Pastorale Paradigmen. Wie Gemeinde heute gelebt werden kann


Hausarbeit, 2019

21 Seiten


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1. Einleitung

2. Pastorale Paradigmen
2.1 Was ist ein Paradigma?
2.2 Die fünf Pastoralen „Paradigmen“
2.2.1 Die Pastoral der „Weitergabe“ oder „Rahmung“
2.2.2 Eine Pastoral der ansprechenden Präsenz
2.2.3 Eine Pastoral des Vorschlagens
2.2.4 Ein Pastoral der Initiation
2.2.5 Das Zeugende Pastoral
2.3 Das Urchristentum und die Möglichkeit des zeugenden Pastorales
2.3.1 Jesus wollte eine Kirche gründen
2.3.2 Fundamentlegung
2.3.3 Ämterentstehung
2.3.4 Die Rolle des Paulus

3. Schlussbetrachtungen

4. Literatur

Einleitung

Nach den Erschütterungen des von Papst Johannes XIII. einberufenen II. Vatikanischen Konzils und seiner grundlegenden Umsetzung in Deutschland durch die Würzburger Synode von 1971 – 1974 kam es in allen Bereichen des kirchlichen Lebens zu grundlegenden Änderungen. Nicht nur dass Strukturen verändert, die Gottesdienstform, ja, die Sprache während der Liturgie etc. geändert wurden, sondern vielleicht ist es das untrügliche Wissen darum, dass es ein Zurück zu vor 1963 nicht mehr geben kann, was entscheidend ist und den Umbruch beschleunigte und chronifizierte.1 Viele mögen sich gern die alten Zeiten zurückwünschen, als der nahezu omnipotente Pfarrer im Rahmen der Versorgungskirche noch das Zentrum bildete, um das herum sich seine Gemeinde (Koinonia) mit den verschiedensten Diensten im Sinne von Liturgia, Martyria und Diakonia aufstelle.2 Hier galt ganz im Sinne der klassisch gewordenen Studien von M. Webers der Priester noch ganz als die eschatologische Vermittlungsinstanz, indem er die Messe hielt, die Sakramente spendete und die Beichte abnahm, um nur drei der zentralen Funktionen zu nennen. Wer also einen sicheren Platz im Himmel anstrebte, musste sich ein Leben lang um ein gutes Verhältnis zum Pfarrer und dessen Amt zumindest bemühen. Diese Phase ist (wohl) unwiederbringlich vorbei, auch wenn sie in den Köpfen noch vieler sowohl junger wie älterer Gläubiger eine maßgebliche Bezugsgröße darstellt. Einst bot – wie P. Bacq betont - die Kirche im gesamten abendländischen Kontext die „Rahmung“ innerhalb der die „Weitergabe“ christlicher Vorstellungen, Glaubensinhalte und Rituale als selbstverständlich galt.3 Diese Selbstverständlichkeit ist seit ca. 50 Jahren komplett in Frage gestellt, was zur Folge hatte, dass die Kirche sich über die Kirche der Mithelfer und Unterstützer zu einer Kirche in der Krise entwickelte, wobei diese Krise auch ein neues Erwachen mit sich brachte und eine Sensibilität für die Lebenslagen der Menschen in der Moderne, Postmoderne oder 2. Moderne.4 Dies hat ein ganzes neues Bild von Diözese zur Folge. Wer sich heute mit der Struktur einer Seelsorgeeinheit beschäftigt, stößt hier neben dem Pfarrer und den Hauptberuflichen auf zahlreiche nebenberuflich – langjährige oder vorübergehend - engagierte Laien,5 die sich in alle Felder der Kirchenarbeit einzubringen versuchen – manchmal mit großem Erfolg, manchmal mit weniger Erfolg. Aber selbst diese Änderungen lassen keinen Zweifel daran, dass 2030 nochmals mit weiteren strukturellen und personellen Einschnitten und mit einem weiteren Pfarrerschwund zu rechnen ist. Man gewinnt ein wenig den Eindruck, dass egal, wie die Planungen des Hasen aussehen, der Igel der Verzweiflung immer schon da ist, wenn man glaubt, das Ziel erreicht und ein neues gesteckt zu haben.

Deshalb macht man sich heute in allen europäischen Ländern Gedanken darüber, wie es in einer globalisierten, pluralistischen und säkularisierten Welt mit Kirche, Glauben und Gemeinschaft weitergehen könnte und ob es nicht alternative Modelle von Kirche und Gemeindeleben geben könnte, wenn die alten, überkommenden Paradigmen nicht mehr greifen. Hierbei ist man auf den Nachbarn Frankreich gestoßen, schlichtweg weil dieser bereits durch die Revolution 1789 einen ganz neuen Weg im Verhältnis zwischen Staat und Religion gegangen ist. Frankreich war das erste Land, das einen kompletten Laizismus durchgesetzt hat, und zwar bereits am Beginn des 20. Jahrhunderts.6 Anders als Deutschland, das ja mit dem Modell der Kirchensteuer noch immer die Idee der Ausgleichszahlung verfolgt, ist in Frankreich der Glaube tatsächlich eine Privatsache geworden, was allerdings nicht heißt, dass er vollständig aus dem öffentlichen Raum verschwunden ist. Ganz im Gegenteil: Glaube braucht und sucht Gemeinschaft. Deshalb musste die französische katholische Kirche schon seit 200 Jahren neue Wege gehen und deshalb können wir heute, wo nach der äußeren Säkularisierung auch die innere sehr weit vorangeschritten ist, wo Pluralismus und Orientierungslosigkeit scheinbar unaufhaltsam voranschreiten, ein Blick auf die französischen Lösungen von größtem Interesse als je zuvor sein. Frankreich ist bereits Wege gegangen und musste mit Rahmenbedingungen arbeiten und leben, die in Deutschland allmählich auch auftreten. Das ist die Grundidee der Arbeit.

Deshalb werden wir in einem ersten Schritt mit der Vorstellung der vier Paradigmen beginnen, wobei wir den Paradigmenbegriff von Th. S. Kuhn zugrunde legen, weil dieser für die Wissenschaftsgeschichte und deren Genese von grundlegender, nicht zu überschätzender Bedeutung geworden ist. Im Anschluss daran werden die vier Paradigmen vorstellen, um uns ein Bild von ihnen zu machen. Als nächsten Schritt werden wir uns ein Bild vom Urchristentum machen und den Versuch unternehmen zu zeigen, dass wir von den strukturellen Gegebenheiten noch heute lernen können und diese in Verbindung mit dem „zeugenden Paradigma“ bringen können. Unter Verwendung der Diözesanen Leitlinien werden wir die Frage stellen, ob das Konzept mit diesen gut, schlecht oder gar nicht vereinbar ist. Wo gibt es hier Ansatzpunkte? Eine Kritik an dem Konzept und dem zugrunde gelegten Begriff des Paradigmas erfolgt in den Schlussbetrachtungen.

2. Pastorale Paradigmen

2.1 Was ist ein Paradigma?

In seinem meilensteinsetzenden Buch „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ kreierte Th. S. Kuhn einen völlig neuen Begriff von Paradigma, der insbesondere auf ein in sich geschlossenes Weltbild oder ein wissenschaftliches Grundmuster abzielt. Das meint z.B. das ptolemäische Weltbild gegenüber dem kopernikanischen Weltbild. Kuhn schildert hier eingehend eine Genese, die von der Etablierung des ptolemäischen Weltbildes bis hin zu seiner Überwindung durch Kopernikus, Kepler und schließlich Galileo aufzeigt, was letztlich ca. 150 Jahre dauerte. Obwohl bereits in der Antike durch Eratosthenos von Kyrene (276 v. Chr. – 194 v. Chr.) die Kugelform der Erde und ihr Kreisen um die Sonne nachgewiesen wurde,7 konnte sich aufgrund der Autorität des wohl wichtigsten Philosophen nach Platon (427 v. Chr. – 347 v. Chr.), Aristoteles (384 v. Chr. – 322 v. Chr.), durchsetzen: dieser bestritt die zentrale Stellung wie die Kugelform der Erde, was durch den alexandrinischen Mathematiker Claudius Ptolemäus (um 100 n. Chr.)8 endgültig für über 1000 Jahre zementiert und mit mathematischen Mitteln bewiesen wurde. Seine drei Standardwerke zur Astronomie waren das ganze Mittelalter hindurch Grundlage für die Ausbildung. Sein Werk „Almagest“ enthielt eine ausführliche Beschreibung und Begründung für das geozentrische Weltbild. Dies geriet aber durch die Jahrhunderte in immer größere Erklärungsnöte, musste immer häufiger Ungenauigkeiten erklären etc. Das führte zu immer komplexeren Berechnungen, weil sich ein ganzer Wulst an Vorannahmen, Formeln etc. über jede neue Entdeckung legte. So geriet das Weltbild des Ptolemäus immer mehr in die von Kuhn so eindringlich beschriebene Krise, ohne jedoch gestürzt zu werden. Eine Krise ist also unbedingt nötig, damit es reichlich Motive gibt, diese evolutionäre Phase durch eine Revolution (revolutio lat. = Umkehrung) ein für alle Mal zu stürzen und eine gänzlich neue Idee an diese Stelle zu setzen. In diesem Fall war es die kopernikanische Wende, nämlich dass Kopernikus (1473 – 1543)9 die Erde aus dem Mittelpunkt entfernte und an diese Stelle die Sonne setzte und somit die Erde in die Reihe der Planeten einordnete. Nun war auch dieser Paradigmenwechsel nicht von Beginn an durchschlagend, wie man annehmen könnte. Allein der Umstand, dass Kopernikus sein Werk De revolutionibus orbium coelestium erst posthum veröffentlichen ließ, zeigt, in welcher prekären Situation er sich selbst einschätzte. Und dies nicht zu Unrecht. Es dauerte nochmal 150 Jahre, der drei Keplerschen Gesetze sowie der Erfindung des Teleskops durch Galileos, um eine durchschlagende Überzeugungskraft an den Tag zu legen. Erst dann konnten mit immer neuen Berechnungen im Rahmen einer evolutionären Übergangsphase von einem alten in ein neues Paradigma (= Weltbild) bestätig und gestärkt werden. Die Abfolge, die Kuhn als paradigmatisch für einen Wandel ansieht, lässt sich also wie folgt zusammenfassen: Evolution, Krise, Revolution, Etablierung des Neuen, erneute Evolution. Für Kuhn waren freilich die interessantesten Phasen die der Krise und der eigentlichen Revolution.

Auf dieser Basis entwickelte er einen Begriff von Paradigma, den er allerdings einige Zeit später als Reaktion zahlreicher wohlmeinender Kritiker noch ergänzte bzw. konkretisierte. In einem Aufsatz mit dem Titel „Neue Überlegungen zum Begriff des Paradigmas“,10 in dem er auf Lob und Kritik auf sein Werk reagierte, gab er zu, dass (1) der Begriff des Paradigmas tatsächlich eine zentrale Rolle einnahm, dass er diesen (2) bei weitem nicht einheitlich verwendet habe, sondern vielmehr laut Zählung eines akribischen Kritikers „mindestens 22 verschiedene Bedeutungen“ mit einem breiten Spektrum verwendet habe und (3) dass der Erfolg des Buches sich ein Stück weit damit erklärt, dass „fast jeder alles herauslesen kann, was er will.“11 Diese übertriebene Bescheidenheit muss man nicht so ernst nehmen, vielmehr ist Kuhn für sein gerade vorgestelltes Modell – Evolution, Krise, Revolution, erneute Evolution – in den Wissenschaftskreisen weitaus bekannt. Da aber sein Begriff des Paradigmas vor allem in Verbindung mit dem des „Paradigmenwechsels“ inflationär und zu ganz unterschiedlichen Kriterien verwendet wird, sei doch darauf verwiesen, dass er sich in seinem Aufsatz festlegt auf eine bestimmte Bedeutung. Kuhn macht sich selbst Vorwürfe, er habe dem inflationären Gebrauch selbst Vorschub geleistet, indem er ihn auf so verschiedene Weise verwendet habe: „Das Ergebnis war zwangsläufig eine Verwirrung, und es verwischte die ursprünglichen Gründe für die Einführung eines besonderen Ausdrucks.“ Kuhn geht nun soweit, auf den Begriff gänzlich verzichten zu wollen, was natürlich nicht die letzte Antwort sein kann, zumal ihm diese längst in einer schnelllebigen Forschung auf allen Gebieten aus der Hand genommen wurde. Die Referenzgröße sind bei ihm immer die Vertreter/innen einer Forschergemeinschaft, die sich auf ein bestimmtes Weltbild geeinigt haben, das sie zum Untersuchungsgegenstand erhoben haben. „Sie sehen sich, und werden gesehen, als diejenigen, die für die Verfolgung eines Systems gemeinsamer Ziele verantwortlich sind, darunter die Ausbildung ihrer Nachfolger“12. Es geht also hier um Speicherung und Weitergabe von Wissen. Diese Angehörigen kennen alle ungefähr die gleiche Literatur, verfolgen mit ähnlichen Methoden ähnliche Ziele und sind damit Teil eines Paradigmas. Dadurch bilden sie eine Gemeinschaft, die sich zwar keine überstrengen Regeln auferlegt, aber dies durch „gemeinsame Beispiele erfolgreicher Tätigkeit“ kompensiert. Und weiter: genau „diese Beispiele waren ihre Paradigmen und als solche wesentlich für ihre kontinuierliche Forschung“. Ein Blick in Kuhns revolutionäre Buch zeigt also, dass er vom „Sieg“ des einen Paradigmas über eine anderes, altes spricht, was klar für eine Ablösungsgeschichte spricht. Außerdem kennt er hier auch „konkurrierende Paradigmen“,13 was ebenfalls für ein vorübergehendes Nebeneinander, eben bis zur Ablösung abzielt, also einen Perspektivwechsel innerhalb eines Paradigmas meint. Mit diesen Vorbemerkungen und einem soliden Paradigmenbegriff können wir uns an die eigentliche Vorstellung der vier „Paradigmen“ einer Pastoraltheologie zuwenden.

2.2 Die fünf Pastoralen „Paradigmen“

Was ist mit zeugender Pastoral gemeint? Gibt es Vorstufen, die man eruieren könnte oder ist es ein völlig neues Konzept, das Antworten auf die Herausforderungen der säkularen und pluralistischen Moderne gibt? Philip Bacq postuliert jedenfalls vier Pastorale Paradigmen und verfolgt diese in ihrem zeitlichen Verlauf in der Geschichte. Dabei scheint das eine „Paradigma“ vom jeweils nachfolgenden abgelöst zu werden. Seine Ergebnisse seien an dieser Stelle in aller Kürze vorgestellt.

1.) Die Pastoral der „Weitergabe“ oder „Rahmung“:

Wer zu Beginn vielleicht gar nicht weiß, was gemeint ist mit Begriffen wie „Weitergabe“ und „Rahmung“ wird darüber doch recht schnell aufgeklärt. Es wird nämlich recht undifferenziert eine historische Dimension aufgemacht, indem gesagt wird, „jahrhundertelang“ habe dieses „Pastoral das Leben der Pfarreien bestimmt“.14 Hier wird also in Anschluss an M. Weber, aber eben viel undifferenzierter, das Bild einer Einheitskirche15 gezeichnet, die in einer Art Monopolstellung für die komplette Weitergabe der Glaubensvorstellungen, der Rituale etc. verantwortlich gewesen sei. Insofern habe diese Einheitskirche für die „Rahmung“ des kompletten christlichen Lebens von der Wiege bis zur Barre oder von der Taufe bis zur letzten Ölung Sorge getragen. Das Leben des Einzelnen sowie der Gemeinde, in der er sich verortet wusste, war fest in christlichen Banden. Diese Zeit wird etwas glorifizierend beschrieben als eine „problemloser Glaubenskommunikation“, und zwar sogar zwischen den Generationen. Anschaulich heißt es: „Man wurde Christ wie durch Osmose“, indem man sich die Denk- und Glaubensmuster der älteren Generation wie selbstverständlich aneignete. In einer Art christlichen Generationenvertrag übergab die ältere Generation die Glaubensinhalte an die jüngere und Kinder wurden mit der Taufe in die Gemeinschaft der Gläubigen aufgenommen.

Freilich stand im Rahmen dieser Versorgungskirche der Priester als die Kontaktstelle zum Göttlichen und zugleich als Verwalter der Sakramente im absoluten Mittelpunkt. Er versammelt um sich die Gemeinde und feiert mit ihr die Liturgie, in deren Zentrum die Eucharistie steht, die er und zwar nur er den Gläubigen darreicht. Die Transsubstantiation findet in seinen Händen und durch seine ritualbasierte Beihilfe statt. Damit ist er von unübersteigbarer Bedeutung für jeden Glaubenden, weil das diesseitige wie vor allem das jenseitige Heil eines jeden vom Pfarrer und dessen Wirkungsmächtigkeit abhing – wogegen schwer Widerstand zu leisten war. Alle anderen Dienste hingen ebenfalls eng mit dem Pfarrer zusammen, waren von ihm instruiert, geleitet oder sonst wie genehmigt und unterstützt. Letztlich liefen alle Fäden des christlichen Lebens, alle Dienste etc. bei ihm zusammen. Durch die Beichte konnte er außerdem einen guten Überblick über die Verhältnisse in seiner Pfarrei behalten. Auch wenn er dieses Wissen zwar streng geheim behalten sollte, konnte er viele Jahrhunderte lang sein Handeln und seine Entscheidungen gerade auch in Bezug auf die Mächtigen der Welt gut ausrichten. Außerdem wird auf die relativ homogene Gesellschaft verwiesen, in der das christliche Leben eingebettet war. Letztlich hätten diese ganzen Rahmenbedingungen die Kirche dazu verleitet, auch einen entsprechenden Machtapparat nicht nur aufzubauen, sondern über Jahrhunderte im Sinne Luhmann weiter auszudifferenzieren.16 Das Resultat sei die Formung „einer Christenheit“ gewesen, was allerdings nicht unbedingt heißen mag, die Menschen ebenfalls zu „christianisieren“. Immerhin konnten schlimme Verbrechen an der Menschlichkeit in engen Kontakt mit dem abendländischen Christentum gebracht werden: von der Zerstörung der Schöpfung, der Kolonialisierung bis hin zu zwei Weltkriegen, die nicht verhindert wurden, ja gegen die die katholische Kirche zu wenige Widerstand geleistet hatte. Deshalb ist die kritische Frage nicht zu Unrecht gestellt: „Hat das Evangelium nach so vielen Jahrhunderten der Evangelisierung die Menschen überhaupt verändert?“ Wir wollen hier nicht in eine Fundamentalkritik an christlicher Mission und Verbrechen münden, sondern vielmehr konstatieren, dass das Pastoral der „Weitergabe“ und „Rahmung“ ziemlich unspezifisch über alle abendländischen Kulturen als eine Art Matrize gelegt wird, ohne nach interkulturellen Unterschieden, zeitabhängigen Differenzierungen etc. zu fragen. Es kommen weder die Aufklärung noch die Reformation zur Sprache. Vielmehr wird allein konstatiert, dass es eben aufgrund der oben beschriebenen Erscheinungen in der Moderne diese Pastoralart nicht mehr gibt und bestimmt nicht mehr geben kann

2.) Eine Pastoral der ansprechenden Präsenz:

Deshalb sei in der Folge des 2. Weltkrieges eine neue Art des Pastorales zunächst dem der Weitergabe an die Seite getreten: das „Pastoral der Nähe“ bzw. de “ansprechenden Präsenz“. Nun ist es nicht so, als wäre dieses einfach dagewesen, sondern erst in der Rekapitulation lassen sich erste zaghafte Versuche erkennen, dem Wegbrechen und Wegbleiben klassisch christlicher Milieus gegenzusteuern. In einer immer weiter sich ausdifferenzierenden und säkularisierenden Gesellschaft wird nicht mit der Selbstverständlichkeit der letzten Jahrhunderte der christliche Glaube weitergegeben. Auch auf dem II. Vatikanischen Konzil wollte man diese „Zeichen der Zeit“ mitberücksichtigen und darauf reagieren. In der letzten der vier Verhandlungsperioden zwischen 1962 und 196517 wurde immer deutlicher, dass die Kirche sich in der Welt völlig neu verorten muss und vom Konzil hier erste Ausstrahlungen ausgehen müssten. So entstand der wohl umstrittenste Text von allen: „Gaudium et Spes“, der lange Zeit unter dem Begriff „Folie 22“ firmierte, aber schließlich unter den immerhin 69 Entwürfen mit zahlreichen Verbesserungen und Modifikationen eine neue Sozialordnung der Kirche in der Welt entwarf. So entstand nicht nur der umfangreichste Text des Konzils, „sondern sicher auch der bedeutendste“,18 zumal er ein Eigenprodukt des II. Vatikanischen Konzils ist und keinerlei Vorgänger kennt. Bei alle dem wurde also erstmalig in der Kirchengeschichte der Versuch unternommen, Anschluss zu finden „an die Denkweisen der Frauen und Männer ihrer Zeit.“19 Deshalb sahen immer mehr Konzilsteilnehmer auch das Wirken des Geistes Gottes dort, „wo das Bewusstsein wächst für die Würde der menschlichen Person und ihrer Rechte.“ Dies zielte letztlich auf das Eingeständnis der freien Religionswahl ab, was einigen Konzilsteilnehmern anfangs schwerfiel, aber von anderen nachdrücklich und mit Erfolg gefordert wurde. Gott hat den Menschen als einen freien geschaffen und diese Freiheit schließt die Freiheit der Religion mit ein. Alles andere wäre auch in einer immer weiter globalisierenden Welt schwer begründbar gewesen. Das eigene Gewissen zu befragen, muss also als subjektive Letztinstanz akzeptiert werden, weil eine Wahrheit nur dann eine Wahrheit ist, wenn sie subjektiv angenommen und nicht von oben aufgebürdet ist.

[...]


1 Bereits auf der Würzburger Synode wurde aus diesem Wissen heraus und gegen die offiziellen kirchlichen Richtlinien für Synoden Laien in einem bestimmten Umfang als Zuhörerende und Beratende zugelassen.

2 Vgl. C. Hennecke und G. Viecens, Der Kirchenkurs, 22017, S. 77 f., die von „Versorgungskirche“ sprechen.

3 R. Feiter und H. Müller (Hrsg.). Frei geben, 32013 Ostfildern, S. 31 ff.

4 Vgl. U. Beck, Politik der Globalisierung, Frankfurt am Main 1998.

5 Vgl. dazu D. Steinebach, Getauft und engagiert, Würzburg 2018. Hier wird deutlich zwischen einem statischen, langjährigen Ehrenamt, wie es Teil der „Versorgungskirche“ war, und einem dynamischen, vorübergehenden Ehrenamt, das eher projektartigen Charakter hat, unterschieden. Ersteres wird wohl immer weniger eine Zukunft haben, letzteres hält immer mehr Einzug in die Gemeindearbeit.

6 Vgl. A. Sierszyn, 2000 Jahre Kirchengeschichte, Stuttgart 2018, S. 767 ff.

7 https://de.wikipedia.org/wiki/Eratosthenes (entnommen am 13.7.2019)

8 https://de.wikipedia.org/wiki/Claudius_Ptolemäus (entnommen am 13.7.2019)

9 https://de.wikipedia.org/wiki/Nikolaus_Kopernikus (entnommen am 13.7.2019)

10 Th. S. Kuhn, Die Entstehung des Neuen, S. 389 ff.

11 Vgl. hier und in der Folge Th. Kuhn, Die Entstehung des Neuen, S. 390.

12 Ebd., S. 391.

13 Th. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 159.

14 Vgl. zum Folgenden R. Feiter und H. Müller (Hrsg.). Frei geben, S. 33 ff.

15 Vgl. M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 2: der Katholizismus, Stuttgart ???,

16 Luhmann spricht von Systemen und Subsystemen, die sich in der Gesellschaft immer weiter ausdifferenzieren. Vgl. N. Luhmann, Soziale Systeme, Frankfurt am Main 1987.

17 K. Schatz, Allgemeine Konzilien – Brennpunkte der Kirchengeschichte, S. 263 ff.

18 K. Wenzel, Kleine Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils, S. 175.

19 Vgl. R. Feiter und H. Müller (Hrsg.. Frei geben, S. 35. Man denke hier auch an die Aussagen von M. Galli, der immer wieder darauf aufmerksam macht, dem kleinen Mann und der kleinen Frau und deren Lebensumstände mit in die Erwägungen einzubeziehen. Vgl. dazu M. von Galli, Das Konzil und seine Folgen, Stuttgart 1966.

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Pastorale Paradigmen. Wie Gemeinde heute gelebt werden kann
Veranstaltung
Pastoralkurs Rhein-Neckar-Kreis
Autor
Jahr
2019
Seiten
21
Katalognummer
V496529
ISBN (eBook)
9783668991255
ISBN (Buch)
9783668991262
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Pastoral, Urchristentum, Paulus, Gemeinde
Arbeit zitieren
Dr. Detlef Thiel (Autor:in), 2019, Pastorale Paradigmen. Wie Gemeinde heute gelebt werden kann, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/496529

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Pastorale Paradigmen. Wie Gemeinde heute gelebt werden kann



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden