"Und ich weiß, und ich weiß, das geht nie vorbei." Die Umsetzung des kontrafaktischen Szenarios einer weiterbestehenden DDR

Simon Urbans "Plan D" und Thomas Brussigs "Das gibts in keinem Russenfilm"


Hausarbeit, 2019

24 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung

2 Gestalterische Rahmenbedingungen
2.1 Erzählzeitraum.
2.2 Erzählperspektive
2.3 Ort der Handlung

3 Ursachen des Fortbestehens der DDR.
3.1 Das Nicht-Stattfinden historischer Ereignisse inDas gibts in keinem Russenfilm.
3.2 Einführung eines Spielmachers inPlan D.
3.3 Veränderung der außenpolitischen Umstände in beiden Romanen

4 Entwicklung des geteilten Deutschlands
4.1 Entwicklung der DDR.
4.2 Die Gegenüberstellung von Ost und West
4.3 Bekannte Persönlichkeiten

5 Weltgeschichtliche Ereignisse
5.1 Verflechtung mit privaten Ereignissen
5.2 Hätte sich nichts geändert?

Fazit

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

„[N]o major event in modern history was less predicted than the fall of the Berlin wall in 1989 or the hauling down of the red flag for the last time from the Kremlin in 1991”,1schreibt der Historiker Mark Almond. In Anbetracht dessen liegt es nahe, sich Gedanken darüber zu machen, wie eine Welt aussehen könnte, in der diese Ereignisse nie stattgefunden haben. Eine solche entwirft sowohl Simon Urban in seinem 2011 erschienen RomanPlan Dals auch Thomas Brussig in seinem RomanDas gibts in keinem Russenfilm2aus dem Jahr 2015. Beide Romane spielen in einer nach 1990 weiterhin existierenden DDR. Da sie den bekannten Geschichtsverlauf verändern, sind sie einem Genre zuzuordnen, für das es eine Reihe von Namen gibt, darunter Uchronie, Alternate History, Alternativweltroman, parahistorische Literatur sowie kontrafaktische Geschichte.3Dillinger definiert Uchronie als „Spekulationen über Geschichte, die sich nicht ereignet hat“4und erklärt, dass man sie vereinfachend kontrafaktische Geschichte nennen könne, da sie den in den historischen Quellen fixierten Fakten widerspreche.5Im Folgenden wird für die beiden analysierten Romane die Bezeichnung kontrafaktischer Roman verwendet, wie sie auch Ritter benutzt: „Der kontrafaktische Roman schildert zwar eine andere Geschichte, jedoch keinen außerhalb unseres Erkenntnishorizontes liegenden Ort.“6Plan DundRussenfilmbasieren auf demselben kontrafaktischen Szenario, nämlich dem Fortbestehen der DDR nach 1990. Der Fokus dieser Arbeit liegt darauf, anhand verschiedener Punkte zu vergleichen, wie Urban und Brussig dieses Szenario umsetzen.

In der Geschichtswissenschaft ist umstritten, ob das Entwerfen kontrafaktischer Szenarien ein sinnvolles Werkzeug ist, um Erkenntnisse über die faktuale Geschichte zu gewinnen, oder eine unwissenschaftliche Spielerei.7Geschichtswissenschaftliche kontrafaktische Texte unterliegen einer Reihe von Kriterien, während es Hermann Ritter zufolge für die Literatur keine Regeln für das Spiel mit der Geschichte gibt.8Seiner Meinung nach können kontrafaktische Romane keine Fragen über die faktuale Geschichte beantworten.9Dies ist Jörg Helbig zufolge aber auch nicht das primäre Interesse von Autoren kontrafaktischer literarischer Werke.10Sowohl Ritter als auch Helbig sehen die Unterhaltung der Leser als Hauptanliegen kontrafaktischer Romane.11Helbig spricht jedoch auch von anderen Wirkungsabsichten neben dem Aspekt der Unterhaltung.12Im Rahmen des Vergleichs vonPlan DundRussenfilmsoll zudem diskutiert werden, welche Wirkungsabsichten möglicherweise damit verbunden sind, die DDR in den beiden Romanen wiederauferstehen zu lassen.

2 Gestalterische Rahmenbedingungen

2.1 Erzählzeitraum

Plan Dumfasst den Zeitraum von Hauptmann Wegeners Ermittlungen im Mordfall Albert Hoffmann vom 19. bis zum 29. Oktober 2011. Die Erlebnisse Wegeners innerhalb dieser zehn Tage werden in chronologischer Abfolge geschildert. Was sich seit 1989 ereignet hat, erfährt man vor allem in Gesprächen der Figuren untereinander. Der betrachtete Zeitraum inDas gibts in keinem Russenfilmist weitaus größer und beginnt bereits 25 Jahre vor dem ausbleibenden Mauerfall. Der Roman erzählt die Lebensgeschichte des Protagonisten Thomas Brussig von dessen Geburt am 19. Dezember 1964 bis ins Jahr 2014, in dem er sich entschließt, seine Erinnerungen aufzuschreiben. Die Ereignisse werden ebenfalls nahezu durchgängig chronologisch wiedergegeben,13allerdings beginnt der Roman mit einem Vorwort aus dem Jahr 2014, in dem der Erzähler-Brussig seine Erinnerungen mit dem Inhalt einer Kommode vergleicht. Während der restliche Roman im Präteritum verfasst ist, stehen das Vorwort und der letzte Abschnitt des letzten Kapitels im Präsens und bilden einen Rahmen für die rückblickend erzählte Lebensgeschichte. Dem Vorwort kann man zudem entnehmen, dass die Ereignisse im Verlauf des Romans so geschildert werden, wie sich der Erzähler an sie erinnert. Für den Authentizitätsanspruch der Geschehnisse im Roman bedeutet dies, dass von Beginn an die Illusion genommen wird, dass sich in der fiktiven Welt alles eins zu eins so ereignet hat, wie der Erzähler es aus seiner Erinnerung heraus beschreibt. Wie Johannes Dillinger schreibt, ist bereits „[j]ede Form der Erinnerung an die Vergangenheit […] eine gedankliche Konsruktion“.14Auffällig ist, dass beide Romane in etwa zum Zeitpunkt ihrer Entstehung spielen. Sowohl Ritter als auch Helbig ist aufgefallen, dass die meisten von ihnen betrachteten kontrafaktischen Romane in der Gegenwart ihrer Verfasser angesiedelt sind.15

2.2 Erzählperspektive

Während es sich beim Erzähler vonRussenfilmum einen autodiegetischen Erzähler handelt, istPlan Dvon einem heterodiegetischen Standpunkt aus erzählt. Beide Romane sind intern fokalisiert. Der Protagonist und Erzähler vonRussenfilmträgt den gleichen Namen wie der Autor des Romans und einige seiner Lebensdaten, darunter sein Geburtsdatum und -ort, sein Beruf sowie einige der Titel von ihm veröffentlichter Bücher, stimmen mit dem realen Lebenslauf des Autors Thomas Brussigs überein. Da im Roman hauptsächlich private Erlebnisse geschildert werden, die sich nicht ohne Weiteres überprüfen lassen, ist, wie Yun-Chu Cho schreibt, nicht eindeutig zu determinieren, wie viele faktuale autobiografische Elemente tatsächlich inRussenfilmeingeflossen sind.16Da der Roman aber zumindest ab dem Jahr 1989 in einer kontrafaktischen Welt spielt und die geschilderten Ereignisse somit nicht mehr vollständig der Realität entsprechen können, lässt er sich als fiktive Autobiografie bezeichnen.

BeiPlan Dhingegen handelt es sich um einen Kriminalroman bzw. Thriller.17Entsprechend ist Protagonisten ein Ermittler, nämlich Martin Alfons Wegener, Hauptmann bei der Volkspolizei in Köpenick. Er ist die einzige Figur, deren Gedanken der Leser kennt. Eine Besonderheit der Erzählperspektive inPlan Dstellt die Stimme von Wegeners spurlos verschwundenem Ausbilder und bestem Freund Major Früchtl dar. Der Hauptmann hört in Gedanken ständig seine Stimme und führt stumme Dialoge mit ihm. Teilweise erinnert er sich an frühere Aussagen Früchtls, teilweise stellt er sich vor, was Früchtl in seiner Situation tun oder sagen und was er von ihm erwarten würde. Früchtl sagte zu Wegener einmal über sich selbst: „Ich war Nazi, […] dann war ich Kommunist. […] Und heute bin ich Bürger.“18Er hat unterschiedliche Phasen der Geschichte und verschiedene Ideologien miterlebt und kann die Ereignisse der Gegenwart aus dieser Perspektive heraus kommentieren. Sascha Prostka beschreibt Früchtl treffend als „Metakommentator, der Wegeners Erlebnisse und den Zustand der DDR durch teils freundliche, teils böse Kommentare in den jeweiligen Kontext einordnet“.19Die eingebildete Früchtl-Stimme ermöglicht tiefgehende Diskussionen über das System und hält lange Reden über Utopien und Ideologien. Dass sie über tiefergehende Einsichten verfügt, zeigt auch folgendes Zitat: „[I]ch bin Deutschland, das fleischgewordene Teutonentum des zwanzigsten Jahrhunderts, kluggefoltert, verlustreich schlaugepiesackt, und das soll es nun gewesen sein, jetzt, wo ich klar sehe, muss ich abtreten[.]“ (SU 464) An anderer Stelle bezeichnet sich die Stimme: als „Träger der unbequemen Wahrheit“ (SU 369). Früchtl kann somit als eine Art Stimme der Wahrheit interpretiert werden.

2.3 Ort der Handlung

Die beiden Protagonisten, aus deren Sicht der Leser auf die fortbestehende DDR blickt, haben gemeinsam, dass sie männlich und dem DDR-System gegenüber kritisch eingestellt sind20und nach dem zweiten Weltkrieg in Ostberlin geboren wurden, wobei Wegener ca. zehn Jahre älter ist als Brussig. Großteile der beiden Romane spielen in der Geburtsstadt der beiden. InPlan Dfindet die Handlung fast ausschließlich dort statt, Ausnahmen sind Fahrten zum Ostseebad Boltenhagen und der Datsche des Opfers in Mecklenburg-Vorpommern, sowie in ein Geheimgefängnis an einem unbekannten Ort.21Urban zeigt zwar nur einen winzigen Bruchteil der fortbestehenden DDR, beschreibt diesen dafür aber umso detaillierter. Auf eingehende Schilderungen von Gebäuden, Straßen und Denkmälern, wie sie sich inPlan Dhäufen, verzichtet Brussig größtenteils. Sein Alter Ego bekommt im Laufe des Romans wesentlich mehr von der Welt zu sehen als Wegener. Als Jugendlicher besucht er verschiedene Städte innerhalb der DDR, er absolviert seinen Wehrdienst in Leipzig und studiert in Potsdam. Später lebt er mit seiner Familie im Sommer im Oderbruch und im Winter in Berlin. Als Schriftsteller kommt er herum, hält Lesungen, fährt zu Preisverleihungen und besucht Persönlichkeiten des Literaturbetriebs. Nachdem die Reisefreiheit eingeführt worden ist, führen ihn seine Reisen unter anderem nach München, Frankfurt, Hamburg, Nürnberg, Bilbao, in die Toskana und nach Korea. Damit ist Jörn Münkner zuzustimmen, dass das Leben des fiktiven Brussigs „insgesamt von Mobilität gekennzeichnet“22ist.

Die großen Unterschiede bezüglich der Anzahl der besuchten Orte und der Detailliertheit ihrer Beschreibungen sind zumindest teilweise dadurch bedingt, dassRussenfilmeinen Zeitraum von fünfzig Jahren,Plan Dhingegen nur einen von zehn Tagen umfasst. Im Fall vonPlan Dkommt hinzu, dass das Eingesperrtsein der DDR-Bürger in ihrem eigenen Land mehrfach thematisiert wird (Siehe z. B. SU 67, 441). Einer solchen Darstellung der DDR als einer Art Gefängnis würde eine große räumliche Mobilität des Protagonisten widersprechen. Das Bild des Gefangenseins spiegelt sich auch in den Beschreibungen der verschiedenen Schauplätze, insbesondere der Innenräume wie den Stasi- und Regierungsgebäuden und dem Gefängnis, wider. Wegeners Raumerlebnis ist, wie Jerzy Kałążny es bezeichnet, ein „traumatische[s] Erlebnis der Isolierung und Absperrung“.23

3 Ursachen des Fortbestehens der DDR

Entscheidend für die Veränderung der Geschichte in kontrafaktischen Romanen ist ein Wendepunkt, von dem an sie anders verläuft als in der Realität. Für diesen Punkt gibt es verschiedene Bezeichnungen, im Folgenden wird er Divergenzpunkt genannt.24Ritter hat bei seinen Betrachtungen kontrafaktischer literarischer Texte festgestellt, dass meist ein Ereignis aus der Geschichte entfernt wird.25Dies ist auch bei Brussig und Urban der Fall, da bei beiden die Wiedervereinigung Deutschlands ausbleibt. Es muss jedoch auch im Vorfeld Änderungen im Geschichtsverlauf gegeben haben, die zum Ausfall der Wiedervereinigung geführt haben.

3.1 Das Nicht-Stattfinden historischer Ereignisse in Das gibts in keinem Russenfilm

Wie genau es zu diesem gekommen ist, ist inRussenfilmvage gehalten. Die jeweils interne Fokalisierung auf eine Figur, die innerhalb der kontrafaktischen Welt lebt und folglich nicht wissen kann, was sich in der faktualen Welt zugetragen hat, erschwert es, innerhalb beider Romane zu begründen, warum etwas nicht stattgefunden hat. InRussenfilmheißt es:

Ich war mir bewußt, einen besonderen, wichtigen Tag zu erleben. Mein Leben würde nun eine andere Richtung nehmen, und zwar eine, die ich mir sehr wünschte. Um den Tag zu adeln, der in einer grauen Masse von Tagen sonst untergegangen wäre, beschriftete ich die Schublade der Kommode meiner Erinnerungen, die diesen Tag aufbewahrt, mit seinem Datum, dem 9. November 1989.26

Was diesen Tag in Brussigs fiktiver Autobiographie so besonders macht, ist keinesfalls die Öffnung der Grenzen, die sich in der realen Geschichte an diesem Tag ereignet hat, sondern sein erstes Treffen mit seiner Lektorin. Indem er ein wichtiges privates Ereignis beschreibt und mit dem Datum des Mauerfalls versieht, verdeutlicht Brussig, dass dieser in seiner kontrafaktischen Welt nicht stattfindet.

Der fiktive Brussig führt „die Langeweile der DDR“ unter anderem darauf zurück, „daß nichts passierte“ (TB 127). Diese Beschreibung trifft auf die eigentlichen Wendejahre zu, in denen die entscheidenden Ereignisse, die zum Ende der DDR geführt haben, einfach ausbleiben. Brussig findet eine Möglichkeit, aufzulisten, was sich in den Jahren 1989 und 1990 nicht zugetragen hat: Er lässt Simon Urban wie in der Realität im Jahr 2011 einen kontrafaktischen Roman namens „Plan D“ veröffentlichen und gibt dessen Plot wieder. Dabei handelt es sich jedoch nicht um den Inhalt des hier analysierten RomansPlan D, sondern um den realen Geschichtsverlauf. Das Buch des fiktiven Urbans spielt im wiedervereinigten Deutschland. Über das Zustandekommen der Einheit heißt es:

Urban erfindet eine Fluchtwelle über Ungarn im Sommer 1989, nachdem die Ungarn die Grenzbefestigungen demontiert hatten. Die Fluchtwelle bringt in Urbans Vorstellung einige Unruhe in die DDR-Gesellschaft, Menschen protestieren, fordern Demokratie und Freiheit, Honecker wird von den eigenen Leuten gestürzt, und das Politbüromitglied Schabowski verhaspelt sich auf einer Pressekonferenz, was zur Maueröffnung führt. (TB 363)

Alles, was der fiktive Brussig als Erfindung Urbans darstellt, hat in seiner Welt offenbar nicht stattgefunden. Die Zusammenfassung des fiktiven Romaninhalts legt nahe, dass es sich bei der Grenzöffnung in Ungarn und der dadurch ausgelösten Fluchtwelle um den Divergenzpunkt des fiktiven „Plan D“ handelt. Daraus könnte man ableiten, dass dies gleichzeitig der eigentliche Divergenzpunkt inRussenfilmist: Die Massenflucht bleibt aus und mit ihr die Proteste der Bevölkerung. Oppositionsgruppen gibt es zwar, aber zumindest diejenigen, die Brussig in den Jahren 1987 bis 1989 aufsucht, werden als harmlos dargestellt.

3.2 Einführung eines Spielmachers in Plan D

Anders als Brussig lässt Urban die Wende nicht lediglich wegfallen, sondern ersetzt sie durch ein anderes Ereignis: die Wiederbelebung der DDR 89/90. Dabei handelt es sich um Reformen und eine Neuausrichtung insbesondere in Bezug auf die Staatssicherheit. Eingeleitet wird die Wiederbelebung offiziell von Egon Krenz, der bei Urban wie in der Realität 1989 Erich Honecker als Staatsratsvorsitzenden ablöst, wohingegen Letzterer bei Brussig bis zu seinem Tod 1993 im Amt bleibt. Krenz öffnet 1990 die Grenzen, holt Otto Schily in die DDR, setzt ihn als Minister für Staatssicherheit ein und strukturiert die Stasi offiziell um. In den Jahren von 89 bis 92 soll ein „Zentralkomitee zur inneren Erneuerung und Restrukturierung der Staatssicherheit […] den Geheimdienst umbauen, radikal verkleinern, ihn westlichen Maßstäben und Standards anpassen“ (SU 388). Die Grenzen werden um den November 1991 herum jedoch wieder geschlossen, da ihre Öffnung eine Massenflucht auslöst. Die zeitlich etwas nach hinten verschobene Öffnung und anschließende Schließung der Grenzen sowie das Fortbestehen von DDR und BRD als separate Staaten sieht Thomas Erdbrügger als Divergenzpunkt des kontrafaktischen Szenarios inPlan Dan.27Es handelt sich hierbei um den frühesten Punkt, von dem man Genaueres über die kontrafaktische DDR erfährt. Es lässt sich im Unterschied zuRussenfilmnicht erkennen, welche vorherigen Ereignisse, die in der Realität zur Wiedervereinigung führten, ausgeblieben sind. Erdbrügger betrachtet weiterhin das Entfernen der sogenannten Friedlichen Revolution 1989 als Eingriff in die historische Frequenz, der einen anderen Geschichtsverlauf möglich macht.28Ob die Proteste der Bürger in Urbans kontrafaktischer Welt tatsächlich ausbleiben, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, denn im Roman werden nur die Ereignisse auf der politischen Ebene rund um die Wiederbelebung geschildert. Was das Verhalten der Bevölkerung angeht, erfährt man nur von der Massenflucht nach der Grenzöffnung. Wäre das Ausbleiben der Demonstrationen die erste Änderung im Geschichtsverlauf, die die anderen Änderungen nach sich zieht, wäre sie auch als der Divergenzpunkt anzusehen. Aus dem Text lässt sich dies allerdings nicht entnehmen. Dort wird die Wiederbelebung und daraus resultierende Stabilisierung der Verhältnisse in der DDR als Hauptursache für ihr Fortbestehen dargestellt. Toralf Kleyer, ein Mitglied der Untergrundgruppierung Brigade Bürger, das nur im Ende der DDR eine Chance für die Demokratie sieht, erklärt Wegener, dass die DDR ohne die Wiederbelebung längst nicht mehr existieren würde (Vgl. SU 344 f.).

Daraus ergibt sich die Frage, wie es dazu kam, dass die DDR formell demokratisiert wurde, anstatt sich mit der BRD zu vereinigen. Als Ursache dafür führt Urban eine Figur ein, die es in der Realität nicht gegeben hat, die jedoch die Hauptverantwortung für die Wiederbelebung trägt, nämlich das Mordopfer Albert Hoffmann, der zur Zeit der Wiederbelebung im Beraterstab des Staatsratsvorsitzenden tätig war. Die Bevölkerung scheint zu glauben, Honecker sei „freiwillig in Rente gegangen“ (SU 393). Im Laufe des Romans findet Wegener jedoch heraus, dass Krenz illegitim an der Macht ist. Diese hat er durch einen Putsch erlangt, für den Hoffmann verantwortlich ist. Sein Plan war es, die DDR zu demokratisieren. Er strebte eine Staatsform an, die er Posteritatismus nannte, und sein Programm, wie sich dieser erreichen ließe, ist der titelgebende Plan D. Die Öffnung der Mauer war seine Idee, doch die Massenflucht verunsicherte Hoffmanns Marionette Krenz so stark, dass er die Grenzen schloss, woraufhin Hoffmann zurücktrat und der Plan D nie weiter ausgeführt wurde. Hoffmanns Tochter erklärt den Ermittlern, ohne ihren Vater „hätte es die Wiederbelebung nie gegeben“ (SU 393). Als Hauptgrund, dafür, dass es inPlan D1990 nicht zur Wiedervereinigung kommt, kann man folglich ansehen, dass Urban einen Spielmacher, wie Hoffmann mehrfach bezeichnet wird (Vgl. SU 271, 358), erfunden hat, der die politischen Geschicke der DDR im entscheidenden Zeitraum in der Hand hat. Hier zeigt sich der größere Spielraum, über den literarische kontrafaktische Texte gegenüber geschichtswissenschaftlichen kontrafaktischen Texten verfügen. In einem plausiblen historischen kontrafaktischen Szenario wäre es undenkbar, eine Person hinzuzuerfinden, die den Geschichtsverlauf ändert. Dies widerspräche in jeder Hinsicht der sogenannten „minimal-rewrite rule“, die besagt, dass die Veränderung der Geschichte, von der das Szenario ausgeht, so klein wie möglich sein sollte.29

[...]


1 Almond, M.: 1989 without Gorbachev. S. 392.

2 Im Folgenden mitRussenfilmabgekürzt.

3 Vgl. Erdbrügger, T.: Das Ende hat nicht stattgefunden. S. 347; Dillinger, J.: Uchronie. S. 15; Ritter, H.: Kontrafaktische Geschichte. S. 14f.; Helbig, J.: Der parahistorische Roman. S. 13 f.; Sobek, A.: Das Paradigma der Parallelwelten. S. 103.

4 Dillinger, J.: Uchronie. S. 13.

5 Ebd. S. 16.

6 Ritter, H.: Kontrafaktische Geschichte. S. 20.

7 Tetlock, P. und Parker, G.: Counterfactual Thought Experiments. S. 14–16.

8 Ritter, H.: Kontrafaktische Geschichte. S. 25.

9 Ebd. S. 24.

10 Helbig, J.: Der parahistorische Roman. S. 101; S. 115.

11 Vgl. Ritter, J.: Kontrafaktische Geschichte. S. 24; Helbig, J: Der parahistorische Roman. S. 115 f.

12 Helbig, J.: Der kontrafaktische Roman. S. 101.

13 Vgl. Münkner, J.: „Das gibts in keinem Russenfilm“. S. 168.

14 Dillinger, J.: Uchronie. S. 16.

15 Vgl. Ritter, H.: Kontrafaktische Geschichte. S. 22; Helbig, J.: Der parahistorische Roman. S. 115.

16 Vgl. Cho, Y.: „Das gibts in keinem Russenfilm“. S. 87.

17 Vgl. Prostka, S.: „Welche Visionen? Alle Visionen!“. S. 74.

18 Urban, S.: Plan D. S. 463. Im Folgenden im Text mit der Abkürzung SU und der entsprechenden Seitenzahl zitiert.

19 Prostka, S.: “Welche Visionen? Alle Visionen!“. S. 85.

20 Vgl. Erdbrügger, T.: Das Ende hat nicht stattgefunden. S. 353.

21 Vgl. Prostka, S.: „Welche Visionen? Alle Visionen!“. S. 79.

22 Münkner, J.: „Das gibts in keinem Russenfilm“. S. 172.

23 Kałążny, J.: Die Wende 1989/90. S. 144.

24 Vgl. Erdbrügger, T.: Das Ende hat nicht stattgefunden. S. 350; Sobek, A.: Das Paradigma der Parallelwelten. S. 103.

25 Ritter, H.: Kontrafaktische Geschichte. S. 24.

26 Brussig, T.: Das gibts in keinem Russenfilm. S. 64. Im Folgenden im Text mit der Abkürzung TB und der entsprechenden Seitenzahl zitiert.

27 Erdbrügger, T.: Das Ende hat nicht stattgefunden. S. 350.

28 Ebd. S. 351.

29 Vgl. Tetlock, P. und Parker, G.: Counterfactual Thought Experiments. S. 34.

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
"Und ich weiß, und ich weiß, das geht nie vorbei." Die Umsetzung des kontrafaktischen Szenarios einer weiterbestehenden DDR
Untertitel
Simon Urbans "Plan D" und Thomas Brussigs "Das gibts in keinem Russenfilm"
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main  (Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft)
Veranstaltung
Alternativweltgeschichte(n)
Note
1,7
Autor
Jahr
2019
Seiten
24
Katalognummer
V492837
ISBN (eBook)
9783668992283
ISBN (Buch)
9783668992290
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Thomas Brussig, Das gibts in keinem Russenfilm, Simon Urban, Plan D, DDR, Kontrafaktische Literatur, Kontrafaktischte Szenarien, Gegenwartsliteratur, Alternativwelten
Arbeit zitieren
Anne Zeiß (Autor:in), 2019, "Und ich weiß, und ich weiß, das geht nie vorbei." Die Umsetzung des kontrafaktischen Szenarios einer weiterbestehenden DDR, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/492837

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