Überblick über Untersuchungen zur Analyse des Gleichgewichts


Diplomarbeit, 1987

253 Seiten, Note: 1


Leseprobe


INHALTSÜBERSICHT

1. EINLEITUNG

2. BEWEGUNGSREGULATION UND AM GLEICHGEWICHTSPROZESS BETEILIGTE STRUKTUREN
2.1 ALLGEMEINES BEWEGUNGSKOORDINATIONSMODELL UND DER EINFLUSS DER ANALYSATOREN AUF DAS GLEICHGEWICHT
2.2 GEHIRNANATOMISCHE GRUNDLAGEN
2.3 ZUM KINÄSTHETISCHEN ANALYSATOR
2.4 ZUM TAKTILEN ANALYSATOR
2.5 ZUM OPTISCHEN ANALYSATOR
2.6 ZUM AKUSTISCHEN ANALYSATOR
2.7 ZUM VESTIBULARANALYSATOR ( GLEICHGEWICHTSORGAN )
2.7.1 ASPEKTE DER ENTWICKLUNG
2.7.2 BAU UND FUNKTION DES VESTIBULARANALYSATORS
2.7.2.1 ANATOMISCHE GRUNDLAGEN
2.7.2.2 OPTISCH-VESTIBULÄRE REGULATION UND AKTIVE BLICKMOTORIK
2.7.2.3 STATISCHE UND STATOKINETISCHE REFLEXE
2.7.3 VESTIBULÄRE AUSFALLERSCHEINUNGEN
2.7.4 ZUSAMMENFASSENDER ÜBERBLICK ÜBER AUFNAHME UND VERARBEITUNG VON INFORMATIONEN DES VESTIBULARANALYSATORS

3. THEORETISCHE ASPEKTE ZU GLEICHGEWICHT UND GLEICHGEWICHTSFÄHIGKEIT
3.1 ZUR DEFINITION GLEICHGEWICHT
3.2 ARTEN DES GLEICHGEWICHTS
3.2.1 STATISCHES GLEICHGEWICHT
3.2.2 DYNAMISCHES GLEICHGEWICHT
3.2.3 OBJEKTBEZOGENES GLEICHGEWICHT
3.2.4 ZUSAMMENFASSUNG ’
3.3 GLEICHGEWICHTSFÄHIGKEIT

4. ZUR MESSUNG DER GLEICHGEWICHTSLEISTUNG
4.1 VERFAHREN
4.2 MESSPROBLEMATIK
4.3 UNTERSUCHUNGEN ZUM STATISCHEN GLEICHGEWICHT
4.3.1 UNTERSUCHUNGEN ZUM STATISCHEN OBJEKTGLEICHGEWICHT
4.3.2 ZUSAMMENFASSUNG
4.4 UNTERSUCHUNGEN ZUM DYNAMISCHEN GLEICHGEWICHT
4.4.1 UNTERSUCHUNGEN ZUM DYNAMISCHEN OBJEKTGLEICHGEWICHT
4.4.2 ZUSAMMENFASSUNG

5. ZUM TRAINING DER GLEICHGEWICHTSFÄHIGKEIT

6. ZUSAMMENFASSENDER ÜBERBLICK

7. LITERATUR 2

ANHANG: LEBENSLAUF

1. EINLEITUNG:

Das Thema dieser Arbeit ist in einem Teilbereich der grundla- gen—und experimentell orientierten Bewegungsforschung anzu­siedeln. Gegenstand ist die Analyse von Untersuchungen zum Gleichgewicht.

Die experimentell durchgeführten Untersuchungen und Befunde, die hauptsächlich im englischsprachigen Raum und Osteuropa unternommen wurden, stützen sich in der Sportpsychologie auf grundlegende Bewegungsmodelle, in denen funktionelle anato­misch / psychologische Strukturen integriert sind.

Viele der bislang im Bereich der Bewegungssteuerung vorlie­genden Arbeiten beschäftigen sich mit den zur Gleichge­wichtsregulation grundlegenden Prozessen.

Auch diese Arbeit schließt die Erläuterung der grundlegenden Strukturen mit ein.

Zunächst erfolgt die ausführliche Beschreibung der Bewegungs­regulation, die den gesamten motorischen Lernprozeß zur Ent­wicklung der Automatisation und Feinkoordination an einem ky­bernetischem Modell verdeutlicht. Dies geschieht besonders unter dem Aspekt der Bedeutung des Gleichgewichts für den ko­ordinativen Prozeß. Die an der Bewegungsrealisation beteilig­ten gehirnphysiologischen Prozesse werden aufgrund der Ver­flechtung des Gleichgewichts mit der Bewegungsregulation be­handelt; das Gleichgewicht versteht sich sowohl als peri­pheres, als auch zentralnervöses Geschehen. Die an der Gleichgewichtsfähigkeit beteiligten Regelstrukturen des inne­ren und äußeren Regelkreises, der visuelle, taktile, akusti­sche, kinästhetische und vestibuläre Analysator, werden je­weils in selbständigen Punkten hinsichtlich ihrer Funktion erläutert. Besondere Berücksichtigung findet das vestibuläre System, da darauf aus dem Bereich der Forschung bislang le­diglich segmenteil Bezug genommen wurde.

Das Kapitel 'Theoretische Aspekte und Gleichgewichtsfähig­keit' differenziert den Begriff des Gleichgewichts in seine statische und dynamische Komponente, um die verschiedenen Di­mensionen darzustellen. Eine Systematik ordnet die beiden Komponenten nach verschiedenen Analyseaspekten ein, wie sie in den behandelten Untersuchungen zu finden sind.

Den Abschluß des grundlagenorientierten Teiles bildet die Er­läuterung der Gleichgwichtsfähigkeit und ihre Einordnung in den gesamtkoordinativen Prozeß, um nochmals die Verflechtung von Gleichgewichtsfähigkeit und Bewegungsregulation aufzuzei­gen und ihre Bedeutung für den Sport hervorzuheben.

Der Überblick über die Untersuchungen zur Analyse des Gleich­gewichts bildet den Schwerpunkt der Arbeit und geht am Anfang dieses Kapitels auf Meßverfahren, Testgütekriterien und all­gemeine Meßproblematiken ein. Die Untersuchungen werden dann zum einen den Kapiteln 'Untersuchungen zum statischen' und 'Untersuchungen zum dynamischen Gleichgewicht’ zugeordnet und unter dem jeweiligen Aspekt nach personenbezogenen und perso­nen—ob jektbezogenen Dimensionen behandelt und zum anderen chronologisch nach den unterschiedlichen Verfahren einge­teilt. Am Ende eines jeden Kapitels erfolgt eine tabellari­sche Zusammenfassung des Untersuchungsablaufs mit kurzer Er­gebniswiedergabe .

Den Schlußteil dieser Arbeit bilden die Trainingsprogramme zum Thema 'Gleichgewicht'. Sie umfassen spezifische Trai­ningsroutinen für den medizinischen und sportpraktischen Be­reich .

Die abschließende Zusammenfassung geht dann noch einmal auf die theoretischen grundlagenorientierten Aspekte ein und auf Ergebnisübereinstimmungen und —unterschiede der Untersuchun­gen .

2. BEWEGUNGS REGÚLATION UND AM GLEIÇHGEWIÇHTS PRÓZE SS BETEILIGTE STRUKTUREN

2.1 ALLGEMEINES BEWEGUNGSKOORDINATIONSMODELL UND DER EINFLUSS DER ANALYSATOREN AUF DAS GLEICHGEWICHT

Die für die Bewegungsregulation verantwortlichen Systeme, die Analysatoren, ermöglichen Realisation und Regulation jeder Bewegung durch sensorische Information und Rückinformation, die Orientierung im Raum und die Korrektur.

Auch PAWLOW sieht in diesen Analysatoren "... jene Teilsy­steme der Sensorik . . . , die Informationen auf der Grundlage von Signalen jeweils ganz bestimmter Modalität ... empfangen, umkodieren, weiterleiten und aufbereitend verarbeiten" { vgl.: MEINEL & SCHNABEL, 1976 ).

Die Einordnung der Analysatoren in den bewegungsregulierenden Prozeß wurde in vielerlei Hinsicht unternommen.

Sie sind u.a. bei TSCHAIDSE ( 1965 ) in einen Steuerungspro­zeß eingeordnet, wobei die innere Rückführung der Information über die Stellglieder der Bewegung ( kinästhetische und ve­stibuläre Rezeptoren ) erfolgt.

In Zusammenhang mit dem Reafferenzprinzip ( HOLST & MITTEL- STAEDT, 1950 ) und der Rückafferentation ( ANOCHIN, 1967 ) , liegen ebenfalls kybernetisch-psychologische Regelkreismo­delle zu diesem Thema vor.

Sehr differenziert und gut verständlich ist das allgemeine Bewegungsmodell von MEINEL & SCHNABEL ( 1976, 66 ) . Dieses

Modell bildet die Grundlage des Struktur—und Prozeßmodells von TEIPEL ( 1979, 46 ); es basiert ebenfalls auf dem Regel­kreisprinzip. Die Person—Umweltbeziehung ist Grundlage der bewegungsregulierenden Information und Rückinformation. Den jeweiligen Analysatoren, dem optischen, akustischen, takti­len, kinästhetischen und statico—dynamischen( Vestibularana lysator ) werden jeweils spezifische Rezeptoren, afferente Nervenbahnen und sensorische Zentren zugeordnet. Das Projek­tionsfeld aller ankommenden Bahnen befindet sich in der Hirn­rinde ( vgl. GABEL, 1984 ). Die Informationsaufnähme über die jeweiligen Analysatoren wird in diesem fundamentalen Modell in einen inneren und äußeren Regelkreis eingeteilt.

Dem äußeren Regelkreis werden das taktile, akustische ( ver­bale ) und das visuelle Informationssystem zugeordnet, dem inneren das kinästhetische und vestibuläre Informationssy­stem. Beim inneren Kreis verläuft der Informationsweg aus­schließlich innerhalb des Organismus, während beim äußeren Kreis die Informationswege auch teilweise außerhalb verlaufen können.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

ABB. 1: Modell der Bewegungsregulation ( TEIPEL, 1979, 46 )

Die Anteile der fünf Analysatoren an Informationen für die Bewegungsregulation sind sportartspezifisch unterschiedlich, jedoch mehr oder weniger alle beteiligt, wirken zusammen und ergänzen sich.

Im Laufe des sonsomotorischen Lernprozesses erfahren die analysatorischen Inputanteile eine Schwerpunktverschiebung von außen nach innen, d.h., daß dann die Informationsaufnähme hauptsächlich kinästhetisch und vestibulär geschieht.

Die aus dem Bewegungsprozeßmodell erkennbaren beteiligten Ge­dächtnisprozesse sind für kurz- und langfristige Speicherung und Reproduktion von Bewegungen zuständig ( die Speicherung aller Innervationsmuster erfolgt in der sog. Efferenzkopie ). Die Programmierung beinhaltet Planung ( Antizipation ), Vor­stellung und den Ist-Sollwert-Vergleich, der mit der Bewe­gungskorrekturplanung gekoppelt ist.

Die Motivation schließt momentane und überdauernde Aspekte zur Bewegungsausführung ein und bestimmt die Gerichtetheit und Intensität des Bewegungsverhaltens.

Die Realisation der Bewegungsausführung unter Einschluß der Umweltgegebenheiten wird als Verhalten bezeichnet. Ausfüh­rende Organe sind das efferente, bzw. das muskuläre System. Die aufgenommenen Informationen aus inneren und äußeren In­formationssystemen werden synthetisiert und differenziert und als Engramme in Kurz- und Langzeitgedächtnis eingebettet. Sie sind auch die Bewegungsbilder, die zur Korrektur beim Ist- Sollwert—Vergleich herangezogen werden ( vgl. TEIPEL, 1979, 46 ff ) .

Alle an der Bewegungsregulation beteiligten Analysatoren be­stimmen durch ihre Zusammenarbeit maßgeblich den Gleichge­wichtsprozeß. Auch er wird nur durch ihre reibungslose, stö­rungsfreie und kontrollierbare Aktionsausführung möglich. SINGER ( 1970, 197 ) ist der Auffassung "... das Körper­gleichgewicht kann nur durch eine Reihe großkoordinativer Fähigkeiten aufrechterhalten werden ..., ... alleine das auf rechte Stehen verlangt eine Vielzahl interaktiver Prozesse

Die für die Gleichgewichtserhaltung und —herstellungverant­wortlichen Analysatoren dienen der Realisation und Regula­tion, sind Grundlage der sensorischen Information und Rückin- formation und ermöglichen Orientierung und Korrektur.

In der Literatur ergeben sich bzg. der Zuordnung der Wichtig­keit eines der Analysatoren am Prozeß der Gleichgewichtsregu­lation kontroverse Meinungen.

In der sportwissenschaftlichen, physiologischen und medizini­schen Literatur ist man einhellig der Meinung dem Vestibular- analysator den Terminus 'Gleichgewichtsorgan' zuzuordnen. STEGEMANN ( 1977 ) nennt den Vestibularanalysator das Gleich­gewichtsorgan für die Motorik, das dem Menschen wichtige In­formationen durch Dreh- und Winkelbeschleunigungen, durch Stell- und Haltereflexe für die Erhaltung des Gleichgewichts liefert.

SINGER { 1977 ) wiederum redet vom Gleichgewichtssinn und erklärt ihn folgendermaßen: Er funktioniert durch "... das Zusammenwirken einfacher Reflexe, propriozeptiver Information zu Groß— und Kleinhirn, die Aktivierung der Reti- kularformation und des Vestibularanalysators, visuelle Infor­mation und willkürliche Bewegungen ...". Auch hier werden verschiedene Sinnesbereiche zum Erhalt des Gleichgewichts verantwortlich gezeichnet.

GROEN ( 1972 ) , SCHWABOWSKI ( 1979 ) und KIPHARD ( 1985 )

sind der Meinung, der Vestibularanalysator sei letztlich das maßgebliche Organ für den Erhalt des menschlichen Gleichge­wichts .

GABEL ( 1984 ) gibt zwar auch keinen eindeutigen Hinweis auf die Bedeutung eines der Analysatoren als primär gleichge­wichtsregulierendes Organ, neigt jedoch zur Unterstreichung der Wichtigkeit des vestibulären Systems.

2.2 GEHIRNANATOMISCHE GRUNDLAGEN

Die Gleichgewichtsregulation ist als ein Aspekt der Bewe­gungsregulation zu verstehen; sie basiert auf grundlegenden neuroanatomischen AblaufProzessen, zu deren Verständnis kom­plexe Strukturen und Funktionseinheiten, zumindest in den Grundzügen, erklärt werden sollen.

Kybernetisch gesehen ist der Mensch ein sich selbst regulie­rendes System, das mittels affereneter Nervenbahnen Informa­tionen zum zentralen Nervensystem ( ZNS ) leitet, diese dort speichert, verarbeitet und jederzeit abrufbar in motorische Aktionen mittels efferenter Nervenbahnen umsetzen kann. Funktionell besteht das Nervensystem aus drei Abschnitten, die die Aufgabe haben, alle Körperfunktionen optimal zu ver­binden und abzustimmen, nämlich dem Gehirn und Rückenmark, dem peripheren Nervensystem { Nerven und Nervenknoten ) und dem vegetativen Nervensystem ( Sympathicus und Parasympathi- cus ) .

Nach dem Aufbau gegliedert, bestehen das Gehirn und Rücken­mark aus:

- Endhirn ( Großhirn )
- Zwischenhirn
- Mittelhirn
- Brückenhirn mit Kleinhirn
- verlängertes Rückenmark und Rückenmark.

Die motorischen Aktionen laufen über das sog. pyramidale und extrapyramidale System. Die pyramidale Motorik meint die willkürliche Ziel- und Leistungsmotorik, die über die Hirn­rinde ( Cortex ) läuft; die extrapyramidale Motorik läuft über eine Vielzahl miteinander verschalteter Hirnstrukturen ( im Stammhirn ) und ist für die Stützmotorik verantwortlich. Die für die motorischen Prozesse verantwortlichen Strukturen sind sozusagen hierarchisch organisiert, folgen aber dem Sub­sidiaritätsprinzip, d.h. Entscheidungen werden nicht nur von oben gefällt ( vgl. HOTZ & WEINECK, 1983, 22 ).

Die aus der Peripherie ankommenden Informationen werden zunächst über das Rückenmark ( Leitung afferenter und effer­enter Impulse ) in subcortikale und cortikale Abschnitte wei­tergeleitet. Je nach Art der Information werden unterschied­liche Bereiche angesprochen: das Kleinhirn { cerebellum )

Es ist das Zentrum der Bewegungs- und Körperstellungsregula­tion, Meldesammelstelle für viele ankommende Informationen und Kontrollorgan der Motorik. Es enthält Fasern aus den kin- ästhetischen und vestibulären Bahnen, d.h. es sorgt für den Erhalt des Gleichgewichts, der räumlichen Orientierung und der zeitlichen Koordination. Es ist weiter eine wichtige Re­laisstation zum Großhirn und gibt Empfehlungen an das pyrami­dale System ( TEIPEL, 1979; FALLER, 1980; FRÖHLICH & DREVER, 1983 ) .

Bei Ausfall des Kleinhirns kommt es zu schwersten Gleichgewichtsstörungen und zur Unfähigkeit, einfachste Bewegungen auszuführen.

Kleinhirn und Basalganglien zusammen stellen spezielle Funk­tionsgeneratoren dar, die die grobmotorischen Bewegungsmuster aus den Assoziationszentren räumlich und zeitlich gliedern ( HOTZ & WEINECK, 1983 ).

das Zwischenhirn

Hier befinden sich die sensorischen Reflexzentren.

Der Thalamus ( zwischen Zwischen- und Vorderhirn ) ist das wichtigste subcortikale Integrationszentrum der allgemeinen Sensibilität ( Tast-, Tiefen-, Temperatur- und Schmerzsensi­bilität ), der Seh- und Riechfunktion ( FALLER, 1980; FRÖH­LICH & DREVER, 1983 ).

Der Hypothalamus beeinflußt die emotionalen und motivationa­len Vorgänge in Verbindung mit dem limbischen System.

Die Basalganglien haben hemmende Funktion auf die Bewegungs- impulse und deshalb Einfluß auf die Modifikation der Bewe­gungsausführung ( vgl. TEIPEL, 1979; FRÖHLICH & DREVER, 1983 ) .

Die im Hirnstamm gelegene Formatio reticularis ist ein Zell­geflecht, in das afferente Impulse über sog. Kollaterale ( Verzweigungen afferenter sensorischer Neuronen ) gelangen, aus allen spezifischen Rezeptorbereichen ( unspezifische Schaltstation ) . Von hier aus gelangen auch Impulse in sub- cortikale und cortikale Zentren; aus höheren Regionen empfan­gene absteigende Impulse werden von der Formatio reticularis ins Rückenmark weitergeleitet.

Auf- und absteigende Verbindungen kennzeichnen die Formatio reticularis als Vermittler zwischen sensorischen und zentra­len Informationen.

Sie koordiniert mehrere Muskeln zu komplizierten Gesamtbewe­gungen, reguliert die Tonusverteilung der Muskulatur ( Halte­funktion ), hemmt die vestibulären Kerne, beeinflußt Thala­mus, Groß- und Kleinhirn und ist verantwortlich für Schlaf­Weck-Rhythmus und Weckreaktion. Mit der Weckreaktion bestimmt sie auch den Grad der Bewußtseinshelligkeit { TEIPEL, 1979; FALLER, 1980; FRÖHLICH & DREVER, 1983 ).

Alle Strukturen zusammen sorgen für eine der Zielmotorik angepaßten Stützmotorik ( HOTZ & WEINECK, 1983, 23 ).

das Großhirn

Der obere Gehirnbereich, das Großhirn, ist in eine linke und eine rechte Hemisphäre geteilt. In ihnen sind fast überein­stimmend die primären, sekundären und tertiären sensorischen, motorischen ( efferenten ) und assoziativen Zentren repräsen­tiert. Sie sind immer auf die entgegengesetzte Körperhälfte bezogen { contralateral ). Bei einer Rechtshändigkeit liegt eine Dominanz der linken Gehirnhälfte vor ( Lateralität; vgl. TEIPEL, 1979, 58 ). Ebenso liegen die Sprach- und Sprechzen­tren beim Rechtshänder links.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

ABB. 2 : Struktur der bewegungsregullerenden Zentren des Großhirns { aus: TEIPEL, 1979. 58 )

Das motorische Projektionsfeld liegt im oberen, mittleren Be­reich des Großhirns. Hier lokalisieren sich die einzelnen Körperregionen in der Reihenfolge von unten außen nach oben innen ( Fuß, Bein, Rumpf, Arm, Hand, Finger usw. ). Die Re­präsentation der einzelnen Körperteile ist funktionell zu verstehen. Topografisch entspricht der Cortex der Organisa­tion der Muskeln, funktionell denkt er in Bewegung ( vgl. HENATSCH, 1976 ).

Die verschiedenen an der Informationsaufnahme beteiligten Sy­steme sind in verschiedenen Gehirnabschnitten lokalisiert. Das sensorische Projektionsfeld liegt in der Nähe und teil­weise überlappend zum motorischen Projektionsfeld. Es stellt die zentrale Repräsentation des vestibulären, kinästhetischen und taktilen Informationssystems dar. Das visuelle Projekti­onsfeld liegt im occipitalen Bereich und die verbale Reprä­sentation ist sowohl im sensorischen als auch im motorischen Sprachzentrum zu finden ( vgl. TEIPEL, 1979, 60 ).

Primäre, sekundäre und tertiäre Projektionsfelder stehen in enger Verbindung über Assoziations- und Kommissurenbahnen.

Sie sind an der Affenrenzsyntheseausbildung beteiligt ( SOLO- GUB, 1976, 204 ).

Im Gedächtnis werden kurz—oder langfristig die Bewegungen abrufbar gespeichert ( Afferenzsynthese und Efferenzkopie ). Bei der Speicherung und Reproduktion von Bewegung geht man davon aus, daß sie auf Prozesse im Kleinhirn und in den se­kundären und tertiären sensorischen Projektionsfeldern, eben­falls im motorischen Projektionsfeld zurückzuführen sind. Integration und Programmierung der Bewegung geschehen zu großen Teilen sehr wahrscheinlich in den tertiären motori­schen Rindenfeldern ( Assoziationsfelder ) und im motorischen Projektionsfeld. Hier findet wahrscheinlich auch die Ausar­beitung eines effektiven Bewegungsprogrammes statt, sowie die Möglichkeit des Ist-Sollwert-Diskrepanz-Vergleichs. Bei einer Schädigung der motorischen Rindenfelder ist die Programmie­rung erheblich gestört.

Die Motivation zur Bewegung geht zum Teil von der Formatio reticularis, dem Hypothalamus und dem limbischen Cortex aus. Ebenfalls maßgeblich daran beteiligt sind die tertiären moto­rischen Rindenfelder { vgl. SOLOGUB, 1976, 204; TEIPEL, 1979, 60/1 ).

Das Verhalten, welches durch die efferente Impulsgebung aus den beteiligten Bereichen entsteht, zeigt je nach unter­schiedlicher Intensität und Dauer der nervalen Bahnungs- und Hemmungsprozesse, sowie der adäquaten Koordination der aus­führenden Muskelsysteme, unterschiedliche Qualität ( vgl. TEIPEL, 1979, 71 ).

In den folgenden Punkten ( 2.3 - 2.7.4 ) erfolgt zum besseren Verständnis eine genauere strukturelle und funktionelle Er­läuterung der am Bewegungs- bzw. Gleichgewichtsprozeß betei­ligten Informationssysteme.

Vorab erfolgt an dieser Stelle eine Übersicht über die in den Punkten 2.3 - 2.7.4 behandelten für die Bewegungsausführung relevanten Informationssysteme.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 3: Übersicht Uber die Informationssysteme ( aus: HOTZ 8, WEINECK, 1963, 63 )

Die Darstellung umfaßt alle beteiligten Sinne, die Sinnesor­gane und die jeweilige terminologische Bestimmung, also visu­eller, taktiler usw. Analysator. Die Art .der Informationsauf­nahme wird durch die Rezeptorenart und den Sitz der Rezepto­ren verdeutlicht, ebenso erfolgt eine Zuordnung zum inneren und äußeren Informationssystem bei der Bewegungsregulation. Darüber hinaus erfolgt eine Bestimmung der Wahrnehmungsreize.

2.3 ZUM KINASTHETISCHEN ANALYSATOR

Der kinästhetische Analysator gibt bewegungslenkende Informa­tionen, dadurch daß er es ermöglicht differenzierte Feinab­stimmungen von Raum, Zeit und Geschwindigkeit zu ermessen und zu lenken. Er gehört zum inneren Regelkreis und steht in Kon­takt mit dem efferenten Informationssystem, welches die Bewe­gungsausführung bewirkt.

Laut MEINEL & SCHNABEL ( 1976 ) ist der kinästhetische Analy­sator enger mit allen anderen Analysatoren verbunden als diese untereinander. Die Autoren meinen, es gäbe keine allge­meine Informationsgewinnung aus der Umwelt ohne kinästheti­sche Anteile.

Anatomisch gesehen stellt dieser Analysator ein weitverzweig­tes Netz dar.

Als Sinnesendorgane ( Propriozeptoren ) sind ihm Muskelspin­deln, Sehnenspindeln und Gelenkrezeptoren zugeordnet. Somit liegen seine Propriozeptoren unmittelbar in den Bewegungsor­ganen selbst und sind direkt an jeder Bewegung beteiligt; er eignet sich daher sehr gut zur reafferenten Bewegungskon­trolle ( MEINEL & SCHNABEL, 1976 ).

Die Leitungsbahnen ( sensible Nervenfasern ) haben eine sehr hohe Leitungsfähigkeit und folglich auch eine sehr hohe Übertragungskapazität. MEINEL & SCHNABEL ( 1976, 73 ) spre­chen von einer "... höheren Übertragungskapazität als die Kanäle anderer Analysatoren..." ( Leitungsgeschwindigkeit beim Warmblütler nach: RÜDIGER 1969, 422 ff; Lehrbuch der Physiologie :

- motorische Nervenfasern zur Skelettmuskulatur und sensible Nervenfasern von den Muskelspindeln 60 - 120 m/sek
- sensible Fasern von den Berührungsrezeptoren der Haut 40 - 90 m/sek
- motorische Nervenfasern zur intrafusalen Muskulatur und sensible Nervenfasern von den Druckrezeptoren der Haut 30 - 40 m/sek
- sensible Nervenfasern der Chemo-, Thermo- und Schmerzrezep­toren 15 - 25 m/sek ).

Die Muskelspindeln als Rezeptoren befinden sich besonders zahlreich in den Streckmuskeln der Extremitäten, weniger häu­fig in den Beugern. Besonders dicht liegen sie auch in den Muskeln der menschlichen Hand und in denen des Augapfels. Sie sind nicht in andere Muskelfasern eingespannt, sondern liegen parallel zu ihnen ( STEGEMANN, 1977 ).

Die Muskelspindeln enthalten eigene 'intrafusale' Muskelfa­sern, deren nichtkontraktiles Mittelstück der eigentliche Re­zeptorbereich ist.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

ABB. 4: Eigenreflexbogen ( STEGEMANN. 1977, 33 )

Sie "... reagieren auf Ausmaß und Geschwindigkeit Längenänderung der sie umgebenden Skelettmuskelfasern, also Längenrezeptoren" ( GABEL, 1983 ). Als einfachstes Bei­spiel wird oft zum Verständnis der Patella-Sehnenreflex er­wähnt; der Reflex läuft über einen Reflexbogen, der aus Re­zeptor, afferenter Bahn, Umschaltstelle, efferenter Bahn und dem Effektor zusammengesetzt ist. Die Antwort, der Reflex, erfolgt monosynaptisch.

Die Muskelspindel stellt in diesem Reflexbogen biokyberne­tisch gesehen den Fühler des Regelkreises dar. Sie hält die Spannung der Muskulatur, also die Länge, auf einem vorgegebe­nen Wert.

Die т-innervation in diesem Regelkreis stellt die Führungs­größe dar ( Folgeregler ) und regelt die Vorspannung der Mus­kelspindel durch Längenänderung der intrafusalen Fasern. Da­mit haben sich die Meßeigenschaften der Muskelspindeln geän­dert mit dem Ergebnis einer Verstellung der Skelettmuskulatur ( a-Motoneuron bei Kontraktion ). Die physiologische Bedeu­tung dieser Eigenreflexe liegt in der Aufrechthaltung der Muskelaktivität des Körpers.

Die Sehnenspindeln ( Golgi-Organe ) "liegen zur intrafusalen Muskulatur in Serie" ( HAASE, 1976 ) und nehmen daher isome­trische Kontraktionen auf, womit sie als Spannungsrezeptoren zu bezeichnen sind.

Im Regelkreis stellen sie Fühler dar, allerdings ist dieser spannungsbegrenzt. In ihrer Rolle als Spannungsrezeptoren re­präsentieren die Sehnenspindeln im eigenreflektorischen Re­gelkreis eine Gegenkopplung.

Die dritte kinästhetische Meldefunktion geht von den Gelenk­rezeptoren ( Ruffini-Typ ) aus. Sie sind äußerst sensibel für gerichtete Gelenkbewegungen und ihre Geschwindigkeit und sie reagieren auf Erschütterungen ( vgl. GABEL, 1983 ), ( Vater- Pacinische-Körperchen = Beschleunigungsrezeptoren in der Ge­lenkkapsel gelegen ). Damit geben sie immer exakte Informa­tion über die jeweilige Gelenkstellung an.

Wie oben bereits erwähnt, verfügt der kinästhetische Analysa- tor durch seine Rezeptorensitze über günstigste Voraussetzun­gen zur reafferenten Bewegungskontrolle ( der Ist-Sollwert­Vergleich wird sozusagen durch die "kinästhetische Innenan­sicht" gewährleistet ( MEINEL & SCHNABEL, 1976 ) ) . Er gibt dem Körper Informationen über Bewegungen bzgl. der Raum-Zeit­dimensionen. Dies wird möglich, dadurch daß die Impulse bei der Reizung der spezifischen Sinnesorgane über den Hirnstrang des Rückenmarks zum Thalamus und dann in den somatischen Be­reich des Kortex geleitet werden; es findet eine zentrale In­tegration statt.

Laut SINGER ( 1977 ) wird dem Organismus durch den Bewegungs­sinn wichtige Energie freigegeben zur Verwendung anderer Zwecke, was vor allem deshalb von großem Nutzen ist, da nur eine begrenzte Kapazität bei der Informationsverarbeitung verfügbar ist. Ein Anfänger z.B. muß beim Dribbeln auf den Ball sehen, während ein Könner über die kinästhetische Infor­mationsgewinnung den Ball ohne Blickkontrolle bewegen kann. Für ihn wird der optische Analysator zur Kontrolle und Wahr­nehmung anderen Geschehens frei. Kinästhesie ist damit ein vorhandener, aber eben auch erlernbarer, bzw. ausbaufähiger Mechanismus. Deshalb ist es nicht verwunderlich, daß im sportlichen Bereich Tests zur Erfassung kinästhetischer Fertigkeiten existieren und Verfahren zur Verbesserung dieser Fähigkeit entwickelt wurden und werden. Man nimmt an, daß der kinästhetische Analysator für mehrere Funktionen, die für den Bewegungsvollzug wichtig sind, verantwortlich ist, wie Loko­motion, Wahrnehmung von Druckveränderungen, Ganzkörperfunk­tionen und Gleichgewicht.

Zur Bedeutung dieses Analysators bei der Gleichgewichtsregu­lation weist GABEL ( 1985 ) auf folgende Überlegung hin:

Ist, wie beispielsweise bei Tabikern ( Patienten mit Rücken­marksverfall ) , der eigenreflektorische Regelkreis unterbro­chen, so kommt es zu schweren motorischen Störungen und mas­siven Beeinträchtigungen des Gleichgewichtsverhaltens. Sie sind nicht in der Lage, mit geschlossenen Augen stehen zu können.

Bei Ausfall der kinästhetischen Kontrolle ( und bei Ausfall der efferenten Kontrolle ) kommt es zum Parkinsonismus; d.h. die Bewegung wird zwar zielgerichtet strukturiert, zerfällt jedoch bei auftretenden Widerständen in ihre Teilstrukturen ( vgl. MEINEL & SCHNABEL, 1976, 71 ) ( Parkinsonismus ent­steht als Stoffwechselerkrankung durch Dopaminmangel ).

Nach FARFEL ( 1977 ) sind die an den Fußmuskeln und am Gelenk gelegenen Rezeptoren von großer Bedeutung, ebenso wie die aus den in der Halsregion sitzenden Propriozeptoren gewonnenen Informationen. Dies zeigten u.a. Versuche von COHEN ( 1961 ) der bei Affen die zervikalen Dorsalwurzeln anästhesierte, wo­raufhin sich bei den Tieren deutlichste Orientierungsstörun­gen, Ungleichgewicht und Störungen der motorischen Koordina­tion zeigten.

GABEL ( 1985 ) meint, daß ein Analogieschluß zum Menschen möglich ist.

Viele Untersuchungen, die in den Punkten 4.3 und 4.4 behan­delt werden, bestätigen den Anteil des kinästhetischen Analy­sators am menschlichen Gleichgewicht.

Auf die sportliche Praxis bezogen gibt der kinästhetische Analysator bewegungslenkende Informationen, dadurch daß er es ermöglicht, differenzierte Feinabstimmungen von Raum, Zeit und Geschwindigkeit zu ermessen und zu lenken.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

AßB- S: Kinäasthetlsche Informationslelstung ( aus: H 0 T 2 S, WEINECK, 1903, 68 )

Die Abbildung macht die Art der Informationsleistung- und -Wirkung deutlich, sowohl durch Hinzunahme der beteiligten Strukturen, als auch durch die psychologischen Wirkungskompo­nenten .

Die Rezeptoren dieses Analysators sind in der Haut lokali­siert und verteilen sich über die komplette Körperoberfläche. Sie stellen ein sehr differenziertes Gebilde dar. Neben den Schmerz-, Kälte- und Wärmerezeptoren sind die Mechanorezepto­ren auch als Eindruckstiefenfühler ( Merkel-Rezeptoren ), Be­wegungsfühler ( Meissner-Körperchen ), Beschleunigungs- und Erschütterungsfühler ( Pacini-Körperchen ) spezialisiert. Sie liefern uns wichtige Informationen auf taktilem Wege über jede Art der Bewegung, da sie unmittelbar Kontakt zur Umwelt hersteilen.

Besonders häufig anzutreffen sind die Mechanorezeptoren in Handflächen und Fußsohlen, häufig befinden sie sich auch in der Nähe von Muskeln und Sehnenspindeln ( Leitungsgeschwin­digkeit ca. 30 - 40 m/sec ). Vermutlich sind sie von sehr großer Bedeutung für die Feinkoordination der Hand, sicher­lich aber tragen sie zur Stützmotorik des Körpers bei.

SCHÄFER ( 1972 ) schreibt den Tast- und Druckrezeptoren der Haut eine große Bedeutung bei der Funktion der Körperstellre­flexe für die Aufrechterhaltung des Körpers zu. Besonders deutlich, so der Autor, sei dies festzustellen bei asymmetri­scher Erregung der Rezeptoren in Seitenlage. Die Dehnungsre­zeptoren der Fußmuskeln und die Druckrezeptoren der Haut si­chern also eine stabilere Zweifüßlerlage.

Im Sport liefern die Mechanorezeptoren ganz wichtige Informa­tionen aus der Umwelt, z.B. beim Griff des Balles, beim Ab­druck zum Sprung, weiterhin lassen sie Wasserwiderstände spü­ren, um nur einige Beispiele zu nennen.

Dem einzelnen Sportler in der Praxis ist es allerdings oft nicht möglich, die taktilen und kinästhetischen Empfindungen zu unterscheiden.

Für KLIX ( 1976 ) sind die Mechanorezeptoren haltungsstabi­lisierende Faktoren, da sie wichtige Informationen über die Verteilung der Druckverhältnisse auf der gesamten Oberfläche des Körpers liefern. Und sie sind 'Fühler' bei der Berührung mit anderen Objekten. Er sieht ebenfalls Zusammenhänge zwi­schen der Erregungsstärke der Rezeptoren und des Eigenge­wichts des Körpers, was auch bereits BASS bei ihren Ergeb­nissen vermutete ( BASS, 1938; s. Punkt 4.4 ).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

ABB. 6: Beitragsraöglichkeiten des taktilen Analysators an der menschlichen Bewegung ( aus: HOTZ 8. WEINECK. 1 9 8 3 , 66 ).

Die Rezeptoren des optischen Analysators ( MEINEL & SCHNABEL, 1976, nennen sie Telerezeptoren ) übermitteln Informationen aus der Distanz, sowohl über eigene Bewegungsvollzüge, als auch über die anderer Menschen, Objekte oder Vorgänge.

Beim Erlernen von Bewegungen und Teilprozessen von Bewegungen spielt dieser Analysator eine große Rolle. Die visuellen Bil­der sind 'Vorbilder', haben also informativen Charakter. Auch der visuellen Information über die eigene Bewegung, natürlich eingeschränkt durch den Gesichtskreis, muß große Beachtung eingeräumt werden. Allerdings kann das visuelle Vorbild nicht mit den Afferenzen und Reafferenzen der eigenen Bewegung verglichen werden. Beide Prozesse, das Lernen durch Zuschauen und das Bewegungslernen durch die visuelle Kontrolle eigener Bewegungen sind wichtige Punkte im Lernprozeß.

Bei schnellen Bewegungsabläufen wie beispielsweise beim Sla­lomlauf, ist die visuelle Kontrolle Bedingung; sie gibt In­formationen über die Lage des Körpers in seiner Umwelt. Wich­tig ist der optische Analysator auch bei der Einschätzung gegnerischen Bewegungsverhaltens, um reagieren zu können. Kurz, der optische Analysator überwacht, steuert teilweise, kontrolliert, ermöglicht einen großen Teil der Situationsaf- ferenz ( Umgebungsinformation ) über das periphere Sehen. MEINEL & SCHNABEL { 1976 ) sind der Meinung, der optische Analysator sei eng mit den anderen Analysatoren verbunden, er übernehme "... gleichsam die Bewegungserfahrung der anderen Analysatoren ...". Hier spricht ANANJEW ( 1963; aus; HOTZ & WEINECK, 1983, 64 ) von einer "optisch-kinästhetischen Asso ziation" .

Die Zusammenhänge zwischen optischem Analysator und den vestibulären Strukturen werden in einem anderen Kapitel die­ser Arbeit besprochen ( s. Punkt 2.7.2.2 ).

Im Prozeß des Bewegungslernens verliert sich die zunächst bestehende Dominanz des visuellen Analysators ( seine Rinden­felder haben die größte Ausdehnung im Gehirn ) und zwar im Zuge des zunehmenden Lernniveaus und der damit differenzier­teren Auswertung der Bewegungsempfindung; die dann hauptsäch­lich beanspruchten Analysatoren, also der kinästhetische und vestibuläre Analysator, gehören dem inneren Regelkreis an. Empirisch nachgewiesen wurde die Bedeutung des visuellen Analysators schon sehr früh durch Untersuchungen des motori­schen Gleichgewichts bei geöffneten und geschlossenen Augen, z.B. EDWARDS ( 1942 ), noch früher HINDSDALE ( 1887 ) oder WALLIN ( 1912 ) und MILES ( 1922 ) . Sie fanden bei Körper­schwankungstests signifikant höhere Ausschläge bei geschlos­senen, als bei geöffneten Augen vor.

Spätere Untersuchungen mit unterschiedlichen Gleichgewichts­tests, wie Wackelbrett ( TRAVIS, 1945 ), Ataxiameter ( MILES, 1922 ), FLEISHMAN’S Messungen von Ständen auf einer schmalen Leiste und Einbeinstände auf dem Boden, GRIMSLEY's { 1972 ) Messungen mit dem Dynabalometer und NIGG's ( 1977 )

Plattformmessungen beim bipedalen Stand, führten alle zur gleichen Aussage:

Das motorische Gleichgewichtsverhalten ist bei Ausschaltung der visuellen Kontrolle stärker beeinträchtigt als bei vor­handener visueller Kontrolle ( s. Punkt 4.3 und 4.4 ).

Das führt zu dem Schluß, daß der optische Analysator einen nicht unbescheidenen Beitrag im Gesamtprozeß der Gleichge­wichtsregulation leistet.

Faktorenanalytische Untersuchungen bestätigen diese Rück­schlüsse .

BASS ( 1938 ) isolierte bei diesen Untersuchungen einen 'all­gemeinen augenmotorischen Faktor’, WHELAN ( 1955 ) fand vier Faktoren, die dem optischen Analysator zugeordnet werden können, wobei zwei auf den Faktor 'quasistatisches Gleichge­wicht' luden, einer auf den Faktor 'dynamisches Gleichge­wicht ' .

FLEISHMAN's Analyse ( 1965 ) über die 'motorische Schnellig keit-Beweglichkeit-motorisches Gleichgewicht-motorische Koor­dination' hatte den Faktor 'Balancieren mit visueller Unter­stützung' als Ergebnis.

ROY's Untersuchungen ( 1968 ) mit fünf verschiedenen Gleich­gewichtsfähigkeitstests deuten darauf hin, daß die durch den optischen Analysator erhaltenen Informationen für das dynami­sche Gleichgewichtsverhalten eine größere Bedeutung haben, als für das quasistatische.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

abb. 7 : visuelle Informationsleistung ( aus: HOT? & wF ineck, 1983. 64 >

Das Modell verdeutlicht den visuellen Einfluß bei der Bewe­gung. Es zeigt, daß dieser Analysator sowohl über zentrales als auch peripheres Sehen Informationen über die eigenen Bewegungen, Partner-Spielerbewegungen, raum-zeitliche Umwelt­veränderungen und in seiner Funktion als Telerezeptor auch immer die Distanz zu Geräten und deren räumlicher Einschät­zung liefert.

Durch Aufnahme verbaler Information zur Unterstützung von dynamischen Bewegungsprozessen, werden z.B. für den Bereich gleichgewichtsgefährdender Bewegungsphasen wichtige Hinweise zum Ausgleich jeglicher Störungen gegeben.

Hierbei, um dies kurz zu skizzieren, ist der akustische Ana­lysator ( Distanzrezeptoren im Innenohr ) Mittel zur Übertra­gung, um die Weiterverarbeitung und Umkodierung verbaler In­formationen im zweiten Signalsystem zu ermöglichen.

Einige Autoren ( PUNI, 1969; LEIRICH, 1973; RUBINSTEIN, 1973; WOHL, 1977 ) sehen den verbalen Anteil als Grundlage für die Entwicklung von Bewegungsvorstellungen an ( aus: BÖS & MECHLING, 1985, 174 ). MEINEL & SCHNABEL { 1976 ) heben die verbale Informationsaufnahme als eigenes Informationssystem, neben dem akustischen hervor, auf seiner qualitativen Anders­artigkeit basierend.

Akustisch beruht sein Zweck also in der Weiterleitung von Si­gnalen, die mit der Bewegung selbst verbunden sind, wie z.B. beim Tennis oder Tischtennisspiel das Aufkommen des Balles, beim Joggen der Atemrhythmus.

Gleichgewichtsstabilisierend wirkt sich dieser analysatori- sche Input nur mit Hilfe zusätzlicher "bewegungslenkender Re- afferenzen" aus. Dafür wurden Testapparaturen hergestellt, wie z.B. SCHNEIDERS { 1970 ). Es handelt sich hierbei um eine Konstruktion, die über eine Kraftmeßplattform registriertes Schwankungsverhalten in akustische Signale umwandelt. Diese Signale beeinflussen sofort das Schwankungsverhalten der Ver­suchspersonen positiv.

TRAVIS { 1945 ) erlangte ebenfalls mit dem ersten Stabilome- tertest überhaupt bei Sofortinformation akustischer Natur po­sitive Ergebnisse. Er baute ein für die Probanden akustisch wahrnehmbares Zählwerk ein, das im Moment der definierten Gleichgewichtslage hörbar wurde ( akustisch-vestibuläres Feedback ).

Die Bedeutung dieses Analysators für die Gleichgewichtserhal­tung ist gering und im Bewegungsvollzug hauptsächlich verba­ler Natur.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

ABB. 8: Beitrag des akustischen Analysators zum Bewegungspro­zeß < aus: И0Т2 8. WEINECK, 1983, 65 )

Das Modell zeigt nochmals deutlich die hauptsächlich verbale Bedeutung dieses Analysators.

2.7.1 ASPERTE D ER ENTWIC KLUNG

Bei der Betrachtung der Entwicklungsaspekte stößt man zu­nächst auf die Frage, welchen Nutzen das vestibuläre System dem Menschen bringt. Diesbezüglich gibt es in der Fachlitera­tur eindeutige Aussagen:

Das vestibuläre System dient dem Menschen im Sinne der Auf­rechterhaltung des Körpers, schaltet sich in die Regelung der Augenmotorik ein und ist Grundlage für die reaktive Gleichge­wichtserhaltung; es transformiert positive und negative Be­schleunigungseinwirkungen in Nervenerregungen.

SCHÄFER ( 1972, 157 ) nennt es das System "der Blick- und Stützmotorik" mit großer Ausdehnung.

Letztlich ist das vestibuläre System Ausgangspunkt zielge­richteter Handlungen ( vgl. SCHWABOWSKI, 1979 ).

Die vestibulären Funktionen sind phylogenetisch alt, wurden aber im Laufe der Evolution von der zunehmenden Bedeutung der Großhirnrinde "überformt" ( vgl. SCHÄFER, 1972, 158 ). Der Funktionszusammenhang der menschlichen Ontogenese mit der Phylogenese ist noch durch Halte- und Stellfunktionen, Greif­phänomenen und Instinktmechanismen, vor allem beim Säugling, ersichtlich. Kommt ein neugeborenes Kind mit seinen Füßen in Kontakt mit einer festen Unterlage, so streckt es sich. Be­reits ein 4-6 Wochen altes Baby zeigt Kopfstellreflexe auf den Körper und tonische Halsreflexe auf die Extremitäten. 2 - 4 Monate alte Kinder können den Kopf aufrecht halten. Nach 5-7 Monaten hebt das Kind den Kopf aus der Bauchlage heraus hoch. Etwas später stellen sich die Körperstellreflexe auf den "Vierfüßlerstand" ( vgl. KIPHARD, 1985 ) sicher ein.

Zur physiologisch-anatomischen Entwicklung ist zu sagen, daß das vestibuläre System vor dem taktilen reift, die vesti bularen Kerne ihre Fähigkeit bereits in der 9. Woche der Be­fruchtung aufnehmen ( vgl. AYRES, 1984 ) und die Nervenbahnen dieses Systems bereits beim fünf Monate alten Fetus funkti­onsfähig sind.

Zu dieser Zeit ist der Fetus wahrscheinlich schon in der Lage, die Bewegungen der Mutter wahrzunehmen, wobei das den Fetus umgebende Fruchtwasser innerhalb der Fruchtblase die Druck- und Vibrationsreize auf das vestibuläre System aus­löst .

Untersuchungen an Früh- und Normalgeborenen mit bewußt ge­setzten rhythmischen Bewegungsreizen ( Hängematten, Wasser­betten ) zeigen, daß sich diese Kinder besser und gesunder entwickeln, zufriedener und weniger reizbar sind, weniger an­steigenden Hypertonus zeigen und sich durch ein reiferes mo­torisches Verhalten auszeichnen ( vgl. SCHÄFER, 1972; KI- PHARD, 1985 ).

Im Laufe des Erwachsenenalters verlieren sich die "erinnern­den" phylogenetischen Reflexe; durch degenerative Prozesse sind die Reflexe beim alten Menschen oft wiederzufinden.

Da das vestibuläre System äußerst anpassungsfähig ist und seine Funktionen, gegenüber anderen sensorischen Bereichen, wesentlich länger in voller Funktionstüchtigkeit behält, ist es gezielten Trainingsprogrammen zu unterziehen und bewirkt dadurch eine zunehmendere Stabilität des menschlichen Gleich­gewichts ( Aktualgenese ).

In den folgenden Seiten soll der Vestibularanalysator näher betrachtet werden hinsichtlich Aufbau, Funktion und Bedeutung bzgl. des Gleichgewichtverhaltens.

2.7.2.1 ANATOMISCHE GRUNDLAGEN

Entwicklungsgeschichtlich stellen das Gleichgewichts- und das Hörorgan eine Funktionseinheit dar. Zusammen bilden sie das Labyrinth und befinden sich im Innenohr.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

А В В . 9: Perspektivische Darstellung der Vestlbularorgane < WENDT. 1966, 1193 )

Der vestibuläre Teil des Labyrinths setzt sich aus zwei ver­schiedenen Arten von rezeptorischen Endorganen zusammen:

1. Die Bogengangsorgane liegen in drei Ebenen, jeder Ebene des Raumes entsprechend, fast rechtwinklig zueinander und sind fest mit dem Schädel verbunden. Damit ist es möglich, jede Kopfbewegung in Relation zum Raum zu analysieren.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Ohne Abscherung der Zilien zeigt die Cupula eine bestimmte Ruheaktivität. Eine Erhöhung der Aktivität ( Depolarisation ) erfolgt bei den horizontalen Bogengängen, wenn die Cupula zum Utriculus hin ausgelenkt wird { utriculopetal ); bei Drehung nach links erfolgt dies in den linken horizontalen Bogengän­gen. Eine Verminderung der Entladungsrate erfolgt bei utrico- lofugaler Auslenkung ( Hyperpolarisation; vgl. Abb. vorne )

{ vgl. GROEN, 1972; WENDT, 1966 ).

In den vertikalen Bogengängen haben die ausgelösten Potenti­aländerungen umgekehrte Vorzeichen.

2. Jede Seite des knöchernen Labyrinths enthält also je drei Bogengangsorgane und noch je zwei Otolithen- bzw. Statoli- thenorgane als Vestibularisrezeptoren.

Die zwei Otolithen- oder Maculaorgane heißen Macula utriculi und Macula sacculi. Bei aufrechter Körperhaltung liegt die Macula utriculi waagerecht und die Macula sacculi senkrecht.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

ABB. 10: Lage des Labyrinthes Im Kopf ( WENDT, 1966, 1191 >

Die Rezeptoren der Bogengänge dienen der Erfassung von Winkelbeschleunigungen ( Rotationsbeschleunigungen, Drehungen des Kopfes ).

Je ein Bogengang und der Utrikulus bilden eine Funktionsein­heit, die in einem geschlossenen Endolymphring liegt, ledig­lich unterbrochen durch die Cupula - eine gallertig gefüllte Ampulle, die in die Bogengangswand hineinragt und deren spe­zifische Dichte der der Endolymphe entspricht - ; dieses Sy­stem sorgt für die Wahrnehmung der Kopf-Drehbewegungen und den Erhalt des Gleichgewichtes sowie die Orientierung in der Umgebung durch Haltungs- und Stellreflexe und zwar dadurch, daß es, wie oben erwähnt, auf Rotationsbeschleunigungen an­spricht. Dabei bleibt zunächst bei der Drehung des Schädels der träge Bogengangsinhalt in Ruhe ( Gravitationseinfluß ), während sich dadurch die Cupula, die ja mit der Bogengangs­wand verwachsen ist, in Gegenrichtung auslenkt ( Remanenz­strömung ) .

[...]

Ende der Leseprobe aus 253 Seiten

Details

Titel
Überblick über Untersuchungen zur Analyse des Gleichgewichts
Hochschule
Deutsche Sporthochschule Köln  (Psychologisches Institut)
Note
1
Autor
Jahr
1987
Seiten
253
Katalognummer
V4942
ISBN (eBook)
9783638130189
ISBN (Buch)
9783656206965
Dateigröße
49630 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Untersuchungen, Analyse, Gleichgewichts
Arbeit zitieren
Uta Woodum (Autor:in), 1987, Überblick über Untersuchungen zur Analyse des Gleichgewichts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/4942

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