Das Phänomen des "Unzuverlässigen Erzählers" in Thomas Manns "Der Bajazzo" und "Der kleine Herr Friedemann"

Ein philologischer Vergleich


Bachelorarbeit, 2019

38 Seiten, Note: 13.0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Der unzuverlässige Erzähler
2. 1. Entstehung und Probleme
2. 2. Festlegung der Kriterien des unzuverlässigen Erzählens

3. Der autodiegetische Erzähler in „Der Bajazzo“
3.1. Die epische Situation und Erzählform
3. 2. Untersuchung mimetischerUnzuverlässigkeit
3.2. 1. Maxime der Quantität
3.2.2. Maxime der Qualität
3.2.3. Maxime der Relation
3.2.4. Maxime der Modalität
3.3. Untersuchung axiologischerUnzuverlässigkeit
3. 4. Zusammenfassende Erkenntnis zurUnzuverlässigkeit

4. Der heterodiegetische Erzähler in „Der kleine Herr Friedemann“
4. 1. Die epische Situation und Erzählform
4. 2. Untersuchung mimetischer Unzuverlässigkeit
4.2. 1. Maxime der Quantität
4. 2. 2. Maxime der Qualität
4.2.3. Maxime der Relation
4. 2. 4. Maxime der Modalität
4. 3. Untersuchung axiologischerUnzuverlässigkeit
4. 4. Zusammenfassende Erkenntnis zurUnzuverlässigkeit

5. Gegenüberstellung beider Erzählungen

6. Kritische Betrachtungen der Analysekriterien nach Tom Kindt

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„As consumers offiction, we have become skilled at recognizing unreliable narra­tives; as theoreticians, we are less able to say what constitutes unreliability and haw it is detected.“1

Seit einigen Jahren erfreut sich das Konzept des unzuverlässigen Erzählers in den philologischen Disziplinen großer Beliebtheit und findet in der Erzählforschung so­wie in literaturhistorischen Untersuchungen zusehends Bedeutung und Würdigung.2 Die Betrachtung einer Erzählinstanz hinsichtlich ihrer Kooperativität, ihrer Kohärenz der Vermittlungsinstanz gegenüber werksintemen Wertvermittlungen und dem Wahr­heitsgehalt der Aussagen die fiktive Welt betreffend, sind für das literarische For­schungsgebiet der Narratologie von großer Relevanz. Die Präsentation von erzählten Inhalten durch eine unzuverlässige Erzählinstanz ist ein Phänomen, welches sich in diversen Werken wiederfinden lässt.

Für eine Untersuchung dieses Phänomens wurden für die folgende Arbeit zwei der frühen Erzählungen Thomas Manns gewählt, welche sich hinsichtlich der Beschaf­fenheit ihrer Vermittlungsinstanzen unterscheiden, jedoch inhaltliche Parallelen auf­weisen und sich somit für einen Vergleich hinsichtlich ihrer Narrationsverfahren be­sonders eignen. So lässt sich eine Betrachtung des autodiegetischen Erzählers anhand der Erzählung „Der Bajazzo“ durchführen, welcher aufgrund seiner rückblickend, wertenden Vermittlung des erzählten Stoffes einige Auffälligkeiten hinsichtlich sei­nes Erzählverhaltens aufweist. Gegenübergestellt wird diesem „Der kleine Herr Frie­demann“, welcher mit einem heterodiegetischen Erzähler häufige Perspektivwechsel mit Fokalisierung auf den Protagonisten durchführt und daher ebenfalls Auffälligkei­ten in der Präsentation des Erzählten besitzt.

Zunächst soll im ersten Kapitel die Bedeutung und Entstehung des Konzeptes des unzuverlässigen Erzählers ausgehend von Wayne Clayson Booths vielbeachteten Werk „The Rhetoric of Fiction“3 betrachtet werden. Weiterhin sollen in diesem Ab­schnitt einige der Probleme des Konzeptes genannt und erläutert werden. In diesem Bezug sind der Mangel an „[...] theoretischer Präzision, methodischer Operationali- sierbarkeit und typologischer Differenzierung [,..]“4 zu nennen, welche eine Untersu­chung des unzuverlässigen Erzählens in Hinsicht auf formal und thematisch unter­schiedliche Texte unpräzise machen, da die Terminologie sowie Analysekriterien nach Booth nicht genug ausdifferenziert sind. Die angestrebte Gegenüberstellung beider Früherzählungen alleinig mit dem von Booth geprägten Begriff ist daher nicht ausreichend und muss konkretisiert werden. Aus diesem Grund widmet sich das dar­an angegliederte Kapitel der Festlegung der in dieser Arbeit verwendeten Analysekri­terien. Hierfür bietet die Ausarbeitung und Unterteilung des Konzeptes von Tom Kindt die Basis der Untersuchung. Die von ihm festgelegte Aufspaltung des Begriffs in mimetische und axiologische Zuverlässigkeit soll die Betrachtung der frühen Er­zählungen Thomas Manns ausreichend in Hinsicht der Zuverlässigkeit der Erzählin­stanz präzisieren und einen erleichterten Vergleich beider Texte im Nachgang ermög­lichen.

Nach der Erläuterung der verwendeten Untersuchungsschwerpunkte steht zunächst „Der Bajazzo“ im Zentrum einer Betrachtung hinsichtlich mimetischen Zuverlässig­keit. Dabei sollen die Aussagen der Erzählinstanz betreffend ihrer Quantität, Qualität, Relation und Modalität Aufschluss über die Wohlgeformtheit der Angaben durch den Erzähler geben und somit deren Zuverlässigkeit in mimetischer Hinsicht prüfen.5 Eine axiologische Untersuchung mit Augenmerk auf Verstöße der Erzählinstanz ge­genüber festgelegter Normen und Werte der fiktiven Welt des Werkes schließt sich an dieses Kapitel an.

Um einen direkten Vergleich zu ermöglichen, finden die auf den „Bajazzo“ angeleg­ten Kriterien Anwendung auf den „kleinen Herr Friedemann“. Daraufhin erfolgt die Gegenüberstellung beider Erzählungen auf mimetischer sowie axiologischer Ebene. Die aus dem Vergleich der Erzählinstanzen gewonnen Erkenntnisse sowie Auffällig­keiten der Untersuchung beider Früherzählungen Thomas Manns, sollen daraufhin im letzten Kapitel zusammengefasst und die Ausführungen dieser Arbeit abschließen.

2. Der unzuverlässige Erzähler

2. 1. Entstehung und Probleme

„For a lack ofbetter terms, I have called a narrator reliable when he speaks for or acts in accordance with the norms of the work (which is to say, the implied au­thor’s norms), unreliable when he does not.“6

Die literaturwissenschaftlichen Begrifflichkeiten zur Analyse narrativer Texte waren vor allem in Hinsicht auf die Beschreibung von Erzählinstanzen nicht genügend aus­geprägt und mussten nach Booth erweitert werden. So reicht es nicht aus, nur die Stellung der Vermittlungsinstanz zur erzählten Welt zu untersuchen, sondern eben­falls deren Position gegenüber der vermittelten Werte im Werk. Dass die oben ge­nannte vage Definition nach Booth in ihrer Operationalisierbarkeit großteilig einge­schränkt ist, wird bei der Vielzahl an vorhandenen Präzisierungs- oder Rekonzeptua- lisierungsvorschlägen in den Geisteswissenschaften offenkundig.

„There can be little doubt about the importance of the problem of reliability in narrative and in literature as a whole. [...] And the problem is (predictably) as complex and (unfortunately) as illdefined as it is important.“7

Die sinnvolle und konkrete Verwendung der Begrifflichkeit steht in den Diskussio­nen vielmehr im Mittelpunkt, als die Frage nach deren Notwendigkeit.8 Der Mangel an theoretischer Präzisierung des unzuverlässigen Erzählens wird vor allem durch Ansgar Nünnings kritische Betrachtung des Konzeptes dargelegt. Dieser verweist vor allem auf die große Diskrepanz zwischen der Komplexität des Phänomens und des theoretischen sowie terminologischen Standes der Forschung. Der Mangel an zu­friedenstellenden Definitionen, Analysekategorien, Variationen der Erscheinung des unzuverlässigen Erzählers und der benötigten Voraussetzungen sind an dieser Stelle des Diskurses beispielhaft zu nennen, bieten jedoch nur einen Teilausblick auf die umfassende Problematik zum Begriff in der Narratologie.9

Abgesehen von den vorangegangenen Problemen wird die Verwendung des „implied authors“ als einziger Maßstab zur Messung der Zuverlässigkeit eines Erzählers in vielen Lösungsvorschlägen der Problematiken des Konzeptes aufgeführt. Das eben­falls terminologisch unklare Konzept verweist auf eine Kommunikation zwischen dem implizierten Leser und dem „implied author“ ohne Einfluss der vermittelnden Erzählinstanz.10 Eine somit verborgene Botschaft durch den „implied author“ soll den unzuverlässigen Erzähler für die implizierten Leser entlarven und als Kriterium zur Untersuchung des unzuverlässigen Erzählers dienen. Dass dieser Ansatz zur Klä­rung der Konzeptprobleme des unzuverlässigen Erzählers nicht beitragen kann, wird an der fehlenden Antwort zum genauen Kommunikationsakt zwischen implizierten Leser und Autor offenbar, mit dem die Zuverlässigkeit der Erzählinstanz sabotiert werden soll.11

Zur Entfernung vom Konzept des „implied author“ listet Nünning mehrere textuelle Anzeichen auf, welche eine Infragestellung der Glaubwürdigkeit des Erzählers bei den Rezipienten auslösen sollen. Die Verknüpfung der textlichen Signale mit kultu­rellen Einflüssen, kontextuellen Bezügen sowie den Vorkenntnissen der Rezipienten sorgen für individuelle Diskrepanzen zwischen Rezipient und Erzähler. Die Verarbei­tung dieser Diskrepanzen in einem Naturalisierungsprozess zeigen demnach die Un­zuverlässigkeit des Erzählers auf und bringen dessen Schilderungen in Einklang mit dem Verständnis der Rezipienten.12 Zwar löst Nünning mit seinem Ansatz die Fixie­rung auf den „implied author“ und bewegt sich mehr in die Richtung textueller An­zeichen für unzuverlässiges Erzählen, jedoch bleibt die Frage nach der Subjektivität dieses Phänomens ungeklärt, da seine Neukonzeptualisierung stark von der individu­ellen Wahrnehmung der Rezipienten sowie von den historisch-kulturellen Umständen abhängt. „Trotz aller Textsignale, die Nünning auflistet, bleibt in Nünnings Modell im Gegensatz zu Booth der unzuverlässige Erzähler eine Fiktion des Lesers, die his­torisch und individuell verankert ist.“13

Eine weitere These zur Problematik der Unzuverlässigkeit vertritt Dorrit Cohn, wel­che die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen unreliability und discordance in den Diskussionsraum stellt. Hierbei soll der unreliable narrator mangelhafte oder falsche Informationen besitzen, welche ihm seine Zuverlässigkeit absprechen, wäh­rend dem discordant narrator eine Verwirrung oder fehlende Objektivität zu Grunde liegt.14 Die These, dass der Leser Naturalisierungsstrategien verwendet, um Diskre­panzen zwischen dem Rezipienten und der Erzählinstanz auszuräumen, ist mit der Nünnings kongruent. Das Konzept Cohns unterscheidet sich jedoch darin, dass die Begrifflichkeit der discordance ebenfalls Vermittlungsinstanzen auktorialer Texte be­rücksichtigt und somit nicht nur auf Texte mit einer homodiegetischen sondern auch mit einer heterodiegetischen Erzählinstanz anwendbar ist.15 Zu diesem Zweck ist eine stärkere Hervorhebung der Fiktivität der heterodiegetischen Erzählinstanz in auktorialen Texten notwendig, um mögliche diskordante Aussagen der Vermittlungs­instanz zu entlarven. Dass diese Herangehensweise zur Feststellung einer möglichen fehlenden Objektivität des Erzählers ihre Schwachstellen birgt, wird bei der Betrach­tung der unterscheidenden Indikatoren zur Einstufung in unreliability und discor­dance offenkundig. Eine Voreingenommenheit der Erzählinstanz für eine Zuordnung zur discordance oder eine Falschaussage des Erzählers für eine Zuordnung zur unre­liability sind in den meisten Fällen aufgrund ihrer Subjektivität nicht unterscheidbar, wodurch eine Einstufung bei einem Ich-Erzähler nicht stattfinden kann oder wie Nünnings Neukonzeptualisierungsvorschlag von der Rezipientenwahmehmung ab­hängt. Die Begrifflichkeit der discordance ist somit nur auf heterodiegetische Roma­ne fixiert und anwendbar, da ein auktorialer Erzähler in seiner faktuellen Korrektheit unangetastet bleibt.16 Zwar erweiterte Cohns mit dem Begriff der Diskordanz das Konzept des unzuverlässigen Erzählens auf heterodiegetische Texte, ignoriert jedoch ,,[...] Fehldarstellungen der fiktionalen Welt [...] für Ich-Erzählungen“.17 Da aller­dings dieser Ansatz für eine Untersuchung aller fiktionaler Textarten hinsichtlich der Zuverlässigkeit ihrer Erzählinstanzen nur begrenzt anwendbar ist, ist eine Auswei­tung der Begrifflichkeit zur Verbesserung der Operationalisierbarkeit weiterhin nötig. Diese Ausweitung wurde in den Ausarbeitungen des Konzeptes von Tom Kindt vor­genommen und soll im weiteren Verlauf dieser Arbeit dargelegt werden.

2.2. Festlegung der Kriterien des unzuverlässigen Erzählens

Vor dem Hintergrund der vorangegangenen kritischen Betrachtungen der verschiede­nen Forschungsansätze zum Thema des unzuverlässigen Erzählens, gilt es nun Krite­rien für die Betrachtung der beiden gewählten Erzählungen Thomas Manns festzule­gen. Hierbei soll sich auf die Konzeptuierung Tom Kindts zum unzuverlässigen Er­zähler bezogen werden, welcher zunächst eine Unterteilung der Begrifflichkeit zu­gunsten einer präziseren Verwendung durchgeführt hat.

„Eine Präzisierung des Begriffs, die zugleich den Intuitionen seiner Verwendung Rechnung trägt, lässt sich im vorliegenden Fall nur durch die terminologische Unterscheidung, gesonderte Explikation und getrennte Operationalisierung zwei­er Formen »erzählerischer (Un-)Zuverlässigkeit« erreichen. [...] Terminologisch wird fortan zwischen axiologisch (un-)zuverlässigen Erzählern und mimetisch (un-)zuverlässigen Erzählern unterschieden.“18

Kindt bemängelt, dass die gewonnen Indikatoren zur Bestimmung erzählerischer Un­zuverlässigkeit ,,[...] weniger der Ideologie von Erzählern als vielmehr der Adäquat­heit ihres Erzählens gilt.“19 Durch seine vorgenommene Aufspaltung in axiologische- und mimetische Unzuverlässigkeit ist eine gesonderte Betrachtung der Zuverlässig­keitsaspekte der Erzählinstanz präzisiert möglich. Somit wurde eine Terminologie geschaffen, in welcher der Erzähler zwar zuverlässig über die Geschichte eines Wer­kes berichten kann, jedoch in seiner eigenen Darstellung und Beschaffenheit von die­sem abweicht, genauso wie er homogene Eigenschaften zum Werk verkörpern, je­doch in seinen Schilderungen Unstimmigkeiten auftreten können. Der Ausdruck der mimetischen Zuverlässigkeit untersucht dabei die Darstellung der erzählten Sachver­halte durch die Vermittlungsinstanzen, während die Begrifflichkeit der axiologischen Zuverlässigkeit vielmehr die Repräsentation des Erzählers und seine vertretenden Werte im Abgleich mit den vermittelten Normen des Werkes in Augenschein nimmt.20

Vor diesem Hintergrund stellt Kindt eine Reihe von Wohlgeformtheitsmaximen auf, welche in der folgenden Analyse der beiden Früherzählungen Thomas Manns Ver­wendung finden sollen. Diese ermöglichen eine individuelle Anwendung und Unter­suchung der gewählten Erzählformen in mimetischer Hinsicht nach einer Bestim­mung der vorhandenen erzählerischen Bedingungen, ihrer Ausrichtungen sowie des Erzählstandes. Die Maximen sollen über die Zuverlässigkeit der Erzählinstanz beider Erzählungen Aufschluss geben und zunächst die erzählerischen Aussagen in quantita­tiver Hinsicht untersuchen. Dazu ist es vonnöten, das Erzählte mit der vorher be­stimmten Erzählsituation abzugleichen und eventuell auftretende Zensuren sowie Re­petitionen aufzuzeigen. Qualitativ gilt es zudem aufkommende Widersprüche oder Unstimmigkeiten in der Erzählung aufzudecken und den Erzähler in relativer Hin­sicht bei dem Versuch der Vermeidung bestimmter Themenbereiche des Erzählten zu überführen. Ein weiteres mimetisches Untersuchungskriterium ist die Maxime der Modalität, in welcher die Eindeutigkeit sowie Klarheit des Erzählten betrachtet wer­den soll.21

Weiterhin sollen zur Untersuchung der axiologischen Zuverlässigkeit vermittelte Werte der Werke herausgearbeitet und deren Repräsentanz durch die Erzählinstanzen untersucht werden. Die Festlegung zeitgenössischer sowie innertextlicher Wertvor­stellungen soll der Betrachtung axiologischer Zuverlässigkeit zu Grunde gelegt wer­den und Aufschluss über die Repräsentanz der Erzählinstanz in den betrachteten frü­hen Erzählungen Thomas Manns geben.

3. Der autodiegetische Erzähler in „Der Bajazzo“

3.1. Die epische Situation und Erzählform

Die Untersuchung mimetischer Unzuverlässigkeit erfordert eine Festlegung der epi­schen Situation der Erzählinstanz, um Verstöße gegen die von Tom Kindt aufgestell­ten Wohlgeformtheitsmaxime festzustellen. In der 1897 publizierten Novelle „Der Bajazzo“ blickt der 30-jährige Ich-Erzähler auf sein vergangenes Leben zurück. Ge­schildert wird dieser Rückblick als eine vom Erzähler angefertigte und großteilig kommentierte biografische Niederschrift, in welcher das Leben der Erzählinstanz, des Bajazzos, von frühen Kindheitstagen bis in die gegenwärtige Erzählzeit nach­empfunden wird. Der durch die Erzählfigur durchgeführte Akt des Schreibens ist hierbei gleichzusetzen mit dem Akt des Erzählens. Zur epischen Situation des Erzäh­lers ist wenig bekannt. Angaben zum Ort und der Dauer der Niederschrift bezie- hungsweise Erzählung sind nicht vorhanden und aus dem Kontext heraus nicht er­sichtlich. Als Zeitpunkt der erzählerischen Handlung ist das dreißigste Lebensjahr zu nennen, in welchem das Erzählende-Ich mit der episodischen Niederschrift seiner Lebensgeschichte beginnt. „Ich habe mir dies reinliche Heft bereitet, um meine 'Ge­schichte' darin zu erzählen: warum eigentlich? Vielleicht um überhaupt etwas zu thun zu haben?“22 Der Akt des Erzählens wird vom Erzähler hinterfragt und auf mehrere banale Motivationen reduziert. Eine Verschleierungstaktik des Autorprotagonisten, welcher bereits in den ersten Zeilen seiner Niederschrift versucht, die existenzielle Bedeutung seiner biografischen Reflexion vor dem Rezipienten zu verschleiern, na­hezu die wahren Beweggründe des erzählerischen Aktes zensiert.23 Die geschilderten Erinnerungen werden hierbei retrospektiv erzählt, aber immer wieder durch wertende Kommentare oder deiktische Mittel des auktorialen Erzähler-Ichs ergänzt. Beispiel­haft lässt sich hier der Gemütszustand des Erlebenden-Ichs nach Aufnahme seiner Ausbildung im großen Holzgeschäft des Herrn Schlievogt nennen, in welchem das Erzählende-Ich mit den Wahrnehmungen und Auffassungen zur Zeit der erzählten Erinnerung bricht.

„In meinem Zimmer, in dem ich ehemals mein Puppentheater aufgebaut hatte, saß ich nun mit einem Buch auf den Knieen und blickte zu den beiden Vorfah- renbildem empor, um den Tonfall der Sprache nachzugenießen, der ich mich hin­gegeben hatte, während ein unfruchtbares Chaos von halben Gedanken und Phantasiebildem mich erfüllte...“24

Die Schilderungen der Auseinandersetzung des jungen Bajazzos mit dem Tonfall ei­ner Sprache sind von den Sinneseindrücken des Erlebenden-Ichs geprägt, während die Wortwahl „unfruchtbares Chaos“ eine negative Wertung durch das Erzählen- de-Ich vomimmt. Dass diese Wertung nicht der Wahrnehmung des jungen Bajazzos entstammt ist naheliegend, da zum Zeitpunkt des geschilderten Geschehens eine der­artige Reflexion seines Geisteszustandes noch nicht stattgefunden hat. Die Einstel­lung des Erzählenden-Ichs zum Erzählten kann bereits anhand dieser Stelle als herab­lassend identifiziert werden und verdeutlicht eine fehlende Objektivität der Erzählin­stanz. Diese Befangenheit des Erzählers erweckt Misstrauen an den vorhandenen An­gaben dessen und soll im Anschluss anhand einer Auseinandersetzung mit Tom Kindts Wohlgeformtheitsmaximen untersucht werden.

3.2. Untersuchung mimetischer Unzuverlässigkeit

3.2.1. Maxime der Quantität

Zur Untersuchung über der quantitativen Adäquatheit der Aussagen des 30-jährigen autodiegetischen Erzählers müssen zunächst konkrete Kriterien aufgestellt werden, nach denen diese betrachtet werden sollen. Am prägnantesten sind hierbei Aussagen außerhalb des Wahrnehmungs- und Wissensstandes des Narrators, welche dessen Glaubwürdigkeit diskreditieren oder eine bemerkbare Unterschlagung von Informati­onen für die Rezipienten.25 Schilderungen außerhalb des Erzählerwissens sindjedoch als solches innerhalb des Bajazzos nicht auffindbar. Vielmehr hingegen tritt eine feh­lende Informativität der erzählerischen Aussagen auf, welche sich vor allem zu Be­ginn der Erzählung, hinsichtlich der Erzählmotivation des 30-jährigen Bajazzos, be­merkbar macht. Wie bereits im vorherigen Kapitel beschrieben, verschleiert die Rü­ckführung der Erzählmotivation auf banale Gründe den eigentlichen intendierten re­flektierenden Zweck des Erzählens für den Narrator, wodurch er seiner informativen Pflicht nicht nachkommt. „Denn Gleichgültigkeit, ich weiß, das wäre eine Art von Glück [...]“26 heißt es beispielsweise bereits im Vorwort des Erzählers, wobei eine Aufklärung der Umstände, welche zu dieser Erkenntnis führen, für den Leser zu­nächst verborgen bleiben. Die Erzählfigur lässt an dieser Stelle bewusst die Hinter­gründe seines geistigen Verfalls ungenannt, wodurch beim Leser aufgrund der feh­lenden Informationsdichte Spannung und offene Fragen erzeugt werden. Das Ver­ständnis des Narrators hinsichtlich seiner Glücksauffassung in Form von Gleichgül­tigkeit, ist für den Leser an dieser Stelle der Erzählung nicht nachvollziehbar und wurde durch Auslassung von Informationen im Äußerungskontext des Vorwortes er­zwungen.27

[...]


1 Nünning, Ansgar: Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 1998. S. 3.

2 Kindt, Tom: Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne. Eine Untersuchung der Romane vonEmst Weiß. Tübingen: Niemeyer 2008. S. 35.

3 Booth, Wayne C.: The Rhetoric of Fiction. 2. Auflage. Chicago: University of Chicago Press 1983.

4 Nünning, Ansgar: Unreliable Narration. S. 6-7.

5 Kindt, Tom: Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne. S. 67.

6 Booth, Wayne C.: The Rhetoric ofFiction. S. 158.

7 Yacobi, Tamar: Fictional Reliability as a Communicative Problem. In: Poetics Today 1981. Ausgabe 2. Nr. 2. S. 113.

8 Vgl. Kindt, Tom: Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne. S. 35- 36.

9 Nünning, Ansgar: Unreliable Narration. S. 6-7.

10 Vgl. Chatman, Seymour: Coming to Terms. The Rhetoric of Narrative in Fiction and Film. Ithaca: ComellUniversity Press 1990. S. 233.

11 Vgl. Nünning, Ansgar: Unreliable Narration. S. 18.

12 Vgl.Ebd.S.31-32.

13 Fludemik, Monika: Unreliability vs. Discordance. In: Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film. Hrsg. v. Fabienne Liptay. München: Ed. Text + Kritik 2005. S. 41.

14 Vgl. Cohn, Domt: Discordant Narration. In: Style 34 (2000). Heft 2. S. 307.

15 Vgl. Fludemik, Monika: Unreliability vs. Discordance. S. 45.

16 Vgl.Ebd.S.47-51.

17 Ebd.S.47.

18 Kindt, Tom: Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne. S. 47-48.

19 Ebd.S.47.

20 Vgl.Ebd.S.47-48.

21 Vgl. Kindt, Tom: Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne. S. 66-67.

22 Mann, Thomas: Der Bajazzo. In: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe: Werke - Briefe - Tagebücher. Hrsg. Heinrich Detering u. a.. Bd. 2.1.: Thomas Mann. Frühe Erzählungen. 1893­1912. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag 2008. S. 120.

23 Larsson, Kristian: Masken des Erzählens. Studien zur Theorie narrativer Unzuverlässigkeit und ihrer Praxis im Frühwerk Thomas Manns. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011. S. 99.

24 Mann, Thomas: Der Bajazzo. S. 129-130. [Hervorhebung durch Tobias Martin],

25 Vgl. Kindt, Tom: Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne. S. 67.

26 Mann, Thomas: Der Bajazzo. S. 121.

27 Vgl. Neymeyr, Barbara: “Genialier Dilettantismus” und “philosophische Vereinsamung”. In: Man erzählt Geschichten, formt die Wahrheit. Hrsg. v. Braun, Michael. Frankfurt am Main: Lang 2003. S. 141.

Ende der Leseprobe aus 38 Seiten

Details

Titel
Das Phänomen des "Unzuverlässigen Erzählers" in Thomas Manns "Der Bajazzo" und "Der kleine Herr Friedemann"
Untertitel
Ein philologischer Vergleich
Hochschule
Philipps-Universität Marburg
Note
13.0
Autor
Jahr
2019
Seiten
38
Katalognummer
V494517
ISBN (eBook)
9783346003409
ISBN (Buch)
9783346003416
Sprache
Deutsch
Schlagworte
phänomen, unzuverlässigen, erzählers, thomas, manns, bajazzo, herr, friedemann, vergleich
Arbeit zitieren
Tobias Martin (Autor:in), 2019, Das Phänomen des "Unzuverlässigen Erzählers" in Thomas Manns "Der Bajazzo" und "Der kleine Herr Friedemann", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/494517

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