis, dass die soziale Lebenswelt des Kindes eine wesentliche Einfluss- größe bezüglich Verlauf und Schweregrad der Störung bildet (vgl. DÖPFNER ET AL. 2006, S.34; BARKLEY 2005, S.143).

Die Ausführungen liefern stichhaltige Argumente für die Beschäftigung mit dem Elterntraining als eine Form der Intervention, die in der unmittelbaren Lebens- welt der betroffenen Kinder und Jugendlichen ansetzt. Weiterhin erscheint eine eingehende Betrachtung des Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndroms innerhalb der vorliegenden Arbeit aus zwei Gründen gerechtfertigt. Zum einen richtet sich das im Rahmen der vorliegenden Arbeit evaluierte Elterntraining in erster Linie an Eltern von Kindern mit ADHS. Zum anderen führen die grundle- genden Informationen bezüglich des Störungsbildes ADHS, seinen Ursachen und verschiedenen Behandlungsansätzen in die Thematik ein und bilden das Fundament für ein tieferes Verständnis verschiedener Inhalte des Elterntrai- nings. Zudem kann aus der Darstellung des derzeitigen Forschungsstandes zu ADHS der Bedarf und die Notwendigkeit familienzentrierter Interventionen auf- gezeigt werden.

Demnach ist es das Ziel der vorliegenden Arbeit, wissenschaftlich fundierte In- formationen zum Störungsbild zusammenzustellen und ADHS aus unterschied- lichen Perspektiven zu beleuchten. In der aktuellen Literatur findet sich eine Fülle an verschiedenen Informationen aus Theorie und Praxis sowohl empirisch gesicherter, als auch Behauptungen, die angesichts des heutigen Erkenntnis- stands nicht haltbar sind. Das vorliegende Dokument soll eine Zusammenschau der wesentlichen empirisch gesicherten Erkenntnisse bezüglich ADHS darstel- len. Weiterhin wird auf Interventionsmöglichkeiten, welche den aktuellen Be- handlungsleitlinien und Empfehlungen entsprechen, näher eingegangen und in wesentliche Aspekte von Elterntrainings eingeführt. Daran anknüpfend wird das evaluierte Elterntraining vorgestellt und im Anschluss in Bezug auf seine Effek- tivität hinsichtlich verschiedener Aspekte untersucht.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Gliederung der vorliegenden Arbeit

Zur Darstellung des Themenbereichs wird zunächst der theoretische Hinter- grund beleuchtet. Dabei sollen Grundlagen des Aufmerksamkeitsdefizitsyn- droms mit bzw. ohne Hyperaktivität anhand der Begriffsbestimmung (Kap. 2.1), Klassifikation (Kap. 2.2) und Symptomatik (Kap. 2.3) vermittelt werden, um we- sentliche Kenntnisse für das vorliegende Störungsbild zu schaffen. Zudem wer- den der aktuelle Forschungsstand bezüglich Pathogenese (Kap. 2.4) und ver- schiedene Behandlungsansätze (Kap. 2.5) dargestellt, um im Anschluss Eltern- trainings als Interventionsmöglichkeit im Allgemeinen vorzustellen (Kapitel 3). Schließlich wird das im Rahmen dieser Untersuchung evaluierte Elterntraining beschrieben (Kap. 4).

Aus dieser Synopse resultierend werden in Kapitel 5 die eigenen Fragestellun- gen und Annahmen aufgezeigt, welche zur Bildung der zu erhebenden Variab- len in Kapitel 6 führen. Es folgt die Vorstellung von Methodik und Untersu- chungsdesign (Kap. 7), welche die durchgeführte Fragebogenerhebung der Teilnehmer des Elterntrainings umfasst. Anschließend werden die gewonnen Daten im Ergebnisteil dargestellt (Kap. 8) und diskutiert (Kap. 9). Den Ab- schluss der vorliegenden Arbeit bilden die aus der Untersuchung hervorgegan- genen praktischen und theoretischen Konsequenzen sowie ein Ausblick zukünf- tiger Entwicklungen (Kap. 10).

An dieser Stelle sei anzumerken, dass die Reduktion auf das männliche Ge- schlecht bei Bezeichnungen von Personengruppen (z.B. „Teilnehmer“ oder „Er- zieher“) ausschließlich aus Gründen der komfortablen Lesbarkeit vorgenommen wird und weibliche Personen mit einschließt. Dies ist nicht als Diskriminierung zu verstehen.

Die Angabe von Zitaten oder Verweisen erfolgt im Text entweder nach dem be- treffenden Satz oder am Ende eines Absatzes für alle enthaltenen Sätze. Die Quellenverweise orientieren sich an KARMASIN & RIBING (2009): „Nachname, Jahreszahl, Seitenangabe“ (KARMASIN & RIBING 2009, S.94). Fußnoten werden für eventuelle Ergänzungen zum Geschriebenen verwendet.

In der vorliegenden Arbeit wird die Abkürzung AD(H)S analog zur Bezeichnung Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung verwendet. Indem die Hyperak- tivität in Klammern gesetzt wird, umfasst die Abkürzung sowohl Aufmerksam- keitsstörungen mit als auch solche ohne Hyperaktivität und Impulsivität. Des Weiteren soll die Abkürzung AD(H)S eine komfortablere Lesbarkeit angesichts des häufig verwendeten Begriffs gewährleisten.

Teil I: Einführung in die Thematik

Der folgende theoretische Teil der Arbeit umfasst die Darstellung des Störungs- bildes Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit bzw. ohne Hyperaktivität, wobei auf Begriff, Klassifikation und Symptomatik eingegangen sowie Ursachen und Interventionsmöglichkeiten vorgestellt werden (Kap. 2). Anschließend wird auf Elterntrainings als eine Form der familienzentrierten Intervention eingegangen (Kap. 3).

2. Das Störungsbild Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit bzw. ohne Hyperaktivität

Um die psychische Störung Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit bzw. ohne Hy- peraktivität näher umreißen zu können, wird zunächst das dieser Arbeit zugrun- deliegende Begriffsverständnis des Störungsbildes AD(H)S dargelegt.

2.1. Begriff

Der Begriff des Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms mit und ohne Hyperaktivität bezeichnet ein neurologisches Syndrom, das unter anderem „(…) durch die Schwierigkeit gekennzeichnet ist, die Aufmerksamkeit auf eine Sache aufrecht- zuerhalten“ (SIEGLER ET AL. 2005, S.456).

Die American Psychiatric Association (APA) führte 1987 in der dritten Revision des Diagnostischen und Statistischen Manuals für psychische Störungen (DSM- III-R) die Bezeichnung Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung ein (vgl. LAUTH UND SCHLOTTKE 2009, S.9). Aktuell findet sich in der Textrevision des DSM-IV der Begriff „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung“ (DSM-IV- TR von SAß ET AL. 2003, S.118). Entgegen früherer Bezeichnungen wie bei- spielsweise „Minimale cerebrale Dysfunktion (MCD)“ bzw. „Minimal Brain Dysfunction (MBD)“ oder „Psychoorganisches Syndrom (POS)“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (welche eine Hirnschädigung als einzigen wichtigen Faktor sahen) orientierte man sich seit den 1960er Jahren stärker an den Ver- haltensmerkmalen der Störung (vgl. ROTHENBERGER & NEUMÄRKER 2010, S.13; LAUTH & SCHLOTTKE 2009, S. 9). International fand der Begriff „Hyperkinetisches Syndrom (HKS)“ des Klassifikationssystems psychischer Störungen der Welt- gesundheitsorganisation WHO (ICD-9)2 über lange Zeit große Verbreitung, bis er schließlich 1991 durch die Bezeichnung „Hyperkinetische Störung“ bzw. „ein- fache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung“ (ICD-10) abgelöst wurde, wel- che durch hyperaktives Verhalten und einer deutlichen Aufmerksamkeitsstörung charakterisiert ist (vgl. ROTHENBERGER & NEUMÄRKER 2010, S.17; NEUHAUS 2002, S.15).

Seit 1980 differenziert die American Psychiatric Association zwischen Aufmerk- samkeitsstörungen mit und solchen ohne Hyperaktivität (vgl. KETTLER & WEGE- NER 2000, S.10) und stufte damit die motorische Unruhe (welche zuvor stets als ein für die Störung verbindliches Kardinalsymptom galt) „(…) als möglichen, jedoch keinesfalls zwangsläufigen und schon gar nicht als dominierenden Be- standteil der Störung (…)“ (LAUTH & SCHLOTTKE 2009, S.9) ein. Gleichzeitig wurde dem Aspekt der Aufmerksamkeit mehr Beachtung geschenkt: Defizite hinsichtlich der Fähigkeit, die Aufmerksamkeit „(…) willentlich und situationsge- recht sofort aktivieren und aufrechtzuerhalten (...) sowie impulsive Reaktionen kontrollieren zu können“ (NEUHAUS 2009, S.13) rückten verstärkt in den Fokus des Klassifikationssystems DSM. LAUTH & SCHLOTTKE (2009) sehen die Hervor- hebung der Aufmerksamkeit sowohl in der Störungskonzeption als auch im Be- griff der Störung selbst als „(…) Ausdruck einer veränderten und offeneren Sichtweise“ (LAUTH & SCHLOTTKE 2009, S.9). Aufmerksamkeitsstörungen bilden seit 1980 zusammen mit der Hyperaktivität die Trias der Kernsymptome, welche Impulsivität bzw. mangelnde Impulskontrolle, Unaufmerksamkeit/Ablenkbarkeit sowie allgemeine motorische Unruhe umfasst. Letzteres muss aber nicht zwin- gend auftreten, wenn eine Aufmerksamkeitsstörung diagnostiziert wird, da es (wie im DSM-IV eingeführt) auch die Variante des Aufmerksamkeitsdefizitsyn- droms ohne bzw. mit schwach ausgeprägter Hyperaktivität gibt. So findet man in der aktuellen Literatur fast durchgängig die Bezeichnung Aufmerksamkeits- defizitsyndrom1 (ADS), wenn die Komponente Hyperaktivität nicht oder nicht sehr stark ausgeprägt ist, sowie den Begriff Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit Hyperaktivität (ADHS), sofern alle drei Hauptsymptome vorhanden sind (Impul- sivität und Unaufmerksamkeit einschließlich Hyperaktivität). Parallel dazu lauten die englische Bezeichnungen „attention deficit disorder“ (ADD) bzw. „attention deficity hyperactivity disorder“ (ADHD). Letztere bezieht den Aspekt der motori- schen Unruhe mit ein (vgl. FREED/PARSONS 2001, S.29; NEUHAUS 2002, S. 14; SAß ET AL. 2003, S.118). Die Unterscheidung der Störung mit und ohne Hyper- aktivitätskomponente (vgl. NEUHAUS 2002, S. 14) drückt sich in der Differenzie- rung verschiedener Subtypen des Diagnostischen und Statistischen Manuals aus, auf welche im Folgenden noch näher eingegangen wird (siehe Kapitel Subtypen).

Nach HOLOWENKO (1999) handelt es sich bei dem Störungsbild AD(H)S um eine „(…) Verhaltensdiagnose für einen medizinischen Zustand, der eine gemischte Gruppe von störenden Verhaltensmustern beschreibt“ (HOLOWENKO 1999, S.19), welche Probleme in verschiedenen Bereichen hervorrufen kann. Ange- führt werden Entwicklung, Verhalten und Leistung, Familienbeziehungen sowie soziale Interaktion (vgl. ebd.). Auf derartige Auswirkungen der Störungsmerk- male wird an anderer Stelle der Arbeit eingegangen3.

Nachdem der Begriff des Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms mit bzw. ohne Hy- peraktivität definiert wurde, sollen im Folgenden grundlegende Aspekte der Klassifikation des Störungsbildes erläutert werden.

2.2. Klassifikation

Die Diagnosesysteme ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation und DSM-IV der American Psychiatric Association weisen deutliche Konvergenzen hinsicht- lich der einzelnen Symptome des Störungsbildes auf, unterscheiden sich aber in Bezug auf die diagnostische Bezeichnung sowie in der Kombination der Symptomkriterien zu Diagnosen (vgl. DÖPFNER ET AL. 2007, S.11-13).

So findet sich zwischen den beiden Klassifikationssystemen bezüglich der ein- zelnen Symptomkriterien hohe Übereinstimmung4. Des Weiteren gehen ICD-10 und DSM-IV in folgenden Aspekten weitgehend konform, indem festgelegt wird, dass...

- „die Symptome mindestens sechs Monate lang in einem dem Entwick- lungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenem Ausmaß vorliegen;
- die Störungen oder einige beeinträchtigende Symptome der Störung be- reits vor dem Alter von sieben Jahren auftreten;
- die Beeinträchtigungen durch diese Symptome sich in zwei oder mehr
-ebensbereichen manifestieren; sowie
- deutliche Hinweise auf klinisch bedeutsame Beeinträchtigungen in sozia- len, schulischen oder beruflichen Funktionsbereichen vorhanden sein müssen“ (DÖPFNER ET AL. 2008, S.258).

2.2.1. Subtypen

Deutliche Unterschiede zwischen den beiden Klassifikationssystemen kommen in der Kombination der Symptomkriterien zu Diagnosen zum Ausdruck.

Für die Diagnose einer „einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstö- rung“ (F90.0) (welche unter „hyperkinetische Störungen“ (F90) gefasst werden) müssen nach ICD-10 alle drei Kernsymptome in mindestens zwei Lebensberei- chen (situationsübergreifend) vorliegen: ausgeprägte Aufmerksamkeitsstörun- gen (sechs von neun Symptomkriterien müssen vorhanden sein), Hyperaktivität (drei von fünf Symptomkriterien müssen erfüllt sein) und Impulsivität (eins von vier Symptomkriterien muss vorliegen) (vgl. DILLING ET AL. 2008 S. 317-321; DÖPFNER ET AL. 2007, S.13-14).

Das DSM-IV führt die Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung unter der Überschrift „Störungen der Aufmerksamkeit, der Aktivität und des Sozialverhal- tens“ (vgl. SAß ET AL. 2003, S.118) auf und spezifiziert drei Subtypen:

- A u f merksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung, Mischtypus (314.01), wenn eine Aufmerksamkeitsstörung (mindestens sechs von neun Symptomkriterien werden erfüllt) sowie Hyperaktivität/Impulsivität4 (sechs von neun Symptomkriterien) vorliegen. Nach DSM-IV entspre- chen diesem Typ die meisten Kinder und Jugendlichen mit dieser Stö- rung (vgl. ebd. S.120).
- A u f merksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, vorwiegend unauf- merksamer Typus (314.00), wenn sechs (oder mehr) Symptomkriterien von Unaufmerksamkeit bei nicht oder nicht hinreichend starker Ausprä- gung von Hyperaktivität/Impulsivität (weniger als sechs Symptome) auf- treten (vgl. ebd. S.120-121).
- A u f merksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, vorwiegend hyper-aktiv-impulsiver Typus (314.01), wenn vor allem Hyperaktivi- tät/Impulsivität (sechs oder mehr Symptome) bei nicht oder nicht hinrei- chend starker Ausprägung von Aufmerksamkeitsstörungen (weniger als sechs Symptome von Unaufmerksamkeit) vorliegt (vgl. ebd. S.121).

Die ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation fasst das Störungsbild enger und unterscheidet zwischen:

- e infache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F.90.0)

- h y perkinetische Störung des Sozialverhaltens (F.90.1)

- A u f merksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität, welche unter „andere Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend“ (F98) bei „sonstige andere Verhaltens- und emotionale Störun- gen mit Beginn in der Kindheit und Jugend“ (F.98.8) zu finden ist (vgl. DILLING ET AL. 2008, S.320-321, 349).

Abbildung 4 (siehe S.xxiii) im Anhang verdeutlicht die angeführten Unterschiede in der diagnostischen Bezeichnung und der Kombination der Symptomkriterien zu Diagnosen.

Die ICD-10 sieht Kombinationsdiagnosen für jene Störungen vor, die gehäuft gemeinsam auftreten – das DSM-IV vergibt in diesem Fall Mehrfachdiagnosen. Des Weiteren ordnet das DSM-IV Jugendlichen und Erwachsenen, die zum Untersuchungszeitpunkt Symptome zeigen, die nicht mehr alle Kriterien erfül- len, eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung „in partieller Remis- sion“ zu - diese Möglichkeit bieten die Forschungskriterien der ICD-10 nicht (vgl. DÖPFNER ET AL. 2007, S.15). Beide Klassifikationssysteme weisen die Ka- tegorie einer nicht näher bezeichneten hyperkinetischen Störung bzw. Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung auf, wenn einzelne Kriterien nicht voll erfüllt sind (vgl. ebd.).

2.2.2. Ausschlusskriterien

Die Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV stimmen darin überein, dass die Diagnose einer tiefgreifenden Entwicklungs- und affektive Störungen (z.B. Autismus, Schizophrenie, Angststörung) ausgeschlossen werden muss (vgl. LAUTH & LINDERKAMP 2000, S.136; DÖPFNER ET AL. 2007, S.13).

Nach dem Diagnosesystem der Weltgesundheitsorganisation gehören depres- sive Episoden neben Angststörungen ebenfalls zu den Ausschlusskriterien. Das DSM-IV führt an, dass die vorliegenden Symptome nicht besser durch eine an- dere psychische Störung (beispielsweise dissoziative Störung, Angst- oder Af- fektstörung, Persönlichkeitsstörung) erklärt werden können (vgl. DÖPFNER ET AL. 2007, S.13). Können die Symptome somit durch eine andere psychische Stö- rung besser erklärt werden, wird die Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitäts- störung nicht diagnostiziert - ebenso wenig, wenn sie auf die Einnahme von Medikamenten zurückgeführt werden können (vgl. SAß ET AL. 1996, S.125). Liegt eine geistige Behinderung vor, sollte die Aufmerksamkeitsdefizit- /Hyperaktivitätsstörung nur zusätzlich gestellt werden, wenn die Symptomkriterien von Hyperaktivität oder Unaufmerksamkeit „(…) für das Intel- ligenzalter des Kindes übermäßig stark ausgeprägt sind“ (ebd.).

Des Weiteren sollten vergleichbare Symptome aufgrund von belastenden Er- lebnissen, schulischer Unter-/Überforderung oder Intelligenzminderung, als Fol- ge chaotischer psychosozialer Bedingungen oder emotionalen Problemen diffe- rentialdiagnostisch ausgeschlossen werden (vgl. FREED & PARSONS 2001, S.33; DÖPFNER ET AL. 2007, S.16-17). Dies betrifft ebenfalls vorübergehende Lern- und Leistungsschwierigkeiten sowie die Möglichkeit einer reaktiven Genese der Aufmerksamkeitsstörung (kritische Lebensereignisse wie z.B. Trennung der Eltern, Verlust von Bezugspersonen) (vgl. LAUTH & LINDERKAMP 2000, S.136). Näheres zur Differentialdiagnose kann DÖPFNER & STEINHAUSEN (2010a) ent- nommen werden.

2.2.3. Komorbidität

AD(H)S tritt häufig gemeinsam mit sonstigen psychischen Störungen auf: aus zahlreichen klinischen Beobachtungen hinsichtlich des gemeinsamen Vorkom- mens von ADHS mit weiteren psychischen Störungen ergibt sich eine weitere Störung bei bis zu 85% und multiple Komorbiditäten bei bis zu 60% der Fälle (vgl. STEINHAUSEN 2010b, S.174).

Aus einer Meta-Analyse von ANGOLD ET AL. (1999) geht hervor, dass ein ge- meinsames Auftreten von AD(H)S und Störungen des Sozialverhaltens bei gro- ßen Feldstudien mit einem Chancenverhältnis von fast 11 vorkommt. Diese Kombination stellt die häufigste kinder- und jugendpsychiatrische Komorbidität dar (vgl. STEINHAUSEN 2010b, S.173). In einer Untersuchung von STEINHAUSEN und Mitarbeitern (1998) – der Zurich Epidemiological Study of Child and Adolescent Psychopathology ZESCAP – konnte (bei einer Prävalenzrate von 5.3% gemäß DSM-III-Kriterien) bei fast der Hälfte der Fälle eine Komorbidität festgestellt werden, wobei es sich meistens um ein gemeinsames Auftreten von AD(H)S mit Störungen des Sozialverhaltens oder Angst handelte (vgl. ebd.). Das gemeinsame Vorliegen von ADHS mit oppositionellem Verhalten wird mit etwa 40% angegeben (vgl. LAUTH & SCHLOTTKE 2009, S.25).

Des Weiteren finden sich Komorbiditäten mit Lernstörungen und Schulleis- tungsdefiziten (etwa 11-25%) sowie emotionale Auffälligkeiten (z.B. Angststö- rungen bei 25-40%, depressive Störungen und sozialer Rückzug mit etwa 60%, affektive Störungen mit 16%) (vgl. DÖPFNER 2000 S.154). Die emotionalen Auf- fälligkeiten können als Folge der vielen Ablehnungen, permanentem negativen Feedback und Misserfolgen in sozialen und in Leistungssituationen gesehen werden (vgl. ebd.), was im Kapitel 2.3.3 Begleit- und Folgesymptomatik näher ausgeführt wird. Eine Übersicht komorbider Störungen und deren jeweilige Häu- figkeit in Prozent findet sich in Tabelle 8 im Anhang.

Es folgt eine Darstellung der Symptomatik des Störungsbildes AD(H)S, welche neben den Kernmerkmalen Aufmerksamkeitsstörung, Impulsivität und Hyperak- tivität problematische Situationen, in denen das auffällige Verhalten vermehrt auftritt, umfasst. Des Weiteren sollen die aus der Symptomatik resultierenden Auswirkungen und Begleitprobleme aufgezeigt und auf die sich daraus erge- bende Entwicklungsgefährdung eingegangen werden, um ein tieferes Ver- ständnis des Störungsbildes AD(H)S zu gewährleisten.

2.3. Symptomatik

Entgegen der relativ neuen Bezeichnung Aufmerksamkeitsdefizit- /Hyperaktivitätsstörung lässt sich hinsichtlich der Symptomatik auf eine längere Geschichte zurückblicken (vgl. SIEGLER ET AL. 2005, S.456). So konnten motori- sche Überaktivität, Unaufmerksamkeit bzw. erhöhte Ablenkbarkeit und Impulsi- vität bei Kindern schon vor Jahrhunderten beobachtet werden. Viele Autoren verweisen in diesem Zusammenhang auf Geschichten wie den „Zappelphilipp“ und „Hans-guck-in-die-Luft“ des Frankfurter Nervenarztes HEINRICH HOFFMANN von 1845, in welchen er Verhaltensauffälligkeiten im Kindesalter beschreibt, die denen von AD(H)S ähnlich sind (vgl. NISSEN/TROTT 1995, S.239; SCHLEIDER 2009, S.28-29; STEINHAUSEN 2000b, S.9; LAUTH & SCHLOTTKE 2009, S.2; NEU- HAUS 2009, S.12) .

Weitere Ausführungen Mitte des 19. Jahrhunderts finden sich bei CLOUSTON (1899), LAEHR (1875), BOURNEVILLE (1897) und IRELAND (1877) (vgl. ROTHEN- BERGER & NEUMÄRKER 2010, S.11). Erste fachliche Beschreibungen der Störung liefert 1902 GEORGE F. STILL, der zusätzlich zur motorischen Unruhe eine „(…) abnorme Unfähigkeit, die Aufmerksamkeit aufrecht zu erhalten (…)“ (SCHLEIDER 2009, S.29) sowie das Verlangen nach sofortiger Bedürfnisbefriedigung nennt (vgl. NEUHAUS 2009, S.12), die er biologisch begründet sieht (vgl. ROTHENBER- GER & NEUMÄRKER 2010, S.12).

2.3.1. Kernmerkmale

Die von einer AD(H)S betroffenen Kinder weisen verglichen mit Gleichaltrigen ausgeprägte Auffälligkeiten meist in drei Kernbereichen auf: Störungen der Aufmerksamkeit, Konzentrationsschwächen, impulsives Verhalten und Hyper- aktivität (vgl. DÖPFNER ET AL. 2006, S.13). Auf diese soll im Folgenden näher eingegangen werden, um einen tieferen Einblick in das Störungsbild AD(H)S zu gewährleisten.

Störungen der Aufmerksamkeit äußern sich darin, dass „Aufgaben vorzeitig abgebrochen und Tätigkeiten nicht beendet werden“ (DÖPFNER ET AL. 2008, S.257), was sich vor allem bei solchen Beschäftigungen zeigt, die kognitiven Einsatz bzw. geistige Anstrengungen erfordern (vgl. DÖPFNER ET AL. 2006, S.13). Die Kinder zeigen Schwierigkeiten, ihre Aufmerksamkeit dauerhaft auf die Bearbeitung einer Aufgabe zu richten und wechseln häufig von einer Aktivi- tät bzw. Aufgabe zu einer anderen. Viele Autoren vermuten, dass das Interesse an einer Aufgabe abnimmt, „(…) weil sie zu einer anderen hin abgelenkt wer- den“ (DÖPFNER 2000, S.152). Neben der kurzen Aufmerksamkeitsspanne fällt es ihnen schwer, Einzelheiten zu beachten, ihre Aktivitäten zu organisieren bzw. strukturieren sowie sich beim Lösen von Aufgaben dauerhaft auf ihr Ziel zu konzentrieren (vgl. LAUTH & SCHLOTTKE 2009, S. 3-4). Infolgedessen kommt es häufig zu Flüchtigkeitsfehlern – die betroffenen Kinder erscheinen unordent- lich und vergesslich, sind leicht ablenkbar und wenden sich schnell neuen, inte- ressanter erscheinenden Dingen zu (vgl. DÖPFNER ET AL. 2007, S.3). Selbst- strukturierung und -orientierung sind eher mangelhaft ausgebildet (vgl. FITZNER/STARK 2000, S.27).

Menschen mit ADHS sind sowohl in ihrer Daueraufmerksamkeit als auch in ih- rer Fähigkeit zur selektiven Aufmerksamkeit eingeschränkt: Ersteres umfasst die Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit bezüglich einer Aufgabe über länge- re Zeit, Letzteres betrifft die Fokussierung auf aufgabenrelevante Reize bei gleichzeitigem Ignorieren irrelevanter Reize (vgl. DÖPFNER ET AL. 2007 S.2-3). Die eben erwähnte Ablenkbarkeit wird als Zeichen verminderter selektiver Auf- merksamkeit gesehen (vgl. DÖPFNER 2000, S.152). Eine stärkere Ausprägung der Aufmerksamkeitsstörungen findet sich vermehrt bei fremdbestimmten Tä- tigkeiten – in diesem Zusammenhang können bspw. Hausaufgaben und Aufga- ben in der Schule genannt werden (vgl. DÖPFNER ET AL. 2008, S.257)

Aktuelle Forschungen sehen in der Herstellung von Aufmerksamkeit nicht nur „(…) eine mehr oder minder ausgeprägte Fähigkeit“ (DÖPFNER ET AL. 2007, S.3), sondern einen aktiven psychischen Prozess - Aufmerksamkeitsleistungen un- terliegen zu einem großen Teil dem Einfluss von motivationalen Prozessen (vgl. ebd.). Da viele Kinder ihre Aufmerksamkeit durch Aktivierung 5 angemessen auf- rechterhalten können, handelt es sich nach Ansicht einiger Wissenschaftler so- mit nicht um einen Daueraufmerksamkeitsmangel per se (vgl. SCHÄFER 2001, S.20).

NEUHAUS verweist in diesem Zusammenhang auf extreme Konzentrationsleis- tungen, sofern eine Tätigkeit aus Eigeninteresse angegangen wird (vgl. NEU- HAUS 2009, S.54). EDWARD M. HALLOWELL und JOHN J. RATEY gehen nicht von einer Aufmerksamkeits schwäche, sondern vielmehr von einer Aufmerksam- keits inkonsistenz aus; so „hyperfokussieren“ die meisten Menschen mit AD(H)S teilweise sogar (vgl. HALLOWELL/RATEY 2000, S.269).

Neben Aufmerksamkeitsstörungen gehört eine mangelnde Impulskontrolle bzw. Impulsivität zu den Kernsymptomen bei AD(H)S. Sie drückt sich zum einen in der Tendenz aus, plötzlich und unüberlegt, sich aus den ersten Hand- lungsimpulsen heraus zu verhalten sowie darin, eine Tätigkeit schon anzufan- gen, ehe sie ausreichend durchdacht oder vollständig erklärt wurde (kognitive Impulsivität ) (vgl. DÖPFNER 2006, S.252). STEINHAUSEN (2006) spricht in die- sem Zusammenhang von Impulsivität als „Ausdruck mangelnder Verhaltens- kontrolle“ (STEINHAUSEN 2006, S.124). Des Weiteren ist die Fähigkeit der Kin- der, Bedürfnisse bzw. Belohnungen aufzuschieben, nur mangelhaft ausgeprägt und sie haben Probleme abzuwarten, bis sie an der Reihe sind (motivationale Impulsivität ) (vgl. BARKLEY 2005, S.72-73; SCHÄFER 2001, S.20-21; DÖPFNER 2000, S.152; DÖPFNER ET AL. 2007, S.3-4; DÖPFNER ET AL. 2006, S.14-15). Zu- dem können längerfristige Konsequenzen nur mangelhaft in Überlegungen mit einbezogen werden (vgl. NEUHAUS 2009, S.45). Es wird aus dem ersten Impuls heraus gehandelt, ohne vorher innezuhalten und zu überlegen, wie man Han- deln bzw. sich verhalten soll (fehlende Metakognition). In der Folge ist das Ler- nen aus Erfahrung sehr begrenzt (vgl. LAUTH ET AL. 2000, S.61). Daneben kommt es zu emotionaler Impulsivität , welche sich in einem raschen Stim- mungswechsel und einer verminderten Frustrationstoleranz manifestiert. Letzte- res geht des Öfteren mit heftigen Wutausbrüchen einher (vgl. SCHÄFER 2001, S.22).

Nach BARKLEY (2005) liegt ein Mangel an Selbstbeherrschung vor - den Betrof- fenen fällt es schwer, „sich zurückzuhalten“ sowie „Impulse zu kontrollieren“ (BARKLEY 2005, S.72). Einfälle möchten sofort umgesetzt, spontane Reaktionen auf eine momentane Situation können nur schwer unterdrückt werden: die Per- son mit AD(H)S handelt aus dem Hier und Jetzt heraus, mit negativen Auswir- kungen auf soziale Beziehungen und dem schulischen Bereich (vgl. ebd., S.72- 73). Es kommt zu Regelverstößen sowie dem Stören oder Unterbrechen ande- rer Personen aus dem Umfeld. In diesem Zusammenhang nennt NEUHAUS (2009) eine „eingeschränkte Steuerungsfähigkeit der Bewegungsimpulse und sprachlicher Äußerungen“ (NEUHAUS 2009, S.45). Des Weiteren reagieren Per- sonen mit AD(H)S übermäßig, fühlen sich schnell provoziert und neigen zu starken Stimmungsschwankungen (vgl. FITZNER/STARK 2000, S.27).

Daneben ist eine extreme Neigung zu gefährlichen und unbedachten Aktivitäten erkennbar, welche sich nicht selten in einem Stimulationsbedürfnis (sensation seeking) in Form von einer ständigen Suche nach neuen Reizen und Abenteu- ern manifestiert. Daraus resultieren häufig Unfälle und Verletzungen - nicht zu- letzt, weil längerfristige Konsequenzen im Handeln nicht mit einbezogen werden können (vgl. MURPHY-WITT 2000, S.10, 27; NEUHAUS 2009, S.45; LAUTH & SCHLOTTKE 2009, S.4; HOLOWENKO 1999, S.19; SCHÄFER 2001, S.20-21; EICHLSEDER 1999, S.34).

Hyperaktivität umfasst in erster Linie „(…) desorganisierte, mangelhaft regu- lierte und überschießende motorische Aktivität (…)“ sowie „(…) exzessive Ru- helosigkeit“, welche besonders in solchen Situationen zu Tage treten, die „(…) relative Ruhe verlangen“ (DÖPFNER 2000, S.152) Diese extreme körperliche Unruhe zeigt sich v.a. in „(…) strukturierten und organisierten Situationen, die ein hohes Maß an eigener Verhaltenskontrolle erfordern“ (DÖPFNER ET AL. 2008, S.258) und gilt als das Merkmal, welches meist zuerst wahrgenommen wird (vgl. NISSEN/TROTT 1995, S.239).

Die Überaktivität betrifft sowohl grob- als auch feinmotorische Bereiche und manifestiert sich in äußerst expansivem Verhalten sowie einem hohen Ausmaß zielloser Aktivität, welche durch das soziale Umfeld als nicht durchgreifend be- einflussbar scheint (vgl. DÖPFNER ET AL. 2007, S.4). Die Kinder zappeln herum, rutschen auf ihrem Stuhl umher, schaukeln und stehen in Situationen auf, in denen Sitzen bleiben erwartet wird (z.B. in der Schule). Sie summen vor sich her oder singen, wenn sie still sein sollen, sind unruhig, zappelig, klettern und laufen scheinbar ziellos umher und haben einen sehr ausgeprägten Rededrang (vgl. LAUTH 2001, S.581; DÖPFNER ET AL. 2006, S.15; BARKLEY 2005, S.76-77). Nach BARKLEY (2005) gelingt es Personen mit AD(H)S nicht, ihren Aktivitätspe- gel genügend zu regulieren bzw. den situativen Anforderungen anzupassen (vgl. BARKLEY 2005, S.77-78).

Zur Beurteilung eines Kindes als hyperaktiv oder nicht sollte mit Kindern glei- chen Alters verglichen werden. Somit stellt sich die Frage, ob die „(…) Aktivität im Verhältnis zu dem extrem ausgeprägt ist, was in der gleichen Situation von gleichaltrigen Kindern mit gleicher Intelligenz zu erwarten wäre“ (DÖPFNER ET AL. 2007, S.4).

DÖPFNER, SCHÜRMANN und LEHMKUHL (2006) weisen im Zusammenhang der genannten Kardinalsymptome darauf hin, dass es sich hierbei um ganz normale Entwicklungserscheinungen handelt, jedoch das jeweilige Ausmaß und die Stärke entscheidend sind (vgl. DÖPFNER ET AL. 2006, S.13). Sie werden bei Kin- dern mit AD(H)S „(…) nahezu regelmäßig (…)“ und durchaus „(…) weit häufiger und ausgeprägter als bei klinisch unauffälligen Kindern im vergleichbaren Ent- wicklungsalter beobachtet“ (LAUTH & SCHLOTTKE 2009, S.3) und sind dem Alter und der Intelligenz des Kindes nicht angemessen (vgl. SCHÄFER 2001, S.23).

Wie aus der eingangs aufgezeigten Differenzierung zwischen einem Aufmerk- samkeitsdefizitsyndrom mit bzw. ohne Hyperaktivität hervorgeht6 wird in der aktuellen Literatur darauf verwiesen, dass Hyperaktivität beim Störungsbild vor- liegen kann, aber nicht muss (vgl. FREED/PARSONS 2001, S.29). So können die Symptombereiche je nach individueller Ausprägung der Störung gemeinsam oder getrennt auftreten. Des Weiteren lässt sich mit STEVENS & WARD-ESTES (2006) festhalten, dass sich die Symptome beim Störungsbild AD(H)S meist gegenseitig verstärken (vgl. COMER 2008, S.457).

2.3.2. Problemsituationen

Beim Störungsbild AD(H)S liegt eine Variabilität des Verhaltens vor. Zwar hal- ten die beiden Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV eine Situationsunab- hängigkeit bezüglich der Symptome fest (vgl. DILLING ET AL. 2008, S.318; SAß ET AL. 2003, S.120), jedoch können die Auffälligkeiten und Kernmerkmale der Stö- rung in den verschiedenen Lebensbereichen in unterschiedlich starker Ausprä- gung auftreten (vgl. SCHÄFER 2001, S.23-24; DÖPFNER ET AL. 2008, S.258; NIS- SEN/TROTT 1995, S.240). So zeigen sich die typischen Probleme von Personen mit AD(H)S vor allem in strukturierten und organisierten Situationen, in denen längere Aufmerksamkeitsleistungen, kognitive Anstrengung, Ausdauer sowie zielgerichtete Tätigkeiten vorausgesetzt bzw. verlangt werden (vgl. LAUTH & SCHLOTTKE 2009, S.4-5; DÖPFNER ET AL. 2008, S.258; DÖPFNER ET AL. 2007, S. 5). Ebenso tritt AD(H)S vermehrt in Situationen zutage, die „ein hohes Maß an eigener Verhaltenskontrolle“ (REMSCHMIDT & SCHMIDT 1994, S.102) erfordern.

Die Symptome sind häufiger in Gruppensituationen zu beobachten und treten verstärkt im schulischen Kontext sowie bei Hausaufgaben, längeren Stillarbei- ten und sozialen Anforderungen (z.B. gemeinsames Essen und Besuche) auf (vgl. DÖPFNER ET AL. 2007, S.5; LAUTH & SCHLOTTKE 2009, S.4-5). In einer Stu- die von DÖPFNER und Mitarbeitern bezüglich der Problemstärke verschiedener Situationen in der Familie stellt sich die Hausaufgabensituation mit 57% als am Problematischsten heraus (vgl. DÖPFNER ET AL. 2007, S.5-6). Eine Auflistung schwieriger Situationen in Familien mit hyperkinetischen Kindern aus einer Un- tersuchung von BARKLEY aus dem Jahre 1981 findet sich im Anhang (S.xxiv).

Daneben gibt es situative Faktoren, welche die AD(H)S-Symptome in nur sehr geringem Maße oder gar nicht auftreten lassen. Hierzu gehören der Neuigkeits- grad einer Situation (bspw. eine neue Umgebung, Anregungswechsel, neuer Inhalt), die direkte Anleitung und Kontrolle durch einen Erwachsenen (also Ein- zelsituationen mit direktem Kontakt, wie es z.B. bei der Nachhilfe der Fall ist), die sofortige positive Verstärkung (Belohnung) angemessenen Verhaltens oder der Beliebtheitsgrad einer Aktivität (vgl. LAUTH & SCHLOTTKE 2009, S.5; DÖPF- NER ET AL. 2007, S.5; DÖPFNER 2000, S.152). Die Ausprägung der Hauptsymp- tome erweist sich demnach als abhängig von Ort, Anforderungen und dem Ge- genüber (vgl. BARKLEY 2005, S.157-159).

2.3.3. Begleit- und Folgesymptomatik

Neben den erläuterten Kernsymptomen kommt es gehäuft zu verschiedenen Begleitmerkmalen, welche sich als typische Folgestörungen aus den drei Hauptsymptomen der Störung ergeben. So löst das erwartungswidrige Verhal- ten der Kinder mit diesem Störungsbild „(…) nahezu zwangsläufig Reaktionen bei seinen Bezugspersonen und ihm selbst aus“ (LAUTH & SCHLOTTKE 2009, S.5), welche sich in der Konsequenz zu Begleit- und Folgeproblemen verdich- ten (vgl. ebd.). Diese wirken sich insgesamt erheblich auf die psychosoziale Situation des Betroffenen, seine weitere Entwicklung sowie seine soziale Um- welt aus (vgl. DÖPFNER ET AL. 2006, S.51-54; NEUHAUS 2009, S.39-40, 108). STEINHAUSEN (2010) führt in diesem Zusammenhang „Distanzlosigkeit in sozia- len Beziehungen, Unbekümmertheit in gefährlichen Situationen und impulsive Missachtung sozialer Regeln (…)“ (STEINHAUSEN 2010a, S.19) als charakteris- tisch für Kinder mit AD(H)S an (vgl. ebd.).

Infolge eines spezifischen Wahrnehmungs- und Reaktionsstils, der sich von Kindern mit AD(H)S gegenüber Kindern ohne dieser Störung unterscheidet, kommt es nach NEUHAUS (2009) bei nicht diagnostizierten oder unbehandelten ADHS früher oder später zu verschiedenen Folgestörungen (vgl. NEUHAUS 2009, S.108). Diese zeigen sich u.a. in strategisch-organisatorischen Defiziten, einer mangelnden Begabungsumsetzung sowie in einer Beeinträchtigung sämt- licher „Lern-, Speicher- und Auftragsfunktionen“ (ebd.): bspw. einem unzurei- chendem und verzögertem Spontanabruf von Wissen sowie einem beeinträch- tigen Zurückgreifen auf Wissen aus dem Langzeitgedächtnis, woraus folgt, dass die Fähigkeit, aus Erfahrung zu lernen, eingeschränkt ist (vgl. ebd., S. 39-40). Nach PETERMANN (2005) beeinträchtigt die mangelnde Fähigkeit zur Impuls- hemmung (gestörte Selbstregulation) verschiedene neuropsychologische Funk- tionen, wie z.B. das Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnis, die Affektregulation, Moti- vation und Aufmerksamkeit (vgl. PETERMANN in BARKLEY 2005, S.7).

Weiterhin ergeben sich Entwicklungsrückstände und Leistungsprobleme in der Schule: Defizite hinsichtlich der Schulleistung werden von der Mehrzahl der Studien bestätigt. So werden nach BARKLEY (2005) 30 bis 50% aller Kinder mit noch nicht diagnostizierten bzw. unbehandelten AD(H)S mindestens einmal nicht versetzt, weitere 35% erreichen keinen Schulabschluss (vgl. BARKLEY 2005, S.45). In den meisten Fällen bekommen Kinder mit dem Störungsbild AD(H)S im Vergleich zu Gleichaltrigen schlechtere Schulnoten, zeigen geringe- re Leistungen in Sprach-, Lese-, Rechtschreib- und Rechentests, wiederholen öfter eine Klasse und erzielen in der Folge schlechtere Lern- und Ausbildungs- ergebnisse (vgl. DÖPFNER ET AL. 2007, S.8; BARKLEY 2005, S.45; LAUTH & SCHLOTTKE 2009, S.30-33). Dies resultiert aus den Störungen der Aufmerksam- keit, welche auf Kosten der Lernleistung der Kinder gehen (vgl. DÖPFNER ET AL. 2007, S. 8).

Relativ häufig kommt es zu Lernstörungen (auch: Teilleistungsstörungen/- schwächen). Lernstörungen treten bei Kindern mit AD(H)S drei- bis fünfmal so oft auf wie bei Kindern ohne dieses Störungsbild. Nach BARKLEY (2005) weisen 20 bis 30% aller Kinder mit AD(H)S mindestens eine Form von Lernstörung auf, welche sich auf den Bereich Lesen, Rechtschreibung oder Mathematik bezie- hen kann (vgl. BARKLEY 2005, S.161-162).

Daneben kommt es zu Schwierigkeiten in der sozialen Eingliederung. Prob- leme im Kontakt mit anderen Kindern entstehen u.a. durch impulsive Verhal- tensweisen wie dem Unterbrechen anderer und deren Aktivitäten, zudringliches und kaspernd-albernes Verhalten, dem Verletzen von Grenzen und Regeln so- wie dem häufig zu beobachtenden Bedürfnis, „(…) andere zu dominieren und zu kontrollieren“ (DÖPFNER ET AL. 2007, S.7). Infolgedessen kommt es zu Ab- lehnung und Zurückweisung durch Gleichaltrige und nicht selten zur Isolation des Kindes mit AD(H)S. Insgesamt fällt es Kindern mit AD(H)S schwer, ihr So- zialverhalten den situativen Bedingungen und jeweiligen (Rollen-)Erwartungen anzupassen (vgl. ebd.). Dadurch bleiben Kindern mit AD(H)S wertvolle Erfah- rungen durch förderliche Sozialkontakte verwehrt (vgl. LAUTH & LINDERKAMP 2000, S.130). Zudem sind nicht nur die Beziehungen zu anderen Kindern belas- tet, sondern auch die zu Erwachsenen aus der Lebenswelt des Kindes (Eltern, Lehrer, Erzieher), was die psychosoziale Situation der Kinder (und natürlich auch im Sinne einer Wechselwirkung die der engsten Bezugspersonen) zusätz- lich belastet (vgl. DÖPFNER ET AL. 2006, S.53-54).

Nach BARKLEY (2005) weisen 50% der Kinder gestörte Beziehungen zur Umwelt auf und 60% erfahren Ablehnung, Ausgrenzung, werden häufig geschimpft und bestraft. Diese Kinder sind „(…) besonders gefährdet (…), später kriminell oder drogenabhängig zu werden“ (BARKLEY 2005, S.45).

Die Vielzahl an schlechten Erfahrungen mit sich selbst und den negativen Rückmeldungen bzw. Reaktionen der Umwelt, mit denen ein Kind mit AD(H)S täglich konfrontiert wird, führen zu einem beeinträchtigten Selbstwerterleben sowie einem nicht gerade positiv besetzten Selbstbild bzw. Selbstkonzept7. Misserfolge sozialer Art (im Umgang mit Peers und Bezugspersonen) und kog- nitive Misserfolge (welche bezüglich der Schulleistung erfahren werden) tragen zu einem herabgesetzten Selbstbild bei, welches oft durch expansive Verhal- tensweisen zu kaschieren versucht wird (vgl. SCHÄFER 2001, S.26-27; LAUTH & SCHLOTTKE 2009, S.8). Bei den Kindern entwickeln sich Unsicherheiten und Ängste. Sie trauen sich vor allem im Bereich Schulleistungen weniger zu (vgl. DÖPFNER ET AL. 2006, S.52). Diese Unsicherheit zeigt sich zudem in sozialen Situationen: es vergeht kaum ein Tag, an dem das Kind mit AD(H)S keine Ab- lehnung, Hänseleien und Ausgrenzung durch Gleichaltrige erfahren hat (vgl. SCHÄFER 2001, S.26-27).

Nach DÖPFNER ET AL. (2007) können ein geringes Selbstvertrauen hinsichtlich eigener Fähigkeiten neben sozialen Unsicherheiten, Ängsten und depressiven Befindlichkeiten sehr oft beobachtet werden (vgl. DÖPFNER ET AL. 2007, S.8). AD(H)S erweist sich somit als ein sehr stabiles Handicap in mehreren Lebens- bereichen (vgl. AUST-CLAUS 2004, S.32).

2.3.4. AD(H)S als Entwicklungsgefährdung bzw. nachhaltiges E ntwicklungsrisiko

Hervorgehend aus der aufgezeigten Problematik, welche sich auf die psycho- soziale Situation eines Menschen mit AD(H)S in vielerlei Hinsicht negativ aus- wirkt, lässt sich übereinstimmend mit LAUTH & SCHLOTTKE (2009) von einer nachhaltigen „Entwicklungsgefährdung“ sprechen (LAUTH & SCHLOTTKE 2009, S.29), welche durch Längsschnittuntersuchungen zur seelisch-sozialen Ge- sundheit der Betroffenen gestützt wird. Oft können Entwicklungsaufgaben8 nicht bewältigt und entwicklungsrelevante Kompetenzen nicht erlernt werden. Zudem sind Lern- bzw. Schulleistungen und das Sozialverhalten meist beeinträchtigt, wie an anderer Stelle bereits ausgeführt wurde9 (vgl. ebd., S.28-34). PETER- MANN (2005) macht darauf aufmerksam, dass sowohl das frühe Auftreten als auch die Problemvielfalt von AD(H)S zu einer ungünstigen Entwicklungsprog- nose führen (vgl. PETERMANN in BARKLEY 2005, S.5). In diesem Zusammenhang wird auf eine Tabelle in COMER (2008) nach MANNUZZA ET AL. (1993) verwiesen, welche langfristige Auswirkungen von AD(H)S darstellt (siehe Anhang, S.xxv).

Wie bereits ausgeführt begünstigt AD(H)S zumeist geringere soziale Anpas- sungsfähigkeiten sowie einen ungünstigen Entwicklungsverlauf (vgl. LAUTH & SCHLOTTKE 2009, S.28-34). Personen mit AD(H)S nehmen sehr viel häufiger psychosoziale Dienste in Anspruch, haben Probleme mit bzw. Konflikte in so- zialen Beziehungen und zwischenmenschlichen Kontakten, weisen eine unstete und wechselhafte Lebensführung auf und haben wenig konsistente Zielsetzun- gen (vgl. ebd., S.29-30). Das Störungsbild AD(H)S erweist sich als relativ stabil; die Problematik bzw. einzelne Symptome bestehen durchaus noch in der Pu- bertät und im Erwachsenenalter (vgl. NEUHAUS 2002, S.14-15; PETERMANN in BARKLEY 2005, S.6). Jugendliche mit ADHS weisen ein höheres Risiko zum Drogenmissbrauch und erhöhtes Maß an Minderwertigkeitsgefühlen auf, sind weniger sozial akzeptiert und zeigen ein erhöhtes Risiko, keinen oder einen niedrigeren Schulabschluss zu bekommen (vgl. DÖPFNER ET AL. 2008 S.260; DÖPFNER ET AL. 2007, S.23). So zeigen beispielsweise die New York-Studie so- wie die Milwaukee-Studie die beträchtliche Persistenz der Störung (zwischen 26 bis 65%), deren Symptome laut BUNDESÄRZTEKAMMER 2005 bei etwa 1/3 der Erwachsenen weiterhin bestehen (vgl. LAUTH & SCHLOTTKE 2009, S.31-32; NEU- HAUS 2009, S.31). An dieser Stelle soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Persistenz eng mit der jeweiligen Störungsdefinition zusammenhängt, weshalb Letztere unbedingt beachtet werden muss. So ergab eine Meta- Analyse sämtlicher Verlaufsstudien, das bei einer strengen Definition mit Erfül- lung aller AD(H)S-Diagnosekriterien „etwa 15% der ursprünglich eingeschlos- senen Kinder mit AD(H)S“ (STEINHAUSEN & SOBANSKI 2010, S.165) das Stö- rungsbild noch im Alter von 25 Jahren aufweisen. Dagegen erweist sich die Persistenzrate mit ca. 65% als viel höher, wenn die Definition des DSM-IV für partielle Remission benutzt wird (vgl. ebd.).

Auf den spezifischen Entwicklungsverlauf von Personen mit AD(H)S kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden, da es die Kapazität der Arbeit übersteigen würde. Diesbezüglich wird auf Darstellungen in NEUHAUS 2009 (S.59-88); STEINHAUSEN 2000a (S.228-236); BARKLEY 2005 (S.149-156); SKRODZKI 2000 (S. 27-31) und STEINHAUSEN & SOBANSKI 2010 (S.152-168) so- wie auf eine Übersicht im Anhang (S.xxv) verwiesen.

2.4. Pathogenese

Um die Ausführungen über das Störungsbild AD(H)S zu erweitern, wird im Fol- genden auf den derzeitigen Forschungsstand hinsichtlich Ursachen und Entste- hungsbedingungen des Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms mit bzw. ohne Hyper- aktivität eingegangen.

In der aktuellen Literatur findet sich eine Fülle an Ursachen, ätiologischen Theo- rien und Erklärungskonzepten bezüglich AD(H)S. Sie alle vorzustellen würde die Kapazität der Arbeit übersteigen, weshalb an dieser lediglich Stelle ausge- wählte, im Zusammenhang der Arbeit relevante Erklärungen der Störung vor- gestellt werden sollen. Der Fokus liegt hierbei auf Ursachen, welche in der der- zeitigen Forschung vermehrt belegt und daher mit einer großen Wahrschein- lichkeit als wichtige Entstehungs- und Bedingungsfaktoren angesehen werden können. Dennoch soll eine Skizzierung mittlerweile widerlegter, aber noch oft angeführter (vermeintlicher) Erklärungsansätze den Anfang bilden, um aufzu- zeigen, durch was die Störung keinesfalls hervorgerufen wird, den derzeitigen Forschungsstand (welcher ja auch die Widerlegung bisher angenommener Hy- pothesen umfasst) zu ergänzen sowie einen kurzen Einblick in das breite Spektrum der Ätiologie zu gewährleisten.

Vertreter einer psychoanalytischen Sichtweise sehen Hyperaktivität als Folge von Bindungsstörungen, welche sich zwischen dem Kind und seiner traumati- sierten, bindungsunsicheren Mutter, deren Fähigkeit zur Stressregulation ein- geschränkt ist, entwickeln. Hyperaktives Reagieren kann aber gemäß der Psy- choanalyse auch darin begründet sein, dass diese Kinder bereits vor der Geburt unbewusst abgelehnt worden sind (vgl. NEUHAUS 2009, S.15).

Die Vermutung, AD(H)S stehe in Verbindung mit chemischen Nahrungszusät- zen, war in den Siebziger- und Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts sehr populär. So vermutete FEINGOLD (1975), allergische Reaktionen auf Nahrungs- mittelzusätze (z.B. Farbstoffe und Konservierungsmittel) würden AD(H)S her- vorrufen und eine spezielle Diät die Symptome nachhaltig reduzieren (vgl. BARKLEY 2005, S.127). Zahlreiche relativ gut kontrollierte Studien konnten die Hypothese jedoch größtenteils nicht belegen. Des Weiteren konnte nie nach- gewiesen werden, dass der Verzehr bestimmter Nahrungsmittel bei normalen Kindern zu einer ADHS führt – ebenso wenig, wie sich das Störungsbild durch den Konsum dieser Lebensmittel verstärken würde (vgl. ebd.).

Des Weiteren sind Phosphat- oder Zuckerzusätze (z.B. HAFER, 1986) ebenfalls nicht am Entstehen der Störung beteiligt (vgl. DÖPFNER 2000, S.161; BARKLEY 2005, S.128). Auch ein Mangel an Vitaminen und Mineralstoffen kann nicht ver- antwortlich für das Entstehen einer AD(H)S gemacht werden (BARKLEY 2005, S.128).

Hormone können neben bestimmten Pilzen, die im Körper leben10 (nach WIL- LIAM CROOK), einer hohen Konzentration von Blei im Körper oder Störungen im vestibulären System des Gehirns keinesfalls als die AD(H)S-Symptome verur- sachend angesehen werden (vgl. BARKLEY 2005, S.122, 130-133). Auch über- mäßiger Fernsehkonsum ist nicht für das Entstehen von AD(H)S verantwortlich (vgl. BARKLEY 2005, S.136; DÖPFNER & STEINHAUSEN 2010, S.140).

2.4.1. Neurobiologische Befunde

Wie der eingangs erwähnte Begriff der Minimalen cerebralen Dysfunktion (MCD) verdeutlicht, herrschte jahrzehntelang die Annahme vor, AD(H)S entste- he durch strukturell bedingte Hirnfunktionsstörungen aufgrund von Hirnschädi- gungen bzw. Schädigungen des Zentralen Nervensystems11, welche mit prä-, peri- und postnatalen Komplikationen in Verbindung stehen, die die frühkindli- che Entwicklung verzögern (vgl. DÖPFNER ET AL. 2007, S.24). Zahlreiche Studi- en widerlegen jedoch die Hypothese einer eindeutigen Beziehung zerebraler Dysfunktion sowie verschiedene Hinweise auf diese (wie z.B. Teilleistungs- schwächen bei zumindest durchschnittlicher Grundintelligenz, neurologische & neurophysiologische Auffälligkeiten sowie spezifische Verhaltensauffälligkeiten) und AD(H)S (z.B. ESSER & SCHMIDT 1987 in ESSER 2003, S.179). Des Weiteren können Komplikationen während Schwangerschaft und Geburt eine AD(H)S verursachen, sofern sie die fetale Gehirnentwicklung beeinflussen – sie stehen aber nicht wirklich ursächlich mit dem Entstehen eines AD(H)S im Zusammen- hang (vgl. BARKLEY 2005, S.138).

Als Hauptursachen der Störung können Veränderungen in der Funktionsweise des Gehirns (an)gesehen werden; bei AD(H)S kommt es zu chemischen, funk- tionellen und strukturellen Auffälligkeiten (vgl. BARKLEY 2005, S.123). Es handelt sich um Störungen im Gehirn; um Hirnverletzungen oder Entwicklungsanoma- lien, wobei Letztere den größten Teil der AD(H)S-Betroffenen ausmachen (vgl. ebd., S.111). Alkoholabusus und Rauchen während der Schwangerschaft kön- nen als Risikofaktoren im Zusammenhang mit AD(H)S betrachtet werden, da sie die Entwicklung bestimmter Hirnregionen beeinträchtigen können und diese Abweichungen wiederum Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Impulsivität bedingen (vgl. ebd., S.122). Jedoch hängen die Anomalien in der Hirnentwick- lung stärker mit Anlage- als mit Umweltfaktoren zusammen (vgl. ebd., S.111).

Es finden sich strukturelle Unterschiede v.a. im Bereich des präfrontalen Cor- tex, der Basalganglien und im Balken (Corpus callosum), welche zu Einschrän- kungen führen (vgl. SCHLEIDER 2009, S.51). Aus einer Metaanalyse von VALERA und Mitarbeitern (2007) gehen Unterschiede in verschiedenen Hirnregionen hervor; besonders im Cerebrellum, Corpus callosum, Caudatus und im Volu- men der rechten Hirnhemisphäre (vgl. LAUTH & SCHLOTTKE 2009, S.41). CASTEL- LANOS ET AL. (1996) weisen eine fehlende Rechts-Links-Asymmetrie nach, die eine Dysfunktion des rechtsseitigen Systems aus präfrontalem Cortex und Striatum wahrscheinlich macht (vgl. ebd.). Eine Volumenreduktion fand sich v.a. in den Basalganglien und im Kleinhirn (vgl. DÖPFNER ET AL. 2000b, S.13; SCHLEIDER 2009, S.53). Vertiefend zur Neuroanatomie siehe KONRAD (2010).

Mittels bildgebender Verfahren (z.B. Positronen-Emissions-Tomographie PET) lässt sich bei Personen mit AD(H)S eine Frontalhirnminderdurchblutung feststellen; vordere Hirnregionen (in denen u.a. Verhaltenshemmung und Kon- zentration gesteuert werden) erfahren durch die verminderte Durchblutung ver- mutlich eine geringere Hirnaktivität. Die Verbindungsbahnen dieser Gehirnbe- reiche zum limbischen System sind ebenfalls vermindert durchblutet. Folglich ist die Steuerung von Emotion, Motivation und Gedächtnis beeinträchtigt. Das vor- dere Aufmerksamkeitssystem im Stirnhirn weist eine verringerte Aktivität auf – in diesem Bereich befinden sich u.a. die Neuronen des Arbeitsgedächtnisses und hier entwickeln sich Ausführungsfunktionen der Impulssteuerung (executive functions) (vgl. SCHLEIDER 2009, S.53; NEUHAUS 2009, S.46; DÖPFNER ET AL. 2000b, S.13).

Weiterhin ist der Glucosemetabolismus in den vorderen Hirnregionen vermin- dert, was nach einer Studie von ALAN ZAMETKIN und Mitarbeitern v. a. linksseitig der Fall ist (vgl. BARKLEY 2005, S.117). Näheres zur geringeren Hirnaktivität einzelner Regionen bei AD(H)S findet sich bei BRANDEIS & BANASCHEWSKI (2010).

Zahlreiche Studien konnten Auffälligkeiten im Neurotransmittersystem finden, auch wenn die Ergebnisse nicht einheitlich sind (vgl. DÖPFNER 2003, S.179). Dabei liegt wahrscheinlich eine Imbalance der Neurotransmittersysteme vor – d.h. das nicht nur ein System alleine gestört ist (vgl. DÖPFNER 2000, S.160-161). Es wird auf eine enge Verbindung zwischen AD(H)S und einem Ungleichge- wicht sowie einer Fehlsteuerung der Neurotransmitter Dopamin, Serotonin und Noradrenalin verwiesen (vgl. BRANDAU ET AL. 2006, S.30). Vor allem das dopaminerge Transmittersystem steht im Fokus der Aufmerksamkeit: es arbei- tet unzureichend und beeinträchtigt so grundlegend die zentralnervöse Reiz- übertragung, was sich auf die Funktionsfähigkeit des präfrontalen Cortex aus- wirkt12 (vgl. LAUTH & SCHLOTTKE 2009, S.44-45). Nach RYFFEL (1998) sind spezi- fische Neurotransmittersysteme in Hirnregionen, welche für die Steuerung komplexer Aufmerksamkeits- und Gedächtnisleistungen verantwortlich sind, in ihrer Funktion gestört. Er spricht von einer Stoffwechselstörung im Bereich der Synapsen (vgl. RYFFEL 1998 S.90). Näheres bezüglich der Neurochemie bei AD(H)S kann ROESSNER & ROTHENBERGER (2010) entnommen werden.

2.4.2. Genetische Faktoren

Genetische Einflüsse stellen vermutlich den wichtigsten Einzelfaktor innerhalb der (multifaktoriellen) Verursachung von AD(H)S dar, was aus einer Vielzahl formal- und molekulargenetischer Studien hervorgeht (vgl. BANASCHEWSKI 2010, S.113; DÖPFNER ET AL. 2007, S.25-26). So konnte in Familienstudien festgestellt werden, dass AD(H)S familiär gehäuft vorkommt; erstgradig Verwandte von Kindern mit dieser Störung weisen ein zwei- bis achtfach erhöhtes Risiko für AD(H)S auf (vgl. BANASCHEWSKI 2010, S.113). Bei 10 bis 35% der Geschwister und Eltern betroffener Kinder findet sich das Störungsbild AD(H)S. Kinder von Erwachsenen mit der Störung bekommen diese ebenfalls mit einer Wahrschein- lichkeit von 40 bis 60% (vgl. ebd.).

Zwillingsstudien der vergangenen 20 Jahre konnten konsistent einen starken Einfluss genetischer Faktoren zeigen, welche zwischen 65 und 90% der phäno- typischen Varianz erklärten (vgl. LAUTH & SCHLOTTKE 2009, S.45). Nach GILLIS ET AL. (1992) weisen 79% monozygoter Zwillingsgeschwister von AD(H)S- Kindern ebenfalls die Störung auf. Bei dizygoten Zwillingen betrifft dies 32% der Fälle – das Risiko, von der Störung betroffen zu sein, ist aber im Vergleich zu anderen Kindern immer noch sechs- bis zehnmal so hoch (vgl. BARKLEY 2005, S.123). Eine Meta-Analyse von FARAONE und Mitarbeitern (2005) bezüglich 20 unabhängiger Zwillingsstudien ergab eine Heritabilität (der durch genetische Variation bestimmte Anteil der Varianz der AD(H)S-Symptome) von 76% (vgl. BANASCHEWSKI 2010, S.114).

Adoptionsstudien lassen den Schluss zu, dass die familiäre Häufung bei AD(H)S nicht durch Erziehung zu erklären, sondern durch genetische Ursachen bedingt ist. So geht aus ihnen eine erhöhte Übereinstimmung der Ausprägung von AD(H)S bei getrennt lebenden biologischen Geschwistern als bei Halbge- schwistern hervor. Des Weiteren sind biologische Eltern öfter selbst von der Störung betroffen als Adoptiveltern (vgl. LAUTH & SCHLOTTKE 2009, S.45; BANASCHEWSKI 2010, S.113-114).

Viele groß angelegte Studien unterstreichen die Bedeutung von Anlagefaktoren bei der Entstehung von AD(H)S; sie konstatieren an Hyperaktivität und Impulsi- vität beteiligte Erbfaktoren mit durchschnittlich 80%. Einflüsse aus der Umwelt (Ernährung, Komplikationen während Schwangerschaft und Geburt sowie Toxi- ne wie z.B. Alkohol und Nikotin) können nur ein bis 10% erklären (vgl. BARKLEY 2005, S.124).

M olekulargenetische Befunde zeigen einen (in den meisten Fällen) komple- xen Erbgang der Störung sowie einen Genpolymorphismus: Da bei AD(H)S ein komplexes Eigenschaftsmuster vorliegt, wirken wahrscheinlich mehrere Gene bzw. Genvarianten untereinander (vgl. LAUTH & SCHLOTTKE 2009, S.46-47). Da- bei handelt es sich v.a. um Gene, die monoaminerge Neurotransmittersysteme (Serotonin, Noradrenalin und besonders Dopamin) beeinflussen (vgl. ebd., S.47). Besonders hervorzuheben sind Zusammenhänge zwischen AD(H)S- Symptomen und Veränderungen auf Dopamin-Rezeptor-Genen (DRD2-5) so- wie Dopamin-Transporter-Genen (z.B. DAT1) (vgl. DÖPFNER 2000, S.161). Auf eine genaue Darstellung der einzelnen Kandidatengene und ihrem Zusammen- wirken wird an dieser Stelle verzichtet, da es die Kapazität der Arbeit überstei- gen würde. Näheres findet sich bei BARKLEY (2005) S.124-125; LAUTH & SCHLOTTKE (2009) S.45-47 sowie BANASCHEWSKI (2010) S.116-123.

Während biologische und konstitutionelle Merkmale hinsichtlich der Genese entscheidend sind, können psychosoziale Faktoren Ausprägung und Verlauf der Störung wesentlich beeinflussen.

2.4.3. Psychosoziale Bedingungen

Psychosoziale Aspekte sind nicht ursächlich am Entstehen der Störung betei- ligt; sie können aber Ausprägung und Schweregrad der Symptomatik sowie ih- ren weiteren Verlauf erheblich mitbestimmen bzw. für das Fortbestehen verant- wortlich sein (vgl. DÖPFNER 2000, S.162; DÖPFNER ET AL. 2006, S.34). So bele- gen Forschungsergebnisse, das es „nach dem Auftreten von AD(H)S- Symptomen (…) teilweise vom elterlichen Verhalten abhängt, wie gravierend diese Symptome werden und wie lange sie bestehen bleiben“ (BARKLEY 2005, S.143). Zwar haben sie (die Eltern) die Symptome durch ihren Erziehungsstil bzw. -verhalten nicht verursacht; sie können die Schwierigkeiten durch die Re- aktionen auf ihr Kind aber in einem gewissen Maße abschwächen oder verstär- ken (vgl. ebd.).

Längsschnittstudien weisen auf die besondere Bedeutung der Eltern-Kind- Beziehung für die weitere Entwicklung hin; eine Vielzahl negativer Eltern-Kind- Interaktionen erhöht bspw. das Chronifizierungsrisiko der Störung (vgl. DÖPF- NER ET AL. 2007, S.27). In diesem Zusammenhang sei auf ein Modell von R.A. BARKLEY (1981) zur Entwicklung negativ kontrollierender Interaktionen13 (coercive interactions) verwiesen, welches verdeutlicht, wie auffällige Verhal- tensweisen durch Interaktionen zwischen Kind und Eltern (bzw. Lehrer/ Erzie- her) beeinflusst werden und sich daraufhin verschlimmern können. Kinder mit AD(H)S beachten Aufforderungen und Grenzsetzungen der Eltern häufig nicht. In der Regel wiederholen die Eltern diese dann mehrfach. Dabei ist die Wahr- scheinlichkeit eines erneuten Nicht-Folgens bzw. -Beachtens der Aufforderung durch die Kinder erhöht. Kommt das Kind der Aufforderung dann aber doch einmal nach, wird dies von den Eltern aus zweierlei Gründen nicht beachtet: So tun sie endlich das, was durch die Auseinandersetzungen und Bemühungen um das Folgen des Kindes liegengeblieben ist oder sie betrachten das folgsame Verhalten des Kindes als selbstverständlich – Lob scheint ihnen daher nicht erwähnenswert. Auffälliges (nicht folgsamenes) Verhalten des Kindes bringt vermehrte, negativ getönte Aufmerksamkeit mit sich wohingegen angemesse- nere Handlungen so gut wie gar nicht beachtet werden. Weiterhin kommt es zu Drohungen, das Kind reagiert abermals nicht. Daraufhin geben die Eltern ent- weder nach oder neigen zu ungezielt aggressivem Verhalten. Ersteres verstärkt das Kind negativ, Letzteres liefert ein Vorbild zu aggressivem Verhalten des Kindes (zumindest außerhalb der Familie). Beide Reaktionen der Eltern führen zu einer Zunahme mangelnder Regelbefolgung, oppositionellen bzw. aggressi- ven Verhaltens (vgl. DÖPFNER ET AL. 2000b, S.188; DÖPFNER 2000, S.162; DÖPFNER ET AL. 2007, S.27).

Das problematische Verhalten des Kindes führt zu Konflikten mit seinen Be- zugspersonen (Eltern, Lehrer/ Erzieher, Gleichaltrige) und belastet diese erheb- lich. Infolgedessen fühlen sie sich schnell zu „coercive behavior“ (PATTERSON, 1982) veranlasst: ein (erzwingendes) Erziehungsverhalten, dass durch Ein- schränkungen und vermehrte Bestrafungen gekennzeichnet ist (vgl. LAUTH & HEUBECK 2006, S.24). Daraus erwachsen weitere ungünstige (soziale) Interakti- onsmuster, welche die Symptome bzw. Schwierigkeiten aufrechterhalten und eventuell verstärken. Sie sind u.a. charakterisiert durch ungünstige Verstärker- muster sowie einer negativen Verstärkerbilanz (vgl. LAUTH & SCHLOTTKE 2009, S.55-58). Der Einfluss psychosozialer Aspekte auf Ausprägung und Verlauf der Symptomatik wird des Weiteren von Therapiestudien zur Wirksamkeit psycho- sozialer Interventionen unterstützt (vgl. WOLFF METTERNICH & DÖPFNER 2010, S.335-348).

Ungünstige familiäre Bedingungen (wie z.B. unvollständige und instabile Fami- lien, beengte Wohnverhältnisse sowie Kriminalität, psychische Störungen und gravierende Partnerbeziehungsstörungen der Eltern) können in Zusammen- hang mit AD(H)S gebracht werden (vgl. DÖPFNER & STEINHAUSEN 2010, S.135). Allerdings kann eine stärkere Beziehung dieser Faktoren mit aggressivem und dissozialem Verhalten verzeichnet werden (vgl. DÖPFNER 2003, S.180). Nur we- nige Studien belegen einen Zusammenhang zwischen AD(H)S und einem ge- ringem sozioökonomischen Status, andere fanden gar keinen (vgl. DÖPFNER ET AL. 2007, S.26; DÖPFNER 2003, S.180). Ungünstige familiäre Bedingungen kön- nen AD(H)S jedoch nicht auslösen und sind somit nicht als Ursache für das Entstehen von AD(H)S zu betrachten (vgl. DÖPFNER ET AL. 2006, S.34).

Abschließend soll eine Sichtweise bezüglich der Pathogenese der Aufmerk- samkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung vorgestellt werden, welche mehrere der vorgestellten Entstehungsbedingungen vereint und somit der Multidimensionalität des Störungsbildes gerecht wird.

2.4.4. AD(H)S als multifaktorielles Geschehen

Bei dem Störungsbild AD(H)S handelt es sich um ein komplexes und heteroge- nes Phänomen, welches aus einer Vielzahl ätiologischer Ereignisse hervorgeht. Es umfasst unterschiedliche, zum Teil miteinander verbundene und sich ergän- zende Entstehungsbedingungen, welche untereinander in Wechselwirkung ste- hen (vgl. SCHLEIDER 2009, S.42; SCHÄFER 2001, S.37).

Aufgrund der multifaktoriellen und prozesshaften Genese von AD(H)S gilt es, mehrere Ursachen im Sinne eines integrativen Modells zu berücksichtigen, um der Störung und ihren verschiedenen ätiologischen Aspekten gerecht werden zu können. Daher empfiehlt es sich, ein biopsychosoziales Modell zur Entste- hung von AD(H)S heranzuziehen, welches genetische Dispositionen sowie neu- robiologische Faktoren, psychosoziale Bedingungen und neuropsychologische Aspekte berücksichtigt (vgl. LAUTH & HEUBECK 2006, S.21-22; DÖPFNER ET AL. 2010, S.145-147; BRANDAU ET AL. 2006, S.36-37). DÖPFNER und Mitarbeiter (2010) vereinigen dies in einem integrativen klinischen Entstehungsmodell (sie- he Anhang S.xxviii). Dabei werden genetische Faktoren, die eine Störung der Neurotransmittersysteme (insbesondere Dopamin-Stoffwechsel) hervorrufen, als primäre Ursache bzw. stärkster Einflussfaktor auf die Entwicklung gesehen, wohingegen die Bedeutung erworbener Hirnschädigungen deutlich geringer ausfällt. Der Einfluss ungünstiger psychosozialer Bedingungen (besonders im Sinne der interaktionalen Wechselwirkungen und negativen Interaktionen) findet ebenfalls Einzug in das Modell. Toxine, Allergene und Nahrungsmittelintoleranzen finden als potentielle Risikofaktoren Berücksichti- gung (vgl. DÖPFNER ET AL. 2010, S.146-148). Hinsichtlich der neuropsychologi- schen Ebene wird BARKLEYS (1997) Ansatz von AD(H)S als Störung der Selbst- regulation integriert. Demnach liegen aufgrund mangelnder Hemmung von Im- pulsen und Handlungsabläufen Störungen in den exekutiven Funktionen vor, welche das Arbeits- oder Kurzzeitgedächtnis, die Selbstregulation von Affekten, Motivation und Aufmerksamkeit, die Internalisierung und Automation von Spra- che sowie den Bereich der Wiederherstellung und Entwicklung von Handlungs- sequenzen umfassen (vgl. ebd., S.149). Weiterhin liegen „(…) Störungen der Hemmung oder der Verzögerung von reaktiven Handlungen (…) sowie (…) motivationale Störungen im Zusammenhang mit verstärkergelenkten Lernvor- gängen (…)“ (ebd.) vor.

LAUTH & SCHLOTTKE (2009) entwerfen ein integratives Modell, welches biologi- sche und neurophysiologische Grundrisiken zur Basis hat und Aufmerksam- keitsstörungen bzw. AD(H)S als Folge einer komplexen Entwicklung betrachtet. Das Modell verweist auf Wechselwirkungen zwischen der eingeschränkten Selbststeuerung und den Reaktionen des Umfelds (coersives Verhalten, un- günstige Verstärker, Mangel an positiver Anleitung). Des Weiteren werden wechselseitige Einflussnahmen zwischen diesen Umweltreaktionen und dem auffälligen Verhalten aufgegriffen. Die Störung wird hier ebenfalls im Rahmen eines biopsychosozialen Modells erklärt (vgl. LAUTH & SCHLOTTKE 2009, S.58- 65). Eine Visualisierung des vorgestellten Modells findet sich im Anhang (S.xxix)

Das breite Spektrum an Symptomen und die interindividuellen Entwicklungs- prozesse, welche ihrerseits von der jeweiligen Kompensationsfähigkeit und Umweltbedingungen der Person mit AD(H)S abhängen, unterstützen die multi- faktorielle Ätiologie der Störung (vgl. BRANDAU ET AL. 2006, S.36).

Nachdem Ursachen und Entstehungsbedingungen von AD(H)S erläutert wur- den gilt es im Folgenden, den aktuellen Forschungsstand der Störung mittels einer Darstellung verschiedener Behandlungsansätze abzurunden.

2.5. Behandlungsansätze

Bezüglich möglicher Behandlungsmaßnahmen findet sich in der Literatur ein breites Spektrum, erwachsen aus unterschiedlichen theoretischen Ansätzen und verschiedenen wissenschaftlichen Positionen. Sie alle darzustellen würde die Kapazität der Arbeit bei Weitem übersteigen, weshalb im Folgenden solche Interventionen vorgestellt werden, welche gemäß der Behandlungsleitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (2007) die problematischen Verhaltensweisen möglichst unmittelbar angehen, sich durch Zielgerichtetheit und Problemorientierung auszeichnen (vgl. LAUTH & SCHLOTTKE 2009, S.66) und die im Rahmen der vorliegenden Thematik sinnvoll erscheinen.

Somit wird auf eine Darstellung allgemeiner und eher unspezifischer Interventi- onsformen – wie z.B. nondirektive Therapie, tiefenpsychologisch fundierte Psy- chotherapieverfahren oder Edu-Kinesiologie – verzichtet (vgl. NEUHAUS 2002, S.203-204, 228-229; LAUTH & SCHLOTTKE 2009, S.66;). Ebenso wenig wird auf Diäten und Nahrungsergänzungen eingegangen, da ihre Wirksamkeit in der Mehrzahl der Studien nicht nachgewiesen werden konnte und sie somit als Re- gelbehandlung nicht empfehlenswert sind (vgl. SCHÄFER 2001, S.73-76; NEU- HAUS 2002, S.222-224; DÖPFNER ET AL. 2000b, S.37). Entspannungsverfahren (autogenes Training, progressive Muskelentspannung) erweisen sich ebenfalls als wenig wirksam und können genauso wie Mototherapie, Psychomotorik und Ergotherapie allenfalls ergänzend eingesetzt werden, da sie keine spezielle und spezifisch wirksame Behandlung von AD(H)S darstellen und durch sie keine Besserung der Grundstörung erzielt werden kann (vgl. NEUHAUS 2009, S. 158- 159; NEUHAUS 2002, S.211-213, 217, 229; SCHÄFER 2001, S.70-71; DÖPFNER ET AL. 2000b, S.37; DÖPFNER ET AL. 2006, S.110-112).

Tabelle 1 gibt eine Übersicht verschiedener Interventionsformen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1: Behandlungsmöglichkeiten bei AD(H)S, gruppiert nach Interventionsmodus (in Anleh- nung an D ÖPFNER & S OBANSKI 2010 , S. 273 und mit eigenen Ergänzungen versehen)

Grundsätzlich sollten die Behandlungsmaßnahmen dort ansetzen, wo die Prob- leme auftreten – dementsprechend erscheint eine Einteilung in kind- bzw. pati- entenzentrierte, eltern- und familien- sowie (vor)schulzentrierte Behandlungs- ansätze sinnvoll (vgl. DÖPFNER ET AL. 2006, S.55; DÖPFNER & SOBANSKI 2010, S.283; TRAPMANN & ROTTHAUS 2004, S.74). Ziel patientenzentrierter Verfahren ist eine Minderung der problematischen Verhaltensweisen durch direkte Inter- ventionen des Therapeuten beim Kind. Eltern- und familienzentrierte Maßnah- men sollen Bedingungen innerhalb der Familie modifizieren, welche die Auf- rechterhaltung der Symptomatik begünstigen. Durch eine Veränderung der auf- rechterhaltenden Bedingungen wollen kindergarten- und schulzentrierte Verfah- ren auffälliges Verhalten in der jeweiligen Institution reduzieren (vgl. DÖPFNER ET AL. 2006, S.55-56; DÖPFNER ET AL. 2007, S.34, 41).

Aufgrund des chronischen Verlaufs der Störung ist eine kontinuierliche Fortfüh- rung der Behandlung angezeigt, welche individuell auf Bedürfnisse, bestehende Symptomatik und Behandlungsbedarf, den jeweiligen Entwicklungsstand, spezi- fische Problembereiche sowie Stärken und Schwächen des Menschen mit AD(H)S zugeschnitten ist (vgl. DÖPFNER ET AL. 2000b, S.20).

Im Folgenden soll ein Behandlungsansatz vorgestellt werden, welcher der multi- faktoriellen Ätiologie bei AD(H)S Rechnung trägt.

2.5.1. Multimodaler Behandlungsansatz

Da es sich beim Störungsbild AD(H)S meist um eine Anhäufung von Proble- men, Störungen und sich daraus ergebenden Belastungen handelt (multidimen- sionale Störung), in der Regel mehrere Lebensbereiche betroffen sind, die Maßnahmen sehr spezifisch wirken und eine Generalisierung eines Therapieer- folgs auf andere Bereiche bzw. Störungsformen (komorbide Störungen) oft nicht gegeben ist, erweist sich eine Kombination mehrerer Interventionen im Sinne einer multimodalen Therapie als notwendig (vgl. DÖPFNER ET AL. 2006, S.55-56; DÖPFNER ET AL. 2007, S.34; DÖPFNER & SOBANSKI 2010, S.272; DIETERICH 2002, S.78-79). Die aktuellen klinischen Leitlinien für die Diagnostik und Therapie hyperkinetischer Kinder aus Amerika und Deutschland sehen eine Integration verschiedener Behandlungskomponenten aufgrund der Vielzahl der gestörten Funktionen und beeinträchtigten Lebensbereichen als notwendig. Die Kombina- tion verschiedener Interventionsansätze entspricht der zumeist vielschichtigen Symptomatik am ehesten (vgl. LEHMKUHL & DÖPFNER 2006, S.118, 130).

PETERMANN (2000) definiert die multimodale Therapie als ein „(…) intensives und umfassendes Vorgehen (…)“, welches „(…) Kinderpsychotherapie (unter Einbezug der Pharmakotherapie) und die Behandlung des sozialen Umfeldes (Elternhaus, Schule)“ (PETERMANN 2000a, S.21) beinhaltet und den verschiede- nen von der Störung betroffenen Bereichen gerecht wird (vgl. ebd.). Weiterhin wird von den aktuellen nationalen und internationalen Behandlungsleitlinien ein multimodales, therapeutisches Vorgehen, welches sowohl Psychoedukation und Psychotherapie als auch psychosoziale Interventionen sowie Pharmakothe- rapie umfasst, empfohlen (vgl. DÖPFNER ET AL. 2008, S.264). Des Weiteren gilt es (je nach individueller Problemlage) komorbide Störungen zu behandeln, was bspw. durch soziale Kompetenztrainings, Übungsbehandlungen, gezielte För- derung (z.B. in Form von spezieller Nachhilfe bei Teilleistungsstörungen) oder Lerntherapien verwirklicht wird (vgl. WOLFF METTERNICH & DÖPFNER 2010, S.337; REIMANN-HÖHN 2001, S.36).

Die Therapieplanung sollte ebenso bei der Person mit dem Störungsbild selbst ansetzen und die Zone der proximalen Entwicklung14 nach WYGOTSKI (1987) einbeziehen, wie auch die Eltern und wichtige Bezugspersonen innerhalb der Schule/des Kindergartens involvieren (vgl. NISSEN & TROTT 1995, S.242). Sie sollte ganz individuell auf die Person mit AD(H)S, ihre jeweilige Symptomatik und sich daraus ergebende Probleme, dem Lebensumfeld sowie die psychoso- ziale Situation zugeschnitten sein. Weiterhin empfiehlt sich ein adaptives multi- modales Vorgehen, welches mit einer Behandlungsmaßnahme beginnt und in der Folge weitere Therapien und Interventionen kombiniert (vgl. DÖPFNER & SOBANSKI 2010, S.282). Zur Planung einer multimodalen Therapie bei Schul kin- dern erweist sich der Entscheidungsbaum nach DÖPFNER und Mitarbeitern (2007) sinnvoll (vgl. DÖPFNER ET AL. 2007, S.60)15. Zur Behandlungsplanung bei Vorschulkindern kann sich am Entscheidungsbaum zur multimodalen Therapie von external auffälligen Kindern im Kindergartenalter der eben angeführten Au- toren orientiert werden (vgl. ebd., S.65)16. Grundsätzlich bildet Psychoedukation von Patient, Eltern und gegebenenfalls weiteren wichtigen Bezugspersonen die Basis jedweder therapeutischen Intervention (vgl. DÖPFNER & SOBANSKI 2010, S.283). Ziel der Behandlung ist sowohl der kompetente Umgang mit sich selbst (patientenzentriert) als auch, dass wichtige Bezugspersonen Fertigkeiten, Stra- tegien und Techniken im Umgang mit dem Patient erwerben (familien- bzw. vor- /schulzentriert) (vgl. NEUHAUS 2000, S.187).

Nach NISSEN & TROTT (1995) sind in der Mehrzahl der Fälle spezielle Hilfestel- lungen sowohl im sozialen als auch im schulischen Bereich von Nöten (vgl. NISSEN & TROTT 1995, S.243). Nicht zuletzt soll durch den Einsatz eines breiten Spektrums an Maßnahmen der Transfer17 auf verschiedene Lebensbereiche positiv unterstützt werden (vgl. DÖPFNER & SOBANSKI 2010, S.282-283).

Nachdem der multimodale Behandlungsansatz in seinen wesentlichen Aspek- ten dargestellt wurde, soll anschließend auf einzelne Interventionsmöglichkeiten eingegangen werden. Den Anfang bildet die Psychoedukation.

2.5.2. Psychoedukation

Gemäß nationalen und europäischen Leitlinien zur Therapie von AD(H)S bildet eine ausführliche Aufklärung und Beratung der Eltern, Lehrer/Erzieher und des Patienten (am jeweiligen Entwicklungsstand orientiert) die Basis aller weiteren Interventionen (vgl. DÖPFNER ET AL. 2000b, S.20; LAUTH & SCHLOTTKE 2008, S.347; SCHÜRMANN & DÖPFNER 2010, S.258).

Psychoedukation kann allgemein definiert werden als „(…) Schulung von Men- schen (…), die an einer psychischen Störung leiden“ (SCHÜRMANN & DÖPFNER 2010, S.258). Da es sich bei AD(H)S um eine psychische Störung handelt, wel- che sich in den meisten Fällen in der Lebensphase Kindheit manifestiert, sind in erster Linie Eltern und andere wichtige Bezugspersonen maßgeblich in die Psy- choedukation mit einzubeziehen. Je jünger das Kind ist, desto mehr konzen- triert sich die Psychoedukation auf die Eltern, Erzieher und Lehrer (vgl. SCHLEI- DER 2009, S.59-60; SCHÜRMANN & DÖPFNER 2010, S.258). Grundlegend ist eine vertrauensvolle und tragfähige Beziehung, welche der Person mit AD(H)S und den Eltern Verständnis und ein Gefühl der Annahme vermittelt. Nur so sind sie offen und bereit für Informationen und weitere Interventionen (vgl. SCHÜRMANN & DÖPFNER 2010, S.258-259; TAUSCH 2006, S.575; SPONSEL 1995, S.227).

Als wesentliche Bestandteile von Psychoedukation sind neben der Aufklärung über das Störungsbild AD(H)S und dadurch bedingte typische Verhaltens- schwierigkeiten die Besprechung der jeweils individuell vorliegenden Sympto- matik sowie die Erarbeitung eines angemessenen Erklärungsmodells zu nen- nen (vgl. SCHLEIDER 2009, S.58; LAUTH & SCHLOTTKE 2008, S.347). Indem per- sönliche Erfahrungen mit gegenwärtigem Wissen über die Störung verbunden werden, kann das Störungsbild AD(H)S besser verstanden und in der Folge ein positiverer Umgang erreicht werden (vgl. SCHÜRMANN & DÖPFNER 2010, S.258). Nach NEUHAUS (2000) ist ein funktionelles Verstehen der Symptomatik wesent- lich (vgl. NEUHAUS 2000, S.197).

Zudem erfolgt eine realistische Einschätzung der spezifischen Probleme und Möglichkeiten des Kindes sowie über seinen vermutlichen Entwicklungsverlauf. Des Weiteren sollen verschiedene Behandlungsmaßnahmen vorgestellt und ein individueller Behandlungsplan erstellt werden. Bezüglich der Beratung der El- tern sind grundlegende pädagogische Strategien im Umgang mit dem Kind so- wie die Vermittlung bestimmter Techniken zur Bewältigung konkreter Problem- situationen wesentlich, stets mit Raum für den Einbezug auch anderer Belas- tungen innerhalb der Familie (z.B. Partnerschaftsprobleme oder schwierige so- zioökonomische Bedingungen, die Stress verursachen und sich negativ auf das familiäre Klima auswirken können) (vgl. DÖPFNER 2003, S.184; SCHLEIDER 2009, S.58). Das KAP-Konzept nach SCHÜRMANN & DÖPFNER (2010) greift die eben angeführten wesentlichen Aspekte von Psychoedukation auf und integriert sie in ein dreistufiges Programm (näheres bei SCHÜRMANN & DÖPFNER 2010, S.260- 266). Im Anhang findet sich ein Schaubild der wesentlichen Aspekte dieses Konzepts (siehe Anhang, S.xxix)

Aufgrund der vielseitigen Aufgaben und Elemente, welche in der Psychoeduka- tion Anklang finden und bearbeitet werden, bildet sie einen wesentlichen Teil innerhalb des Therapieprozesses (vgl. SCHLEIDER 2009, S.58). In der Kölner Studie zur Wirksamkeit multimodaler Behandlung von Kindern mit ADS von DÖPFNER und Mitarbeitern (2004) konnte bereits im Verlauf einer Psychoeduka- tion von Eltern und Lehrern auf verhaltenstherapeutischer Grundlage eine Ver- minderung der Symptomatik beobachtet werden (vgl. SCHÜRMANN & DÖPFNER 2010, S.270).

Psychoedukation kann in Form von Einzel- oder Gruppenberatung stattfinden. Elterngruppen sind besonders geeignet, über das Störungsbild, mögliche Ent- stehungsbedingungen und Interventionsmaßnahmen zu sprechen und spezifi- sche Hilfen sowie Strategien und Problemlösetechniken für den Alltag zusam- men herauszuarbeiten. Gemeinsame Erfahrungen können geteilt und negative Erlebnisse besprochen werden; die Gruppe wirkt für ihre einzelnen Mitglieder unterstützend und stärkend (vgl. SCHÜRMANN & DÖPFNER 2010, S.259). Diese Gedanken werden in Elterntrainings aufgegriffen und umgesetzt18.

Neben der Psychoedukation, die als Basis jedweder therapeutischen Interventi- onen gesehen werden sollte (vgl. DÖPFNER ET AL. 2000b, S.20), wird im An- schluss die medikamentöse Therapie erläutert.

2.5.3. Pharmakotherapie

In der medikamentösen Therapie bei AD(H)S haben sich vor allem zwei Wirk- stoffgruppen als effektiv erwiesen: Psychostimulanzien und Atomoxetin (vgl. DÖPFNER ET AL. 2008, S.266). Unter Psychostimulanzien versteht man „(…) zentralnervös aktivierende Medikamente (…)“ (DÖPFNER ET AL. 2007, S.35), welche den Hirnstoffwechsel beeinflussen, hauptsächlich auf den Neurotrans- mitter Dopamin einwirken (vgl. DÖPFNER ET AL. 2006, S.89) und 1937 von BRAD- LEY im Rahmen der Pharmakotherapie eingeführt wurden (vgl. BANASCHEWSKI & ROTHENBERGER 2010, S.289; NISSEN & TROTT 1995, S.243; FITZNER & STARK 2000, S.270; DIETERICH 2002, S.82-83). Vor allem Amphetamin und Methylphenidat (ein Wirkstoff, den Medikamente wie Ritalin, Medikinet, Equasym und Concerta beinhalten) kommen in der Stimulanzientherapie zum

Einsatz (vgl. DÖPFNER ET AL. 2006, S.88). Methylphenidat (MPH) gilt als das weltweit am häufigsten eingesetzte Stimulans (vgl. DÖPFNER 2003, S.185; TROTT & WIRTH 2000, S.210; BANASCHEWSKI & ROTHENBERGER 2010, S.289). Atomoxetin (Strattera) wirkt sich vor allem auf den Botenstoff Noradrenalin aus (vgl. DÖPFNER ET AL. 2006, S.89), wird derzeit aber mit Vorsicht verschrieben, da es in einzelnen Fällen Depressionen sowie aggressives, feindseliges und sogar suizidales Verhalten19 auslöste (vgl. SCHLEIDER 2009, S.85-86).

Die Wirksamkeit der Psychostimulanzienbehandlung gilt durch zahlreiche kon- trollierte klinische Studien als von allen Therapieformen am besten belegt - zu- mindest solange die Medikamente eingenommen werden, da sie sich durch eine zeitbegrenzte Wirkungsweise auszeichnen (vgl. BANASCHEWSKI & ROTHEN- BERGER 2010, S.289; DÖPFNER ET AL. 2007, S.35; DÖPFNER 2003, S.185). Neue- re Studien zeigen, das zwischen 70 und 90% der Kinder positiv auf Stimulanzi- en reagieren (Responder). Die Responderrate jüngerer Kinder (unter 5 Jahre) liegt bei etwa 50% (vgl. DÖPFNER ET AL. 2006, S.88; DÖPFNER ET AL. 2008, S.266). In vielen Studien, Übersichtsarbeiten und Meta-Analysen konnten Kurz- zeiteffekte von Psychostimulanzien nachgewiesen werden (vgl. DÖPFNER ET AL. 2007, S.35). Eine Übersicht verschiedener Wirkungen findet sich im Anhang (siehe S.xxx). Interindividuell ist von unterschiedlichen Wirkungen und Thera- pieeffekten auszugehen, da die Symptome jeweils verschieden ausgeprägt sind, eventuell (eine) komorbide Störung(en)20 und eine individuelle Entwick- lungsgeschichte mit vielen, oft nicht positiv besetzten (Lern-)Erfahrungen, Miss- erfolgen und Beschimpfungen sowie daraus resultierend ein vermindertes Selbstwertgefühl bzw. negatives Selbstbild vorliegen, welche mittels Medikation nicht so einfach „weggezaubert“ werden können (vgl. SCHLEIDER 2009, S.84; NEUHAUS 2002, S.193).

Die Nebenwirkungen (am häufigsten Durchschlafstörungen und Minderung des Appetits) sind in den meisten Fällen gering, zeigen sich nur vorübergehend und treten nach Absetzen der Medikamente meistens nicht mehr auf (vgl. DÖPFNER ET AL. 2006, S.90-91). Im Anhang findet sich eine Übersicht der Nebenwirkun- gen unter Psychostimulanzien (siehe Anhang, S.xxx).

Die Pharmakotherapie ist in erster Linie eine Behandlung der Symptome. Ne- ben den Kernsymptomen von AD(H)S werden aufgrund der unter Medikation verbesserten Ausgangslage zusätzlich nichtstörungsspezifische Wirkungen er- zielt, wie z.B. teilweise Verbesserungen der psychosozialen Situation (vgl. SCHLEIDER 2009, S.83; FITZNER & STARK 2000, S.276). Die Behandlung ist je- doch nur so lange wirksam, wie sie durchgeführt wird. Die Symptome werden nicht ursächlich angegangen, sondern treten wieder zutage, sobald das Medi- kament abgesetzt wird. Die positiven Effekte verschwinden mit dem Absetzen der Medikation (vgl. DÖPFNER ET AL. 2006, S.89; SCHLEIDER 2009, S.83; DÖPF- NER 2003, S.185), was bisherige Studien zu Langzeiteffekten bestätigen können (vgl. DÖPFNER ET AL. 2006, S.89). Beispielsweise konnte PELHAM (1985) wie auch WEISS & HECHTMAN (1993) Langzeitwirkungen bei ausschließlich mit Psy- chostimulanzien behandelten Kindern gegenüber unbehandelten Kindern nicht aufzeigen (vgl. DÖPFNER ET AL. 2000b, S.29).

Eine Pharmakotherapie erscheint sinnvoll, wenn…

- sich die Symptomatik durch andere bisherige Interventionen und Thera- pieverfahren nicht zufriedenstellend verbesserte bzw. sich das auffällige Verhalten nicht reduzierte.
- die auffälligen Verhaltensweisen extrem stark ausgeprägt sind und situa- tionsübergreifend (in allen Lebensbereichen) bestehen. In diesem Fall kommt es zu massiven Problemen sowie krisenhaften Zuspitzungen in der Schule und/oder in der Familie, die weitere Beschulung ist unmittel- bar bedroht. Hausaufgaben können in der Familie dann oft nur noch un- ter größtem Aufwand vollbracht werden (vgl. LAUTH & SCHLOTTKE 2008, S.347; DÖPFNER ET AL. 2006, S.95-96).

Innerhalb eines multimodal ansetzenden Behandlungsplanes kann das Medi- kament (stets individuell dosiert) eingesetzt werden, um das Kind (im Falle einer schwer ausgeprägten Symptomatik) für die anderen Therapieformen überhaupt erst aufnahmebereit zu machen. Des Weiteren können Medikamente die Wirk- samkeit anderer Interventionen erhöhen, da das Kind in die Lage versetzt wird, seine Umwelt genauer wahrzunehmen und erfolgreicher zu reagieren (vgl. SCHLEIDER 2009, S.82-83; DÖPFNER ET AL. 2006, S.90, 98). FITZNER & STARK (2000) heben hervor, dass „(…) Stimulanzientherapie wie eine Brille wirkt - (…) den Effekt sehen wir nur während der Gabe des Medikamentes – und nicht wie ein Antibiotikum, das die Erkrankung mit Stumpf und Stiel beseitigt“ (FITZNER & STARK 2000, S.279).

Im Rahmen der medikamentösen Behandlung kommt der Psychoedukation ei- ne wesentliche Aufgabe zu, indem sie bei Eltern wie Kindern (in altersange- messener Form) bezüglich der genannten Aspekte Aufklärungsarbeit leistet21.

Bei der Behandlung von AD(H)S bedient man sich häufig der Kombination von Medikamentengabe und verhaltenstherapeutischen Methoden. Im Folgenden soll auf wesentliche Elemente der Verhaltenstherapie eingegangen werden.

2.5.4. Klassische und kognitive Verhaltenstherapie

Nach NEUHAUS (2002) versteht die Verhaltenstherapie „(…) menschliches Ver- halten als ständiges Zusammenspiel von automatisch ablaufenden körperlich- emotionalen Prozessen (z.B. Herzschlagerhöhung bei Aufregung), mit gedank- lichen Inhalten (z.B. Einstellungen, Erinnerungen) und motorischer Umsetzung (Handeln, Sprechen, Körpersprache)“ (NEUHAUS 2002, S.207). Bedeutsam ist die jeweils individuell vorliegende Lernbiographie eines Menschen unter beson- derer Rücksichtnahme, dass das Zusammenwirken der eben angeführten Be- reiche gestört sein kann (vgl. ebd.). Während die klassische Verhaltenstherapie den Mensch (ausgehend von beobachtbaren Handlungen) auf ein Reiz- Reaktions-System reduziert, berücksichtigt die kognitive Verhaltenstherapie die Kognitionen einer Person hinsichtlich ihrer Bedeutsamkeit bei der Entstehung von Fehlverhalten bzw. Problemsituationen. Erstere behandelt und kontrolliert störende bzw. unerwünschte Verhaltensweisen und setzt zu diesem Zweck hauptsächlich Verstärkerprogramme ein. Dahingegen stellt die kognitive Verhal- tenstherapie Verhaltenssymptome zumindest in einen komplexen Kognitionszu- sammenhang (vgl. VERNOOIJ 1992, S.74).

Verhaltenstherapeutische Interventionen bilden eine wesentliche Säule inner- halb der multimodalen Therapie bei AD(H)S, gelten in diesem Rahmen als am besten evaluiert und sind somit als zentrale psychosoziale Behandlungsele- mente zu betrachten (vgl. SCHLEIDER 2009, S.63; WOLFF METTERNICH & DÖPF- NER 2010, S.335). Wie die Behandlungsansätze im Allgemeinen lassen sie sich in patientien-, familien- und kindergarten- bzw. schulzentrierte Interventionsfor- men unterteilen (je nachdem, wer im Fokus der Behandlungsmaßnahme steht) Diese werden innerhalb der Verhaltenstherapie miteinander kombiniert, um die problematischen Verhaltensweisen in mehreren Lebensbereichen angehen zu können (vgl. DÖPFNER ET AL. 2008, S.267-270; DÖPFNER ET AL. 2000b, S.21).

Kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlungsmaßnahmen wurden in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelt und basieren wesentlich auf den Arbeiten von DOUGLAS (1975), MEICHENBAUM und GOODMAN (1971) (vgl. DÖPFNER ET AL. 2000b, S.24; DÖPFNER ET AL. 2007, S.37; BAUER 2007, S.77-81). Im Rahmen patientenzentrierter Interventionen werden dem von AD(H)S betrof- fenen Menschen Strategien vermittelt, mit deren Hilfe er in problematischen Situationen zu angemessenen Verhaltensweisen befähigt wird (kognitiv). Dabei spielen verschiedene Methoden der Verhaltensmodifikation eine Rolle, z.B. Verstärkung, Verhaltensformung, -verkettung (verhaltenstherapeutisch) (vgl. EISERT 2000, S.158-159; NEUHAUS 2002, S.207-208). Eine Darstellung ver- schiedener Elemente kognitiv-verhaltenstherapeutischer Behandlung findet sich im Anhang (S.xxxi).

Durch Methoden der operanten Konditionierung, der Stimuluskontrolle22, Aufmerksamkeits- und Konzentrations- / Selbstinstruktionstraining und Vermitt- lung von Selbstmanagement-Methoden sollen verschiedene Defizite des Kin- des23 vermindert und entsprechende Fähigkeiten aufgebaut werden (vgl. SCHLEIDER 2009, S.65-69; WOLFF METTERNICH & DÖPFNER 2010, S.336-337).

Ziel von Selbstinstruktionstrainings ist eine gesteigerte Verhaltenssteuerung, welche über eine Verbesserung der Selbstregulationsfähigkeiten sowie der re- flexiven Problemlösestrategien erreicht werden soll. Das Kind soll neben der Kontrolle seines impulsiven Denk- und Handlungsstils lernen, seine Aufmerk- samkeit anhaltender zu zentrieren und reflektierte Handlungspläne zu entwi- ckeln, um infolgedessen Aufgaben besser bearbeiten und lösen zu können (vgl. DÖPFNER ET AL. 2000b, S.24; DÖPFNER ET AL. 2007, S.37). Ihm soll beigebracht werden, sich bei Aufgaben oder in sozialen Situationen selbst Anweisungen zu geben, wie es sich am besten verhalten kann (vgl. SCHÄFER 2001, S.65). Ge- lernt wird am Modell des Therapeuten, der laut denkt und demonstriert, wie er sich bei einer Aufgabe in kleinen Schritten selbst anleitet. Das Kind lernt, Fra- gen und einzelne Handlungsschritte nach einem bestimmten Schema einzeln abzuarbeiten und sich bei Erfolg selbst zu bestätigen bzw. zu verstärken. Selbstkontrolle gilt hierbei als ein wesentlicher Aspekt und wird durch soge- nannte (Selbst-)Instruktions- oder Signalkarten unterstützt (vgl. SCHÄFER 2001, S.66-67; SCHLEIDER 2009, S.67-68; DÖPFNER ET AL. 2007, S.37-38; DÖPFNER ET AL. 2006, S.80-82; DÖPFNER ET AL. 2000b, S.24). Im Laufe der Verhaltensthera- pie werden Selbstinstruktionen mit Belohnungssystemen bzw. dem Entzug von Tokens kombiniert und es werden schulähnliche Materialien einbezogen, um den Transfer in den Lebensbereich Schule zu unterstützen (vgl. SCHÄFER 2001, S.66-68). Aufmerksamkeits- und Konzentrationstrainings, welche den Auf- bau eines planvollen Arbeitsverhaltens zum Ziel haben, können dem Selbstin- struktionsansatz zugeordnet werden (z.B. das Training mit aufmerksamkeitsge- störten Kindern nach LAUTH & SCHLOTTKE) (vgl. LAUTH & SCHLOTTKE 2009; DÖPFNER ET AL. 2006, S.80-81). Das Therapieprogramm für Kinder mit hyperki- netischem und oppositionellem Problemverhalten (THOP) von DÖPFNER ET AL. (2007) enthält ebenfalls Selbstinstruktionsanteile (vgl. LEHMKUHL & DÖPFNER 2008, S.223).

M e thoden des Selbstmanagements sollen das Kind dazu anleiten, in ver- schiedenen Lebensbereichen (Schule, Familie) auf sein eigenes (auffälliges) Verhalten zu achten und auftretende Verhaltensprobleme zu registrieren. Durch den Versuch der Einhaltung bestimmter Regeln sowie einer positiven Selbst- verstärkung bei erfolgreicher Bewältigung einer Situation soll das Kind in kriti- schen Situationen (welche vorher in der Therapie mit dem Kind gemeinsam er- arbeitet und „identifiziert“ wurden) alternative, angemessene Verhaltensweisen zeigen (vgl. SCHLEIDER 2009, S.68-69; DÖPFNER ET AL. 2007, S.39; DÖPFNER ET AL. 2000b, S.25). Meist werden Selbstmanagement-Methoden mit anderen Hilfsmaßnahmen kombiniert, bspw. mit Fremdverstärkung, Selbstinstruktion oder Kontingenzmanagement (Verstärkerpläne z.B. Tokenprogramme im Sinne von „Münzverstärkerprogrammen“. Diese sehen Verstärkervergabe für er-wünschtes, Verstärkerentzug bei unerwünschtem Verhalten vor) (vgl. DÖPFNERET AL. 2007, S.39; LAUTH & SCHLOTTKE 2000, S.678-679).

[...]


1 Das Abkürzungsverzeichnis beinhaltet Abkürzungen, die nicht im Text eingeführt werden

2 International Classification of Diseases

3 Siehe Kap. 2.3.3 Begleit- und Folgesymptomatik bzw. 2.3.4 AD(H)S als Entwicklungsgefähr- dung bzw. nachhaltiges Entwicklungsrisiko

4 siehe Anhang S.xxii

5 z. B. Neuigkeitsgrad der Aufgabe/Aktivität, unmittelbare positive Verstärkung bzw. Belohnung oder milde Bestrafung

6 Siehe Kap. 2.1 Begriff

7 Der Begriff Selbstkonzept (engl. „self-concept“) bezeichnet das „mentale Modell einer Person über ihre Fähigkeiten und Eigenschaften“ (MOSCHNER/DICKHÄUSER 2006, S.685)

8 Der Begriff Entwicklungsaufgabe wurde von HAVIGHURST (1972) geprägt und bezeichnet „eine Aufgabe, die zu einem bestimmten Zeitpunkt oder in einer Phase im Leben eines Individuums auftritt, deren erfolgreiche Bewältigung zu Zufriedenheit und zu Erfolg mit späteren Aufgaben führt, während Misserfolg in der Unzufriedenheit des Individuums, der Missbilligung der Ge- sellschaft und Schwierigkeiten mit späteren Aufgaben resultiert“ (zit. HAVIGHURST 1972 in WIL- KENING ET AL. 2008, S.136)

9 siehe Kapitel Begleit- und Folgesymptomatik

10 z.B. der Hefepilz Candida albicans

11 selbst, wenn Hinweiszeichen diesbezüglich fehlten

12 Diese Hirnregion ist wesentlich an der Steuerung von Daueraufmerksamkeit, Hemmungspro- zessen und geteilter Aufmerksamkeit beteiligt und gegenüber Veränderungen in seiner neuro- chemischen Umgebung sehr empfindlich. Da Noradrenalin und Dopamin in gewisser Weise zusammenarbeiten kann der präfrontale Cortex das Verhalten nur angemessen kontrollieren und befriedigende Aufmerksamkeitsleistungen erbringen, wenn ein fast optimaler Noradrenalin- und Dopaminspiegel vorhanden ist - was bei dem Störungsbild AD(H)S aber nicht der Fall ist (vgl. LAUTH & SCHLOTTKE 2009, S.44).

13 Siehe Abbildung im Anhang S.xxvii

14 Unter „Zone der proximalen Entwicklung“ wird die „Distanz zwischen dem aktuellen Entwick- lungsniveau eines Kindes – determiniert durch unabhängiges, individuelles Problemlösen – und dem höheren Niveau der potentiellen Entwicklung – determiniert als soziales Problemlösen, sei es durch Hilfe eines Erwachsenen oder Gleichaltriger“ verstanden (KUSCH 1993, S.73)

15 Siehe Abb.11 im Anhang, S.lxiii

16 Siehe Abb.12 im Anhang, S.lxiv

17 Transfer kann mit MÄHLER & STERN (2006) definiert werden als „(…) erfolgreiche Anwendung angeeigneten Wissens bzw. erworbener Fertigkeiten im Rahmen einer neuen, in der Situation der Wissens- bzw. Fertigkeitsaneignung noch nicht vorgekommenen Anforderung (…)“ (MÄH- LER/STERN 2006, S.782)

18 Siehe Kap. 3 E lterntrainings

19 Bei einem 16-jährigen Patient kam es zu einem Selbstmord (vgl. SCHLEIDER 2009, S.86)

20 z.B. Lernstörungen

21 Siehe Kap. 2.5.2 P sychoedukation

22 Reize reduzieren, die eine Auslösung des problematischen Verhaltens begünstigen, z.B. möglichst reizarmer Arbeitsplatz (vgl. SCHLEIDER 2009, S.67)

23 Aufmerksamkeits- und Impulskontrollstörung, eingeschränkte exekutive Funktionen, man- gelnde Selbstregulation (vgl. WOLFF METTERNICH & DÖPFNER 2010, S.336-337)

Ende der Leseprobe aus 204 Seiten

Details

Titel
Psychoedukation bei AHS und ADHS. Evaluation im Rahmen eines Elterntrainings
Hochschule
Universität Koblenz-Landau  (Sonderpädagogik)
Veranstaltung
AD(H)S
Note
1.0
Autor
Jahr
2010
Seiten
204
Katalognummer
V497413
ISBN (eBook)
9783346015020
ISBN (Buch)
9783346015037
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Diplomarbeit wurde mit der Bestnote 1.0 bewertet.
Schlagworte
ADS, ADHS, Hyperaktivität, Evaluation, Psychoedukation, Elterntraining, Verhaltensstörung, Aufmerksamkeitsstörun, Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, Problemverhalten
Arbeit zitieren
Stefanie Scheuring (Autor:in), 2010, Psychoedukation bei AHS und ADHS. Evaluation im Rahmen eines Elterntrainings, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/497413

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