Werthers Untergang. Eine Analyse dreier Aspekte seiner Persönlichkeit

Werthers Emotionalität, sein Rückzug in eigene Welten und seine Philosophennatur in "Die Leiden des jungen Werther"


Facharbeit (Schule), 2019

27 Seiten, Note: 5,5 (Schweizer Notensystem)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1. Motivation
1.2. Fragestellung und These
1.3. Konzept
1.4. Methode

2. Inhaltliche Analyse
2.1. Extreme und Werthers Emotionalität
2.1.1. Werthers Emotionale Veranlagungen
2.1.2. Verstärkung von Werthers Emotionalität durch Lotte
2.1.3. Sprachliche Manifestation von Werthers Empfinden
2.2. Werthers Eigene Welten
2.2.1. Die Diskrepanz zwischen Werther und der Gesellschaft
2.2.1.a Werther als Einzelgänger
2.2.1.b. Werthers Auflehnung gegen gesellschaftliche Normen
2.2.1.c. Die Kluft zwischen Werthers Stolz und seiner Einschränkung
2.2.1.d. Die Reaktionen der Umwelt auf Werther
2.2.1.d.i. Medicus
2.2.1.d.ii. Adel
2.2.1.e. Die Bedeutung Lottes für Werther
2.2.1.f. Werther als Bürger des 18. Jahrhunderts
2.2.2. Werthers Fantasie
2.2.2.a. Werthers Einbildungskraft
2.2.2.b. Lotte als Werthers Antrieb
2.2.2.c. Werthers Gefangenschaft in Illusionen
2.2.3. Die Bedeutung der Natur für Werther
2.3. Werther als Philosophennatur und Gegensätze
2.3.1. Die Form des Romans
2.3.2. Die Gegensätzlichkeit in Werthers Selbstwahrnehmung
2.3.3. Die Widersprüchlichkeit zwischen Werthers Denken und Handeln
2.3.4. Lotte als Gegensatz zu Werther
2.3.5. Fazit

3. Schlusswort
3.1. Fazit
3.2. Rückblick

4. Appendix

1. Einleitung

1.1. Motivation

«Die Bücher entzünden uns, wenn das Glück uns lacht, sie trösten uns, wenn das Ungemach uns zu quälen beginnt.» - Arthur Schnitzler

Dieses Zitat von Arthur Schnitzler, einem österreichischen Dramatiker und Erzähler, spricht mir aus dem Herzen. Die Macht eines literarischen Werkes, den Leser vollumfänglich in seinen Bann zu ziehen, ist meiner Meinung nach eine der höchsten Künste überhaupt. Einen Menschen mit Worten in jede erdenkliche Gemütslage zu versetzen, zu Tränen zu rühren und zu Freudensprüngen und Wutausbrüchen anzuregen, ist für mich faszinierend. Literatur hat die Menschen über Jahrhunderte in jeder Ecke der Welt begeistert und verzaubert, zu Aufstand und Revolution animiert. Politische Debatten, hitzige Diskussionen über Lebensgrundsätze und die Entstehung, sowie den Umsturz ganzer Gesellschaftsgruppen darf sich die Literatur zuschreiben. Darüber hinaus macht es uns jedes geschriebene Werk möglich, vergangenes Leben und das Wirken einer Gesellschaft zu erfassen. Alles, was die Menschheit gedacht, gefühlt oder erlebt hat, können wir uns mithilfe von verschiedensten Formen der Literatur verbildlichen.

Es sind diese Reize der Wortkunst, die mich dazu veranlasst haben, ihr meine Maturaarbeit zu widmen.

Die Entscheidung, welches Werk im Zentrum meiner Arbeit stünde, fiel mir nicht schwer. Es sollte aus einer frühen literarischen Epoche stammen, da mich die Auseinandersetzung mit einer mir ungewohnten Sprache sowie anderen Weltanschauungen und deren Einflüsse auf ein Werk reizt. Dadurch erlange ich einen Einblick in eine andere Welt und versuche zu verstehen, wie Menschen in vorherigen Jahrhunderten gelebt und gedacht haben. Meine Wahl fiel auf Werther, da mich das Werk bereits bei früherer Lektüre fesselte und mich die facettenreiche Persönlichkeit des Protagonisten faszinierte. Auch die Gestaltung des Romans anhand von Briefen ist aussergewöhnlich und somit interessant zu ergründen.

1.2. Fragestellung und These

Bei der ersten Lektüre des Romans vor einiger Zeit stellte ich bereits die These auf, dass Werther sich nicht aufgrund einer verzweifelten Verliebtheit das Leben nähme, da Goethe ihn äussert differenziert präsentiert. Während der damaligen Diskussionen stand mir die Zeit nicht zur Verfügung, um mich vollumfänglich mit Werther zu beschäftigen. Daher wollte ich die Chance der Maturaarbeit nutzen und meiner Vermutung profund nachgehen. Nachdem ich mich erneut in Goethes Roman eingearbeitet hatte, entwickelte ich schliesslich meine Fragestellung und meine These.

Fragestellung: Inwiefern entspringen die Beweggründe für Werthers Selbstmord seinen persönlichen Veranlagungen?

These: Die Ursprünge von Werthers Verderben sind in seiner Emotionalität zu suchen, in seiner Isolation von der Aussenwelt, seiner Neigung, alles zu hinterfragen und in seinen inneren Gegensätzen.

1.3. Konzept

Meine ursprüngliche Ambition war es, zwei Werke der Literatur miteinander zu vergleichen. Ich finde die Gegenüberstellung verschiedener Autoren, Epochen und Figuren unglaublich mannigfaltig, da sie den Leser dazu auffordert, sich mit den Eigenschaften der Charaktere nicht nur oberflächlich zu befassen, sondern nach Gründen zu suchen, die die Unterschiede erklären, seien dies die Biographie des Autors, Entstehungszeit oder -ort des Werks oder andere Einflüsse, die auf den Text gewirkt haben.

Es war für mich von Anfang an klar, dass eine der beiden literarischen Erschaffungen «Die Leiden des jungen Werther» von Johann Wolfang von Goethe sein würde, da mich der Reichtum an Gesellschaftskritik, verzwickten Verhältnissen zwischen den Charakteren, aber besonders die Komplexität Werthers bereits bei der ersten Lektüre fesselte.

Da mich Werthers Niedergang und schliesslich sein Suizid derart mitrissen, wählte ich als Ausgangspunkt meines Vergleichs das Thema Selbstmord. Natürlich ist dieses Motiv etwas düster, aber man kann daran die Persönlichkeit einer Figur sehr gut aufrollen.

In der Folge habe ich mich auf die Suche nach einem zweiten Text gemacht, der in einer anderen literarischen Epoche geschrieben sein sollte, sodass ich auf die Einflüsse seiner Zeit auf den Autor würde eingehen können. Ich bin auf «Fräulein Else» von Arthur Schnitzler gestossen (1924). Diese Monolog-Novelle schien mir die perfekte Ergänzung zu «Werther» zu sein, da beide jungen Menschen aufgrund innerer Konflikte beschliessen, sich das Leben zu nehmen. Diese inneren Unruhen werden durch äussere Ereignisse verstärkt. Zudem ist die Erzählform beider Texte sehr ich-bezogen; so wird Fräulein Elses Geschichte anhand eines inneren Monologes erzählt. Trotzdem zeigen sich grundlegende Differenzen zwischen Werther und Else: Während zwischen dem Suizid der jungen Frau und einer Provokation ihrerseits Parallelen gezogen werden können, scheint Werther seinen Tod als einzigen Ausweg zu betrachten. Die Handlungsdauer von Elses Geschichte erstreckt sich über einen einzigen Abend, während Werthers Briefe einen Zeitraum von zwei Jahren umfassen.

Diesen Thesen wäre ich sehr gerne nachgegangen, um nebst der inhaltlichen Analyse auch die sprachlichen und kontextuellen Eigenheiten der Werke zu deuten und zu vergleichen.

Als ich aber mit der Analyse von Goethes Roman begann, merkte ich schnell, wie zeitaufwändig und umfangreich allein diese ausfallen würde. Deshalb beschloss ich nach mehreren Stunden Arbeit schweren Herzens, mich von Fräulein Else zu trennen und meine Arbeit auf den jungen Mann zu beschränken, da mir die Zeit nicht erlauben würde, so detailliert, wie ich es mir vorstellte, auf beide einzugehen.

Aus dieser ‘Problematik’ – sprich Werthers Vielschichtigkeit – heraus hat sich auch meine finale These ergeben. Ich bin fest davon überzeugt, dass Goethe als Ursache für Werthers Selbstmord nicht seine enttäuschte Liebe zu Lotte erklärt. Trotz der weit verbreiteten Auffassung, Werther gehe an seinem gebrochenen Herzen zugrunde, steht für mich fest, dass Goethe es sich nicht so einfach gemacht hat. Bereits nach der ersten Lektüre hatte ich erfasst, dass sich Werthers Scheitern auf seine Veranlagungen und seinen Charakters zurückführen lässt, die unter anderem durch Lotte nur verstärkt werden und die für seinen Selbstmord verantwortlich sind. Ein Argument, welches für diese Annahme spricht, ist die Geschichte des Bauernburschen. Dieser repräsentiert den verzweifelten Verliebten, welcher sich aufgrund der unerwiderten Zuneigung in den Tod stürzt. Vergleicht man aber Werther mit ihm, so fällt schnell auf, dass der Protagonist weitaus vielschichtiger ist. Dies lässt sich bereits daran aufzeigen, dass Werther gebildet und vielseitig interessiert ist sowie alles hinterfragend und gesellschaftskritisch dem Leben gegenübersteht. Da ich den Fokus mehr auf Werthers Persönlichkeit legen wollte, ist auch die Thematik des Selbstmordes etwas mehr in den Hintergrund getreten.

1.4. Methode

Das Ziel meiner Arbeit ist nicht eine allumfassende Interpretation der Werther-Figur mit Rücksicht auf alle formalen Aspekte und kontextuellen Begebenheiten. Vielmehr möchte ich mich auf drei Wesenszüge des Protagonisten fokussieren und diese mit umso grösserer Sorgfalt und Tiefe aufarbeiten. Hätte ich die Möglichkeit, meine Maturaarbeit ohne Rücksicht auf die verfügbare Zeit auszudehnen, so würde ich selbstverständlich mit viel Elan die obengenannten Punkte miteinbeziehen und Werther in allen seinen Facetten ergründen.

Bei der Vorgehensweise des Verfassens meiner Maturaarbeit wollte ich von Beginn an möglichst auf die Arbeit mit der Primärliteratur, sprich Goethes Werk «Die Leiden des jungen Werther», konzentrieren. Das textnahe Analysieren finde ich besonders deshalb interessant, weil ich dabei den Fokus auf die Charaktere des Werkes legen und somit nahe beim Autor bleiben kann. Dies ermöglicht mir, eine eigenständige, unabhängige Meinung zu bilden und diese anhand von Textstellen aus dem Stück zu belegen, ohne mich dabei auf die Erkenntnisse anderer stützen zu müssen. Es ist jedes Mal aufs Neue ein Erfolgsgefühl, eine eigene These in der Sekundärliteratur bestätigt zu finden und umso spannender, über Differenzen in den Interpretationen nachzudenken und somit verschiedenen Denkweisen und -ansätzen zu begegnen. Ich finde es äusserst faszinierend, welche Vielzahl an ausgereiften interpretatorischen Ansätzen zu «Werther» verfasst worden sind und wie viele Menschen Goethe dazu animiert hat, sich mit seinem Protagonisten tiefgründig auseinander zu setzen. Selbstverständlich kann ich selbst bestens nachvollziehen, weshalb man von Werthers Charakter in Bann gezogen wird. Seine Vielfältigkeit lässt sich bereits aus den Reaktionen von Goethes Zeitgenossen erschliessen, welche sofort polarisierten.

«In ganz Europa grassierte eine neue Krankheit: das ‘Wertherfieber’.»1

Ob voller Entrüstung oder voller Mitgefühl und Euphorie, jeder wurde von Goethes Roman mitgerissen. Die Tatsache, dass der Roman knapp zweihundertfünfzig Jahre nach seiner Entstehung noch immer von hoher Aktualität ist, zeugt ebenso von dessen Genialität.

Um also beim Werk zu bleiben, habe ich nach dessen mehrfacher Lektüre meine Thesen aufgestellt und diese mit Stellen aus dem Roman unterstützt und zu einem Text verflochten, bevor ich mich mit der Sekundärliteratur auseinandergesetzt habe. Die herbeigezogenen Essays und Interpretationen habe ich alle auf Ihre Brauchbarkeit überprüft. Schliesslich habe ich in den berücksichtigten Abhandlungen Argumente gesucht, die meine These einerseits unterstreichen, andererseits aber auch widerlegen und mir überlegt, inwiefern und warum sie sich von meinen Argumenten unterscheiden. Indem ich Zitate direkt aus eben diesen Schriften übernommen und in meine Arbeit einfliessen liess, untermauerte ich meine Aussagen. Zwei der Sekundärwerke, welche meine Analyse sehr bereichert haben, ist zum einen Annette Graefes Erörterung zum «Suizidmotiv in der deutschsprachigen Literatur», andererseits die Oldenbourg Interpretation zu «die Leiden des jungen Werther» von Edgar Hein. Ersteres Werk geht vertieft auf das Motiv des Selbstmords und dessen Bedeutung im gesellschaftlichen Kontext ein. Obwohl sich Graefe mit insgesamt über 90 Suizidtexten beschäftigt, wendet sie ihr Fachwissen detailliert und verständlich auf Werther an. Die Dissertation nimmt Bezug auf 350 Jahre der deutschen Literaturgeschichte, was mir einen vielfältigen Überblick über das Thema verschaffen hat. Im Gegenzug berücksichtigt Edgar Hein weniger den Selbstmord als solches, sondern legt den Fokus auf die Persönlichkeit des Protagonisten. Sowohl die Diskussion der Gestalt und somit dem Inhalt des Romans, als auch die Thematisierung des geistesgeschichtlichen Umfeldes Goethes haben erheblich zu meiner Gewinnung neuer Erkenntnisse beigetragen.

Der Schwerpunkt meiner Arbeit liegt, wie bereits erwähnt, auf der inhaltlichen Analyse von Goethes Werk. Dabei setze ich mich eingehend mit Werther als Figur auseinander und ergänze an einigen Stellen Wissen über den Kontext des Romans, welches zu besserem Verständnis gewisser Aktionen Werthers verhilft. Ausserdem streife ich formale Aspekte wie Erzählform und literarische Stilmittel, wo diese der inhaltlichen Analyse verhelfen.

Ich habe entschieden, mich bei meiner Interpretation mit der ersten Fassung des Romans auseinander zu setzen, da ich das ursprüngliche Werk behandeln möchte, um die ‘originalen’ Gedanken und Intentionen des Autors erforschen zu können.

2. Inhaltliche Analyse

Die Ursache für Werthers Verderben – entgegen den Erwartungen eines Lesers, der «Die Leiden des jungen Werther» verschlungen hat – findet, so behaupte ich, ihren Ursprung nicht in einer enttäuschten Liebe. Im Gegenteil – der Grund für Werthers Niedergang keimt lange in seinem Innern, bevor er mit Lotte Bekanntschaft schliesst. Innere Konflikte und der Aufbau einer eigenen Welt, sowie das ständige Hinterfragen seiner Umwelt bestimmen Werthers Verhalten. Die unerwiderte Zuneigung, die der junge Mann gegenüber Lotte verspürt, ist Ausdruck seiner Isolation von der Aussenwelt, seiner überschwänglichen Emotionalität und seiner Philosophennatur, die seinen schon vorhandenen Zwiespalt aufwiegeln. Es sind diese Faktoren, die ihn letztendlich dazu führen, seinem Verfall in die offenen Arme zu rennen oder – wie Werther so schön sagt – ‘mit Wollust den Becher, den Lotte ihm zu seinem Verderben reicht, auszuschlürfen’.

«Werthers ‘Leiden’ – darin liegt die Einheit der Handlung, und diese ergibt sich aus der Persönlichkeit.»2

Werthers Emotionalität und sein Hang zum Philosophieren sowie die Abkapselung von seinem Umfeld, einerseits in Form der Gesellschaft, andererseits von der Realität, sind eng verknüpft. Sie bilden ein Netz, durch dessen Löcher Werther fällt, als seine Illusionen zu bröckeln beginnen.

2.1. Extreme und Werthers Emotionalität

2.1.1. Werthers Emotionale Veranlagungen

Ein wesentlicher Bestandteil von Werthers Verzweiflung sind seine ausgeprägte Emotionalität und seine Schwäche, den Extremen zu verfallen. Der junge Mann ist niemals in ausgeglichener Stimmung, aufbrausende und wuchtige Regungen dominieren sein Gemüt. Gabriele Adler beschreibt Werther-Figuren als «junge Menschen mit idealistischem und labilem Charakter, hoher Sensibilität und extremer Emotionalität».3 Werther ist entweder optimistisch

4. Mai 1771: «Sag der Mutter, es werde alles gut gehen[.]»

oder pessimistisch gestimmt

22. Mai 1771: «Wenn ich die Einschränkung ansehe, in welcher die tätigen und forschenden Kräfte des Menschen eingesperrt sind […], macht [es] mich stumm.», «unsere arme Existenz»

und interpretiert sofort zugunsten der Gefühlwelt.

4. Mai 1771: «[M]an fühlt gleich beim Eintritte, dass nicht ein wissenschaftlicher Gärtner, sondern ein fühlendes Herz den Plan [für den Garten] gezeichnet[.]»

«Das Selbst und die Objekte werden alternierend als gut oder böse erlebt»4, für Werther gibt es kein «Neutral».
Seine übertriebene Bewegtheit zeichnet sich auch auf sprachlicher Ebene ab: Anstatt von Gräsern und Mücken zu schreiben, zählt Werther in seinem Brief an Wilhelm (10. Mai 1771) «Gräschen», «Wimmeln der kleinen Welt» und «Mückchen näher an meinem Herzen» auf. Alles erscheint ihm zärtlicher, als es eigentlich ist («das liebe Tal») und auch Dinge, vor denen andere Menschen zurückschrecken, erfreuen ihn («Würmchen»). Er sieht zu Beginn seiner Briefschaften ein, dass er sich zu stark von seinen Gefühlen leiten lässt.

10. Mai 1771: «Ich bin […]so ganz in dem Gefühle von ruhigem Dasein versunken, dass meine Kunst darunter leidet.»

Er geniesst die «wunderbare Heiterkeit» «mit ganzem Herzen», sodass es ihn fast erdrückt

10. Mai 1771: «[I]ch erliege unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen».

Überdies bedauert er diejenigen, die nicht so empfinden können wie er.

12. Mai 1771: «O der muss nie nach einer schweren Sommertagswanderung sich an des Brunnens Kühle gelabt haben, der das nicht mitempfinden kann»

Die Kehrseite seines entflammten Glücks kommt bereits einen Tag später zum Vorschein.

13. Mai 1771: «Wie oft lull ich mein empörtes Blut zur Ruhe, denn so ungleich, so unstet hast du nichts gesehen als dieses Herz.»

In ihrer Untersuchung über den Suizid als Literaturmotiv hält Agata Gontarczyk fest: «Sie [die Charaktere der Figuren] zeichneten sich durch eine herausragende Empfindlichkeit und Rührseligkeit aus», was stark auf Werther zutrifft.5

Werther unterwirft sich seinen Gefühlen, indem er sich gänzlich von ihnen geleiten lässt, obwohl er spürt, dass sie ihn krank machen.

13. Mai 1771: «Auch halte ich mein Herzchen wie ein krankes Kind, jeder Wille wird ihm gestattet.»

2.1.2. Verstärkung von Werthers Emotionalität durch Lotte

Bereits ohne Lottes Einfluss fühlt Werther diese übermächtige Leidenschaft, sie ist also tief in ihm verankert und wird durch die Anwesenheit der jungen Frau nur weiter angetrieben. Graefe schreibt: «Die Liebe zu der verlobten Lotte steigert seine Melancholie und seinen Weltschmerz.»6 Ausserdem leidet Werther mit seinen Mitmenschen mit und hadert mit jedem betrüblichen Schicksal. Beispielhaft dafür steht die Geschichte des Bauernburschen, denn Werther, «wie selbst davon entzündet, lechz[t] und schmachte[t]» (30. Mai 1771). Er lässt zu, dass er in Erinnerungen schwelgt, die lange zurückliegen und lässt sich von ihrem Strom der Melancholie mitreissen.

17. Mai 1771: «Ach, dass die Freundin meiner Jugend dahin ist.»

Annette Graefe behandelt in «Das Suizidmotiv in der deutschsprachigen Literatur» ebenfalls Werthers extreme Stimmungslagen. Sie beschreibt, dass er sich zunächst noch aus seiner Emotionalität lösen kann, aber schliesslich in Gedanken über die Unerträglichkeit seines Zustandes versinkt.7 Sie beschreibt, dass Werther sich aus seinen Gemütsvorgängen nicht mehr zu befreien weiss.

Nach einigen Tagen Bekanntschaft mit Lotte macht Werther sein Leben von ihr abhängig

1.Julius 1771: «Um deinetwillen muss ich leben!»

– ebenfalls ein Ausdruck seiner Überschwänglichkeit. Als die junge Frau ihm die letzte Rationalität raubt, wirft er sich ihr zu Füssen und vergleicht ihren Waschgang mit einer Taufe.

6. Julius 1771: «Ich sage dir, Wilhelm, ich habe mit mehr Respekt nie einer Taufhandlung beigewohnt – und als Lotte heraufkam, hätte ich mich fern vor ihr niedergeworfen wie vor einem Propheten, der die Schulden einer Nation weggeweiht hat.»

2.1.3. Sprachliche Manifestation von Werthers Empfinden

Mithilfe von Hyperbeln

10. Mai 1771: «Bester Freund»/«[I]ch bin nie ein grösserer Maler gewesen als in diesen Augenblicken[.]»

1. Julius 1771: Vergleich Lottes mit einer Heiligen: «[D]a er Lotten sah, ward er wie neu belebt[.]»

und Ausrufen (Interjektionen)

17. Mai 1771: « O Bestimmung des Menschen ! »

gelingt es Goethe, Werthers Extreme zu verdeutlichen. «Die Verknappung», Ellipsen, Einwortsätze, Ausrufewörter, weisen ebenso auf die «Emotionalität des Sprechens, das empathische Moment in der Rede Werthers»8 hin. Diese Art von Emotionalität nimmt während dem Verlauf des Werkes immer mehr Gestalt an (siehe weiter unten). Werther selbst sieht seine Übertreibungen ein, denn er schreibt: «du wirst mich, wie gewöhnlich, denk ich, übertrieben finden» (30. Mai 1771). Werthers «Bewusstsein […], welches um den immer gleichen Gegenstand seiner Leidenschaften kreist und sich aus diesen Gemütsvorgängen nicht mehr befreien kann und will»9, veranschaulicht seine immer schlimmer werdende Festklammerung an seine Emotionen.

Werthers Überempfindlichkeit kann in «vielen Aussagen des fiktiven Autors als eine gewisse implizite Kritik des Autors seiner Werther-Gestalt gegenüber»10 aufgefasst werden, da seine «bis hin zu paranoiden Reaktionen» den Leser dazu auffordern, Werthers Unfähigkeit, eine Balance zu finden, zu erkennen. Werther ist nicht imstande, seine Lebensweise sowohl an Herz, als auch an Verstand anzupassen, was ihn hilflos macht, als seine Welt zusammenbricht (siehe 2.2. Eigene Welten).

2.2. Werthers Eigene Welten

2.2.1. Die Diskrepanz zwischen Werther und der Gesellschaft

Der junge Mann zeigt bereits zu Beginn seiner Briefschaften mit Wilhelm, dass er sich seiner Aussenwelt entzieht, sowohl den gesellschaftlichen Normen als auch seinem direkten Umfeld. Im ersten Brief des 4. Mai 1771 bringt er zum Ausdruck, «Wie froh ich bin, dass ich weg bin!» und zeigt auf, dass er sich lieber isoliert, als sich in eine Gemeinschaft einzufügen. Mit der Verschlechterung von Werthers Gemütszustand nimmt auch die Entfernung von seiner Aussenwelt zu. Während Werther sich anfangs lieber allein herumtreibt und über die Normen der Öffentlichkeit nur schimpft, verwandelt sich diese Ungunst gegen Ende in Abscheu und gar Hass.

[...]


1 Hein, Edgar. Die Leiden des jungen Werther, Oldenbourg Interpretation (1997). S. 74.

2 Borchert, Hans Heinrich. Der Roman der Goethezeit (1949). S. 31.

3 Adler, Gabriele. Die Darstellung des Suizids in der deutschsprachigen Literatur seit Goethe (1995). S. 17.

4 Auer, Elisabeth. «Selbstmord begehen zu wollen ist wie ein Gedicht zu schreiben» (1999). S. 105.

5 Gontarczyk, Agata. Der Suizid in der Literatur des Umbruchs vom 18. zum 19. Jahrhundert (2013). S. 3.

6 Graefe, Annette. Das Suizidmotiv in der deutschsprachigen Literatur – Gestaltung und Funktion (2017). S. 296.

7 Ebd. S. 261.

8 Hotz, Karl. Goethes ‘Werther’ als Modell für kritisches Lesen (1974). S. 11.

9 Graefe (2017). S. 322.

10 Auer (1999). S. 135.

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Werthers Untergang. Eine Analyse dreier Aspekte seiner Persönlichkeit
Untertitel
Werthers Emotionalität, sein Rückzug in eigene Welten und seine Philosophennatur in "Die Leiden des jungen Werther"
Note
5,5 (Schweizer Notensystem)
Autor
Jahr
2019
Seiten
27
Katalognummer
V495167
ISBN (eBook)
9783346005564
ISBN (Buch)
9783346005571
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Die Leiden des jungen Werther, Werther, Sturm und Drang, 1774, Suizidmotiv, Suizid, Literaturanalyse, Persönlichkeitsanalyse, Liebesgeschichte, Emotionalität in der Literatur, Philosophennatur, Rückzug in eigene Welten, Goethe
Arbeit zitieren
Leonie Traber (Autor:in), 2019, Werthers Untergang. Eine Analyse dreier Aspekte seiner Persönlichkeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/495167

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