Rituale in komplexen Gesellschaften


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

20 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Kapitel 1: Die Wandelbarkeit des Ritualbegriffs, Konzept nach Platvoet

Auffällig am Begriff des Rituals ist, dass er innerhalb der ethnologischen Disziplin in den letzten Jahrzehnten eine enorme Wandlung erfahren hat. Während unter Ritual „ursprünglich „Gottesdienst“ oder die schriftlichen Anweisungen dazu“[1] verstanden wurde, wird der Begriff heute auf symbolische Handlungen allgemein angewendet.Zwar kommt das Wort Religion auch in heutigen Untersuchungen immer noch vor, aber spezifische Riten und das Ritual im allgemeinen werden nur noch selten als ausschließlich religiöse Phänomene betrachtet.[2] Nicht zuletzt deshalb erscheint es uns sinnvoll mit Hilfe der Kategorisierung des niederländischen Religionswissenschaftlers Jan Platvoet, „der in seiner Arbeit über Rituale in pluralistischen Gesellschaften auf drei Phasen in der Geschichte der Ritualtheorie“[3] hinweist, einen kleinen Überblick über die Historie der Ritualforschung zu gewähren.

Jan Platvoet unterteilt die Geschichte der Ritualtheorie in drei aufeinanderfolgende Phasen, die durch eine zunehmend einsetzende Offenheit, Rituale auch in komplexen bzw. modernen Gesellschaften zu erblicken gekennzeichnet werden können[4]. Doch die von ihm vorgenommenen zeitlichen Einteilungen sind nicht als starr zu begreifen, vielmehr bietet sie eine wertvolle Orientierungshilfe im Dschungel der Vielzahl an Ritualtheorien.

1.1 Phase I (ca. 1870 – 1960)

Die erste Phase lässt sich nach Platvoet dadurch charakterisieren, dass mit dem Ritualbegriff vorwiegend religiöse Zeremonien bzw. Feierlichkeiten beschrieben wurden[5]. Rituale wurden insofern als klarer Gegensatz zum technisch – rationalen Handeln moderner Gesellschaften verstanden. In Hinblick auf eine zunehmende Säkularisierung und Differenzierung der modernen Gesellschaft, wurde folgerichtig mit einer Abnahme der Bedeutung von Ritualen in komplexen Gesellschaften, mit einer Entritualisierung gerechnet.

1.1.1 Exemplarisches Beispiel für Phase I: Der Ansatz van Genneps

1.1.1.1. Rites de Passage, Übergangsriten nach Arnold van Gennep

Zu den einflussreichsten und auch heute noch häufig zitierten Konzepten dieser 1. Phase ist sicherlich das 1909 unter dem Titel „Les Rites de Passage“ veröffentlichte Hauptwerk des französischen Volks – und Völkerkundlers Arnold van Gennep (1873 – 1957) zu zählen.

Fundament van Genneps Hauptwerk war die Einsicht, dass in der Vielzahl ethnographischer Arbeiten zu Riten immer wieder Ähnlichkeiten festzustellen waren. Dies führte van Gennep zu dem Strukturschema der Übergangsriten[6].

Nach van Gennep führt der zwangsläufige Wechsel der Individuen zwischen verschiedenen Alters – und Tätigkeitsgruppen „immer wieder zu institutionalisierten symbolischen Übergangshandlungen, die die Dynamik des sozialen Lebens regeln, ordnen und kontrollieren.“[7] Nach van Gennep ist es das Leben selbst, „das die Übergänge von einer Gruppe zur anderen und von einer sozialen Situation zur anderen notwendig“[8] mache, was eine Bewältigung derartiger Situationen durch Riten erfordere. Das Ziel derartiger Übergänge, so van Gennep, sei identisch; nämlich „das Individuum aus einer genau definierten Situation in eine andere, ebenso genau definierte hinüberzuführen.“[9] Und da das Ziel identisch sei, so van Gennep, müssten „auch die Mittel es zu erreichen [...] zumindest analog sein.“[10]

Als Mittel für diese Transformation machte van Gennep die sogenannten Übergangsriten aus, die er in drei Phasen aufgliedert:

a) Rites de séperation (Trennungsriten), die Ablösung aus dem alten Zustand.

b) Rites de marge (Schwellenriten), die Schwellen – bzw. Zwischenphase.

c) Rites d’aggrégation (Angliederungsriten), die Integration in den neuen Zustand.[11]

1.1.1.2. Weitere Charakteristika der Rites de Passage

Wichtig sei aber auch, dass „die verschiedenen Phasen nicht gleichgewichtig zu betrachten“[12] sind, so van Gennep, sondern dass „ bei bestimmten Riten bestimmte Phasen betont“[13] werden: Während etwa bei Bestattungsriten eine stärkere Betonung auf den Trennungsriten vorliegt, stehen im Gegensatz dazu bei Hochzeitriten eher Formen der Angliederungsriten im Vordergrund.[14] Zudem besitzen alle Riten, die unter „dem Gesichtspunkt der Übergangsriten behandelt werden, immer eine Mehrdimensionalität, einen weiteren Zweck.“[15] So enthalten etwa Hochzeitszeremonien auch Fruchtbarkeitsriten, in Geburtszeremonien sind Schutzriten zu finden, und Bestattungsrituale beinhalten nicht selten Abwehrriten.[16]

Das Konzept der Rite de Passage kann neben den Übergängen im Lebenslauf „auch auf andere ritualisierte Formen von Übergängen“(Herlyn, S.22) angewendet werden:

So etwa auf Übergänge von räumlichen Grenzen (etwa Verlassen eines heiligen Bezirks) oder die Übergangsphasen des zeitlichen Ablaufes (Sonnenfinsternis, Vollmond).[17]

1.2 Phase II (ab den 1960er Jahren)

Ab den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts, in Platvoets Modell Phase Nr. 2, kam es, auch infolge der in verschiedenen Disziplinen einsetzenden Rezeption von Ritualbegriff und Ritualtheorien, zu einer stärkeren Öffnung der Ethnologie hin zu komplexen Gesellschaften.[18] Insbesondere in Anschluss an die Arbeiten von Victor Turner und Mary Douglas zeichnete sich ein Paradigmenwechsel ab, denn deren Anwendung von „Ritualtheorien auch auf komplexe Gesellschaften, verdeutlichten den Bruch mit der traditionellen „Einschätzung einer kontinuierlichen Entritualisierung westlicher, komplexer Gesellschaften“.[19]

In dieser 2. Phase hielt auch der Begriff der „Performance“ Einzug in den Diskurs, der innerhalb der Ethnologie mit dem Begriff der Ritualisierung bzw.des ritualisierten Handelns synonym verwendet wird. Gemeint ist damit, dass „fast jede Handlung unter bestimmten Bedingungen „ritualisiert“[20] werden kann, wobei insbesondere die „praxisorientierte Dimension von Sinngebung“[21] ins Focus des Interesse rückte.

Namhafte Autoren wie etwa Victor Turner, der vom „sozialen Drama“ spricht, aber auch Erving Goffman und Cliffard Geertz haben die Begrifflichkeit der Performance übernommen. Zunehmend als wichtiger erachtet wurde infolge dieser Entwicklung auch, eine Entschlüssung und Decodierung der latenten Ritualinhalte vorzunehmen.[22]

1.2.1. Exemplarisches Bsp. für Phase II: Victor Turner, Struktur und Anti - Struktur

1.2.1.1. Struktur und Antistruktur nach Victor Turner

Zu den am häufigsten zitierten Arbeiten dieser 2. Phase zählen zweifellos die Schriften von Victur Turner. Ausgangspunkt seiner Arbeiten zu komplexen Gesellschaften war „ die Erkenntnis, dass Rituale des Stamms der Ndembu die Turner im Rahmen eines längeren Feldforschungsaufenthalts Ende der 50er Jahre besucht hatte, einem Schema folgten, das er als „soziales Drama“ verstand.“[23]:

„Das soziale Drama beginnt mit einem Bruch sozialer Normen, die zu einer krisenhaften Situation führen, für deren Lösung, verschiedene Versuche der Bewältigung angebracht werden, „die schließlich entweder zu rituellen Lösungen oder Gerichtsverhandlungen führen oder in einem unüberwindlichen Bruch enden.“[24] Turner entwickelte auf dieser Erkenntis „das Modell der rites de passage weiter, indem er die mittlere, die Schwellenphase betonte und die strukturellen Charakteristika in den Mittelpunkt stellte“[25].

1.2.1.2. Individuen im Schwellenzustand, in der Liminalität oder Anti-Struktur

Individuen im Schwellenzustand, also in Phase 2 nach van Genneps Schema, rite de marge, bei Turner als Liminalität oder Anti – Struktur bezeichnet wird[26], weisen, so Turner, bestimmte Charakteristika auf. So werden in Stammesgesellschaften Individuen im Schwellenzustand nicht selten als Monster verkleidet, oder aber sie sind gehalten nackt zu bleiben oder kein Eigentum zu besitzen. Der liminale Zustand führt also dazu, „dass die Initianden auf einen einheitlichen Zustand reduziert werden.“[27] Häufig werden „die sich im Schwellenzustand befindenden Personen [...]als tot angesehen. Mit der Wiederaufnahme, dem Angliederungsritual (Rites d’aggrégation), werden sie wieder „zum Leben erweckt“[28]

Typisch für Schwellenwesen ist, so Turner, „dass sie keinen Status, keinen Rang und kein Eigentum besitzen.“[29] Hierzu schreibt er: „Schwellenwesen sind weder hier noch da; sie sind weder das eine noch das andere, sondern befinden sich zwischen den vom Gesetz, der Tradition, der Konvention und dem Zeremonial fixierten Positionen.“[30]

[...]


[1] Belliger, Andrea / Krieger, David J. 1998

Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, Göttingen, Westdeutscher Verlag, S.7

[2] Vgl. Ebd. S. 7

[3] Herlyn, Gerrit 2002

Ritual und Übergangsritual in komplexen Gesellschaften. Sinn – und Bedeutungszuschreibungen zu Begriff und Theorie, Hamburg, LIT Verlag, S. 33

[4] Vgl. Ebd. S.33

[5] Vgl. Ebd, S.33 f.

[6] Vgl. Ebd. S.22

[7] Ebd, S.20

[8] Gennep, Arnold van 1986

Übergangsriten. Les Rites de Passage, Frankfurt, Campus Verlag, S.15

[9] Ebd. S.15

[10] Ebd. S.15

[11] Vgl. Ebd. S.21

[12] Herlyn, Gerrit 2002

Ritual und Übergangsritual in komplexen Gesellschaften. Sinn – und Bedeutungszuschreibungen zu Begriff und Theorie, Hamburg, LIT Verlag, S.21

[13] Ebd, S.21

[14] Vgl. Ebd, S.21

[15] Ebd. S.22

[16] Vgl. Ebd, S.21

[17] Vgl. Thiel, Franz – Josef 1984

Religionsethnologie. Grundbegriffe der Religionen schriftloser Völker, Berlin, Dietrich Reimer Verlag, S. 102

[18] Vgl. Herlyn, Gerrit 2002

Ritual und Übergangsritual in komplexen Gesellschaften. Sinn – und Bedeutungszuschreibungen zu Begriff und Theorie, Hamburg, LIT Verlag, S.35

[19] Ebd. S.36

[20] Platvoet, Jan 1998

Das Ritual in pluralistischen Gesellschaften. In: Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, Belliger, Andrea / Krieger, David J. (Hrsg.) Göttingen, Westdeutscher Verlag, 1998, S. 180

[21] Ebd. S.180

[22] Vgl. Herlyn, Gerrit 2002

Ritual und Übergangsritual in komplexen Gesellschaften. Sinn – und Bedeutungszuschreibungen zu Begriff und Theorie, Hamburg, LIT Verlag, S.37

[23] Ebd. S.25

[24] Ebd. S.25

[25] Ebd. S.25

[26] Vgl. Ebd, S.25

[27] Ebd. S.25

[28] Ebd. S.25 f.

[29] Ebd. S.26

[30] Vgl. Ebd. S.26

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Rituale in komplexen Gesellschaften
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg  (Institut für Ethnologie)
Veranstaltung
Religionsethnologie
Note
1,7
Autor
Jahr
2005
Seiten
20
Katalognummer
V49376
ISBN (eBook)
9783638458498
Dateigröße
577 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Rituale, Gesellschaften, Religionsethnologie, van Gennep, Victor Turner
Arbeit zitieren
Magister Artium Roland Sonntag (Autor:in), 2005, Rituale in komplexen Gesellschaften, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/49376

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