Administrative Rationalität und technologische Modernisierung? Ein Aspekt der Institutionalisierung im England des 12. und 13. Jahrhunderts


Wissenschaftliche Studie, 2005

20 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

I Einleitung

II 2 Thesen: Rationalisierung und Mechanisierung

III Rechnungsbücher, Pipe Rolls und Praxiswissen: Die

Schriftstücke und ihre Aussagen

IV Infragestellung: Tendenzen der Institutionalisierung

V Zusammenfassung

VI Quellen und Literatur

I Einleitung

Die Methodik der historischen Wissenschaften ist es, anhand von Quellenmaterial nachvollziehbare Aussagen über die Vergangenheit zu treffen. Die Quellenlage ist somit mit der Beantwortung historischer Fragen untrennbar verknüpft und konstitutiver Bestandteil einer Ableitung von Forschungsthesen. In dieser Untersuchung sollen zwei Thesen der älteren Forschung zur Institutionalisierung im 12. und 13. Jahrhundert in England auf Schlüssigkeit im Hinblick auf ihre Ableitung aus dem für diesen Bereich recht umfangreichen Material überprüft werden. Zum einen ist es die „Rationalisierungsthese“, derer sich einige namhafte Historiker im Gefolge M. Webers angenommen haben, zum anderen eine „Mechanisierungsthese“, die von L. White, Jr. aufgestellt wurde. Erstere bezieht sich auf die soziologische Herrschaftstheorie, nach der sich aus willkürlichen Herrschaftsmodellen heraus der bürokratische Staat der Moderne entwickelt. Diese Entwicklung habe, so W. Stubbs, H. Mitteis u.a., in England bereits nach der normannischen Eroberung begonnen und sei in der Bildung von Institutionen wie im Grad der Verschriftlichung der Verwaltung nachweisbar1. In der zweiten These wird parallel dazu von dem planvollen Anwachsen technologischer Entwicklungen gesprochen, auf die eine ausgreifende Mechanisierung hinwiese.

Anhand der Rechnungsbücher Heinrichs III. und einiger Aspekte zu den Pipe Rolls der englischen Könige und dem Domesday-Book sollen hier die tatsächliche Aussagekraft des Materials und die Funktion des unabweisbaren „administrativen Luxus“ für die Positionierung der mittelalterlichen Herrschaftspraxis in England hinterfragt werden.

Die gemeinsame Untersuchung der beiden Aspekte, Verwaltung und Technologie, ist nicht ihren Inhalten geschuldet - dafür wäre eine getrennte Thematisierung angebrachter. Der Grund liegt vielmehr in der hergebrachter Argumentation: Sie gelten als Indikatoren für den Grad der Modernisierung, ihr jeweiliger Stand der Technik erscheint als Maß für das Verlassen des europäischen Mittelalters. Weil aber sowohl die administrativen Bedingungen wie auch die technischen Möglichkeiten in den genannten Quellen angesprochen und aus ihnen abgeleitet wurden und werden, sollen sie hier gemeinsam untersucht werden. Dabei spielt auch die Frage nach nicht ableitbaren Aussagen und nach dem einer These zugrundeliegenden Vorverständnisses eine Rolle. Es geht nicht vordergründig um eine qualitative Einschätzung der Potentialität administrativer und technologischer Möglichkeiten in England, sondern um ihre Funktion für die politische Praxis und die aus ihrer Aktualität ableitbaren Tendenzen.

II 2 Thesen: Rationalisierung und Mechanisierung

W. STUBBS hat die normannische Periode als diejenige charakterisiert, in der sich in England ein neues administratives System herausgebildet hat, aus dem später der zentralisierte Staat hervorging2. Desgleichen verfuhren kontinentale Historiker, die z.B. die späte Entstehung des deutschen Nationalstaates dem englischen Ideal gegenüberstellten3. Für das hier behandelte Thema ist insbesondere die Frage nach der administrativen Leistung der englischen (Finanz-)Verwaltung des 13. Jahrhunderts für die Entwicklung eines solchen Staates von Interesse. Waren die Institutionen der Zeit tatsächlich ein Mittel, das der Entstehung einer bürokratischen Herrschaft im Sinne Max Webers zugute kam4? Dafür spricht der Umfang des Verwaltungsapparates, auf den allein schon die Quellenlage schließen läßt. Wenn auch die ersten Rechnungsbücher dieser Art erst aus der Zeit Heinrichs III. stammen, so setzte die exponentielle Zunahme des schriftlichen Verwaltungsverkehrs schon unter Heinrich II. bzw. Johann ein. Die Bürokratie beginnt aus dieser Sichtweise heraus mit der Einführung der Pipe Rolls5. Die Schriftlichkeit gilt als Maß der Zentralisierung und der Institutionalisierungsprozeß erscheint als Funktion der Anzahl von Schriftzeugnissen. Demgegenüber fragt U. Göllmann, ob „[diese Interpretationsmuster] nicht mitunter bestimmte Dinge verstellen oder zu stark ausblenden“6.

Die bekannte administrative Unterteilung Englands in Grafschaften und Hundertschaften, die seit 1066 das gesamte Inselreich überzieht, war für die militärische wie auch zivilrechtliche Verwaltung grundlegend7. Während die Hundertschaften erst ab dem 10. Jahrhundert nachweisbar sind, gab es Grafschaften bereits im 7. Jahrhundert. Auch nach der normannischen Eroberung behielten diese ihre Funktion und blieben neben dem Feudalrecht bestehen. Die starke Streuung des Adelsbesitzes erleichterte es dem Königtum, über die Grafen und Barone Oberhand zu gewinnen. Daß die Besitzverhältnisse trotz Beibehaltung organisatorischer Strukturen im Zuge der 1066er Eroberung im großen Umfang neu geregelt wurden, ist hinlänglich bekannt; das Domesday-Book von 1086 ist hierfür ein gewaltiges Zeugnis, in dem ein Zustand aufgenommen wurde, der für einen festgesetzten Zeitpunkt galt. An ihm können sowohl die Besitzverhältnisse für England nach der normannischen Eroberung als auch die Verbreitung und der Stand der wirtschaftlichen und technischen Entwicklung nachvollzogen werden. So hat H. C. DARBY die Standorte mechanischer Mühlen in den einzelnen Grafschaften kartiert8, woran die Abhängigkeit der Mechanisierung von den natürlichen Ressourcen, hier Wasser und Wind, ablesbar ist. Darauf aufbauend hat LYNN WHITE, JR. eine Theorie entwickelt, die ein spezielles Interesse der Menschen im Mittelalter für eine technologische Transformation behauptet9: Die Mühle sei der erste Schritt, die Lebenswelt zunächst durch Wasser- dann auch durch Windkraft planvoll zu mechanisieren. Dafür sprächen umfangreiche Niederschriften, die die mittelalterliche Landwirtschaftsproduktion dokumentieren und z.B. in Form von Rechnungsbüchern einzelner Städte und Landschaften die Arbeit der Mühlen dokumentieren10. Anlaß dieser schriftlichen Fixierung waren sicher Vorbeugung gegen Betrug und der bessere Überblick über Einkünfte und Ausgaben einer solchen Mühle. Da das Mühlenwesen aber keine Erfindung des englischen Mittelalters ist, sondern Mühlen vielmehr aus der Antike überliefert und punktuell seit dem 8. Jahrhundert im Inselreich nachweisbar sind, liegt es nahe, die Weiterentwicklung und extreme Zunahme ihrer Ausbreitung einer bewußten Mechanisierungstendenz im Leben der Menschen zuzuschreiben. Die Entwicklungstendenz verläuft also in diesem Modell ähnlich der WEBERschen Herrschaftstheorie: die Entwicklung schreitet voran und mit den sich verbreitenden Einsichten in rationales Handeln modernisiert sich das Gemeinwesen, hier auf technischem, da auf administrativem Gebiet.

Was hier die Anknüpfung an überliefertes Praxiswissen ist, bedeutete für Heinrich I. die Anknüpfung an bewährte Organisationsformen: Er nutzte die Versammlungen der Hundertschaften u.a. dazu, seine Finanzrechte durchzusetzen. Er bediente sich dabei Beauftragter, die nichterbliche Ämter bekleideten und die zentrale Organisation der Herrschaft unterstützten11. Diese Organisation gründete sich also auf Strukturen, die in vornormannischer Zeit geschaffen wurden und nun eine Intensivierung unter anderen Vorzeichen bzw. eine Vereinheitlichung erfuhren. Eine konkret faßbare Institution ist hier das Amt des Sheriffs, aber auch das „royal writ“12hat angelsächsische Vorläufer. Dabei handelt es sich um gesiegelte königliche brevia, eine Urkundenform die im England Heinrichs II. etwa dreimal so viel nachweisbar ist wie vergleichbare Urkunden im Deutschen Reich der Zeit13.

Eine Parallele zur kontinentalen Herrschaft bestand in der Reisetätigkeit des Königs. Für England war es aber kein Reisekönigtum von Pfalz zu Pfalz, sondern insbesondere nach 1106 der längere Aufenthalt in der Normandie. Durch des Königs Abwesenheit wurde die Unabhängigkeit der Verwaltung im Mutterland besonders wichtig. Für die Finanzverwaltung bedeutete dies die Einführung eines zentralen Organs, des Finanzhofes, der um 1110 entstand14. Dieser sog. Exchequer verwaltete die Krongüter der englischen Grafschaften15, sein Sitz war in Westminster, eine kurzzeitige Präsenz ist auch für Winchester nachweisbar. Personell waren die Grafschaften durch die Sheriffs mit dem König bzw. dem Finanzhof verbunden. Sie legten Rechenschaft über geleistete Ausgaben ab und übergaben die Pachtsumme halbjährlich an den Exchequer. Eine weitere Aufgabe des Exchequers bestand darin, Schulden zu verwalten, insbesondere die der Barone.

III Rechnungsbücher, Pipe Rolls und Praxiswissen: Die Schriftstücke und ihre Aussagen

Aufgrund des insgesamt recht hohen Umfangs mittelalterlicher Archivalien in England ist es nicht verwunderlich, daß Niederschriften aus wirtschaftlichem Interesse hier schon sehr früh nachweisbar sind. Rechnungen, die das Bauwesen betreffen und Zeugnisse wirtschaftlicher Tätigkeit aus dem Umfeld der englischen Könige gibt es seit dem 12. Jahrhundert, sie nehmen seit der Regierung Heinrichs II. jedoch beträchtlich zu. Sind es zunächst zusammenfassende Berichte über die Ausgaben im Bausektor, so wird die Niederschrift bald immer detaillierter. Die hier vorgestellten Rechnungsbücher bilden nun die erste Sammlung kleinteiliger Nachweise über die königlichen Ausgaben auf diesem Gebiet16. Die Rechnungsbücher Heinrichs III. betreffen vor allem Dover Castle, Winchester Castle und Westminster17.

Daß sich gerade für diese drei Bauten so gutes Quellenmaterial findet, ist kein Zufall. Die beiden Burgen von Dover und Winchester zu restaurieren, war architektonische Hauptaufgabe der Regentschaft Heinrichs III. Sie waren im Zuge der Auseinandersetzungen mit Frankreich belagert worden. Die Restaurierung ging in Winchester einher mit dem Neubau der großen Halle; Dover sollte nahezu uneinnehmbar gestaltet werden. Diese Feste war vor allem dank des Einsatzes von Hubert de Burgh verteidigt worden und nun konnten die Erfahrungen der Belagerung in die Erneuerung der Anlage einbezogen werden. So wurde z.B. der unter Heinrich II. und Johann begonnene äußere Wall als zweiter Befestigungsring ausgebaut. Einzelleistungen wie spezielle Bauten, Erweiterungen usw. sind in den Rechnungsbüchern erwähnt, hier finden sich auch militärhistorisch bedeutsame Besonderheiten wie z.B. Tunnellösungen, um dem Feind in den Rücken zu fallen18.

Die Erträge der Rechnungsbücher für die Technikgeschichte fallen trotz ihres Umfangs recht mager aus. Es ist vor allem das Auftauchen gewisser Fachtermini, die nunmehr für das 13. Jahrhundert nachweisbar sind. Zusammenhängende architektonische Entwürfe oder gar statische Berechnungen sind nicht zu finden. Jedoch bietet sich ein Überblick über so manche Verbindung zwischen Handwerk und Adel, Auftraggeber und -nehmer, die aus sozial- und wirtschaftsgeschichtlicher Sicht interessant sind. So kann das Wissen um die verwendeten Baumaterialien genutzt werden, die Transportmöglichkeiten zu Land und zu Wasser nachzuzeichnen19.

[...]


1 W. STUBBS, History, Bd.1, 1897; S. B. CHRIMES, Introduction, 1952.

2 W. STUBBS, History, Bd.1, S. 365. Vgl. Zusammenfassung der verfassungsgeschichtlichen Werke des 19. und 20. Jahrhunderts bei S. B. CHRIMES, Introduction, 1952.

3 So H. MITTEIS, Staat, 1959.

4 M. WEBER, Wirtschaft, S. 126ff.

5 Vgl. M. T. CLANCHY, England, S. 32ff.

6 U. GÖLLMANN, Geld, S. 33.

7 J. CAMPBELL, Anglo-Saxon State, 1994.

8 H. C. Darby, Domesday, 1977.

9 L. White, Jr., Technology, 1962.

10 R. Holt, Mechanization, in: E. B. Smith und M. Wolfe (Hrsg,), Technology, S. 141.

11 J. Campbell, Significance, S. 118ff.

12 U. Göllmann, Geld, S. 34.

13 Vgl. M. T. Clanchy, England, S. 59f.

14 J. Campbell, Significance, S. 121. Quellen in Regesta Bd. 2, S. 96, Nr. 963.

15 M. T. Clanchy, England, S. 44.

16 H.M. COLVIN (ED.), Accounts, S. 1. Vergleichbar sind hier nur die Bauaufzeichnungen von Karl von Anjou, König von Sizilien. Vgl. dazu E. STHAMER (HRSG.), Dokumente, 1912 - 1926.

17 Ungeachtet einer kleineren Sammlung zu Marlborough Castle 1237-1239: S.B. CHALLENGER und R.L. STOREY (ED.), Wiltshire 1956.

18 H. M. COLVIN (ED.), Accounts, S. 6.

19 So wurde z.B. für beide Burganlagen und Westminster ein Stein aus Caen in der Normandie genutzt, der über den Kanal zu den englischen Häfen transportiert werden konnte: H. M. COLVIN (ED.), Accounts, S. 13. Zum Transport von Lasten siehe auch TH. HÄNSEROTH/ K. MAUERSBERGER, Spekulative Betrachtungen über die Entwicklung des technischen Wissens im Mittelalter, mit besonderer Berücksichtigung vom Heben und Versetzen von Lasten, in: U. LINDGREN (HRSG.), Technik, S. 87-94.

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Details

Titel
Administrative Rationalität und technologische Modernisierung? Ein Aspekt der Institutionalisierung im England des 12. und 13. Jahrhunderts
Hochschule
Technische Universität Dresden  (Geschichte)
Veranstaltung
Luxus im Mittelalter
Note
1,3
Autor
Jahr
2005
Seiten
20
Katalognummer
V49263
ISBN (eBook)
9783638457569
ISBN (Buch)
9783638764476
Dateigröße
551 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Administrative, Rationalität, Modernisierung, Aspekt, Institutionalisierung, England, Jahrhunderts, Luxus, Mittelalter
Arbeit zitieren
Axel Siegemund (Autor:in), 2005, Administrative Rationalität und technologische Modernisierung? Ein Aspekt der Institutionalisierung im England des 12. und 13. Jahrhunderts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/49263

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