Enthusiasmus und Desaster. Studien zum Identitätsdilemma junger Theologen im Kirchenkampf

Der Fall Karl Heinz Probsthain (1908-1943)


Forschungsarbeit, 2019

638 Seiten


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

Bekennende Kirche, Lehrende und Lemende auf dem „Weg", theologische Existenz, der Ruf zum „Kampf" und das Dilemma der Identitatskonstitution (13-51)

I. Der unbekannte Karl Heinz Probsthain (53-58)

II. Von OstpreuBen nach Westfalen (59-157)
1. Der familiare Hintergrund in Goldap
Exkurs I.: OstpreuBen nach dem Ersten Weltkrieg
2. Anfange in Konigsberg 66 Exkurs II.: Hochschulgilden 68 Exkurs III.: Hans Joachim Iwand
3. Durchbruch in Kiel
Exkurs IV.: Das Altonaer Bekenntnis vom Januar 1933
4. Die Theologische Schule Bethel - Geistliches Zentrum der Kirchenprovinz Westfalen in der APU
4.1 Revolutionarer Aufbruch in Deutschland und die „Deutschen Christen" in Westfalen
4.2 Offener Konflikt mit den „Deutschen Christen"
4.3 Der westfalische Sonderweg
4.4 Die Theologische Schule Bethel im „Dritten Reich" 124 Exkurs V.: Edmund Schlink-Bekenntnis gegen Kairos 128 Exkurs VI.: „Bruderliche Hand" oder „scharfe Formulierung"?
Exkurs VII.: Das Betheler Bekenntnis
5. Zwischen Dekret und Kompromiss - K.H.Probsthain und das Theologische Examen 142 Exkurs VIII.: Georg Merz - Der „bayrische PreuBe"
6. Vikariat in Levern (1.9.1938 bis 4.11.1939) 151 Exkurs IX.: Die Kirchengemeinde Levern im Kirchenkampf

III. „Sigurdshof A“ - Das illegale Sammelvikariat in Hinterpommern 1939/ 1940 (159-204)
1. Vorbemerkung
2. Illegalitat in Hinterpommern
3. Das Finkenwalder Modell
4. Die Amerika-Reise Bonhoeffers im Sommer 1939
4.1 Kirchenkampf auf dem Tiefpunkt
4.2 Krise und Entscheidung
Exkurs X.: Konfrontation mit Hellmut Traub
4.3 „Protestantismus ohne Reformation^ - Geschichte und Gegenwartsdeutung im Amerika-Aufsatz

IV. „Sigurdshof B“ - Schriftauslegung als Exercitium des Gehorsams gegen Gottes Wort (205-225)
1. Homiletische Grundlagen
2. Theologische Auslegung von Psalm 119
3. Der gute Hirte und die Seinen
3.1 Noch einmal: Kontroversen um die Legalisierung
3.2 Predigthilfe zu Johannes 10, 11-16

V. „Sigurdshof C“ - Conformitas Christi (227-247)
1. Vorbemerkung
2. Briefe an die Bruder zu Hause und im Feld 228 Exkurs XI.: AuBerungen personlicher Theodizee
3. Das Bild Jesu Christi
4. Die Wahrheit tun
Exkurs XII.: Jeden Tag nehmen, „als ware er der letzte“ und „leben, als gebe es noch eine groBe Zukunft“
VI. Zwischen Kairos und Krisis - Protestantische Gestimmtheit (249-405)
1. Hermeneutische Rahmenbedingungen
1.1 Vorbemerkung
1.2 Der sozio-kulturelle Kontext „Jugendbewegung“ 250 Exkurs XIII.: Vom Traum zur Tat
1.3 Die Singbewegung in der Evangelischen Kirche - Alfred Stier
2. Metaphysische Mobilmachung
2.1 „Deutscher Schwur“ - Rudolf Alexander Schroder
2.2 Absage an die religios-kulturelle Welt (Friedrich Gogarten) - Wendung zum volkischen Imperativ (Paul Althaus)
2.3 Politischer Messianismus und nationale Verzauberung
2.4 Mahnende Stimmen
3. „Militia Christi“: das neue Lied in dunkler Zeit
3.1 In statu confessionis
3.2 Reformatorische Sachlichkeit - nicht Selbstinszenierung
3.3 „O Konig Jesu Christe“ - Verortung in Tradition und Frommigkeit
Exkurs XIV.: Zu Albrecht Durers Kupferstich „Ritter, Tod und Teufel“ (1513)
4. „Weifit du, warum du mit uns gehst?“ - Bekenntnis- und Kampflieder der evangelischen Jugend
4.1 Vorbemerkung
Exkurs XV.: „Auf neuem Pfad“ - Zur Geschichte der Christlichen Pfadfinderschaft (CP)
4.2 „Sturmschritt der neuen Tage“ - Horst Wesenberg
4.3 Zwischen Resonanz und Performativitat
4.4 Motive und Metaphern im ideologischen Zwielicht
4.5 Die christologische Differenz
5. „Ecclesia militans“ - Lieder der „Bekennenden Kirche“
5.1 „Hier ist Geduld und Glaube“ - Otto Dibelius
5.2 „Wir sind die Bruderschaft der Not“ - Heinrich Vogel
5.3 „Wie sollen wir die Schlachten schlagen? - Otto Riethmuller
5.4 „Es mag sein, dass alles fallt“ - Rudolf Alexander Schroder 400 Exkurs XVI.: Protestantisches Erbe - Wege zu existentieller Integritat

VII. Karl Heinz Probsthain - Trutzlieder (407-426)
7.1 Ein Bekenntnislied aus der Nordmark
7.2 Herold im Glaubenskrieg - Ausgewahlte Beispiele
7.3 Erlosung durch „Entweltlichung“?
Exkurs XVII.: „In Gottes Hand“ (Arno Potzsch)

VIII. Von der Einberufung bis zur Hinrichtung (1940-1943) (427-456)
8.1 Das erste Gerichtsverfahren
Exkurs XVIII.: Die NS-Militarjustiz 432 Exkurs XIX.: Das Wehrmachtsgefangnis Torgau-Fort Zinna
8.2 Das zweite Gerichtsverfahren 437 Exkurs XX.: Fahnenflucht
8.3 Identitatsdiffusion - Offene Fragen

IX. Epilog: Aufbruch ohne Ankunft? (457-474)

X. Anhang (475 - 595)
I. : Biographische Daten - K.H.Probsthain
II. : Resonanzspharen und Resonanzverhaltnisse: Programmatische Ideen, Ereignisse, Person - lichkeiten auf dem Weg von K. H. Probsthain
III. : Lieder von K. H. Probsthain: „Sola tui cordis spes sit crucifixus Christus“ 478-
IV. : Abbildungen, Dokumente, Lieder, Texte 491-
V. : Abbildungen-Nachweis 593-
XI. Literatur (597-637)

Vorwort

Am Anfang stand die Anfrage eines Familienforschers. Bei den Bemuhungen, die verzweigte Geschichte seiner Familie zu rekonstruieren, war Dr. Konrad Probsthain (GroB-Umstadt) auf den Vikar Karl Heinz Probsthain (1908-1943) aus Goldap (OstpreuBen) gestoBen. Der „Junge Theologe“ war 1943 von der NS-Justiz zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. An konkreten Daten la- gen vor: Geburts- und Todesdatum, ein Hinweis auf die Teilnahme an einem Ausbildungskurs im illegalen Predigerseminar Sigurdshof (Hinterpommern) der „Bekennenden Kirche“ sowie ein Gedicht, das K. H. Probsthain als letzten GruB an Freunde geschrieben hatte. Der Wunsch des Familienforschers, mehr uber die Biographie des Verwandten zu erfahren, stieB bald an Grenzen. Er wandte sich schlieBlich an mich, in der Hoffnung, dass uber die Schiene „Bekennende Kir- che - OstpreuBen - Konigsberg“ sich eine Umleitung zur Biographie des Ver­wandten ergabe. Aus einer eher zufalligen Korrespondenz erwuchs das Interesse des Familienforschers wie des Theologen, den „casus Probsthain“ aufzuklaren. Dabei hatte der irritierende Umstand, dass der Name „Probsthain“ im Kontext der Bonhoeffer-Literatur unbekannt war, obwohl die Quellen ihn immerhin am Rande erwahnen, einen motivierenden Effekt. Im Verlauf der Beschaftigung mit den sparlichen Fakten, vor allem der Suche nach Zusammenhangen, Veror- tungen und Quellen wurde immer deutlicher, dass der „casus“ starker mit der Kirchen- und Kulturgeschichte der 1920er und 1930er Jahre verwoben war, als es zunachst schien. Es stellte sich die Aufgabe, den sparlichen Fundus an Daten, Uberlieferungen, Referenzen und anderen Materialien noch einmal zu befragen. Zugleich muBten denkbare Verbindungen zwischen Personen, Institutionen, Ortsangaben, Ereignissen und theologischen Sachverhalten hergestellt werden. Wo der direkte Weg zur Quelle nicht mehr moglich war, konnte vielleicht ein Umweg bzw. eine richtungsweisende Annaherung weiterhelfen.

In der Einleitung erlautere ich den thematischen Horizont und die Intention der Darstellung, die dem Kompass einer historisch-theologischen Perspektive fol- gen. Ich gebe auch Auskunft uber das hermeneutische Vorgehen, genauer, ich problematisiere das Faktum fehlender Quellen bzw. Informationen, das die Stu- die nicht nur aporetisch, sondern auch motivierend begleitet hat. Die konstruk- tiven Impulse, die sich daraus ergaben, machen ersichtlich, warum aus einer eher zufalligen Mithilfe ein eigenstandiges Projekt entstanden ist, dessen Ziel neu bestimmt werden muBte.

GroBe Hilfe bei diesem Vorhaben war der Austausch mit Dr. Hartmut Ludwig (Berlin-Schoneich), der dem Projekt groBe Sympathie entgegengebracht hat, und mit meinem Bruder, Pfr.i.R. Paul Gerhard Schoenborn (Wuppertal), der, in der Bonhoeffer-Forschung belesen und in der Martyrer-Problematik engagiert, man- chen Hinweis beigesteuert hat. Zu besonderem Dank bin ich Frau Christine Koch (fruher Archiv der Westfalischen Landeskirche, Bielefeld-Bethel) ver- pflichtet. Sie hat mir den Zugang zu entscheidenden Akten ermoglicht. In den Dank schlieBe ich Frau Christiane Mokross vom Evangelischen Zentral-Archiv Berlin (EZA) ein, weil sie sich meinem Insistieren nicht verschlossen hat und mir einen Brief von K.H.Probsthain vorlegen konnte, der mich auf eine ent- scheidende Spur brachte. Von nicht zu unterschatzender Bedeutung war das In- teresse von Pfr. i .R. Thomas Horst (Levern, Kr. Lubbecke). Er hat die Kirchen- bucher, Abkundigungen und sonstigen Unterlagen der Kirchengemeinde Levern fur die Jahre 1938/39 durchgesehen und auch das Gesprach mit einem Zeitzeu- gen, Herrn Wilhelm Westerkamp (gest. 2017), in Levern organisiert. Zu den Zeitzeugen, mit denen ich Gelegenheit hatte zu sprechen, gehoren weiter Frau Margot Koch (Marburg), die in Goldap (OstpreuBen) mit einer Schwester von K.H. Probsthain befreundet war und Herr Berthold Latzke (Marburg; gest. 2018), der in der Nachbarschaft des Predigerseminars Sigurdshof aufgewachsen war. In der Winterzeit fanden in seinem Elternhaus regelmaBig Bibelstunden statt, an denen auch die Kandidaten teilnahmen.

In meinen Dank mochte ich Personen einschlieBen, mit denen ich korre- spondiert habe oder telephonisch Sachfragen besprechen konnte: Frau Heide Lengfeld/ Hamburg, Frau Annelies Trucewitz (Kreisgemeinschaft Goldap), Prof. Dr. Ulrich Bauer/ Alfter, Dekan Dr. Gernot Gerlach/ Wolfhagen (Internationale Bonhoeffer-Gesellschaft), Pfr. i. R. Dr. Friedhelm Groth/ Iserlohn-Summern, Prof. Dr. Jurgen Kampmann/ Tubingen (Verein fur westfalische Kirchenge- schichte), Prof. Dr. Martin Onnasch/ Erfurt, Herrn Christian Wesenberg/ Gor- litz.

Eine groBe Hilfe war der Kontakt zu den folgenden Archiven und wissen- schaftlichen Einrichtungen: Evangelisches Zentralarchiv Berlin; Archiv der westfalischen Landeskirche Bielefeld-Bethel; Hauptarchiv der Friedrich-von- Bodelschwingh-Stiftung Bielefeld-Bethel; Bundesarchiv, Abt. Militararchiv/ Freiburg i. Br.; Synodalarchiv des Kirchenkreises Lubbecke; Archiv der deut- schen Jugendbewegung Burg Ludwigstein; Stiftung Topographie des Terrors/ Gedenkstatte Torgau. Die Zusammenarbeit mit den genannten Personen und Institutionen hat wesentlich dazu beigetragen, dass der Lebensweg Karl Heinz Probsthains nicht ein Null-Narrativ geblieben ist, sondern als Fragment die Reflexion der Spateren herausfordert.

Wer sich auf das Feld der Geschichte begibt, hat es nicht nur mit objektiven Sachverhalten oder uberraschenden Korrelationen zu tun. Unvermutet uberfallt ihn auch die Frage nach seinem „Interesse an der Geschichte“ und verursacht zunachst Irritationen. Umso mehr, als es um die jungere Geschichte der eigenen Lebenswelt geht. Reicht die bisherige Forschung zum 20. Jahrhundert nicht aus? Haben die Ergebnisse anderes bewirkt als Trauer, Entsetzen und Ratlosigkeit? Gibt die Gegenwart nicht genug AnlaB, alle intellektuellen Krafte und individu- ellen Emotionen in den Dienst der kritischen Vernunft zu stellen, auch wenn letztere im Gang der Geschichte versagt haben soil? Kann dieser Weg einge- schlagen werden, ohne ein auf Welt und Menschheit gerichtetes Grundvertrauen mitzubringen, wie immer eine solche Einstellung begrundet sein mag? Bei dieser Uberlegung kann die erinnernde Lekture von Friedrich Nietzsches Schrift „Vom Nutzen und Nachteil der Historie fur das Leben“ (Leipzig 1874) die Erkenntnis vertiefen, dass im Horizont der Geschichte immer die Belange des Einzelnen zur Diskussion stehen („tua res agitur“). Was das Individuum aus- zeichnet und nicht blind oder dumpf erscheinen laBt, ist seine Selbstthema- tisierung. In der Selbstreferenz vergewissert es sich seiner inneren Koharenz, um in den Interaktionen mit der Wirklichkeit bestehen zu konnen. Dabei nimmt das Gegenuber „Geschichte“ oft den Platz eines Dialogpartners ein. Das an seiner Identitatsbildung beteiligte Ich kommt im Dialog mit der Geschichte fruher oder spater zu der Frage, woher es die Letztbegrundung seiner Identitat bezieht. Das Panorama der moglichen Antworten ist weitraumig angelegt und reicht von der Verdrangung der Frage bis zur Erschaffung des Selbst in einer Art titanischem Aufbruch. Historisch-theologische Arbeit in diesem Reflexionsbereich fuhrt zu der Annahme „einer Voraussetzung“, von der Identitatskonstitutionen bewuBt oder unbewuBt Gebrauch machen, „deren faktischer Charakter sich der Kon- struktion (aber) entzieht“ (Hans-Walter Schutte 1974, S. 21). Historisches Interesse vergibt sich nichts, wenn es offen ist fur „Kontingenz“. Es schaut auf den Umgang des sich selbst realisierenden Menschen mit einer Realitat, die in allen Akten der Realisierung prasent ist, ohne aber durch sie generiert worden zu sein. Derartige Gedanken sollen keine implizite Theologie einfuhren. Jedoch ist die Aussicht nicht unbegrundet, dass die lebensweltliche Verortung gegen- wartiger Existenz aus der Beschaftigung mit dieser Grundsatzproblematik An- regungen beziehen konnte.

Diesseits aller geschichtsphilosophischen Uberlegungen verfolgt diese Studie das Ziel, den Weg eines „Jungen Theologen“ in dunkler Zeit, soweit es die Quellen erlauben, der Erinnerung zuganglich zu machen. Es kann doch nicht angehen, dass wir Spateren die Opfer der NS-Justiz durch Gleichgultigkeit oder Desinteresse dem Vergessen ausliefern. Sollen Unrecht und Unmenschlichkeit post factum legitimiert werden? Kritisches „Gedenken“ nimmt das nicht hin, sondern prasentiert Lebensentwurfe, ambivalente Diskurse, generationelle Kon- flikte u.a. als „gewesene Gegenwart“, die herausfordert.

Das Buch ist den Theologiestudierenden in Sao Leopoldo/ Brasilien, Buenos Aires/ Argenti- nien, Klaipeda/ Litauen und Bishkek/ Kirgistan gewidmet. In diesen so unterschiedlichen Le- benswelten durfte ich als theologischer Lehrer arbeiten. Ich habe eine Denkweise zur Diskus­sion gestellt, die ihre Wurzeln in Marburg nicht verleugnet hat und der uns alle verbindenden Uberzeugung verpflichtet war: „Gottes Ehre ist der lebendige Mensch“ (Irenaus von Lyon).

Marburg, im Fruhjahr 2019

Einleitung - Zur Intention der Studie

Bekennende Kirche, Lehrende und Lernende auf dem „Weg“, theologische Existenz, der Ruf zum „Kampf ‘ und das Dilemma der Identitatskonstitution

Das historiographische Interesse an der Auseinandersetzung zwischen NS-Staat und evangelischer Kirche, dem sog. Kirchenkampf, ist ungebrochen. Diesen Eindruck bestatigt nicht nur die kaum zu uberblickende Fulle von Veroffent- lichungen seit 1945. Zumal die Forschung ihre Aufmerksamkeit auf Personen- gruppen, kirchliche Einrichtungen oder regionale Milieus gerichtet hat, die am Rand zu stehen schienen, aber gleichwohl in die groBen Ereignisse verwickelt waren1. Im Gefolge gerade dieser Differenzierung sind viele Arbeiten zur mitt- leren und unteren Ebene entstanden, die Geschehnisse in Gemeinden, in Uber- schneidungsbereichen von Kirche und Diakonie, Kirche und Jugendarbeit, Kir­che und Musik u. a. untersucht haben. Ein Beispiel mag das erlautern: Nachdem lange Zeit Dietrich Bonhoeffer im Zentrum der Forschung gestanden hatte (und immer noch steht), wurde jungst ein Kreis von Kandidaten aus der rheinischen Kirchenprovinz, die das Predigerseminar in Finkenwalde besucht hatten, Gegen- stand einer Untersuchung2.

1. Kirchenkampf - Bekennende Kirche

Unumganglich in diesem Forschungsbereich ist eine hermeneutische Klarung der zentralen Begriffe, um MiBverstandnisse auszuschlieBen und Vorausset- zungen des Verstehens zu geben.

Wenn in dieser Studie von „Kirchenkampf ‘ die Rede ist, sind die Jahre zwischen 1933 und 1945 gemeint, in denen das Verhaltnis zwischen Evangeli- scher Kirche und nationalsozialistischem Staat in hohem MaBe umstritten war. Es geht um antithetische Aspekte (u.a. Kooperation oder Distanz, Loyalitat oder Resistenz, Absage an die Tradition oder Festhalten am Bekenntnis), die auf die Stimmungslage und das Verhalten eingewirkt haben. Davon unbenommen sind Diskussionen, die uber eine chronologische Eingrenzung bzw. inhaltliche Definition gefuhrt werden3. Zugleich steht der Begriff „Kirchenkampf ‘ fur die innerkirchlichen Kontroversen, in denen oft regionale, konfessionelle und sozio- kulturelle Unterschiedlichkeiten verborgen waren. Im Ubrigen stand die Evan- gelische Kirche in jenen Jahren dem Staat keineswegs als homogener Block gegenuber. Im Verhaltnis von NS-Staat und deutschem Protestantismus ver- schrankten sich Linien des Nebeneinander, des Miteinander und des Gegen- einander. Dazu kommt noch, dass sich in der lebensgeschichtlichen Entwicklung vieler protestantischer Protagonisten eine Wandlung der Einstellung zum Na- tionalsozialismus vollzogen hat.

Auch der Begriff „Bekennende Kirche“ bedarf einer Klarung. Tiefgrei- fende Auswirkung auf das allgemeine Verstandnis hatte die Tatsache, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die „Bekennende Kirche“ von offizieller Seite als „anti- faschistische Widerstandsorganisation“ anerkannt worden war, obwohl in ihrer Mitte „politischer Widerstand“ nie in direkter Form thematisiert worden war. „Asmussen hatte in Barmen deutlich genug betont, dass das Bekenntnis zum solus Christus nichts zu tun habe mit einer Opposition gegen das neue Deutschland und seine veranderte Staatsform“4. Jenes „Pauschalurteil“ galt uber lange Jahrzehnte und hat eine differenzierte Wahrnehmung der „Bekennenden Kirche“ und ihrer „Binnendiskurse“ beeinflusst. Allerdings hatte schon bald nach 1945 mit der Selbsthistorisierung auch eine Mythisierung begonnen, auch wenn die dunkle Zeit eher Gegenstand von Verdrangung wurde. Der Wille zur Verklarung wirkte sich starker aus als der Wille zur Aufklarung5. Es konnte ja niemandem verborgen bleiben, dass in der „Bekennenden Kirche“ nur wenige den Weg von „Barmen“ nach „Dahlem“ entschieden gegangen sind6. Und dass die „Bekennende Kirche“ an Bedeutung und Handlungsspielraum verlor, je mehr der Staat seinen Totalitatsanspruch ausbreitete, war evident. Dass mit Beginn des Zweiten Weltkrieges die gesellschaftliche Situation sich noch einmal veranderte, gehort auch zu den Fakten. Gleichwohl gilt es festzuhalten, dass mit der „Bekennenden Kirche“ als „Sammelbecken protestantischer Widersetzlich- keit“ sich eine Stimme erhoben hatte, die Inhumanitat nicht mit Gleichgultigkeit beantwortet hat7.

2. Wer hat die Ausbildungshoheit?

Bei der Suche nach biographischen Daten fur ein familiengeschichtliches Pro- jekt wurden lebensgeschichtliche Zusammenhange von uberindividueller Be­deutung offenbar. Und zwar trat die Verflechtung der individuellen Existenz eines Theologiestudenten und dann Vikars mit der „Bekennenden Kirche“ zu Tage, so dass es nahe lag, in diesem „casus“ exemplarische Aspekte zu vermu- ten, die, mit Einschrankung, als charakteristisch fur den Weg der „Jungen Theo- logen“8 im Dritten Reich behauptet werden konnen.

Die Studie versteht sich daher im Horizont eines Desiderates, das Alfred Burgsmuller zur Sprache gebracht hat: „Die Geschichte der Ausbildungsarbeit der Bekennenden Kirche ist noch nicht geschrieben. Kirchenkampf im Theo- logiestudium, das konnte ein spannender Bericht werden“9. Burgsmuller skiz- ziert Schwerpunkte der Ausbildungsarbeit, Konfliktbereiche und die Aporien, die das Vorgehen der „Bekennenden Kirche“ auf der Grundlage des kirchlichen Notrechts (Dahlem; Herbst 1934) entstanden waren. Zu dramatischen Momen- ten in der Studienzeit wird es hauptsachlich im Bereich der „zerstorten“ Lan- deskirchen der AltpreuBischen Union (APU) gekommen sein. Aus eigenem Er- leben verleiht er der Skizze Farbe. Zugleich dampft er die Hoffnung auf um- walzende Erkenntnis und baut einen Vorbehalt ein. „Uber solche Erlebnisse laBt sich einiges nachlesen; doch das meiste ist nicht mehr aus Akten zu erheben, weil es sie nicht mehr gibt. Vieles ist auch gar nicht erst zu wohl geordneten Akten geworden, was sich aus der damaligen Situation erklart“10.

Fur den Bereich der wurttembergischen Landeskirche, genauer fur das Tubinger Stift, liegt eine Publikation vor, in der Siegfried Hermle, Rainer Lachele und Albrecht Nuding Beitrage von Zeitzeugen, Dokumente und Er- orterungen zu Einzelfragen gesammelt haben11. Dem Leser wird schnell bewuBt, dass nicht nur der regionale Unterschied eine wichtige Rolle gespielt hat, sondern noch viel mehr die individuelle Pragung des moralischen und poli- tischen Urteils, der soziale Hintergrund der Studenten, die Verwurzelung in Gemeinschaften oder Verbindungen (Mannermilieu). In den personlichen Er- innerungen wurde auffallend oft die Grundstimmung in der Gesellschaft, sowie Ausgang und Folgen des Ersten Weltkrieges als Faktoren genannt, die Le- bensgefuhl, Werte-Diskussion und theologischen Diskurs beeinflusst haben. Fur die „Stiftler“ muss auBerdem die Verbindung zur Kirchenleitung von groBer Bedeutung gewesen sein, deren Handeln zu Solidaritat, aber auch zu Protesten gefuhrt hat. Vermutlich wird man auch in autobiographischen Schriften oder Lebenserinnerungen von „Jungen Theologen“ aus anderen Landeskirchen auf vergleichbare Berichte, Situationseindrucke oder Momentaufnahmen aus jener Zeit stoBen.

In diesen Zusammenhang gehort die Feststellung, dass die „Bekennende Kirche“ „schon fruh die Fursorge fur den theologischen Nachwuchs“ ubernahm und „die Ausbildung der jungen Theologen dort organisierte, wo das Studium durch ideologische Implikationen von Schrift und Bekenntnis weggefuhrt wur- den“12. Im Gefolge der Beschlusse auf den Bekenntnis-Synoden von Barmen und Dahlem wurden praktische und organisatorische Konsequenzen realisiert, die Rustzeiten, alternative Lehrveranstaltungen, Predigerseminare und Kirch- liche Hochschulen einschlossen. Zwar wurden alle diese MaBnahmen als Aus- druck des kirchlichen Notrechts ausgewiesen, doch hat das der Seriositat und Intellektualitat des Studienbetriebs keinen Abbruch getan. Wahrend an den Theologischen Fakultaten der staatlichen Universitaten die Zahl der Theolo- giestudenten stark rucklaufig war, fand das Handeln der „Bekennenden Kirche“ in diesem Sektor groBes Echo. „Es ist den Deutschen Christen nicht gelungen, selbst nicht mit Hilfe staatlichen Drucks, die junge Theologenschaft fur sich zu gewinnen“13. Die Studenten verfugten uber keine einheitliche Organisation, doch lagen in den Gesellungsformen aus der Tradition der Jugendbewegung Vorbilder bereit. Anders die Vikare und Hilfsprediger, die analog zum Pfarrer- notbund in den Kirchenprovinzen der APU sich zu Bruderschaften zusam- menschlossen14. Man verstand sich als „Bekenntniskirche“ und wollte mit der „Behordenkirche“, als solche sah man die dem Evangelischen Oberkirchenrat (EOK) in Berlin verpflichtete an, nichts zu tun haben.

In den Konflikt zwischen NS-Staat und „Bekennender Kirche“ gerieten die „Jungen Theologen“ in dem MaBe, wie Freiheit und Souveranitat der Kirche eingeschrankt wurden. In Sonderheit offenbarte die „Prufungsfrage“ bzw. „Legalisierungsproblematik“ sowohl die Handlungsunfahigkeit als auch die Gespaltenheit der „Bekennenden Kirche“. In manchen Landeskirchen wuchs die KompromiBbereitschaft nicht nur unter den „Jungen Theologen“, weil man meinte, mit der Unterscheidung zwischen „Staatsloyalitat“ und „Regimeloya- litat“ ein Kriterium fur den modus vivendi gefunden zu haben. Dass seit der Bekenntnissynode von Dahlem (1934) die „Bekennende Kirche“ die Prufungs- frage in die eigene Verantwortung ubernommen hatte, wurde angesichts des deutschchristlichen Chaos anfanglich auch in moderaten Bekenntniskreisen begruBt. Nachdem das „deutschchristliche Kirchenregiment“ sich selbst disqua- lifiziert hatte und das Reichskirchenministerium gemeinsam mit dem Evan-gelischen Oberkirchenrat (EOK) mehr und mehr in die Landeskirchen „hinein- regierte“, nahm die Zustimmung zu den Entscheidungen der Bruderrate der „Bekennenden Kirche“ merklich ab. Einer Obrigkeit, die sich um Kirchendinge kummerte, konnte protestantisches BewuBtsein nicht anders als in Gehorsam gegenubertreten. Sichtbar wurde diese Struktur, als mit dem Himmler-Erlass vom 29. August 1937 alle MaBnahmen der „Bekennenden Kirche“ im Sektor Ausbildungs- und Prufungswesen fur illegal erklart wurden. Wer an einer nicht- staatlichen Hochschule studiert hatte, wer von einem nicht-staatlich approbierten Prufungsgremium sich hatte prufen lassen, wer sein Vikariat unter nicht staatlicherseits organisierten Bedingungen abgeleistet hatte, der konnte nicht ordiniert werden, d.h., dem waren die Turen ins Pfarramt verschlossen. Im Blick auf seine personliche Lebensplanung und seinen sozialen Status war ein solcher Kandidat stigmatisiert. Es sei denn, er unterwarf sich einem Nachprufungs- verfahren mit terminlichen Vorgaben und erkannte somit die Zustandigkeit der staatlich gelenkten Konsistorien an. Auch die Gemeinden wurden bedrangt, die Zusammenarbeit mit „illegalen“ Kandidaten zu vermeiden und sich dem Hand- lungsrahmen des EOK, hinter dem das Reichskirchenministerium stand, anzu- schlieBen.

Innerhalb der „Bekennenden Kirche“ entbrannten heftige Diskussionen um eine vertretbare Reaktion auf die kirchenpolitische Offensive des EOK. Wie konnte man den Entscheidungen der Bekenntnissynoden von Barmen und Dah- lem treu bleiben und den Weisungen der Bruderrate folgen, wenn man sich im Fall der Prufungen bzw. Legalisierung Vorgaben und Prufungsbedingungen un­terwarf, die von „Irrlehrern“ dominiert wurden? Diese Frage muB weniger in ihrer theoretischen Bedeutung als vielmehr in ihren existentiellen Konsequenzen wahrgenommen werden. Ein Theologiestudent oder ein Vikar hatten andere Zie- le und Erwartungen vor Augen als ein ordinierter Pastor oder Oberkirchenrat.

Unter den „Dahlemiten“ brauchte die Frage nicht diskutiert zu werden. Allein das Zogern oder die Suche nach einem KompromiB wurden als Treue- bruch gewertet. In Pommern gerieten die Gruppen der Unnachgiebigkeit und der Konzilianz in heftigste Kontroversen. Ahnlich ist der Prozess in der westfa- lischen Kirchenprovinz verlaufen, wo Prases Koch sich gegen eine Bevor- mundung seitens des brandenburgischen Bruderrates meinte wehren zu mussen und einen „westfalischen Sonderweg“ eroffnet hat. M.a.W., Prases Koch ver- suchte15 mit dem Berliner EOK ein Abkommen in der Prufungs- bzw. Lega- lisierungsangelegenheit auszuhandeln und die Betroffenen in der westfalischen Kirche darauf zu verpflichten. Gegen diesen prasidialen Alleingang erhob sich Widerstand, organisierte Resistenz, die in den Gemeinden Akzeptanz erfuhr und den „Jungen Theologen“ allen Drohungen zum Trotz „geistliche Heimat“ im umfassenden Sinn gewahrte. - Karl Heinz Probsthain gehort nach MaBgabe der Quellen in diesen Kontext.

3. Lehrende und Lernende auf dem „Weg“

Das Engagement der „Bekennenden Kirche“ im theologischen Ausbildungs- und Prufungswesen (1933/ 1934) wurde begleitet von solidarischen Positionierungen maBgeblicher Hochschullehrer in den theologischen Fakultaten16. Kanzel und Katheder traten in eine Kampfgemeinschaft angesichts uberfremdender Ideo- logie und verfalschender Lehre. Im Wissen um die gegenseitige Angewiesenheit und Verantwortung bei Lehrenden und Lernenden in der „Bekennenden Kirche“ sind Uberlegungen entstanden, die einen jeden Christen angehen.

3.1 Im Sommer 1933 veroffentlichte Karl Barth seine Schrift „Theologische Existenz heute!“. Darin nahm er Stellung zu kirchenpolitischen Entwicklungen, die eine Machtergreifung des Nationalsozialismus auch im Raum der Kirche durchsetzen wollten und fur Unruhe und Streit gesorgt hatten. Barth stellte vor allem die identifizierende Verschrankung von politischen Zielen und kirch- lichem Auftrag in Frage. Er lehnte die Unterordnung des Evangeliums unter die Ideologie einer Partei ab. Prediger und Lehrer der Kirche hatten ihre „theolo- gische Existenz“ aufgrund einer Berufung durch die „Kirche“, die sich ihrerseits dem Ruf des Wortes Gottes verdanke. In diesem „Raum“ hatten andere Ruck- sichten, Anliegen oder Machte keinen Platz. Weder Sorgen noch euphorische Stimmen seien berechtigt, im Gang des Theologiestudiums das Thema zu be- stimmen oder Handlungsanweisungen zu geben. Barth weigerte sich, von auBen, von nicht-theologischen Instanzen Weisungen zu empfangen und die Studenten zu manipulieren. Sein Pladoyer galt der „Sachlichkeit“, womit die Haltung gemeint war, mit der in den einzelnen theologischen Disziplinen gearbeitet wurde, um den Ruf des Evangeliums zu erkennen und anzuerkennen. Ein Theo- logiestudium, das nicht auf die Konstitution der theologischen Existenz bezogen ware, verdiene seinen Namen nicht. Diese elementare Intention kommt gleich auf der ersten Seite zur Sprache, wo Barth seine Aufgabe als Lehrer beschreibt: Sie besteht darin, „daB ich mich bemuhe, hier in Bonn mit meinen Studenten in Vorlesungen und Ubungen nach wie vor und als ware nichts geschehen - viel- leicht in leise erhohtem Ton, aber ohne direkte Bezugnahmen - Theologie und nur Theologie zu treiben. Etwa wie der Horengesang der Benediktiner im nahen Maria Laach auch im Dritten Reich zweifellos ohne Unterbruch und Ablenkung ordnungsgemaB weitergegangen ist. Ich halte dafur, das sei auch eine Stel- lungnahme, jedenfalls eine kirchenpolitische und indirekt sogar eine politische Stellungnahme“17.

3.2 In Marburg eroffnete Rudolf Bultmann (1884-1976) seine Vorlesung zu Beginn des Sommersemesters am 2. Mai 1933 mit einer Ansprache an seine Horer „als Theologen im Dienste der Kirche“ und reflektierte uber „die Aufgabe der Theologie in der gegenwartigen Situation”18.

Bultmann grenzte sich eindeutig von der Tendenz ab, bestimmte „Ord- nungen“ des staatlichen oder sozialen Lebens theologisch zu uberhohen. Alles in der Welt ist zweideutig. „Alles kann dem Menschen zur Sunde werden, d..h. zum Mittel, sich selbst durchsetzen zu wollen, uber sein Dasein verfugen zu wollen, auch Besitz und Familie, Bildung und Recht, Volkstum und Staat“19. Gegen die ideologische Verfuhrung stellt Bultmann die „kritische Kraft des Glaubens“20, der zwischen Sunde und Gnade zu unterscheiden weiB. In Christus erfahre der Glaube das Geschenk der subjektivistischen Aspirationen: Befreiung von dem Fixiertsein auf das Zweideutige. Glaube erhalt „den kritischen Blick gegenuber den lauten Forderungen des Tages“21. Von dieser Warte her benennt Bultmann drei konkrete Ubel der gegenwartigen Situation, die auch die Stu- denten zur Stellungnahme herausfordern. Fragwurdig und leichtsinnig sei die Emotionalisierung, mit der politische Projekte in paradiesische Zustande gefuhrt werden sollen. Unertraglich sei das Denunziantentum, mit dem freie Kommu- nikation und offene Begegnung untergraben wurden. Nicht weniger abzulehnen sei Diffamierung, mit der Menschen in ihrem Einsatz fur die Wahrheit geschadet wird22. Explizit protestiert Bultmann gegen den staatlicherseits gelenkten Anti- semitismus und verurteilt die gegen judische Mitburger gerichteten Aktionen.

Auch sein Kollege an der Philipps-Universitat, Hans von Soden (1881-1945), hat zur Eroffnung seiner Vorlesungstatigkeit23 im Sommersemester 1933 am 4. Mai 1933 eine Erklarung vorbereitet, in der er seine Sicht zur gegenwartigen Situation vortrug. Er protestierte gegen das Unrecht, das Juden und Mitburgern, „die uber das, was unserem Volke not tue, anders denken“, geschieht. In Son- derheit wandte er sich scharf gegen die Politisierung der Universitat, „die der an ihnen hochgehaltenen Wahrheitsforschung Schranken eines zeit- oder partei- politischen Dogmas auferlegt“24. Parolen seien ungeeignet die anstehenden Aufgaben zu bewaltigen. „Der nationale Staat braucht selbstandig denkende Mitarbeiter, die gerade und treu sind; mit Herden von Mitlaufern [] ist ihm nicht geholfen“25. Angesichts der zeitgenossischen Geschichtsdeutungen, die politische Wunschtraume in die Vergangenheit projizieren, um sie dann als hi- storisches Vermachtnis zu „entdecken“, wirken Hans von Sodens Uberlegungen zur Bedeutung des Studiums der Geschichte fur das Leben als befreiende Selbst- kritik. Es geht um „wahrheitsgemaBe Erkenntnis des Geschehenen“, um „das uber uns verfugte Schicksal“, dem man sich „verhaftet“ weiB26.

Beide, Rudolf Bultmann und Hans von Soden, waren die treibenden Krafte hinter der Erklarung „Neues Testament und Rasenfrage“, mit der 17 Theologieprofessoren gegen die nationalsozialistische Diskriminierungspolitik protestierten27. Beide haben im Namen der Marburger Theologischen Fakultat ein Gutachten gegen die Einfuhrung des Arierparagraphen in der evangelischen Kirche verfasst28. Derartige offentliche Stellungnahmen ubernahmen die Funk- tion eines begleitenden Kommentars, der die Koharenz des im Kolleg Aus- gefuhrten mit dem Alltag sichtbar machte29. Als theologische Lehrer haben sie sich nicht anders gezeigt denn als Burger eines Staates. Der elementare Gottes- bezug war fur sie unteilbar.

3.3 Das dritte Beispiel, Heinrich Schliers Vortrag „Die kirchliche Verantwor- tung des Theologiestudenten“30 von 1935, thematisiert explizit die enge Ver- zahnung von Theologiestudium und Kontext „Bekennende Kirche“. Zwar unter- scheide sich die kirchliche Verantwortung des Theologiestudenten nicht grund- satzlich von der eines jeden Christenmenschen - es geht um die Frage, welches Wort die Welt regiert, das Wort Gottes oder das Wort einer selbsternannten Macht. Doch habe der Theologiestudent eine besondere Verpflichtung im Blick auf seine zukunftige Tatigkeit als Lehrer und Verkunder des Evangeliums. Schlier legt Wert darauf, die Grundstruktur des Theologiestudiums eindeutig zu beschreiben. Denn es handelt sich nicht um ein Unternehmen, das nach indivi- duellem Gutdunken organisiert ist. Sicher sind „Eifer“ und „Sachlichkeit“ ge- fragt, um „Erkennen“ und „Verstehen“ zu fordern. Ebenso „Sorgsamkeit, Ge- sammeltheit, FleiB“ als Basis von „formaler Arbeit“31. Vor diesen Sekun- dartugenden steht jedoch die Grund-Einsicht: „Gott hat sich uns gegenuber- gestellt und ist uns in seinem Worte, in dem lebendigen Evangelium Jesu Chri- sti, selbst unentrinnbar nahe gekommen, Gott hat sich uns quer vor den Weg unseres Lebens gestellt in seinem allmachtigen, offenbaren Geist, und will bei uns bleiben bis ans Ende der Zeit, ob wir das glauben oder nicht. In Gottes Tat entspringt die Verantwortung, die wir zu tragen haben. Wir hatten sie uns sicher nicht auferlegt“32. Grundlegend ist also die Selbst-Erkenntnis, „daB wir Gott das Wort, das er gesagt hat, auch so sagen lassen, wie es ihm gefallt und nicht wie wir es uns wunschen“33. Der Aspekt „Verantwortlichkeit“ wird mit dieser Hie- rarchisierung keineswegs unterschlagen. Die Studenten werden vielmehr dafur sensibilisiert, „bei wem Sie Theologie studieren. Sie konnen [...] nur solche Theologen zu Ihren Lehrern wahlen, die echte Theologie lehren, d.h. die Ihnen das zentrale Wort Gottes aus der Hl. Schrift und ihren Zeugnissen, den Be- kenntnisschriften, eindeutig und unverfalscht zu Gehor bringen, und Ihnen also helfen, in das Wort und seine Erkenntnis mehr und mehr hineinzuwachsen“34.

Zum „Hineinfinden in das Wort“35, das ist das Zweite, was Schlier den Studenten nahe bringen will, gehort die Dimension der „Erfahrung“ mit dem Wort. Gemeint ist die „Einubung“ des Wortes in den sozialen Ablaufen und In- teraktionen des Alltags. Dabei kommt von der Gemeinschaft der Glaubenden, der Kirche, entscheidende Unterstutzung, weil sie zu der tragenden Ordnung ge­hort, mit deren Hilfe fragwurdige Anspruche und Einflusse ausgemacht werden konnen. Vom Zentrum der Gemeinschaft her, dem Gottesdienst, wird sowohl der individuelle Weg als auch der Weg der Gemeinde konstituiert. So wichtig der Gemeindebezug ist, so notwendig muB der Student die Grenzen seines Enga­gements beachten.

Unter dem Stichwort „bewahren“ streift Schlier die aktuelle Herausforde- rung der Kirche durch die wachsende „Entkonfessionalisierung des offentlichen Lebens“36 und benennt das Problemfeld, auf das die Theologiestudenten zwangslaufig geraten. Gemeint ist die konzertierte Aktion von NS-Staat und EOK, der „Bekennenden Kirche“ die Legitimitat fur das Prufungswesen zu entziehen und die durchgefuhrten Examina fur illegal zu erklaren. Die Studenten wurden genotigt, nicht nur ein Bekenntnis abzulegen, sondern auch eine poli- tische Stellungnahme abzugeben, ihrer Entscheidung fur eine Prufungskom- mission entsprechend. Vor allem die „Jungen Theologen“, die sich fur den radikalen Weg entschieden hatten, mussten mit harten Konsequenzen (Status der Illegalitat) rechnen. Schlier stellt die Problematik in aller Deutlichkeit heraus, laBt zugleich aber keinen Zweifel an der eigenen Positionierung zu. Was ge- fordert ist, sind nicht pragmatische Losungen, sondern die Koharenz der Existenz, die Identitat der Person. Als der Vortrag gehalten wurde, befand sich der Konflikt noch in einer Anfangsphase, doch zeichnete sich eine Fraktio- nierung in der „Bekennenden Kirche“ ab, zumal die NS-Kirchenpolitik den Druck auf Pastoren, Gemeinden und Kirchenleitungen an vielen Stellen erhohte. Eindringlich ruft Schlier dazu auf, den Augenblick der „Bewahrung kirchlicher Verantwortung und Treue zu dem Wort, das den Weg der Kirche und auch Ihren Weg erleuchtet“37 ernst zu nehmen. „Neutralitat“ erklare das Wort zum „Adia- phoron“. Im Ubrigen mache er, Schlier, sich keine Illusionen. „Denn abgesehen von unserer besonderen Lage in der Kirche und in der Welt, die Ihnen Un- sicherheiten innen und auBen bringen wird, ist es ja nie und nirgends leicht, dem Worte Gottes zu leben. Denn wir wollen von Natur nicht in das Wort hinein- wachsen, sondern ihm entwachsen. Freilich bleibt uns ja keine Wahl mehr. Denn wir sind schon in das Wort hineingepflanzt und werden von ihm nicht mehr freigegeben. Ich meine auch, wir wollen gar nicht mehr frei werden“38.

3.4 Im Rahmen seiner Lehrtatigkeit an der Berliner Universitat hat Dietrich Bonhoeffer zu Beginn des Wintersemesters 1933/ 34 einen Aufsatz mit dem Titel „Was soll der Student der Theologie heute tun?“39 veroffentlicht. Die Aus- fuhrungen fugen sich gut in diesen einleitenden Vorspann und erganzen die bis- herigen Uberlegungen in grundsatzlicher wie in praktischer Hinsicht. Von An- beginn an hebt Bonhoeffer auf die besondere Beziehung des Studierenden zu den Inhalten des Studiums ab. Es geht um die Konstituierung der Existenz, um die Bildung der Person im Blick auf ihr Wirken in einem Raum, der zwar in der Welt ist, aber nicht in der Welt aufgeht.

Als Erstes fallt ein appellativer und autoritativer Gedankenduktus auf, der den Adressaten nicht in einem Nebel der Unbestimmtheit belaBt. Gewarnt wird vor den emotionalen Impulsen der sog. religiosen Erfahrung (Stichwort: Beru- fungserlebnis). Der Student soll zwei „Bedingungen“ bei sich erfullen: „die Sache der Theologie“ muB ihn „gepackt“ haben und nicht mehr loslassen; er muB die „Bereitschaft“ mitbringen, „uber Gott und sein Wort und seinen Willen

nachzudenken“40. Mit Hinweis auf Psalm 1,2 wird die existentielle Disposition konkretisiert. Auf dieser Voraussetzung baut eine Einstellung auf, die den Vor- behalten gegenuber irrationaler Gefuhligkeit und Leidenschaft entspricht: „die Entschlossenheit zu nuchterner, ernster, verantwortlicher theologischer Ar- beit“41. Sind diese „Bedingungen“ gegeben, kann der Student „seine philosophi- sche, seine ethische, padagogische, volkische (sic!), soziale Passion mit hinein- nehmen“42.

Hatte Bonhoeffer seine Argumentation aus dem Gottesgedanken ent- wickelt, so bringt er nun den zweiten Artikel des Credos ins Spiel, die Christolo- gie. Zu einem Studenten der evangelischen Theologie gehorte unabdingbar die Uberzeugung, „daB der Antrieb seines Lebens und Denkens [...] nirgends an­ders herkommen kann als von der Passion Jesu Christi, des gekreuzigten Herrn“ Die Begegnung mit dem Gekreuzigten (bzw. mit den „Leiden Gottes unter der Menschen Hand“) stellt alles akademische Suchen, Fragen und Forschen auf den Prufstand. Eingeleitet wird in diesem Prozess eine „Wende zur theologischen Sachlichkeit“43, eine Veranderung in der Subjekt-Objekt-Relation. Aus dem su- chenden Ich wird ein angeredetes Ich. Der Student laBt „Monolog“, „die ich- haften Leidenschaften“ und „religioses Sichausleben“ hinter sich, weil sich ihm „Horen, Aufmerksamwerden auf das Wort Gottes“ als der entscheidende Weg erschlossen hat. Unter MaBgabe dieser Erkenntnis soll sich der Student ohne Minderwertigkeits- oder Schamgefuhl den Disziplinen der theologischen Wis- senschaft verantwortlich, ernsthaft und selbstbewuBt widmen.

Es ist also ein doppelter Aufruf, mit dem sich Bonhoeffer an die Studie- renden wendet: er fordert Selbst-Verortung im Koordinatensystem von Gott und Mensch; er unterstreicht das verantwortliche Ethos im Studium. Denn es gilt im „actus reflexus“ sich nicht nur padagogische oder rhetorische Befahigung fur den Kampf gegen das Nichtwissen anzueignen. Die „Zurustung“ geschieht nicht, ohne dass gleichzeitig der „actus directus“ gestarkt, das Fundament der GewiBheit gefestigt wird. „Der junge Theologe soll sich mit seiner Theologie im Dienst der wahren Kirche Christi wissen, die ihren Herrn unbeirrt bekennt, und in dieser Verantwortung lebt“44. Mit dieser Zielangabe schlagt Bonhoeffer eine Brucke zwischen dem von Kontroversen und Konflikten bewegten Horizont der Kirche und dem akademischen Bereich. Letzterer ist keine Spielwiese der Be- liebigkeiten, aber auch keine Einfuhrung in die Weltlosigkeit. M.a.W., das Theologiestudium kann sich nicht aus den Diskussionen, Kontroversen und Richtungskampfen in der Kirche raushalten. Im Gegenteil, der Student „soll sich durch sein Studium bereit machen, die Geister der Kirche Christi zu prufen“45. Damit wird ihm eine auBergewohnliche Aufgabe zugewiesen, die Unterschei- dung zwischen dem Evangelium Jesu Christi und dem, was menschliche Interessen und Deutungen daraus machen. Durch das Theologiestudium, das seinem Ursprung, dem Bekenntnis, der Tradition und der Kirche verpflichtet ist, wird der Student mit Urteilsfahigkeit, Klarsicht und Unterscheidungsgabe ausgestattet, so dass er „Wahrheit“ und „Irrlehre“ erkennen und beurteilen kann. „Er muB erkennen lernen, wo und wann die Kirche Christi in der Stunde der Entscheidung, des Bekennenmussens, im status confessionis steht“46. In dieser Dienstanweisung spricht sich die Uberzeugung eines nicht unerheblichen Teils der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Ende des Jahres 1933 aus. „Zeiten der Verwirrung^47 fordern Bekenntnis, Zeugnis und Entscheidung. Vor diesem Hintergrund muB der Student der Theologie „erkennen lernen“, wo und wann die Kirche Jesu Christi im „status confessionis“ steht und was dann zu tun ist. Ahnlich wie Karl Barth lautet Bonhoeffers Rat: „sachlich theologisch weiterarbeiten“; „nuchtern denken und handeln“; „zuruck zu den Quellen“; „die Bibel lesen und studieren, wie zuvor“; „immer aufmerksamer, immer sachlicher, immer wahrhaftiger“, „immer unerschrockener und immer freudiger^48. Und weil er in einer Gemeinschaft lebt, die auf Einverstandnis gegrundet ist, soll er sich vor „Besserwisserei“ und „Rechthaberei“ huten. Uber allem aber soll er nicht vergessen, „daB er selbst [...] mitschuldig, stellvertretend, furbittend neben den Irrenden und irregefuhrten Brudern steht und [...] allein von der Vergebung lebt“49.

In seinem zukunftigen „Dienst“ wird der junge Theologe die Rolle eines „Fuh- rers“ ubernehmen mussen50, der stellvertretend fur die Gemeinde die aktuelle Situation analysiert, beurteilt und Entscheidungen trifft. Z.B., wenn es darum geht, die pseudo-religiosen Mechanismen der politischen Gefolgschaft transpa­rent zu machen. Oder wenn sich „hinter den alten Worten neue, fremde Inhalte verbergen“51. Ein geschulter Blick ist vor allem dann gefragt, wenn Autoritat sich mit messianischem Nimbus bekleidet, wenn also das Erste Gebot verkehrt wird.

Wenn Bonhoeffer die jungen Theologen so nachhaltig an die Kirche Jesu Christi verweist und ihnen eine Fuhrungsrolle in derselben anvertraut sieht, hat das implizite Voraussetzungen in der Christologie. Aus der Begegnung mit der Passion resultiert nicht nur die Abkehr von den ichhaften Intentionen, sondern auch die Hinkehr zu der Gemeinschaft der Glaubenden und Nachfolger Christi. Dieses Gemeinschaftsverstandnis ist sichtlich von Uberlegungen beeinfluBt, die aufgrund der Beschaftigung mit den Ideen von Ferdinand Tonnies entstanden sind52. Vor allem grenzt Bonhoeffer sich vom ideologisch-politischen Gemein- schaftsbegriff des Nationalsozialismus ab. Hier soll der junge Mensch ganz im „Kollektiv Volksgemeinschaft“ aufgehen und sich mit seinem Lebensgefuhl total auf den Fuhrer werfen, weil dieser das ideale Selbst reprasentiert. Bon­hoeffer lehnt dieses Modell ab, weil es eine pseudo-religiose Luge darstellt und unter messianischen VerheiBungen in die Irre fuhrt. In der Gemeinschaft Christi besteht die Aufgabe des Fuhrers darin, zu zeigen, dass der Mensch allein vor Gott das wird, was er ist, „frei und verantwortlich gebunden zugleich, er wird ein einzelner“53.

Im ersten Moment mag diese Differenzierung erschrecken. Dann setzt sich aber die Erkenntnis durch, dass der einzelne Mensch in Christus nie allein ist, sondern durch die Gemeinde in der Christuswirklichkeit steht. Nach Bon­hoeffer besteht darin das Geheimnis der Kirche, dass Christus „unter uns als Gemeinde,, existiert, „als Kirche in der Verborgenheit der Geschichtlichkeit“54. Weil die „Kirche der verborgene Christus unter uns ist“55, mussen die Theolo- giestudenten den Kirchenbezug wach halten. Denn hier haben sie Christus als Gegenuber.

In seiner Rolle als Fuhrer kann der junge Theologe nur bestehen, wenn er um seine „Autoritat“ als eine „gesetzte“ und „vorletzte“56 weiB und sich entspre- chend verhalt. Die adaquate „Zurustung“ besteht darin, dass er im „Horen des Wortes Gottes“ bleibt bzw. im Gehorsam gegenuber der Autoritat Gottes. Ihm ist Einsicht in die Struktur seiner Existenz gegeben, die von sich absieht und sich das Sein „in relatione“ geben laBt, das allein Gott herstellt im Vorgang der Anrede und des Horens. Uber diesen Zusammenhang hat Bonhoeffer das Wort „Gehorsam“ gesetzt57 und ausgefuhrt, so paradox es klingen mag, „Horen ist Tun“.

4. Theologische Existenz

Implizit geht es in den Beispielen immer um die fundamentale Referenz, die theologische Existenz konstituiert, die vorausgehende Anrede Gottes an den Menschen. Im Zentrum der Reflexionen steht also „das Wort“, das eine Antwort evoziert und diese als Existenz, als Entsprechung ermoglicht. In je eigener Weise hatten Karl Barth, Rudolf Bultmann, Hans von Soden, Heinrich Schlier und Dietrich Bonhoeffer die existentielle Referenz des „Jungen Theologen“ reflektiert, wie es die Situation und die studentische Zuhorerschaft erforderten. Als sachliche Vertiefung mochte ich einen Artikel von Karl Barth aufnehmen, in dem er das „Erste Gebot“ auslegt58. Im Hintergrund des Artikels steht das Dilemma, in dem sich die Existenz von Christen seit 1933 befand: der Anspruch des Wortes Gottes einerseits und die Vereinnahmung des Menschen durch den totalen Staat andererseits.

Um dem MiBverstandnis vorzubeugen, dem Ersten Gebot eigne axiomati- sche Relevanz analog zu logischen Regelungen in nicht-theologischen Berei- chen, nennt Barth zunachst hermeneutische Voraussetzungen, die den singularen Charakter des Textes aus dem Buch Exodus ausmachen. Es geht um den sach- gemaBen Zugang zu einem Text, der von einem Ereignis in der Zeit, der Bezie- hung zwischen Gott und Mensch spricht. In der Rolle des neutralen Beobachters versteht man diesen Text nicht, sondern nur, „indem wir diesem zeitlichen Er­eignis als Horer des geschriebenen ersten Gebotes gleichzeitig werden“59. Ent- scheidend ist die Form der Rede, d.h., die Gottesrede tritt auf als Gebot, nicht als „Mitteilung Gottes uber sich selbst“. Angesichts der Gottesrede, die „fordert, gebietet, verbietet“60, verhalt sich der Mensch angemessen, indem er gehorcht.

Anders als in einem menschlichen Dialog wird so ein Autoritatsgefalle bejaht, der eigene Platz in dieser Beziehung wird akzeptiert: „ich selbst (bin) Gegen- stand einer Voraussetzung61. Weitere Klarung bringt der Verweis auf ein hi- storisches Tun des Sprechenden. Der Satz spricht uber das „Verhaltnis des Befreiers zum Befreiten“62. Der Akzent liegt auf dem Bedingungslosen und Un- ableitbaren des gottlichen Handelns. In signifikanter Weise geht die Barm- herzigkeit Gottes dem Befehl voraus und gibt diesem seinen besonderen Charakter. Der Gehorsam, der sich auf das Wort einlaBt, tritt auf als Dankbarkeit (vgl. Psalm 103, 2: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiB nicht, was er dir Gutes getan hat“).

Das Erste Gebot erweist seine Kraft durch den zeitlichen Kontext, in dem es gesprochen wird. Barth war sich dessen bewuBt, als er sich dem exklusiven Befehl: „Du sollst keine anderen Gotter neben mir haben!“ zuwandte. Es geht also um die Instanz, die Theologie voraussetzt, die Kriterium und Orientierung gibt. „Sie (die Theologie) ist gefragt, wo sie eigentlich herkommt und wo sie eigentlich hin will“63. Ein theologiegeschichtlicher Exkurs legt dar, wie in der neueren protestantischen Theologie neben die in der Hl. Schrift uberlieferten ex­klusiven Offenbarung Zug um Zug erganzende letzte Instanzen getreten sind64, erkennbar an dem „und“, das die biblische Offenbarung mit scharfsinnigen oder frommen GroBen kombinierte. „Mit der Apologie einer bestimmten kleinbur- gerlichen Moral fing es im 18. Jahrhundert an, mit der Apologie von Volkstum, Sitte und Staat scheint es heute endigen oder vielmehr noch nicht einmal endigen zu wollen“65. Barth kritisiert, dass in diesem Verfahren Theologie aus dem Beziehungsgefalle herausfalle und fremdbestimmt werde. M.a.W., indem die biblische Offenbarung von anderen Instanzen her interpretiert werde (Ver- nunft, Natur, Geschichte o.a.), hore Theologie auf, christliche Theologie im pro- testantischen Verstandnis zu sein. Wenn das passiere, sei das Ergebnis religiose Weltanschauung, konne aber nicht Anspruch auf Kontinuitat in der refor- matorischen Tradition erheben. Derartige Vermischungen, Umkehrungen und Identifikationen stellen die groBe Versuchung dar, der die Kirche ausgesetzt ist, weil angeblich nur so der AnschluB an die Zeit gewahrleistet sei. Barth halt es fur unumganglich, dass uber den „rechten Gehorsam“ im theologischen Denken und Reden gestritten werden muB. „Recht und gut ist es dann, wenn es dem ersten Gebot entspricht und nicht widerspricht“66. „Jede Theologie hat auch >andere Gotter< und sicher immer da am meisten, wo man und wo sie selbst es am wenigsten merkt. Darum muB Rede und Gegenrede stattfinden“. Es gilt das Wagnis, „allein an dem Gott zu hangen, der sich in Jesus Christus offenbart hat“67.

Theologische Existenz ist Wagnis und meint „unsere Bindung an das Wort Gottes und die Geltung unserer besonderen Berufung zum Dienst am Wort Gottes“, formulierte Barth in „Theologische Existenz heute!“68. Es geht darum, ob wir Gott allein vertrauen oder „unser Herz teilen zwischen dem Wort Gottes und allerlei Anderem“69. Kirche handelt theologisch verantwortlich, wenn sie diese Unterscheidung nicht vergiBt. Barth schlieBt den programmatischen Auf- satz mit einem eindringlichen Aufruf zur Wachsamkeit. „Darum kann die Kir­che, kann die Theologie auch im totalen Staat keinen Winterschlaf antreten, kein Moratorium und auch keine Gleichschaltung sich gefallen lassen. Sie ist die naturgemaBe Grenze jedes, auch des totalen Staates“70.

5. Der Ruf zum Kampf

In der 1920er Jahren stieg das Wort „Kampf“ zu einer faszinierenden Metapher auf, die sich in die Deutungsvorgange der deutschen Gesellschaft einmischte und bellizistischen Vorstellungen die Aura von Normalitat verlieh. Allen Erfah- rungen des Ersten Weltkrieges zum Trotz wurde die Fortdauer des Kriegszustan- des proklamiert71. Von einfluBreicher Seite kamen publizistische AnstoBe72, die eine Militarisierung des Denkens intensivierten und die Gewaltbereitschaft73 for- derten. „Denken ist Krieg, Erkenntnis ist Ritt zwischen Tod und Teufel“, formu- lierte der Nietzsche-Biograph Ernst Bertram74 Mit dem Motto „Verwegen bis zum AuBersten“ prasentierte sich ein Mannlichkeitsideal, das soldatische Struk- turen und Tugenden verklarte. In mythologischen und regressiven Farben wurde das Bild des Frontkampfers von Langemark bzw. des Wandervogel-Leutnants von Walter Flex als Vorbild der Jugend „verkundigt“. Blickt man zuruck in die deutsche Geschichte und vergegenwartigt sich den militanten Nationalismus oder den religios uberhohten Militarismus im 19. Jahrhundert, verwundert es nicht, dass die politische Zasur von 1918/ 1919 nur ein Moratorium bewirkt hatte. Kriegskult und Kriegssehnsucht bestimmten schon bald das Lebensgefuhl der jungen Generation, die tief bedauerte, nicht mehr „In Stahlgewittern“75 zum Einsatz gekommen zu sein.

Bernd A. Rusinek hat die Hochkonjunktur des Wortes „Kampf ‘ in den 1920er Jahren einer sportpolitischen Strategie zugeordnet76. Da die Sieger- machte im Versailler Friedensvertrag nicht nur das deutsche Heer zahlenmaBig begrenzt, sondern auch die Wehrpflicht abgeschafft hatten, sahen alle national denkenden Menschen den Fortbestand der deutschen Nation in Gefahr. Sie befurchteten, dass defatistische und antimilitaristische Krafte, die Verursacher der Niederlage, weiterhin burgerliche Bequemlichkeit und liberale Beliebigkeit fordern wurden. Es kam zu einer Koalition mit den Sportverbanden, die sich begeistert dem nationalen Anliegen anschlossen. An die Stelle der fortgefallenen Wehrpflicht traten nunmehr „Kampfspiele“ auf „Kampfbahnen“ oder „Kampf- platzen“, wo „Kampfgemeinschaften“ aufeinander trafen. Hinter der Militarisie- rung der Sportsprache stand das deutlich erkennbare Bemuhen, die „Wehr- kraft“77 uber paramilitarische Aktivitaten im Kontext des Sportes zu erhalten und zu steigern. Nicht erst der Nationalsozialismus hat Wehrsportubungen o.a. in jedem akademischen Curriculum verbindlich gemacht. Auch bundische Grup- pen fuhlten sich in die Pflicht genommen. Sie fuhlten sich gerufen, mit Harte und soldatischem Habitus gegen Verfall und Dekadenz anzugehen. Auf der Langemarkfeier 1924 in der Rhon rief Hartmut Fabricius den Versammelten der bundischen Gruppen zu: „Es ist nicht deutscher Jungen Art, zu klagen wie die Weiber und zu trauern wie marklose Menschen, sondern wir ehren die Toten durch unser eigenes starkes Leben, das uns tuchtig macht, der Kampfer Werk zu vollenden, dem Sieg nicht vergonnt war. Fur euch, ihr Jungen, sind sie durch den Stahlhagel gesprungen - sehet zu, daB ihr des Opfers wert und den Opfern- den ebenburtig werdet“78.

Angesichts der uberwaltigenden Akzeptanz, die der bellizistische Zeitgeist in der Lebenswelt erfuhr, verwundert es nicht, dass sich auch in Theologie und Kirche Atmosphare, BewuBtsein und Sprache des Kampfes ausbreiteten. Theo- logiestudium und Vikariat wurden als „Zurustung“ fur den Frontdienst, fur den Einsatz in der „militia Christi“79 deklariert. Der Einzelne sollte einen moglichst hohen Standard an Kampffahigkeit und Opferbereitschaft erlangen. Von diesen Zielvorgaben handeln die martialischen Tendenzen in den christlichen Kampf- liedern, die zugleich der geistlichen Aufrustung in den Gemeinden dienten80. Im Hintergrund standen biblische Uberlieferungen (z.B. Epheser 6,12), aus denen eine christlich eingefarbte Wehrhaftigkeit sich legitimierte. Man wollte „fromm und kriegerisch“ zugleich sein, verstand man sich doch als „Vortrupp“ der an- brechenden Endzeit.

Im Kontext von Theologie und Kirche rezipierte man nicht einfach eine Sprachmode, sondern lieferte eigene Beitrage zur aktuellen „Kampfmetaphy- sik“81. Ausgangspunkt vieler Uberlegungen ist die Uberzeugung, dass der Prote- stantismus in einen „Geisteskampf ‘ verwickelt sei, in eine universale Ausein- andersetzung zwischen Licht und Finsternis, zwischen Gut und Bose, in der Neutralitat einem Verrat am Herrn der Geschichte gleichkomme. Geschichte wird reduziert auf ein Entweder-oder bzw. auf die Entscheidung zwischen Ge- horsam und Befehlsverweigerung. Unter dem Titel „Volksmission“ war in der evangelischen Kirche eine Offensive gestartet worden, um der Entchristlichung/ Sakularisation in Deutschland entgegenzutreten. Volksmissionarische Projekte verbreiteten das BewuBtsein, in einer Zeitenwende zu stehen, motivierten zu apokalyptischem Ernst und hiBten Banner leidenschaftlicher Entschiedenheit82. In der Koinzidenz von aktueller Auseinandersetzung und universalem Kampf in- karnierte sich die extreme Polarisierung der Geschichtemachte und rechtfertigte den Aufruf zu auBerstem Engagement. Im Pathos des „totalen Engagements^ (Hermann Lubbe) bekamen politische Entscheidungen Glaubensqualitat, und Glaubensfragen wurden auf dem politischen Feld verhandelt.

Nachhaltigen Ausdruck hat diese Geisteshaltung bei Paul Sturm, Profes­sor fur Praktische Theologie in Heidelberg, in einem Artikel uber „Kirche und neues Lied“ gefunden83. Sturm stand den kirchlichen Kreisen nahe, die einen SchulterschluB mit dem Nationalsozialismus suchten. Sein Verdikt uber die Kirchenlieder der Tradition („ruckwartsgewandter Blick“) will Pladoyer fur einen „geistlichen Liederfruhling im Zeichen des Anbruchs und Umbruchs sein“84. Es ist bezeichnend, dass er seinen Einsatz fur das geistliche Kampflied mit apokalyptisch impragnierter Perspektive vortragt: „Durch die ganze Welt tont heute der Kampf wider Gott und den Glauben an ubersinnliche Gewalten. Wir stehen nicht nur in einem Entscheidungskampf um das Christentum, sondern um die Religion uberhaupt. Der Widerpart Gottes ist im Sturmangriff auf der ganzen Linie. In solcher herzbangen Zeit die geistigen Abwehr- und Angriffswaffen nur aus den Rustkammern der Vergangenheit zu nehmen, grenzt an Verrat an unserer Kirche. Welche Bedeutung das neue politische Kampflied im Kampf wider den geistigen Bolschewismus gehabt hat, dessen waren wir begluckte Zeugen [] Fuhrertum ist schopferische Leistung und Marsch an der Spitze, nicht Hinterdreinhinken mit ruckwartsgewandtem Blick“85.

Es erstaunt immer wieder, in dieser Sprachlandschaft Theologen zu begegnen, zu deren Profil der Bellizismus uberhaupt nicht passte, und die dadurch, dass sie mit radikalen oder militaten Begriffen arbeiteten, sich das Dilemma der Ver- wechselbarkeit einhandelten. In seiner Arbeit zu Dietrich Bonhoeffers Ho- miletik merkt Hans Georg Wendel an: „Wendungen, die an eine radikale, krie- gerische Sprache erinnern, lassen sich besonders in den Studentenpredigten und in den Predigten der Jahre 1931-1933 feststellen, in den Barcelona-Predigten treten sie hingegen ganz zuruck, wie auch fast ganz in den Londoner und Finkenwalder Predigten“86. Oft war durch die Bildsprache bzw. die narrativen Zusammenhange der Predigttexte ein Rahmen abgesteckt. Oder Bonhoeffer hat aus homiletischen Grunden, d.h., zur Veranschaulichung bzw.im Sinne eines Vergleichs auf die Kampfidee oder die Symbolkraft des Soldatischen zuruck- gegriffen.

In Bonhoeffers Schrifttum lassen sich Denk-Linien unterscheiden, die charak- teristisch fur seine Verwendung der militarisierten Sprache und fur eine reflek- tierte Distanzierung sind:

Haufig ist in seinen Predigten davon die Rede, dass Gott einen „Feldzug“ gegen den Menschen fuhrt, um ihn mit Gute zur Umkehr zu bewegen. Das Ge- schehen wird situationsgemaB sprachlich inszeniert. Das „fremde [...] gewaltta- tige, uberwaltigende Wort des Herrn“ ruft den Menschen in seinen Dienst. „Da hilft kein Widerstreben [...] Er ist Gefangener, er muB folgen“87.

Auffallig sind kategorische Erklarungen, mit denen die Predigt als „Kampf mit Damonen“ stilisiert wird. „Jede Predigt muB den Satan bezwingen. Jede Predigt schlagt eine Schlacht“88. „Verkundigung stellt in den Kampf, not- wendig, nach auBen, nach innen, und gegen sich selbst. Arbeit in der Verkun- digung ist nun einmal Kriegsdienst, ist harter Dienst. Wer nicht kampfen will, der lasse von diesem Amt“89. Es zeichnet sich eine Entwicklung ab, in deren Verlauf der Kampfbegriff sich zur Metapher verandert bzw. zum Signum des Christlichen90. Vom handgreiflichen Faktum „Kampf ‘ hatte Bonhoeffer sich ab- gegrenzt: „Der naturliche Mensch sucht die Bewahrung seiner Kraft im Aben- teuer, im Kampf, in der Begegnung mit dem Feind. Das ist das Leben. ,Und setzet ihr nicht das Leben ein, nie wird euch das Leben gewonnen sein‘. Nur das in den Tod gefahrdete Leben ist gewonnenes Leben. Das ist die Erkenntnis des naturlichen Menschen“91.

1938 entwarf er in einer Konfirmationspredigt das Ideal des „miles christianus“ mit starker Betonung der individualisierten Kampf-Metapher:

„Nicht nur Versuchung und Leiden, sondern vor allem Kampf wird euch euer Glaube bringen. Konfirmanden sind heute wie junge Soldaten, die in den Krieg ziehen, in den Krieg

Jesu Christi gegen die Gotter dieser Welt. Dieser Krieg fordert den Einsatz des ganzen Lebens. Sollte Gott, unser Herr, dieses Einsatzes nicht wert sein [?]. Der Kampf ist schon im Gange und ihr sollt jetzt mit einrucken. Abgotterei und Menschenfurcht stehen allenthalben gegen uns. Aber glaubt nicht, dass hier irgendetwas mit groBen Worten geschafft sei. Es ist ein Kampf mit Zittern und Zagen; denn der schwerste Feind steht ja nicht uns gegenuber, sondern in uns selbst. Ihr durft es wissen, daB gerade die, die mitten in diesem Kampf standen und stehen, es am allertiefsten erfahren haben: Ich glaube, lieber Herr (ja, lieber Herr), hilf meinem Unglauben. Und wenn wir trotz aller Versuchung doch nicht fliehen, sondern stehen und kampfen, so ist das nicht unser starker Glaube und Kampfesmut, unsere Tapferkeit, sondern es ist ganz allein dies, daB wir ja nicht mehr fliehen konnen, weil Gott uns festhalt, daB wir von ihm nicht mehr loskommen. Gott fuhrt den Kampf in uns und gegen uns und durch uns“92.

Die spiritualisierende Tendenz, mit der die Kampf-Metapher auf das Schlacht- feld im Inneren des Individuums verlagert wurde, hatte sich in dem MaBe ver- starkt, wie Bonhoeffer okumenische Erfahrungen und Reflexionen theologisch umgesetzt hat. Seit der Fan0-Konferenz (1934)93 gehort die pazifistische Uber- zeugung zu seinen Elementargrundlagen. An vorderster Stelle seiner Agenda stand Gottes Ruf zum Frieden. Gleichwohl erging an die Junger der Ruf zum Kampf. Denn der „Ruf in die Nachfolge unter das Kreuz Christi ist der Ruf in den ,Krieg‘ mit dieser Welt [] Nachfolge bedeutet kein ,geradewegs zum Himmel‘, sondern Kampf mit den Machten dieser Welt und das Wissen um das Ende des Kampfes. Dieser Krieg dient dem Frieden, den Gott gibt“94. Weil die Verhaltnisse dieser Welt von destruktiven Machten gelenkt werden, geht es nicht ohne kampferischen Einsatz fur den Frieden ab, allerdings ohne Kriegs- handlungen aufzunehmen. Bonhoeffer kann das Engagement fur den interna- tionalen Frieden geradezu als Gebot Gottes qualifizieren95.

Man spurt deutlich die muhsame Arbeit der Begriffsklarung, wenn „Kampf ‘ und „Krieg“ voneinander abgehoben oder im systematisch-theologischen Diskurs verortet werden sollen. Auch ist die rhetorische Situation der Predigt greifbar, die den Prediger notigt, den Vorstellungshintergrund seiner Sprache und die Plausibilitat der Begrifflichkeiten bei den Zuhorern kritisch zu bedenken. Bon- hoeffer weiB um die Aussagekraft der Kampf-Metapher96 und will Fehlgriffe vermeiden. Trotz Klarung und Abgrenzung verhindert das aber nicht, dass auf seine Satze der Schatten der Ambivalenz fallt.

6. Das Identitatsdilemma der „Jungen Theologen“

Wer sich in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zum Theologiestudium ent- schloB, begab sich in eine sturmische Gemengelage, in der ihn die Heraus- forderungen von Individuation und Sozialisation trafen. Einerseits befand das Individuum sich unterwegs zu seiner Ich-Identitat97, zum Erkennen und Ent- falten der eigenen Fahigkeiten und Moglichkeiten. Indem das Individuum be- wuBt das eigene Selbst als Aufgabe ubernahm, suchte es sich in der Wirklichkeit (Welt, Gesellschaft, Kirche u.a.) zu verorten. Sein Ziel war andererseits, MaB- stabe und Kriterien zu finden, eine innere Struktur, um mit den Erwartungen (Normen, Weisungen, Forderungen, Anspruchen), denen es in der Mitwelt aus- gesetzt war, selbstbestimmt umzugehen. Wir gehen davon aus, dass der Indi- viduationsprozess kein statischer und punktueller Vorgang war, sondern ein zeitlich offener Prozess, in dem das Individuum eine dialektische Einstellung (Affirmation und Abgrenzung) zu seiner sozialen Mitwelt einubte. Beide, das Individuum und die soziale Mitwelt, begegnen sich kontinuierlich in Kommu- nikationsvorgangen und Interaktionsprozessen. Den Erwartungen der Mitwelt an das Individuum ist in der Regel die Zusage mitgegeben, dass ihre Befolgung dem Ziel der Selbstfindung, der Identitat nicht nur naher bringt, sondern diese auch realisiert. An dieser Stelle kommt es meist zu einem Konflikt. Denn es gilt nicht als selbstverstandlich, dass der Einzelne sich fraglos nach dem richtet, was „man“ tun solle oder ubernimmt, was „allgemein“ oder „immer schon“ als rich- tig gegolten hat. Das Individuum will von den eigenen inneren Voraus- setzungen, Erwartungen, Bedurfnissen, Wunschen u.a. her urteilen. Dabei werden unterschiedliche Perspektiven offenbar, wenn der Einzelne Normen anders als die Gesellschaft deutet, Erwartungen enttauscht oder Anpassung verweigert. Im Vollzug der Individuation bildet sich (im Ideal-Fall) eine sog. „innere Reprasentanz“, ein mentales Modell, mit dessen Unterstutzung das Subjekt in der Gesellschaft auftritt.

Das skizzierte Modell von Identitatskonstitution versteht sich a) als le- benslanger Prozess, setzt b) die Beteiligung des Individuums in der Wech- selbeziehung mit der sozialen Mitwelt voraus und geht c) uber die Annahme hinaus, dass Selbstfindung im Wesentlichen aus der Rezeption institutionali- sierter Vorgaben (Werte, normative Ziele u.a.) besteht. Wir setzen in dieser Stu- die einen Zeitraum (fruhes 20. Jhdt.) voraus, in dem die klassische, auf Ganzheit und Integration in normative Strukturen gerichtete Identitatskonzeption in die Defensive gedrangt worden war oder gar ihre Plausibilitat verloren hatte. Trotz dieser Krise wurden Vertreter eines harmonistischen Identitatsideals nicht mude, ein Lebensideal zu proklamieren, das auf innerer Einheit, MaB, Gleichgewicht, wechselloser Selbstheit u.a.98 basierte. Die burgerliche Gesellschaft tat sich in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts schwer mit der Wahrnehmung der sozio-politischen Realitat, d.h., mit der Entwicklung, die das idealisierende Welt- und Menschenbild unterlaufen und destruiert hatte. Andererseits war nicht zu leugnen, dass die Erwartung, am Ende der Adoleszenzphase die allseits gebildete Personlichkeit in der Gesellschaft begruBen zu konnen, Illusion und Projektion zugleich war. In dem MaBe, wie sich die Glaubwurdigkeit traditio- neller Normen und Strukturen aufloste, wurde das Individuum auf sich zuruck- geworfen und sah sich genotigt, fur das Welt- und Selbstverhaltnis zu sorgen. Diese offene Situation fuhrte auch dazu, dass eine intensive Suche und enga- gierte Diskussion um den Identitatsbegriff einsetzte und die unterschiedlichsten Konzeptionen miteinander um Akzeptanz stritten. Zu den Ergebnissen dieser Konstellation gehorte zweifelsohne, dass der Identitatsbegriff sich als regula- tives Prinzip in der kulturellen Entwicklung durchgesetzt hatte und dass die par- tizipative Rolle des Subjekts in diesem Prozess nicht mehr zu ubersehen war99.

Die junge Generation stand nicht nur vor der Aufgabe der Selbstbestim- mung und -findung, sondern zugleich in der Spannung zwischen konkur- rierenden Angeboten der Lebensgestaltung. In der Gesellschaft der Weimarer Republik warben ideologisch fixierte Gruppen vor allem um die akademische Jugend, weil aus ihrer Mitte sich die Fuhrungselite rekrutierte. Von dieser Ten- denz (Reproduktion des eigenen Lagers) waren die Kirchen nicht ausgenommen. In nahezu allen Gruppierungen signalisierten Parolen des Aufbruchs eine Dyna- mik, die entweder vorwarts zu utopischen Zielen strebte oder in regressiven Visionen Vergangenes verklarte. Bundisches Denken knupfte an die Wander- vogeltradition an und verband „Identitatsfindung“ mit einer Vielfalt von poli- tischen, asthetischen und lebensreformerischen Impulsen.

Gehorte in der Vergangenheit Anpassung an und Unterwerfung unter das klassische Identitatsideal zur Adoleszenzphase, so bestimmte im fruhen 20. Jahrhundert „Diskontinuitat“ den Gang sozio-kultureller Entwicklung (Krise, Umbruche, Dissoziationen u.a.). Der Antagonismus von Beharrung und Auf- bruch brachte qualitative Sprunge und eine Dynamik der Verwerfungen hervor, ein Kontext, der konstruktive Ansatze der Ich-Findung nicht gerade unterstutzte. Es war einfacher, eine destruktive Richtung einzuschlagen als ein normal dun- kendes Ziel anzusteuern. Die Wertvorstellungen und Erwartungen der Vater- Generation hatten sich als gescheitert und mittelmaBig stigmatisiert. Attraktiver klangen die Botschaften, die den Weg zu sich selbst im Gefolge eines Charis- matikers verhieBen. Konkret stellte dieser Weg in Aussicht, sich selbst zu gewinnen, wenn der Einzelne sich in die Gemeinschaft Gleichgesinnter, ihres Wertekanons und ihres Fuhrers entauBerte. Im Kontext der Gemeinschaft und ihrer Ziele, so die Botschaft, wurde das Ich die Verstrickungen in burgerliches BewuBtsein und die Zerstreutheit in tausend Belanglosigkeiten uberwinden100.

Der Wille des Ich flieBe mit dem zusammen, was im Wollen der Gruppe prasent sei. Aus der Entscheidung fur die Gemeinschaft wurde der Wille des Indivi- duums neu konfiguriert hervorgehen, so dass es sich der Identitat gewiss sei (Gleichzeitigkeit mit sich selbst). Etwas Neues sei dieser Vorgang insofern, als die Identitat nicht von auBen komme oder von fremden Autoritaten/ Institu- tionen verliehen werde. Vielmehr sei unterhalb der Integration des Ich in die Gemeinschaft die Selbst-Referenz in allem Denken und Tun erkennbar.

In den Jahren des „Dritten Reiches“ verscharfte sich das intellektuelle und geistige Klima insofern, als die staatlich geforderte Christentumskritik Theo- logie und Kirche desavouierte und an den Rand drangte. Diese Entwicklung hatte schon fruh in Gestalt der GleichschaltungsmaBnahmen begonnen. Genauer, durch die Eingliederung der kirchlichen Jugendverbande in die HJ wurden die Foren fur Weitergabe von und Auseinandersetzung mit christlichem Tradi- tionsgut zerstort. Es kann als gesichert gelten, dass die antikirchliche Propa­ganda101 keine Werbung fur das Theologiestudium betrieben hat. Unbestritten sind aber auch die widersetzlichen Schritte, mit denen auf die repressiven MaB- nahmen reagiert worden ist.

Es ist nicht ubertrieben festzuhalten, dass in der Auseinandersetzung um den Identitatsbegriff ideologisierende Tendenzen die Oberhand behalten haben, zuletzt die Unterwerfungsforderungen des Nationalsozialismus. Darin erweist sich die Berechtigung der Behauptung von Th.W.Adorno, dass „Identitat die Ur- form von Ideologie“ sei102. Diese Erscheinungsform von Identitat beruht auf Zwang, formt das Individuum zum Abbild eines Kollektivs und endet in Er- starrung. Dabei hatte der Aufbruch Dynamik und Individualitat verheiBen. Warum ist die Entwicklung derart widerspruchlich verlaufen?

Um diese Frage zu klaren, soll ein Blick in die Diskussion uber den Vorgang „Identitatskon- stitution“ geworfen werden103.

In der vielgestaltigen Koexistenz von Individuum und sozialer Mitwelt begegnen sich beide standig in Kommunikations- und Interaktionsprozessen. Der Einzelne tragt zum Ge- lingen in beiden Sektoren bei, indem er seine Identitat „mitbringt“ bzw. „einbringt“104 M.a.W., er prasentiert seine Identitat, indem er zeigt, wer er ist, was er erwartet oder nach welchen Kriterien er vorzugehen gedenkt. „Identitat“ meint nicht das Selbstbild des Indi- viduums, vielmehr seine Besonderheiten, die ihn vor anderen auszeichnen. Im Prozess der Identitatskonstitution kommt eine Doppelstellung des Individuums zur Geltung. Es gehort zur Gesellschaft und steht ihr als Einzelner zugleich gegenuber. Diese Doppelpoligkeit gelingt in dem MaBe, wie dem Individuum die „Balance“ gelingt zwischen widerspruchlichen Erwar- tungen, zwischen Anforderungen der anderen und den eigenen Bedurfnissen [] zwischen dem Verlangen nach Darstellung dessen, worin es sich von anderen unterscheidet, und der Notwendigkeit, die Anerkennung der anderen fur seine Identitat zu finden“105. Entscheidend ist, dass der Einzelne in der Differenzerfahrung nicht in Passivitat verharrt, sondern den Kon- flikt annimmt und „abrustet“. Koexistenz gelingt, wenn es in der „Identitatsbalance“ zur Akzeptanz der Erwartungen auf beiden Seiten kommt. Dabei entspricht das Ergebnis einem „als ob“, weil keiner der Beteiligten seine Vorstellungen vollkommen umgesetzt hat. „Diese Balance auszuhalten, ist die Bedingung fur die Behauptung von Ich-Identitat“106.

Zu den strukturellen Bedingungen fur ein Gelingen von Kommunikations- und Interaktions- prozessen zahlt Krappmann die Befahigung zu Empathie, Rollendistanz, Ambiguitatstoleranz, Identitatsprasentation und das individuelle Sprachvermogen.

Als „Empathie“ bzw. „role taking“107 wird die kognitive Fahigkeit bezeichnet, sich in die Erwartungen, Intentionen o.a. der anderen zu versetzen. Indem das Individuum den Stand- punkt der jeweiligen Mitwelt antizipiert, kann es Strategien entwickeln, um die eigenen Be- durfnisse zu wahren und Grenzen zu ziehen im Balancierungsprozess. Dieser Mechanismus verhindert, dass der andere um berechtigte Anliegen gebracht wird, aber auch eigene Interessen gewahrt bleiben.

Weitere Grund-Bedingungen sind „Rollendistanz“108, d.h., die Fahigkeit, das Auf- treten und Agieren anderer zu reflektieren und zu deuten bzw. zwischen sich und anderen zu unterscheiden und die „Identitatsdarstellung“109 einzubringen. Ein Individuum, das um seine Selbstfindung bemuht ist, muB in der Lage sein, seine Erwartungen adaquat zu prasentieren und ebenso die der Mitwelt zu diskutieren. Es ist nicht von ungefahr, dass zur Veranschauli- chung der Beteiligung des Einzelnen der Vergleich mit der “Rolle“ im Theater angefuhrt wird.

Das Problem im gemeinsamen Bezugsrahmen der Beteiligten ist die Inkonsistenz ihrer Erwartungen und zwar als wahrgenommene wie als dargestellte. Denn in das Ergebnis flieBen die Beziehungen zwischen dem Individuum und den anderen ein. Nehmen die anderen eine Uber-Ich-Funktion wahr? Liegen Strukturen von Abhangigkeit vor? War der Einzelne in sei­ner Sozialisation InternalisierungsmaBnahmen ausgesetzt, die eine Pra-Disponiertheit aufge- baut haben?

Die entscheidende Grundqualifikation ist die sog. „Ambiguitatstoleranz“110. „Ambi- guitatstoleranz ist die fur die Identitatsfindung entscheidende Variable, da die Realitat keine Situation ohne konfligierende Identifikationen kennt“111. M.a.W., den Einzelne benotigt In- kongruenzen und Diskrepanzen zwischen Verhaltenserwartungen und Selbstanspruchen, weil die Arbeit an ihnen in seine Identitatskonstitution eingeht. Bereitschaft und Befahigung zu Ambiguitatstoleranz sind unterschiedlich stark ausgebildet und sind durch individuelle und soziale Faktoren bedingt. In dem MaBe, wie der Einzelne in der Lage ist, Ambivalenzen zu ertragen, gelingt es ihm auch, seine Ich-Identitat zu behaupten112. Im Negativmodus lasst sich eine Deskription dessen geben, worauf es ankommt, d.h., durch Einblick in die Abwehrme- chanismen, zu denen das Individuum greift, wenn es sich Diskrepanzen oder Konflikten entziehen will: Verdrangen, Vermeiden, Verleugnen, Umdeuten, Verzicht auf Eigenes, An- passung, Abbruch der Beziehungen, Ruckzug aus der Realitat. Immer geht es um eine Stra- tegie, die dem anderen Pol eine zentrale Bedeutung zuschiebt und sich von ihm abhangig macht, indem es das Selbst destruiert. Unter dieser MaBgabe kann es nicht zur „Ich-Kon- stitution“ kommen. Im Gegenteil, neurotische oder psychotische Storen stellen sich ein. Zur Erlangung von Ambiguitatstoleranz bedarf es fruhzeitiger Eingewohnung in die Bedingungen des sozialen Lebens, wo das Faktum „Konflikte“ begegnet und die Wahrnehmung von Rollen und Strategien eingeubt werden kann. Ich-Identitat benotigt Ambiguitatstoleranz zum Aus- balancieren der Inkonsistenzen113.

Der Vorgang „Identitatskonstitution“ als adoleszente Entwicklungsherausforde- rung in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg brachte zwei „Parteien“ zusammen, die von der epochalen Krise betroffen waren. Das suchende Ich und eine soziale Mitwelt (Familie, Altersgenossen, Gesellschaft, staatliche Einrichtungen, Kirche u.a.), die um Profil und Struktur besorgt waren. Das Ich will sich in der Wirk- lichkeit verorten, d.h., es sucht Zugehorigkeit, Anerkennung, Wertschatzung. Aus Zustimmung von seiner Mitwelt leitet der Einzelne Bestatigung ab, hort ein Echo und erhalt GewiBheit, dass die eigenen Kontrollinstanzen korrekt sind. Im Gegenzug wird er positiv auf die Erwartungen, die der soziale Kontext an ihn richtet, reagieren. Er wird sie rezipieren und internalisieren, da er keine Wider- stande uberwinden muBte. Der Balanceakt fallt unspektakular aus. In dem MaBe, wie derartige Erfahrungen zunehmen, kann dem Individuum ein konstruktives Verhaltnis zu sich selbst und zu seiner sozialen Mitwelt unterstellt werden. Selbst- und Weltverhaltnis befinden sich im Gleichgewicht. Autonomie des Selbst und das BewuBtsein der Angewiesenheit auf Resonanz treten in eine zirkulare Beziehung, die das Ich standig „kontrolliert“ und den Zufriedenheits- grad auf beiden Seiten konstant halt. Das Ich erkennt sich als „Kollage“ bzw. „Synthese“, an der fortgesetzt gearbeitet114 wird.

Der Prozess verlauft anders, wenn sich Differenz-Erfahrungen (Empfindungen von Distanz, Dissoziation, Umbruch, Kontingenz u.a.) ansammeln, die das Aus- balancieren des Ich unterlaufen. Das Individuum hat sein Ziel „Anerkennung“ durch Zugehorigkeit nicht aus den Augen verloren, doch scheitert die indi- viduelle Beteiligung, weil die Strategie nicht mehr auf die Grundqualifikationen (s.o.) zuruckgreifen kann. Die Ich-Identitat wird von einer Grundstimmung der Angst und Bedrohung uberwaltigt, die „regressive Reflexe“ auslost und das Projekt Selbstverortung in der Wirklichkeit zerstort. Hat das Individuum sich in eine illusionare Selbstwahrnehmung verstiegen? Hat es die Gemeinschaft in ihren Zielvorstellungen und Erwartungshaltungen verkannt?

In der Ideal-Strategie der Balance fuhrt der gekonnte Umgang mit gegen- satzlichen Erwartungen zu einer paradoxen Situation, in der Ambiguitat keine Anomalie darstellt, sondern das Spektrum der Moglichkeiten erweitert. Eine grundlegend andere Lage war eingetreten, als in der Zeit nach dem Ersten Welt- krieg ideologische Angebote die Wirklichkeit in dualistische Vorstellungs-Mo- delle zwangen (Freund-Feind-Denken), das Bestehende mythisierenden Speku- lationen unterwarfen, apokalyptisch eingefarbte Verfallsnarrationen ausstreuten oder die Norm- und Wertebasis auf den Kopf stellten. Angesichts derartig tota- lisierender Tendenzen konnte Identitatskonstitution nur Unterwerfung bedeuten. Wer dem Diktat nicht folgte, wurde von Differenzerfahrungen und der Angst vor Repressionen uberwaltigt. Wer nicht in chaotischer Unubersichtlichkeit untergehen wollte, suchte Schutz in einem Angebot zur Kollektiv-Identitat.

Was konnte der theologische Diskurs in einer sozio-kulturellen Konstellation, die von extremen Erwartungen und Anspruchen bestimmt war, zur Identitats­konstitution junger Menschen beitragen? Hatte der Protestantismus nicht durch seine Unterstutzung der herrschenden Machte in der Vergangenheit jegliche Glaubwurdigkeit verspielt? - Ein Hoffnungsfaktor war mit der sog. „Dialek- tischen Theologie“ erschienen, insofern sie eine radikale Distanz zwischen Theologie und gesellschaftlichen Kontexten forderte. Dies geschah in der Erwartung, dass die kritische Unterscheidung zwischen Gott und Mensch die Moglichkeit eroffnete, Gottes barmherzige Zuwendung zur Welt uberhaupt wahrzunehmen. In anderen Kreisen waren Luthers Schriften „entdeckt“ und fur die Gegenwart interpretiert worden. Der Einzelne traf bei der Suche nach der Einheit mit sich selbst auf die Rechtfertigungsbotschaft. Dem Suchenden wurde zugesagt, dass er gefunden worden sei, ehe er sich auf den Weg zu sich selbst gemacht habe. Wie ist das zu verstehen? - „Gott unterscheidet den Menschen von seinem Tun. Rechtfertigung bedeutet, dass der Mensch nicht mit seinem vergangenen Tun - und Nicht-Tun - identisch ist. Er ist nicht seine Tat. Sein Tun definiert ihn nicht. Pointiert formuliert: Rechtfertigung hat es zunachst mit personaler Differenz zu tun“115. Darin liegt also der Beitrag des theologischen Diskurses, dass Gottes barmherzige, bedingungslose und unbeeinfluBbare Zu­wendung zum Menschen offen gelegt wird, so dass aus Feindschaft Ge­meinschaft werden kann. Alles, was am faktischen Selbst des Menschen frag- wurdig und ablehnenswert ist (Umstande, Eigenschaften, Geschichte u.a.), haben keinen EinfluB auf Gottes Tun. Das heiBt jedoch nicht, dass das faktische Dasein amnestiert wird. Gottes barmherziges Ja zum Menschen ist nicht dif- ferenzlos, sondem impliziert ein Nein zu allem, was die Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch bzw. Mensch und Mitmensch in Frage stellt und zerstort. Indem das Individuum durch Gottes Zuwendung als bejahter Sunder in eine neue Gemeinschaft aufgenommen worden ist, hat sich an ihm eine Veranderung vollzogen. Es steht nicht mehr unter dem Diktat der Vergangenheit (faktisches Selbst), sondern erfreut sich der Zuwendung Gottes in einer durch Hoffnung qualifizierten Gegenwart (neue Existenz). „Die spezifisch theologische Sel- bigkeit des Menschen liegt darin, dass er fur Gott immer derselbe ist: ein trotz seiner Sunde von Gott Bejahter“116. Der Prozess, in den Gottes Tun den Ein- zelnen verwickelt hat, nimmt jetzt erst richtig Fahrt auf. Denn der Einzelne ist gerufen, sich mit seinem Lebenskontinuum auseinanderzusetzen. D.h., er hat den Umgang mit seinem Selbst in Vergangenheit und Gegenwart zu reflektieren und zwar unter der MaBgabe, dass er in der Polaritat zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit steht und diesen „Stand“ als „Synthesis“ realisiert. „Aus christ- licher Perspektive konstituiert sich der Mensch nicht durch einen Selbstbezug, sondern wird er durch Gott konstituiert. Solches ersetzt aber nicht seinen nach wie vor notwendigen Selbstbezug“117. Der durch das Evangelium eroffnete Glaube macht sensibel fur die Gefahr der „Verzweiflung“, wenn ein anderes Selbst als das von Gott geschenkte die Tagesordnung dominiert. Gleichzeitig wird der Selbstannahme das Wissen um ihren „offenen“ Charakter gegeben. D.h., der Einzelne verbohrt sich nicht in einen Habitus, sondern hat sein Selbst im Status des „Werdens“118.

Wenn wir diese modellhaften Uberlegungen zur Identitatskonstitution im theo- logischen wie im sakularen Diskurs mit der Lebenssituation der „Jungen Theo- logen“ in jener Epoche nach dem Ersten Weltkrieg zusammenbringen, laBt sich erahnen, vor welch existentieller Herausforderung jeder Einzelne stand. Der ideologisch dominierte Horizont lieB einen eigenen Beitrag des Suchens, Irren eingeschlossen, nicht zu. Das Ziel „Selbst-Bestimmung“ geriet immer mehr unter ideologische Vorzeichen, bis die „Volks-Gemeinschaft“ den exklusiven Zugang zur Identitat regelte. Andererseits wuBten die „Jungen Theologen“ sich in einem Referenzgefuge, das den politischen und sozio-kulturellen Plausi- bilitaten der Zeit diametral entgegengesetzt war. Wer seine „Theologische Existenz“ im Horizont des Ersten Gebotes, der Rechtfertigungsbotschaft bzw. der christologisch orientierten Nachfolge begrundet wusste, konnte keinen Kom- promiB mit den Leitbildern des Zeitgeistes schlieBen. Im Kontext des Entweder- Oder gab es nichts zum Ausbalancieren. Es sei denn, der „Junge Theologe“ war bereit, die ihm zugesprochene Identitat (Gottes barmherziges JA) zu verraten.

Die „Jungen Theologen“ sahen sich bald in einen „Kampf ‘ verwickelt, der sie in Studium, Vikariat, gemeindlichen Verpflichtungen und individuellen Entscheidungen in Extremsituationen fuhrte. Wer die Gleichzeitigkeit mit Chri- stus leben wollte, geriet schneller als ihm lieb war, in eine lebensgefahrliche „Ungleichzeitigkeit“119 mit staatlichen Anspruchen. Nachfolge Christi impliziert immer Distanz zur Welt, paulinisch gesprochen, eine Existenz unter dem Vor- zeichen des „haben als hatte man nicht“ (vgl. 1 Korinther 7,29-31)120. Nachfolge Christi setzt immer Entscheidung voraus und impliziert folglich die herme- neutische Befahigung zum Unterscheiden. M.a.W., die im Glauben vollzogene Annahme des Selbstseins des Selbst (das zu sich gekommene Subjekt) muB nicht mehr durch die Welt legitimiert werden. Das Individuum kann sich un- bedenklich von ihr abgrenzen, weil Gottes barmherzige Zuwendung zum sundigen Menschen mit einer Entmachtung der Welt einhergegangen ist. An dieser Stelle wird jedoch das Dilemma offensichtlich, das durch die „Einzelheit“ des Individuums121 in gesellschaftliche Zusammenhange eingefuhrt wird und den lebensweltlichen Kontext irritiert. Zwangslaufig hat die Identitatsarbeit des Christenmenschen zu einer doppelten Abgrenzung genotigt. Wenn namlich Gottes vorgangige Gnade den Menschen angenommen hat, ist Identitat als Zielbestimmung menschlicher Leistung ausgeschlossen. Daraus folgt, dass andere identitatsstiftende Machte in diesem Vorgang keine Rolle spielen. Vielmehr ist der Einzelne gefragt, ob er die zugesagte Identitat annimmt bzw. ob er glaubt. Das fuhrt ihn weiter in den Prozess der Selbstannahme, d.h., in den Umgang mit der eigenen Lebensgeschichte in Vergangenheit und Zukunft.

[...]


1 In besonderer Weise gilt das fur die Frauen in der „Bekennenden Kirche“ und im „Kir- chenkampf‘; vgl. Wolfgang See/ Rudolf Weckerling (Hg.). Frauen im Kirchenkampf. Beispiele aus der Bekennenden Kirche Berlin-Brandenburg 1933 bis 1945, Berlin 1984; Hannelore Erhart, Die Theologin im Kontext von Universitat und Kirche zur Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, in: Leonore Siegele-Wenschkewitz/ Carsten Nicolaisen (Hg.), Theologische Fakultaten im Nationalsozialismus, Gottingen 1993, S. 223-249; Hannelore Erhart u.a. (Hg.), Katharina Staritz 1903-1953. Dokumen- tation Bd. 1, Neukirchen-Vluyn 1999; Hannelore Erhart u.a., Von der Gestapo verfolgt, von der Kirchenbehorde fallengelassen: Katharina Staritz (1903-1953), Neukirchen-Vluyn 2002; Dagmar Herbrecht, Die mutigen Frauen des Kirchenkampfes in einer protestan- tischen Mannergesellschaft, in: Manfred Gailus/ Hartmut Lehmann (Hg.), Nationalprote- stantische Mentalitaten, Gottingen 2005, S. 341-359; Manfred Gailus (Hg.), Elisabeth Schmitz und ihre Denkschrift gegen die Judenverfolgung. Konturen einer vergessenen Bio- graphie (1893-1977), Berlin 2008; MANFRED Gailus, Mir aber zerriss es das Herz. Der stille Widerstand der Elisabeth Schmitz, Gottingen 2010; Manfred Gailus/ Clemens Vollnhals (Hg.), Mit Herz und Verstand. Protestantische Frauen im Widerstand gegen die NS-Rassen- politik, Gottingen 2013; Claudia Lepp, Marga Meusel und Elisabeth Schmitz. Zwei Frauen, zwei Denkschriften und ihr Weg in die Erinnerungskultur, in: Siegfried Hermle/ Dagmar Popping (Hg.), Zwischen Verklarung und Verurteilung. Phasen der Rezeption des evangeli- schen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus nach 1945, Gottingen 2017, S. 285-302. - Den genderhistorischen Aspekt hat Olaf Blaschke herausgestellt: „Wenn irgendeine Geschichtszeit, so ist die unsere eine Mannerzeit“. Konfessionsgeschlechtliche Zuschrei- bungen im Nationalsozialismus, in: Manfred Gailus/ Armin Nolzen (Hg.), Zerstrittene „Volksgemeinschaft“. Glaube, Konfession und Religion im Nationalsozialismus, Gottingen 2011, S. 34-65; Manfred Gailus, Die mutigen Frauen des sogenannten Kirchenkampfes und warum die Kirche sie nach 1945 so grundlich vergessen hat, in: theologie. geschichte, Zeitschrift fur Theologie und Kulturgeschichte (Saarbrucken), Beiheft 8 (2013), S. 211-232; 228 (weitere Literatur).

2 Vgl. Bernd Schoppmann, Bonhoeffers unbekannte Schuler. Vikare in Finkenwalde - Pfarrer in der Rheinischen Kirche, Bonn 2013.

3 Vgl. z.B. Joachim Mehlhausen, Art. Nationalsozialismus und Kirchen, in: TRE XXIV (1994), S. 43-78; Gunther van Norden, Zwischen Patriotismus und Bekenntnis. Der deut­sche Protestantismus 1920-1950, in: Evangelische Theologie 54 (1994), S. 61-78; DERS., Zwei Aspekte kirchlicher Zeitgeschichte, in: Transparent-Extra Nr. 94 (2009), S. 1-12. - Mittlerweile gehen viele Untersuchungen davon aus, dass der „Kirchenkampf“ langst vor 1933 begonnen hatte.

4 Eberhard Bethge, Zwischen Bekenntnis und Widerstand. Erfahrungen in der AltpreuBi- schen Union, in: DERS., Bekennen und Widerstehen. Aufsatze, Reden, Gesprache, Munchen 1984, S. 141-150; 145.

5 Ein Freund Karl Barths, Arthur Frey, meldete 1949 von der Schweiz her Bedenken an: „Es ist um den deutschen Kirchenkampf ein derartiger Mythos entstanden, daB eine Entmytholo- gisierung des deutschen Kirchenkampfes zu einer dringlichen Aufgabe geworden ist, denn dieser Mythus muB zum Fluch der Kirche werden. Er racht sich schon heute furchtbar, indem der Mythus die guten Anfange, die im deutschen Kirchenkampf immerhin sichtbar wurden, verdeckt und ersticke. Warum braucht es eine Erneuerung der Kirche, wenn sie sich in der ge- waltigen Katastrophe, die der Nationalsozialismus fur das deutsche Volk bedeutete, im Gan- zen bewahrt hat?“ (Arthur Frey, Kirchen im Gericht, Zollikon-Zurich 1949, S. 15f).

6 Fur die Jahre 1933-1935 hat van Norden als Signatur „Konsens im Patriotismus - Dissens im Bekenntnis“ und fur die Zeit danach „Konsens im Bekenntnis - Dissens im Patriotismus“ vorgeschlagen (vgl. ders.1994, S. 61-78).

7 Van Norden (2009), S. 10.

8 Der Begriff ist dem Werk von WOLFGANG SCHERFFIG, Junge Theologen im „Dritten Reich“, Band I.-III., Neukirchen-Vluyn 1989/ 1990/ 1994 entlehnt. Schwerpunkt dieser breit angelegten Dokumentation ist die Rheinische Provinzialkirche in der AltpreuBischen Union.

9 Alfred Burgsmuller, Theologenausbildung im Kirchenkampf, in: Helmut Begemann/ Carl Heinz Ratschow (Hg.), Kirchlicher Dienst und theologische Ausbildung, Festschrift fur Dr. Heinrich Reiss, Bielefeld 1985, S. 177-202; 184.

10 Burgsmuller (1985), ibd.

11 Siegfried Hermle / Rainer LAchele/ Albrecht Nuding (Hg.): Im Dienst an Volk und Kirche. Theologiestudium im Nationalsozialismus. Erinnerungen, Darstellungen, Dokumente und Reflexionen zum Tubinger Stift 1930 bis 1950, Stuttgart 1980; vgl. SIEGFRIED Hermle, Theologiestudium in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Evangelische Theologie 48 (1988), S. 555-560. Schon fruher haben Martin Fischer (Studenten im Kirchenkampf, in: ders., Wegemarken, Berlin 1959/ 1960, S. 114-141) und Heinrich Vogel (Das erste Stadium 1935­1945, in: ders./ GUnther Harder (Hg.), Weg und Aufgabe der Kirchlichen Hochschule Berlin 1933-1955, Berlin 1956) diesen Bereich besprochen.

12 Burgsmuller (1985), S. 180. - Seit 1933 gab die Rede von der „erneuerten Universitat“ den Ton an im akademischen Horizont. Was das bedeutete, zeigen die Nachrichten von der Theologischen Schule Bethel, wo der Geist des Wehrsports und der Kameradschaftshauser die Macht ubernommen hatte (s. Anhang IV./ B. Nr. 6ff). Vgl. Bernd Martin (Hg.), Martin Heidegger und das „Dritte Reich“. Ein Kompendium, Darmstadt 1989, u.a. S. 168f (Auszug aus der Rektoratsrede vom 27. Mai 1933 in Freiburg) oder S.178-183 („Die Universitat im nationalsozialistischen Staat“, Vortrag in Tubingen am 30. November 1933); Kurt NOWAK, Protestantische Universitatstheologie und „nationale Revolution^ Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte des „Dritten Reiches“, in: Leonore Siegele-Wenschkewitz/ Carsten Nicolaisen (1993), S. 89-112.

13 Burgsmuller (1985), S. 182. - An der Albertus-Universitat in Konigsberg hat die Theo- logische Fachschaft zusammen mit den Professoren H.J.Iwand, M.Noth, J.Schniewind regel- maBig alternative Ferienseminare organisiert und in offentlichen Veranstaltungen die Ver- treter der DC-Linie herausgefordert (vgl. „Evangelische Verkundigung heute!“, Bekennende Kirche heute Nr. 25, Munchen 1935). Einer der profiliertesten Sprecher war Ulrich Sporleder, der spatere Pastor von Marienwerder, vgl. >www.de.wikipedia.org/wiki/Ulrich Sporleder<; (Zugriff 10.10.2018).

14 Vgl. Wilhelm Niesel, Kirche unter dem Wort. Der Kampf der Bekennenden Kirche der AltpreuBischen Union 1933-1945, Gottingen 1978, S. 39ff; Hans Thimme, Die westfalische Bruderschaft der Hilfsprediger und Vikare im Kirchenkampf 1933-1945, in: Jahrbuch des Vereins fur westfalische Kirchengeschichte 85 (1991), S. 287-346; Scherffig (1989/ 1990/ 1994).

15 Vgl. Bernd Hey, Die Kirchenprovinz Westfalen 1933-1945, Bielefeld 1974, S. 125ff; 306ff; Scherffig (1994), S. 164ff

16 Dem entsprachen AuBerungen auf studentischer Seite; vgl. Scherffig (1994), S. 45ff: „Was erwarten Studenten von den Theologischen Fakultaten?“

17 Karl Barth, Theologische Existenz heute!, Munchen 1933, S. 3. - In seiner homileti- schen Ubung gab Barth am 30. Mai 1933 eine Erklarung ab, die in das Protokoll aufgenom- men wurde; vgl. S. 10f in der von Hinrich Stoevesandt 1984 herausgegebenen und ein- geleiteten Fassung von „Theologische Existenz heute!“; s. Anhang IV./ F.Nr.1. Ferner: DERS., „Von der Kirchenpolitik zur Kirche!“. Zur Entstehungsgeschichte von Karl Barths Schrift „Theologische Existenz heute!“ im Juni 1933, in: Zeitschrift fur Theologie und Kirche 76 (1979), S.118-138. Ferner ERNST WOLF, Barmen. Kirche zwischen Versuchung und Gnade (1957), Munchen 31984, S. 66f. - Die theologiegeschichtliche und kirchenpolitische Bedeutung des Eingreifens Karl Barths in die Ereignisse stellt Heinz Eduard Todt in: ders., Komplizen, Opfer und Gegner des Hitlerregimes. Zur „inneren Geschichte“ von protestan- tischer Theologie und Kirche im „Dritten Reich“ (Gutersloh 1997, S. 68ff und 115ff) dar. Aus der Diskussion uber Barths Schrift sei nur Hanns Lilje, Theologische Existenz und kirch- liches Handeln (in: Junge Kirche 1 1993, S. 137-147) genannt.

18 Rudolf Bultmann, Die Aufgabe der Theologie in der gegenwartigen Situation (1933), in: Andreas Lindemann (Hg.), Neues Testament und christliche Existenz. Theologische Aufsatze, Tubingen 2002, S. 172-180.

19 Bultmann (2002), S. 175.

20 Bultmann (2002), ibd.

21 Bultmann (2002), S. 177.

22 Bultmann (2002), S. 179.

23 Im Sommersemester 1933 las Hans von Soden uber „Geschichte der christlichen Kirche im Zeitalter der Reformation und Gegenreformation“.

24 In: Erich und Erika Dinkler, Theologie und Kirche im Wirken Hans von Sodens. Brie- fe und Dokumente aus der Zeit des Kirchenkampfes 1933-1945, Gottingen 1984, S. 37-43. Vgl. zu R.Bultmann und H.von Soden NOWAK (1993), S. 95f.

25 Dinkler (1984), S. 39.

26 Dinkler (1984), S. 42f.

27 Text in: Kurt Dietrich Schmidt, Die Bekenntnisse und grundsatzlichen AuBerungen zur Kirchenfrage des Jahres 1933, Gottingen 1934, S. 189ff.

28 Text in: Schmidt (1934), S. 178ff. - Vgl. Andreas Lindemann, Neutestamentler in der Zeit des Nationalsozialismus. Hans von Soden und Rudolf Bultmann in Marburg, in: Wort und Dienst NF 20 (1989), S. 25-52.

29 In seiner Vorlesung uber die Korintherbriefe am 15. Juni 1937 nahm Hans von Soden offentlich Stellung gegen eine Denunziation seines Engagements in der „Bekennenden Kir- che“. Die Anzeige war (vermutlich) aus dem Horerkreis gekommen. Von Soden verwahrte sich gegen Unterstellungen und forderte „gegenseitiges Vertrauen und gegenseitige Ehrer- bietung“ in der „akademischen Lehr- und Lerngemeinschaft“ (Dinkler 1984, S. 212f; 213).

30 Heinrich Schlier, Die kirchliche Verantwortung des Theologiestudenten, Theologische Existenz heute 36, Munchen 1936. - Zu Person und Werk Heinrich Schliers (1900-1978) vgl. Hartmut Aschermann/ Wolfgang Schneider (Hg.), Studium im Auftrag der Kirche. Die Anfange der Kirchlichen Hochschule Wuppertal 1935-1945, Bonn/ Koln 1985, S.80; 102ff; 238ff; 303f u.o.; Werner Loser, Das Wort Gottes und die Kirche. Annaherungen an das Werk Heinrich Schliers, Wurzburg 2018.

31 Vgl. Schlier (1936), S. 5ff.

32 Schlier (1936), S. 4.

33 Schlier (1936), S. 7.

34 Schlier (1936), S. 9.

35 Schlier (1936), S. 5.

36 Schlier (1936), S. 16.

37 Schlier (1936), S. 18.

38 Schlier (l936), S. 19.

39 DBW XII, S. 416-419.

40 DBW XII, S. 416.

41 Ibd. - Der Fromme „hat Lust zum Gesetz des Herrn“ (Psalm 1,2).

42 DBW XII, S. 416f

43 Ibd.

44 DBW XII, S. 418. - Bonhoeffer argumentiert in „Akt und Sein“ (1931) mit der theologi­schen Unterscheidung von “actus directus“ und „actus reflexus”, mit der er seinen transzen- dentalen Ansatz (DBW II [Gutersloh 22002], S. 27ff; vgl. DBW XII, S. 178ff) kenntlich macht. Unabhangig vom „actus reflexus“ wird der „actus directus“ (in der scholastischen Theologie/ Thomas von Aquin bezeichnet der Begriff die Vollkommenheit und absolute Tatigkeit Gottes) als existentielles, geschichtliches Ereignis beschrieben. Denn jener, d.h., die Theologie, ist immer nachgeordnet. Dagegen liegt „das Wesen des actus directus [] nicht in seiner Zeitlosigkeit, sondern in der nicht wiederholbaren, weil von Gott freigegebenen Intentionalitat auf Christus, d.h. durch seine die Existenz - und eben gerade die ge- schichtliche, zeitliche Existenz in ihrer Ganzheit - beruhrende Art“ (DBW II, S. 95). Dem-nach ist der Glaube ein spezifisches Erkenntnisvermogen, das dem menschlichen Zugriff („Verobjektivierung“) entzogen ist. Der Glaube ist selbst „actus directus“. Bonhoeffer hat nach eigenen Angaben (DBW II, S. 23; 158 u.o.) das Unterscheidungs-Raster von Franz Delitzsch (System der biblischen Psychologie, 1855) entlehnt und auch durch Verweise auf Wilhelm Dilthey verstarkt. Vgl. Ernst Georg Wendel, Studien zur Homiletik Dietrich Bonhoeffers, Tubingen 1985, S. 117ff; Friederike Barth, Die Wirklichkeit des Guten. Dietrich Bonhoeffers „Ethik“ und ihr philosophischer Hintergrund, Tubingen 2011, S. 89ff.

45 Vgl. 1. Johannes 4, 1.

46 DBW XII, S. 419.

47 Ibd.

48 Im Hinblick auf das handwerkliche, philologische Ethos des Auslegers denkt Bonhoeffer wie Max Weber in seinem Artikel „Wissenschaft als Beruf“ (1917/19, hrsg. von Wolfgang J.Mommsen und Wolfgang Schluchter, Tubingen 1992).

49 Ibd.

50 Bonhoeffer greift hier auf Uberlegungen zuruck, die er am 1. Februar 1933 in einem Rundfunkbeitrag vorgetragen hatte: „Der Fuhrer und der Einzelne in der jungen Generation“ (DBW XII, S. 242-260; vgl. 240-242; ferner: BETHGE 2005, S. 307ff). Es handelt sich um eine phanomenologische Betrachtung des Fuhrerbegriffs vor dem Hintergrund der Jugend- bewegung und im Hinblick auf das aktuelle kulturpolitische Setting. Seine Perspektive als Theologe ermoglicht es Bonhoeffer, die Problematik und Gefahren eines verabsolutierten Fuhrerbegriffs zu benennen.

51 DBW XII, S. 419.

52 Darauf hat Hans Pfeifer aufmerksam gemacht (Die Bedeutung der Jugendbewegung fur Dietrich Bonhoeffer, in: Dietrich Bonhoeffer Jahrbuch 2003, Gutersloh 2003, S. 74-92; 82ff).

53 DBW XII, S. 259. Man beachte die kierkegaardsche Kategorie „des Einzelnen“.

54 DBW X, S. 377. Am Ende seiner Antrittsvorlesung in Berlin (31. Juli 1930) „Die Frage nach dem Menschen in der gegenwartigen Philosophie und Theologie“ verbindet Bonhoeffer sein Existenzverstandnis mit dem Grundgedanken der Ekklesiologie.

55 Ibd.

56 Vgl. DBW XII, S. 256f.

57 DBW XII, S. 192f. Kontext ist die dogmatische Ubung „Theologische Psychologies

58 Karl Barth, Das Erste Gebot als Theologisches Axiom, in: ders., Theologische Fragen und Antworten, Gesammelte Vortrage Bd. 3, Zurich 1957, S. 127-143. - Der Aufsatz geht auf einen Vortrag zuruck, den Barth am 10. Marz 1933 in Kopenhagen und am 12. Marz 1933 in Aarhus gehalten hatte.

59 Barth (1957), S. 130.

60 Barth (1957), S. 131.

61 Barth (1957), S. 132.

62 Ibd.

63 Barth (1957), S. 136.

64 Vgl. Barth (1957), S. 136ff.

65 Barth (1957), S. 138.

66 Barth (1957), S. 142.

67 Barth (1957), S. 143.

68 Karl Barth (1933), S. 5.

69 Barth (1933), S. 6.

70 Barth (1933), S. 40. - Stoevesandt (1984, S. 163f) nimmt einen Hinweis von K.G. Steck auf, der bei Barth eine Anspielung auf Psalm 102, 8 erkennt. Nicht ausgeschlossen ist auch eine Referenz auf Luthers Auslegung dieser Psalmstelle (1517): „Wachen aber ist anhangen dem ewigen gute und nach dem selben sehnen. Aber darynne ist er allein und nie- mant mit yhm, dann sie schlaffen alle. Und er sagt, auff dem dach, als sprech her, die werlt ist eyn hauB, darynne sie alle schlaffen unnd beschloBen ligen, ich aber allein byn auBer dem hauB, auff dem dach, noch nit ym himel, und auch nit yn der werlt, die werlt hab ich unnder myr und den hymel uber myr, alBo zwischen der werlt leben und dem ewigen leben eynsam ym glauben schwebe“ (WA 1, 199, Z. 1-7).

71 Vgl. Klaus Scholder, Neuere Geschichte und protestantische Theologie, in: ders., Die Kirche zwischen Republik und Gewaltherrschaft. Gesammelte Aufsatze, hrsg. v. Karl Ot- mar von Aretin und Gerhard Besier, Berlin 1988, S.75-97; 82.

72 Man denke z.B. an ERNST JUNGER, Der Kampf als inneres Erlebnis, Berlin 1922; vgl. dazu Christian Graf von Krockow, Die Entscheidung. Eine Untersuchung uber Ernst Junger, Carl Schmitt und Martin Heidegger, Stuttgart 1958, S. 44-54.

73 GroBen EinfluB in intellektuellen Kreisen gewann Georges Sorel mit seinen Refle­xions sur la violence“ (1908; dt. 1928). Vgl. Klaus Grosse Kracht, Georges Sorel und der Mythos der Gewalt, in: >http://www.zeithistorische-forschungen.de/1-2008/id=4503< THO­MAS Mann kommt in „Doktor Faustus“ (Frankfurt/ Main 1967, S. 486ff) auf Sorel zu spre- chen.

74 Ernst Bertram, Nietzsche, Berlin 1922, S. 45; zitiert bei Hans Schwerte, Faust und das Faustische. Ein Kapitel deutscher Ideologie, Stuttgart 1962, S. 270.

75 Titel eines Buches von Ernst Junger (Leipzig 1922).

76 Vgl. Bernd A. Rusinek, Krieg als Sehnsucht. Militarischer Stil und „junge Generation“ in der Weimarer Republik, in: Jurgen Reulecke u.a. (Hg.), Generationalitat und Lebensge- schichte im 20. Jahrhundert, Munchen 2003, S. 126-144; 133ff.

77 Vgl. Rudiger Ahrens, Bundische Jugend. Eine neue Geschichte 1918-1933, Gottingen 2015, S. 141ff; 377f; 380ff.

78 Zitiert nach Ahrens (2015), S. 148.

79 S. u. S. 313ff

80 Vgl. z.B. Ernst Sommer, Christliche Kampflieder der Deutschen, in: Musik und Kirche 5 (1933), S. 297-304. Ferner die von E.Sommer in Verbindung mit Konrad Ameln und Wil­helm Thomas vorgelegte Sammlung gleichen Titels (Kassel 1933).

81 Hans-Joachim Sonne (Die politische Theologie der Deutschen Christen. Einheit und Vielfalt deutsch-christlichen Denkens, dargestellt anhand des Bundes fur deutsche Kirche, der Thuringer Kirchenbewegung ,Deutsche Christen‘ und der Christlich-Deutschen Bewegung, Gottingen 1982) bespricht S. 107ff Arbeiten des mecklenburgischen Landesbischofs Heinrich Rendtorff, der den „Kampf als dynamisches Grundphanomen der Historie“ beschwort. Auch Emanuel Hirsch kommt als Prediger einer christlich getunchten Kampfmetaphysik zu Wort.

82 Diese Einstellungen versteht man besser, wenn man den philosophisch-ideologischen Diskurs in Rechnung stellt, der durch Carl Schmitt (Freund-Feind-Schema; Logik des Dezi- sionismus) in die Debatten eingefuhrt worden ist. Vgl. Krockow (1958), S. 54ff; 94ff.

83 Paul Sturm, Kirche und neues Lied, in: Deutsches Pfarrerblatt, Nr. 42 (1936), S.743- 750.

84 Sturm (1936), S. 744f. - Seine Positionierung signalisiert der Autor mit einem Leitwort am Anfang: „Nicht lange beim Vergangenen zu weilen, unbedingt nach vorn zu sinnen, das ist heute im Jahre der deutschen Wiedergeburt eine Haltung, die sich aufdrangt (Hermann Burte)“.

85 Sturm (1936), S. 745.

86 Wendel (1985), S. 205. - In einem Vortrag uber „Grundfragen einer christlichen Ethik“, gehalten wahrend der Zeit in Barcelona, heiBt es: „In der furchtbaren Erkenntnis etwas Ent- setzliches zu tun, aber doch nicht anders zu konnen, werde ich meinen Bruder, meine Mutter, mein Volk schutzen und weiB doch, daB das nur durch BlutvergieBen geht; aber die Liebe zu meinem Volk wird den Mord, wird den Krieg heiligen“ (DBW X, S. 338).

87 Aus einer Predigt uber Jeremia 20, 7 (London 1934); DBW XIII, S. 347-351.

88 Aus der „Finkenwalder Homiletik. 1935-1938; III. Der Zeuge“; DBW XIV, S. 527-530. - Auffallig apokalyptische Tone klingen in einer Reformationspredigt aus dem Jahre 1932 an, wenn der Prediger feststellt, „daB wir in der zwolften Stunde der Lebenszeit unserer Kirche stehen, daB also nicht mehr viel Zeit bleibt, bis es sich entscheidet, ob es aus ist mit unserer Kirche oder ob ein neuer Tag beginnt“ (DBW XII, S. 432). Diese Linie halt sich durch: der Antichrist sitzt in der Reichskirchenregierung in Berlin (vgl. DBW XIV, S. 392; 666). Mit diesem Gegner befindet sich die bekennende Gemeinde in einem „Kampf um Leben und Tod“. Mit Kriegsbeginn ruckt der seelsorgliche Aspekt (trostender Zuspruch) in den Vordergrund; vgl. den Rundbrief vom 20. September 1939 an die „Finkenwalder“, in: Todt (2013), S. 450ff

89 Aus: Notizen und Stichworte zur Ubung uber die Pastoralbriefe (Sommer 1938), DBW XIV, S. 954f.

90 Vgl. Bonhoeffers Vortrag zur Geschichte des evangelischen Kirchenliedes: DBW XIV, S. 717 (zu Paul Gerhardts Liedern).

91 In der Bibelarbeit uber die sechste Bitte des Vaterunsers (DBW XV, S. 371-406; 371). - Bonhoeffer zitiert aus dem Lied „Wohlauf Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd...“, mit dem Schillers „Wallensteins Lager“ (1797) schlieBt. Diesen Hinweis verdanke ich Ferdinand SCHLINGENSIEPENs Aufsatz „Bonhoeffers Gedanken uber den Tod in der christlichen Bot- schaft“, in: IGB (Hg.), Bonhoeffer Rundbrief Nr. 120 (2018), S. 40-71; 44f.

92 DBW XV, S. 476-481; 481. Predigttext war Markus 9,24 (Ich glaube, lieber Herr, hilf meinem Unglauben.). Der Begriff „Kampf ‘ begegnet auffallig oft in Bonhoeffers Predigt. In dem Gottesdienst am 9. April 1936 in Kiekow (Gut der Familie Kleist-Retzow) wurden Maxi­milian von Wedemeyer, Spes von Bismark und Hans-Friedrich von Kleist-Retzow konfir- miert.

93 Vgl. Eberhard Bethge, Dietrich Bonhoeffer. Theologe - Christ - Zeitgenosse. Eine Bio- graphie, Gutersloh 92005, S. 433ff; Wolf Krotke, Pazifismus und Widerstand bei Dietrich Bonhoeffer. Zur Friedensrede auf der Fan0konferenz 1934, in: DERS., Barmen - Barth - Bonhoeffer. Beitrage zu einer zeitgemaBen christozentrischen Theologie, Bielefeld 2009, S. 403-422.

94 Wendel (1985), S. 223.

95 Vgl. DBW XI, S. 344-347; Bethge (2005), S. 294ff

96 Vgl. Wendel (1985), S. 232f.

97 Bei den folgenden Uberlegungen wird u.a. auf Lothar Krappmann, Soziologische Di- mensionen der Identitat. Strukturelle Bedingungen fur die Teilnahme an Interaktionsprozes­sen, Stuttgart 71988; Henning Luther, Religion und Alltag. Bausteine zu einer praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992, bes. S. 150-159 (Umstrittene Identitat) und S. 160­182 (Identitat und Fragment) sowie Heiner Keupp u.a., Identitatskonstruktionen. Das Patch­work der Identitaten in der Spatmoderne, Reinbeck 52013 zuruckgegriffen. Vgl. auch Odo Marquard/ Karlheinz Stierle (Hg.), Identitat, Munchen 1979.

98 Man lese nur nach, was Eduard Spranger in „Wilhelm von Humboldt und die Human- itatsidee“ schreibt: „Denn das eine darf dem andern nicht vorwegeilen, wenn nicht das innere MaB und die innere Einheit gestort werden soll. Denken und Handeln, Tun und Schauen mussen in stetem Gleichgewicht miteinander gehalten sein. Darauf beruht die innere Gei- steseinheit. Alle Verrichtungen des Geistes werden dann in ihrer ewigen Einheit angeschaut. Das BewuBtsein der ganzen Menschheit fuhlt man dann in sich - in stiller Ruhe und wechselloser Einfalt. Man kann nicht mehr aus seines Lebens Mitte herausgeworfen werden, nicht mehr an etwas Vereinzeltes sich verlieren, sondern man ist Totalitat geworden. Selbst- bildung und Rezeptivitat halten sich das Gleichgewicht, statt daB etwas Einzelnes auf das Innere einsturmt und es aus seinen Bahnen wirft. Eine schone innere Gestaltungskraft ist dann dem Geiste eigen, eine wahre innere Form und Harmonie. Selbst der Gegensatz der Lebens- alter wird durch solche innere Klarheit, Selbstheit und GleichmaBigkeit aufgehoben“ (zitiert nach Henning Luther 1992, S. 156).

99 Vgl. Henning Luther (1992), S. 151; 161.

100 Ein Echo der „Gemeinschaftsrhetorik“ findet sich auch bei Dietrich Bonhoeffer. Schon in seiner Antrittsvorlesung 1932 hatte er die Problematik der inneren Koharenz reflektiert (vgl. DBW XIV, S. 542ff; XII, S. 178-199) und die Begegnung von Ich und Du im Blick. Im Predigerseminar Finkenwalde behandelte eine Vorlesung das Thema „Psychologie und Theologie“. Die Darstellung umkreist das Verhaltnis von Reflektieren und Existieren. Das Reflektieren sieht Bonhoeffer durchaus kritisch; es tragt zur Entzweiung bei. Auf den Akt des Existierens kommt es an, und der soll auf „Ganzheit“ gerichtet sein. Existieren heiBt, „sich selbst in seiner Ganzheit Gott“ hingeben, also eine Entscheidung treffen (vgl. XII, S. 181). Vgl. auch DBW VI, S. 302-315 (Ethik-Fragment). - Bonhoeffers Rede von „Ganzheit“ grundet in der Verschrankung von Bibel-Lekture und Existenz als Christ (vgl. die Briefe 1936 an eine Bekannte und an seinen Schwager Rudiger Schleicher: DBW XIV, S. 112-114 und S. 146-148). Ihm geht es nicht um esoterische Erlebnisse, sondern um die „Erfahrung der Bibel als sein Leben veranderndes und GewiBheit gebendes Wort Gottes“ (Ernst Georg Wendel, Studien zur Homiletik Dietrich Bonhoeffers, Tubingen 1985, S. 81; vgl. 80ff; 88ff; 115; 137). Es ist konsequent, wenn Bonhoeffers Referenzpunkt die „ganze“ Bibel ist, das Alte und das Neue Testament. Bonhoeffers Uberlegungen zu „Ganzheit“ mussen im Kontext der epochalen Sehnsucht nach Einheit und Ganzheit gelesen werden. Angesichts der Krisen und Defizite, die eine ubersteigerte Rationalitat bzw. die Herrschaft des analytischen Denkens verursacht hatten, stand die Suche nach ungeteiltem Leben hoch in Kurs. Wendel halt in dieser Sache den EinfluB von Gedanken der Lebensphilosophie und von Schriften des Kulturkritikers Julius Langbehn auf Bonhoeffer fur sehr wahrscheinlich (vgl. 1985, S. 88f). Letzterer war von Georg Merz durch einen Artikel in „Zwischen den Zeiten“ (5[1927], S. 354ff) bekannt gemacht worden. 1930 war posthum sein Buch „Der Geist des Ganzen“ veroffentlicht worden. - Fur eine kritische Vertiefung der Thematik sei daran erinnert, dass die Ganzheits- problematik standiges Thema in den intellektuellen und kunstlerischen Diskursen („Hunger nach Ganzheit“) wahrend der Weimarer Republik war (vgl. Peter Gay, Die Republik der AuBenseiter. Geist und Kultur der Weimarer Republik [engl. 1969], Frankfurt/ Main 1970, S. 107ff). Im „Dritten Reich“ wurde die Ganzheitsidee zustimmend aufgegriffen und instru- mentalisiert. U.a. von der Leipziger Schule der genetischen Ganzheitspsychologie (Felix Krueger, Friedrich Sander, Hans Volkelt). Uber den Mythos der „Volksganzheit“ wurde eine Verbindung zur rassistischen NS-Ideologie konstruiert. Aus einem psychologischen Theorem entstanden „gewaltformige soziale Ordnungsmuster“, die dem Individuum nur im „rasse- bedingten Volksganzen“ Daseinsberechtigung einraumten. Vgl. Carsten Heinze, Ganz- heitspsychologie und politische Padagogik. Die nationalsozialistische Instrumentalisierung des Konzepts der ,Ganzheit‘ im Werk Hans Volkelts, in: theologie. geschichte, Zeitschrift fur Theologie und Kulturgeschichte (Saarbrucken), Beiheft 9 (2017), S. 197-218. Ferner Anne Harrington, Die Suche nach Ganzheit. Die Geschichte biologisch-psychologischer Ganz- heitslehren. Vom Kaiserreich bis zur New-Age-Bewegung (engl. 1996), Reinbeck 2002.

101 Vgl. Anhang IV./ H. Nr. 12.

102 Zitiert nach Henning Luther (1992), S. 155.

103 Wesentliche Einsichten gehen auf die in Anm. 97 genannte Literatur zuruck.

104 Vgl. Krappmann (1988), S. 8ff.

105 Krappmann (1988), S. 9; vgl. 11..

106 Krappmann (1988), S. 208; vgl. 197; 207f.

107 Im Unterschied zum „role playing“ geht es immer um die Wahrnehmung der Rolle anderer.

108 Vgl. Krappmann (1988), S. 133ff

109 Vgl. Krappmann (1988), S. 168ff

110 Vgl. Krappmann (1988), S. 150ff

111 Krappmann (1988), S. 167.

112 Um diese Behauptung zu festigen, verweist Krappmann auf die Korrelation von autori- taren Personlichkeitsstrukturen und dem Mangel an Ambiguitatstoleranz (vgl. 1988, S. 157).

113 Vgl. Krappmann (1988), S. 167.

114 Keupp (2013) spricht von der sog. „Passungsaufgabe“, die dem Individuum bei der Identitatskonstitution zufallt (vgl. S. 30; 60ff u.o.).

115 Christiane Tietz, Personale Identitat und Selbstannahme, in: Kerygma und Dogma, 61 (2015), S. 3-21; 5f.

116 Tietz (2015), S. 8.

117 Tietz (2015), S. 11. Die Autorin entfaltet die dialektischen Dimensionen des Selbst im AnschluB an S0ren Kierkegaards Schrift „Die Krankheit zum Tode“ (1849), Dusseldorf 1957. Vgl. ihre Arbeit „Freiheit zu sich selbst. Entfaltung eines christlichen Begriffs von Selbstan­nahme, Gottingen 2005. Der theologische Diskurs im fruhen 20. Jahrhundert, in Sonderheit das Thema „Identitatskonstitution“ ist nicht ohne die fundamentalen Impulse Kierkegaards zu denken.

118 Tietz (2015), S. 8 vertieft den Gedanken mit Hilfe von Ausfuhrungen Luthers (WA 7, 337,30-35; 39/I, 83,16f).

119 Das war u.a. der „Preis“, den die „Illegalen“ fur ihren konsequenten Standpunkt in der Legalisierungsfrage „zahlten“ (s.u.). - Die wortspielhafte Begrifflichkeit von „Gleich- zeitigkeit und Ungleichzeitigkeit“ hat Ernst Bloch (Erbschaft dieser Zeit, Zurich 1935; Frankfurt 1962) in den historischen Diskurs eingebracht, um die Spannungen zwischen technischem Fortschritt und mentaler Ruckstandigkeit im sozialen Kontext Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg zu charakterisieren. Vgl. Achim Landwehr, Von der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, in: Historische Zeitschrift 295 (2012), S. 1-34.

120 Die neue Existenz unter dem eschatologischen Vorbehalt sollte nicht mit dem aus stra- tegischen Grunden angestrebten „Als ob“ im Prozess des Ausbalancierens verwechselt werden. - Scharfer fasst Rudolf Bultmann die hier angesprochene Problematik mit dem Begriff „Entweltlichung“, dessen fundamentaltheologische Bedeutung sich der Johannesexe- gese verdankt. „Der Glaube bedeutet als die Vorwegnahme jeder Zukunft die Entweltlichung des Menschen, bedeutet seine Versetzung in die eschatologische Existenz. So gibt er dem Glaubenden eine eigentumliche Distanz zur Welt“ („Das Verstandnis von Welt und Mensch im Neuen Testament und im Griechentum“ 1940, in: Glauben und Verstehen II, Tubingen 41965, S. 59-78; S. 75).

121 Vgl. DBW XII, S. 259.

Ende der Leseprobe aus 638 Seiten

Details

Titel
Enthusiasmus und Desaster. Studien zum Identitätsdilemma junger Theologen im Kirchenkampf
Untertitel
Der Fall Karl Heinz Probsthain (1908-1943)
Hochschule
Philipps-Universität Marburg
Autor
Jahr
2019
Seiten
638
Katalognummer
V492647
ISBN (eBook)
9783668993754
ISBN (Buch)
9783668993761
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bekennende Kirche - protestantische Widersetzlichkeit - Renitenz in Westfalen - Jugendbewegung (vom Traum zur Tat) - Ruf zur Entscheidung - Kampfmetaphorik - Ambivalenz - Nachfolge - D.Bonhoeffer (Sigurdshof) - NS-Militärjustiz
Arbeit zitieren
Prof. Dr. Ulrich Schoenborn (Autor:in), 2019, Enthusiasmus und Desaster. Studien zum Identitätsdilemma junger Theologen im Kirchenkampf, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/492647

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