Kriegstrauma im Alter. Warum ist Biografiearbeit in vollstationären Pflegeeinrichtungen wichtig?


Fachbuch, 2019

44 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Psychisches Trauma
2.1 Definition und Verlauf
2.2 Folgen
2.3 Kriegstraumata
2.4 Kriegstrauma und Gesellschaft

3 Biografiearbeit im Alter
3.1 Begriffsklärung
3.2 Methoden des biografischen Arbeitens
3.3 Rahmenbedingungen
3.4 Ziele des biografischen Arbeitens
3.5 Gefahren und Grenzen der Biografiearbeit

4 Kriegserfahrungen im Kontext Pflege
4.1 Trauma im Alter
4.2 Trauma-Reaktivierung und Retraumatisierung im Alter
4.3 vollstationäre Pflegeeinrichtung
4.4 Biografiearbeit als Methode der Sozialen Arbeit mit kriegstraumatisierten alten Menschen

5 Fazit

Anhang

Literaturverzeichnis

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Impressum:

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1 Einleitung

"Der Krieg hat einen sehr langen Arm.

Noch lange, nachdem er vorbei ist, holt er sich seine Opfer."

Dieses Zitat von Martin Kessel beschreibt die Situation die sich in der heutigen Gesellschaft unbewusst wiederspiegelt. Vor allem in der Arbeit mit hilfebedürftigen alten Menschen, sind die Spuren von prägenden Ereignissen aus dem zweiten Weltkrieg spürbar. Die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) belegt auf Grundlage der Datenerhebung vom Statistischen Bundesamt, dass im Jahr 2013 4,4 Mio. der Bevölkerung in Deutschland über 80 Jahre alt waren. Bevölkerungsvorausberechnungen gehen bis 2050 von einer Steigerung (unter Berücksichtigung von Zuwanderung) auf 9,9 Mio. Menschen aus (vgl.www.bpb.de, 2019). Mit zunehmendem Alter steigt auch die Pflegebedürftigkeit der Hochbetagten. 2013 belief sich die Anzahl der über 80-jährigen Pflegebedürftigen in vollstationären Einrichtungen auf 0,76 Mio. Personen. Im Jahr 2017 wurden 0,82 Mio. Pflegebedürftige in Deutschland registriert, Tendenz steigend (vgl.www-genesis.destatis.de, 2019). Welche Bedeutung hat das für den Pflegeprozess in vollstationären Einrichtungen? Zum einen steigt natürlich der Bedarf an entsprechenden Einrichtungen sowie gut ausgebildetem Personal in Pflege und Betreuung. Zum anderen werden die physischen und psychischen Defizite der Pflegebedürftigen, mit zunehmendem Alter immer komplexer. Dieser Aspekt ist auch in meiner täglichen Arbeit als Ergotherapeutin in einer vollstationären Einrichtung spürbar. 66% der zu Pflegenden in dieser Einrichtung sind vor und während des 2. Weltkriegs geboren und aufgewachsen. 38,7% dieser Kohorte zeigen mögliche Anzeichen einer Kriegstraumatisierung. Dennoch stoßen diverse Verhaltensweisen aufgrund von Unsicherheit auf beiden Seiten, auf wenig Beachtung. So mangelt es am biografischen sowie zeitgeschichtlichen Wissen auf Seiten des Personals gegenüber den Pflegebedürftigen. Wohingegen Betroffene verschlossen bleiben aus Mangel an Vertrauen und Schutz-, Scham- sowie Schuldgefühl. Daher erscheint mir eine individuelle und ganzzeitliche Informationensammlung von Pflegebedürftigen in vollstationären Einrichtungen als sehr wichtig. Denn nur dann kann ein positiver Pflegeprozess, der Klienten in Pflegeeinrichtungen erzielt werden. Leider orientiert sich von Gesetzes wegen der Pflegealltag auf Planung und Durchführung von Pflegezielen und Maßnahmen, sowie ihre Evaluation. Biografische Daten werden nur am Rande von Angehörigen oder gar nicht erfasst.

Dabei sollte doch gerade die Biografiearbeit als bedeutende Grundlage für Pflege-förderung- und Aktivierungsmaßnahmen dienen (vgl.Lore Wehner, 2017, S. 10). Warum die Biografiearbeit so wichtig ist und welche Methoden die Pflege- und Betreuungskräfte problemlos im Alltag einsetzen können möchte ich im Kontext Kriegstraumata im Alter aufzeigen. Die Bachelorarbeit umfasst 3 Themenschwerpunkte die im einzeln abgehandelt werden. Die Kenntnisse zu den einzelnen Schwerpunkten beziehen sich auf reine Literaturrecherche. Einleitend wird das psychische Trauma mit seinen Symptomen und Verlaufsformen verdeutlicht, um dann im Weiteren zum Kriegstraumata hinzuführen. Bezugnehmend auf die differenzierten Betroffenengruppen erachte ich eine Einteilung der Zeitzeugen als sinnvoll. Die Thematik Kriegstrauma bezieht sich daher auf die Kohorte der in den Jahren 1927-1945 geborenen und aufgewachsenen Kinder und Jugendliche. Die möglichen Belastungen der Kohorte werden entsprechend den Phasen der Sozialisation eingeteilt. So werden erst die traumatischen Ereignisse und Folgen im Kleinkindalter beschrieben um im Folgenden auf Belastungen und Folgen in Kindheit und Jugend einzugehen. Hinsichtlich der unterschiedlichen Internalisierung1 von belastenden Erlebnissen sollen in diesem Zusammenhang die Risiko- und Schutzfaktoren benannt und erklärt werden. Welche Folgen schwere Kriegsereignisse haben können, soll unter Berücksichtigung der verschiedenen Lebensphasen und den damit zusammenhängenden differenzierten Lebensaufgaben sowie Bewältigungsstrategien veranschaulicht werden. Um die Thematik Kriegstrauma abzurunden werfe ich einen Blick auf den gesellschaftlichen Umgang unter den Gesichtspunkten Forschung, Familie und Betroffene. Den zweiten Themenschwerpunkt widme ich der Biografiearbeit im Alter. Nach einer kurzen Einführung wird die Lebensphase Alter nach der Einteilung von Erikson definiert, um dann das Arbeitsfeld Biografiearbeit vorzustellen. Dazu werden im Verlauf des Kapitels die Methoden und Rahmenbedingen für eine gelingende Biografiearbeit vorgestellt. Das Kapitel wird mit der Zielsetzung der Biografiearbeit und mit der Beschreibung möglicher Schwierigkeiten und Grenzen abgeschlossen. Das letzte Kapitel verweist auf die Anforderungen und den Handlungsbedarf der Sozialen Arbeit in Bezug auf Kriegstraumata im Alter in vollstationären Pflegeeinrichtungen. Dazu werden die möglichen Spätfolgen von Kriegserlebnissen bei Betroffenen im hohen Erwachsenalter benannt. Dem folgend werden die Anzeichen und Auslöser von Trauma- Reaktivierungen und Retraumatisierung benannt, um dann den Zusammenhang kriegserfahrener alter Menschen mit den Problemen bei den alltäglichen Pflegemaßnahmen aufzuzeigen. Wie Mitarbeiter mögliche Anzeichen von kriegstraumatisierten Menschen erkennen und daraufhin handeln sollten, werde ich im weiteren Verlauf des Kapitels beschreiben. Es besteht die Notwendigkeit hilfreicher Unterstützung von Angehörigen, in Bezug auf die Biografie der Betroffenen, sowie ein gut aufgestelltes Netzwerk von Fachärzten, Therapeuten, Seelsorgern und Fortbildungsmöglichkeiten für Fachkräfte. Dies ist in der Verbindung mit der Thematik unumgänglich. Im letzten Abschnitt möchte ich noch einmal auf die Bedeutung der Biografiearbeit eingehen. Dazu werden zwei Interventionsmethoden der Sozialen Arbeit vorgestellt, die in der alltäglichen Arbeit in Pflegeinrichtungen leicht umsetzbar sind. Für das Erstgespräch und/oder Aufnahmegespräche eignet sich dafür die adaptierte Methode des narrativen2 Interviews. Da es sich hierbei um eine Form der Einzelintervention handelt wird im zweiten Beispiel das Vertellekes- Spiel als mögliche Gruppenintervention vorgestellt. Diese ausgewählten Methoden sollen demonstrieren das notwendige Biografiearbeit in Pflegeeinrichtungen leicht zu integrieren ist und somit eine hilfreiche Unterstützung in der Arbeit mit kriegstraumatisierten alten Menschen darstellt.

2 Psychisches Trauma

Das Wort „Trauma“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet „Wunde“ oder „Verletzung“. (vgl.Redaktion Naturwissenschaft und Medizin, 1998, S. 746). Die physischen Verletzungen sind in der Gesellschaft schon lange bekannt und akzeptiert. Umso erschreckender ist es, dass erst seit den achtziger Jahren des 20 Jahrhunderts das psychische Trauma in der Wissenschaft mehr und mehr Anerkennung findet (vgl.Ruppert, 2018, S. 65). Die Ereignisse, die ein psychisches Trauma auslösen können, sind vielzählig. Zudem werden sie eingeteilt nach Häufigkeit des Auftretens, Typ I Traumata 3 und Typ II Traumata 4, sowie verursachenden Faktoren, Non-intentionale/akzidentelle Traumata 5 und Intentionale Traumata/ man-made-disaster 6 (vgl.Pausch & Matten, 2018, S. 5). Die Verarbeitungen solcher Schicksalsschläge sind individuell und hängen stark vom sozialen Umfeld ab. Im folgenden Abschnitt wird das psychische Trauma definiert und seine Verlaufsformen kurz erläutert, um die Komplexität des Kriegstraumata detailliert zu beschreiben und verständlich zu machen.

2.1 Definition und Verlauf

Das ICD-10-GM der WHO7 ist das bekannteste und meist genutzte internationale Verzeichnis zur Klassifikation von Krankheiten (vgl.Gahleitner, Zimmermann, & Zito, 2017, S. 39). Die Definition eines psychischen Traumas verfasst die WHO unter dem Diagnosepunkt der PTBS8 wie folgt: „(…) ein außergewöhnlich belastendes Lebensereignis, das eine akute Belastungsreaktion hervorruft oder eine besondere Veränderung im Leben, die zu einer unangenehmen Situation geführt hat und eine Anpassungsstörung hervorruft“ (Bundesministerium für Gesundheit unter Beteiligung der Arbeitsgruppe ICD, 2017, S. 198). Vereinfacht ausgedrückt zählen Ereignisse, wie Unfälle, Naturkatastrophen, Gewalttaten und Kriegerlebnisse zu den Hauptursachen belastender Lebensereignisse. Verbunden ist das mit dem Gefühl von Todesangst, Kontrollverlust und Hilflosigkeit, die eine normale Wahrnehmungsfunktion stark einschränken (vgl.Ruppert, 2018, S. 65). Normalerweise bedient sich unser Gehirn bei extremen Stresssituationen mit einem der zwei vom amerikanischen Forscher Walter Cannon benannten Reflexen Fight or Flight. Also Menschen die sich durch bestimmte Ereignisse in ihrer Existenz bedroht fühlen, kämpfen reflexartig um ihr Leben oder versuchen vor der lebensbedrohlichen Situation zu fliehen. Bei einem traumatischen Erlebnis greifen diese Reflexe allerdings nicht mehr. Diese Reaktion beschreibt man auch mit einer „ Überflutung von aversiven Reizen “ (vgl.Huber, 2012, S. 40). Was folgt sind die Sogenannten, Freez- und Fregmentreaktionen. Der Mensch erstarrt (Freezreaktion). Der körpereigene Organismus ist nicht mehr in der Lage das traumatische Ereignis zu verarbeiten und entfernt sich innerlich vom Geschehen. Normale menschliche Reaktionen wie schreien, weinen und weglaufen bleiben erst einmal aus. Diese Art von Selbstschutz wird Betroffenen bewusst, wenn die bedrohliche Situation beendet ist und das Gehirn anfängt das Ereignis zu verarbeiten. Ist die menschliche Psyche aber erstmal erstarrt, ist eine Verarbeitung des Geschehens kaum noch möglich. Das Erlebte wird dann in Einzelheiten aufgespalten (Fregmentreaktion) und so verdrängt dass eine zusammenhängende Erinnerung nicht mehr möglich ist (vgl.Huber, 2012, S. 43). Die Traumatologie teilt dieses Vorgehen in vier Arten auf. Zum ersten ist hier die Wahrnehmungsblockade zu nennen. Betroffene Personen leiden an dem Verlust der Spürbarkeit und nehmen das Ereignis vernebelt war. Eine weitere Reaktion, sich dem Traumaerleben zu entziehen ist das Einfrieren der Gefühle. Infolge dessen führt das zu einer Emotionslosigkeit und Erstarrung der Persönlichkeit. Wenn die Psyche den eigenen Körper verlässt und die bedrohende Situation von außen nicht zu sich gehörend wahrgenommen wird spricht man von einem Wachbewusstsein. Die letzte Unterteilung seine Psyche vor Internalisierung einer belastenden Situation zu schützen ist das Aufspalten der Persönlichkeit. Dabei erträgt die eine Seite der Psyche das extreme Erlebnis und der andere Teil entzieht sich dem Ganzen und bleibt damit unberührt und heil (vgl.Ruppert, 2018, S. 72). Mit dem Einsetzten der hiergenannten Freez- und Fregmentreaktionen und deren weiteren Verlauf, findet das Erlebnis für Betroffene als Trauma statt. Welche unmittelbaren und/oder langfristige Folgen extrem belastende Ereignisse auf die menschliche Psyche haben wird im nächsten Punkt erläutert.

2.2 Folgen

Unmittelbar nach einem extrem stressreichen Erlebnis erfüllt eine Art der Betäubung den Körper, wobei automatisierte Mechanismen unberührt bleiben. Innerlich beginnt der Kampf das Traumaerleben zu vergessen und Situationen die eine erneute Traumatisierung hervorrufen können zu meiden. Auch wenn es dem Betroffenen gelingt, sich im Alltagsgeschehen von den belastenden Ereignissen zu distanzieren und nach außen hin einen normalen Alltag verlebt, bleiben die Erinnerungen in tiefliegenden Hirnregionen gespeichert und brodeln wie ein Vulkan, der jederzeit zum Ausbruch kommen kann. Dafür bedarf es nur kleinster Trigger 9 , um das traumatische Erlebnis wieder ins Bewusstsein zu rufen und Flashbacks 10 auszulösen (vgl.Ruppert, 2018, S. 72f). Anders können traumatische Erlebnisse auch tiefgreifende und langfristige Veränderungen, wie eine Persönlichkeitsaufspaltung, zur Folge haben (vgl.Huber, 2012, S. 40ff.) (vgl.Herman, 1993, S. 53ff.). Van der Kolk (2000) ist der Meinung, „dass unter der Einwirkung traumatischer Ereignisse dissoziative11 Mechanismen einsetzen und einen veränderten Bewusstseinszustand erzeugen, um die Alltagspersönlichkeit vor extrem hohen Erregungsniveaus zu schützen“ (Reddemann & Wöller, 2017, S. 17). Die Fähigkeit zu dissoziieren beschreibt Hirsch (2011), als eines der Hauptabwehrmechanismen bei traumatischen Erfahrungen. Dissoziation kann sich in verschiedenen bewusstseinsverändernden Formen ausdrücken (vgl.Hirsch, 2011, S. 56f.). Die Amnesie ist eine Erscheinungsform unter der persönliche Informationen vergessen werden. Diese Gedächtnislücken gehen weit über die normale Vergesslichkeit hinaus. Selbst unter starker Anstrengung ist ein Erinnern nicht möglich. Eine andere Ausdrucksweise ist die Derealisierung/Depersonalisierung. Die Derealisierung bezieht sich dabei auf die Umwelt, die als „nicht dazugehörig“ wahrgenommen wird. Wie zum Beispiel nach einem Erdbeben. Man sieht die Menschen panisch und schreiend umherlaufen hört sie aber nicht, obwohl das Gehör in seiner Funktion nicht eingeschränkt ist. Wohingegen bei der Depersonalisierung, traumatisierte Personen sich selbst oder Körperteile als fremd erleben. Wenn man zum Beispiel bei einem Verkehrsunfall, körperliche Verletzungen erleidet, kann es passieren das man diese Verletzungen aufgrund der dissoziativen Mechanismen vorerst gar nicht wahr nimmt. Die menschliche Psyche schütz das „Ich“ und nur noch die lebenserhaltenden Maßnahmen laufen unbewusst weiter. Als letztes Beispiel für eine dissoziative Störung sei noch die Fugue benannt. In dieser Phase, mit unterschiedlich ausgeprägter Zeitspanne, fliehen Betroffene ohne Ankündigung vor ihrem Alltag. Diese Flucht ist eine sehr intensive Form der Dissoziation und oft mit einer Amnesie, Derealisierung und/oder Depersonalisierung verbunden. In der Traumatologie betrachtet man die Fugue-Episode auch als eine verspätete Flight-Reaktion. Treten mindestens drei dissoziative Symptome nach einem traumatischen Erlebnis auf, spricht man von einer akuten Belastungsstörung (vgl.Huber, 2012, S. 54ff.). Dissoziative Störungen können aber auch chronische Formen annehmen. Die bekannteste Form ist dabei die PTBS. Bevor eine PTBS entsteht, können mehrere Tage, Wochen, Monate, sogar Jahre vergehen, in denen unter körperlicher und seelischer Verwirrtheit das traumatische Ereignis versucht wird in den Alltag zu integrieren. Folgende drei Symptome sind für eine PTBS charakteristisch. Als erstes Symptom wird die Konstriktion, welche durch eine paradoxe Bewusstseinsveränderung gekennzeichnet ist, erläutert. Die Traumatisierten ziehen sich zurück, meiden soziale Kontakte und Berührungen (vgl.Huber, 2012, S. 56). Erschwerend kommt hinzu, dass die traumatische Situation nicht im Bewusstsein integriert wird und die Heilung somit zunehmend erschwert wird. Es folgt eine verzerrte Wahrnehmung, ohne Gefühl und Bedeutung (vgl.Herman, 1993, S. 65ff.). Das zweite Symptom ist die Intrusion in der Alb- oder Tagträume einzelne Sequenzen der traumatischen Situation in Form von Bildern, Geräuschen oder Gerüchen immer wieder durchlebt werden (vgl.Huber, 2012, S. 69). Traumatische Bilder und Träume werden nicht verfälscht. Diesbezüglich sind sie für die Betroffenen auch so real, als durchleben sie das traumatische Erlebnis wieder und wieder (vgl.Herman, 1993, S. 58f.). Das letzte Symptom wird als Überregung bezeichnet. Typische Anzeichen sind zittern, plötzliches schluchzen, Unkonzentriertheit oder übermäßige Gereiztheit (vgl.Huber, 2012, S. 69). Der Körper befindet sich in ständiger Alarmbereitschaft. Betroffene sind nicht in der Lage diese Gefühlsregungen auszuschalten (vgl.Herman, 1993, S. 56f.). Treten alle drei Symptome langfristig auf und neigen zur Verstärkung liegt eine PTBS vor. Doch nicht alle Betroffenen von schweren Schicksalsschlägen entwickeln eine PTBS. Grund dafür sind die individuell ausgeprägten Coping Strategien12, welche in jungen Jahren noch nicht vollständig internalisiert sind und im Alter immer mehr abnehmen. So besteht bei Kindern und Jugendlichen sowie älteren Menschen ein höheres Risiko, als bei jungen sowie erwachsenen Personen. Ebenso spielen vorhandene Risiko13 - bzw. Schutzfaktoren14 vor, während und nach dem traumatischen Erlebnis eine wesentliche Rolle (vgl.Huber, 2012, S. 69ff.)

2.3 Kriegstraumata

Der Krieg ist eine willentlich und von Menschenhand ausgeübte Gewalttat, ein Man-made-disaster. „Es gibt nach einem Krieg, seelisch betrachtet, keine wirklichen Sieger, sondern nur Verlierer.“ (Ruppert, 2018, S. 65). Traumatische Erfahrungen erleiden Opfer und Täter, jedoch in differenzierten Ausprägungen. Wie einleitend beschrieben zielt diese Arbeit auf die Generation der deutschen Kriegskinder ab, welche in den Jahren 1927-1945 geboren sind. Daher werden die im nächsten Abschnitt beschriebenen Belastungen und Folgen von Kriegsereignissen auf diese Kohorte beschränkt. Weiterführend werden die möglichen Auswirkungen auf die Lebensentwicklung bis ins hohe Alter verdeutlicht. Dazu verhilft eine Einteilung der Altersgruppen zum besseren Verständnis traumatischer Erfahrungen (vgl.Finze, 2012, S. 38).

2.3.1 Belastungen in der Kindheit und Jugend

Die hier aufgeführten Zahlen und Fakten beruhen auf Schätzungen, die Hartmut Radebold, auf der Grundlage von Dörr (1998) und v. Plato, Leh (1997) verfassten Daten, wie folgt beschreibt. Die schwerwiegenden Ereignisse im zweiten Weltkrieg, betrafen weitgehend Frauen, Jugendliche und Kinder. Über 11 Mio. wurden Opfer von Flucht und Vertreibung, darunter ca. 5 Mio. aus dem Ausland15. Mehr als 5 Mio. Familien wurden durch Fronteinsätze der Männer oder KLV16 getrennt. Fast 1 Mio. Menschen kamen bei Bombenangriffen, auf Groß- und Kleinstädte, ums Leben. Die Zahl der vergewaltigten Frauen und Mädchen beläuft sich auf ca. 1,4 Mio. Opfer. Nach dem Krieg waren Schätzungsweise 0,1 Mio. Kinder Vollwaisen und etwa 2,5 Mio. Halbwaisen. Darunter wuchs ein Viertel ohne Vater auf. Bezugnehmend auf diese Angaben nimmt Radebold eine Einteilung in drei zentrale Bereiche der kriegstraumatischen Belastungen vor (vgl.Radebold H. , 2015, S. 23ff.). Der erste befasst sich mit Trennung und Verlust von Bezugspersonen. Hierzu zählen die Abwesenheit der Väter durch Gefangenschaft oder Einsätze an der Front weiterhin der Tod der Eltern, Geschwister oder anderen nahen Angehörigen, sowie KLV und Pflichtjahre. Gewalterfahrungen durch Bombenangriffe, Tötungen, Verwundungen oder Vergewaltigungen gehören zu der zweiten Klassifikation von Radebold. Zum letzten Punkt, dem Verlust von Sicherheit und Heimat, werden die belastenden Ereignisse wie Evakuierungen, Flucht und Vertreibungen gezählt (vgl.Radebold H. , 2009, S. 16). Zunächst werden die kriegstraumatischen Belastungen der oben benannten Kohorte, im Kontext ihrer Altersstufen benannt. Die erste Entwicklungsstufe, auch als Frühe Kindheit bezeichnet, schließt die Altersgruppen 0 - 5 Jahre ein. Sie werden in den Krieg geboren und wachsen weitestgehend in der Nachkriegszeit auf. Die Kriegsereignisse sind für sie anfangs Normalität. In der Nachkriegszeit werden sie zu Betroffenen von Flucht und Vertreibungen und der damit zusammenhängenden Heimatlosigkeit sowie Hungersnot. Ihre Väter kehrten zum Teil, nach langer Zeit, von Einsätzen an der Front sowie aus der Gefangenschaft zurück, oder zählten zu den Kriegsopfern die den Einsatz an der Front nicht überlebten. Kinder im Alter von 6 - 11 Jahren befinden sich in der Späten Kindheitsphase. Ihre Kindheit ist ebenfalls von Erfahrungen mit Bombenangriffen, zerstörte Heimat, Evakuierungen, Flucht und Vertreibung und Vaterlosigkeit verbunden. Einige wenige werden durch KLV von der Familie getrennt. Ihre Jugend verbringen sie in der Nachkriegszeit und werden mit nicht altersgerechten Rollenaufgaben konfrontiert. Charakteristisch für die Adoleszenzphase, welche den Lebensabschnitt 12 - 17 Jahre umfasst, sind außerdem die Erfahrungen der national sozialistischen Schulbildung, KLV im Klassenverband sowie, in den letzten Jahren ihrer Jugend, der Einsatz von Jungen an der Front oder als Flakhelfer17. Bezugnehmend auf diese Aussagen ist zu erwähnen, dass keinesfalls alle Kinder und Jugendliche diesen Kriegserfahrungen ausgesetzt waren. Vor allem in den ländlichen Gegenden zeigte sich der Krieg in Form von fernen Bombenalarm, Flugverbänden oder Kriegserzählungen von aufgenommenen Flüchtlingen. So waren 35 % bis 40 % der Kinder und Jugendlichen kaum betroffen, 25 % bis 30 % zum Teil betroffen und 25 % bis 30 % zählten zu der stark betroffenen Generation (vgl.Radebold H. , 2015, S. 32ff.). Welche Folgen die kriegstraumatischen Erfahrungen im Bezug auf die differenzierten Altersgruppen hatten, lässt sich aufgrund fehlender familiärer Auseinandersetzung und vereinzelten Forschungen zu dieser Thematik, nur schwer beschreiben (vgl.Finze, 2012, S. 29). Daher werden im nächsten Abschnitt die Folgen über die gesamte Lebensentwicklung, aus heutiger Sicht beschrieben.

2.3.2 Folgen kriegstraumatischer Ereignisse

Das Kriegsende erlebte die beschriebene Kohorte als Kinder und Jugendliche. Wie eingehend im Punkt 1.2 beschrieben, zeigten sich bei Ihnen dissoziative Störungen auf. So wurden Erlebnisse zum Teil abgespalten und aus dem Bewusstsein verdrängt. Erschwerend kam hinzu, dass auf Grund der damaligen Lebensbedingungen (soziale Not, Wiederaufbau etc.) es keinen Raum gab, geschweige denn wissenschaftliche Forschungen, um sich aktiv mit den traumatischen Erfahrungen auseinander zu setzten. Ebenso nahmen Betroffene ihre Erlebnisse nicht als persönliches Schicksal wahr, sondern als eine kollektive Erfahrung. Die kollektiv wahrgenommenen Schicksale hatten wiederum Auswirkung auf die Generationsentwicklung. Es entstanden Generationskonflikte und Identifizierungsprobleme bei den Kindern und Jugendlichen, sowie eine besondere Bindung zwischen den Generationen. So übertrugen Eltern, die sich nicht mit ihrem Schicksal auseinandersetzten ihre Ängste und Sorgen oder sogar Schuld- und Schamgefühle auf die Kinder. Diese führte bei ihnen zur Übernahme der elterlichen Verhaltensweisen auf die eigene Persönlichkeit. Trotz wiederkehrender Abwehrverhalten der Kinder und Jugendlichen, aufgrund der differenzierten Erwahrungen und Wahrnehmung des Kriegsgeschehens gegenüber den Eltern, wurden ihre Erlebnisse nicht beachtet (vgl.Radebold H. , 2009, S. 51f.). Aus Erzählungen von Betroffenen, sowie späteren Beobachtungen von Kriegskindern, lassen sich zunächst einmal Gefühle wie Angst, Hilflosigkeit, Heimweh, Resignation, Apathie18 und innere Erstarrung mit Kriegsereignissen in Verbindung bringen. Aus soziologischer Sicht wissen wir heute, dass Kinder und Jugendliche abhängig von ihrem Alter verschiedene Entwicklungsphasen durchlaufen. Dementsprechend kann man sagen „je jünger das Kind, desto weniger verfügt es über eine seelische Abwehr (…) (Radebold H. , 2009, S. 55)“. In der frühen Kindheitsphase reagierten 4-5jährige mit Affektblockaden und kognitiven Einschränkungen. Panisches Weinen und daraus resultierende Erschöpfung zeigte sich bei den Säuglingen. Betroffene hatten in der späten Kindheitsphase Probleme beim Lernen, wiesen Konzentrationsschwächen auf und hatten Schwierigkeiten bei der sozialen Kontaktaufnahme. In der Adoleszenzphase zeigten sich traumatische Erfahrungen in aggressiven Ausbrüchen, Suizidversuchen und delinquenten19 Verhaltensweisen. Die national sozialistische Erziehung bekräftigte dieses Verhalten mit ihren Vorstellungen, dass Jungen stark und tapfer und Mädchen die helfende Hand in der Familie und im Haushalt sein müssen. Das führte zu frühen Parentifizierungen20 und einer geraubten Kindheit. Anna Freud war eine Psychoanalytikerin die erstmals Beobachtungen an Kindern und Jugendlichen in den Kriegsjahren 1940-1942 durchführte. Ihr Hauptaugenmerk lag auf die emotionalen Reaktionen von Kriegsereignissen. So wiesen Betroffene von Bombenangriffen kaum Verhaltensauffälligkeiten auf. Ein aggressives und ängstliches Verhalten ließ sich bei familiär getrenntlebenden Kindern und Jugendlichen erkennen. Aber die wohl bedeutendste Empirie an rund 12500 betroffenen Kindern, wurde in den Jahren 1946-1950 auf Langeoog durchgeführt. Grundlage hierfür war eine fast 5 Wochen anhaltende Erholungskur von 5 bis 16-Jährigen. In erste Linie zeigten sie eine schlechte körperliche Verfassung wie Untergewicht, zudem waren sie in ihrem körperlichen Wachstum deutlich zurückgeblieben und neigten zu Haltungsschäden aufgrund gering ausgebildeter Muskulatur. Weitere Anzeichen von Mangelernährung waren ein schwach ausgeprägtes Immunsystem, Anfälligkeiten auf infektiöse Krankheiten wie Tuberkulose, ein blasses Hautbild und schnelle körperliche Erschöpfung bei Belastungen. Verhaltensauffälligkeiten äußerten sich in motorischer Unruhe, Schlafstörungen, Konzentrationsschwächen und Sprachstörungen. Ihre Lebenseinstellung war eher trauriger Natur. Sie sorgten und ängstigten sich vor der Zukunft. Zudem zeigten sie ein starkes Bindungsverhältnis zur Familie. Erst 1949 ließen sich rückläufige physische und psychische Anzeichen beobachten. Es kam allmählig zu einer Angleichung der kindlichen Entwicklung von betroffenen an nicht betroffenen Kriegskindern. Die damaligen Kinder und Jugendlichen mit Kriegserfahrungen hatten für sich einen Weg gefunden mit den belastenden Ereignissen umzugehen. So verlor man Mitte der 50er des 20 Jhd. das Interesse an dieser Kohorte. Das Forschungsinteresse flammt erst sehr spät wieder auf und befasste sich zunächst nur mit den physischen und psychischen Folgen von Shoah-Opfern21. Erst seit wenigen Jahren richtet man den Blick auch auf deutsche Betroffene. Die Erkenntnisse kriegstraumatischer Spätfolgen lassen sich aus Psychotherapien, Beobachtungen in Familien, aus Sekundäranalysen und speziell durchgeführten Querschnittsbefragungen gewinnen (vgl.Radebold H. , 2015, S. 45ff.). Die Langzeitfolgen bei heute über 60-Jährigen werden in Punkt 3.1 erläutert. Wie die heutige Gesellschaft und die Betroffenen selbst mit diesen Erkenntnissen umgehen, wird im folgenden Abschnitt dargestellt.

[...]


1 zueigen machen, verinnerlichen

2 erzählend, in erzählerischer Form

3 plötzlich, unerwartete stressreiche Ereignisse von kurzer Dauer

4 langfristige, sich wiederholende Situationen

5 zufällige Ereignisse

6 von Menschen verursacht

7 World Health Organization/ Weltgesundheitsorganisation

8 posttraumatische Belastungsstörung

9 Auslösereiz der zurück in die Traumasituation führt

10 plötzliches intensives Wahrnehmen von zuvor erleben Ereignissen

11 Abspaltungen von Erinnerungen oder Persönlichkeitsanteilen

12 Bewältigungsfähigkeit

13 erhöhen die Wahrscheinlichkeit an einer PTBS zu erkranken durch fehlende Unterstützung, weibliches Geschlecht etc.

14 verringern die Wahrscheinlichkeit einer PTBS durch die eigene emotionale Reife, gutes soziales Umfeld etc.

15 Polen, Ungarn, Rumänien etc.

16 Kinderlandverschickung

17 Als Flak bezeichnet man eine Bodenabwehrwaffe aus dem ersten Weltkrieg. Flakhelfer waren für das Ausrichten, Laden und Munitionsbeschaffung verantwortlich.

18 Gefühlslosigkeit, Teilnahmelosigkeit

19 Delinquent – Grenzen überschreitende Verhaltensweise

20 Rollenumkehr zwischen Eltern und Kindern

21 Bezeichnung für Opfer des Völkermords im ersten und zweiten Weltkrieg

Ende der Leseprobe aus 44 Seiten

Details

Titel
Kriegstrauma im Alter. Warum ist Biografiearbeit in vollstationären Pflegeeinrichtungen wichtig?
Autor
Jahr
2019
Seiten
44
Katalognummer
V491931
ISBN (eBook)
9783960957188
ISBN (Buch)
9783960957195
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kriegstrauma, Biografiearbeit, Pflegeeinrichtung, Traumabewältigung, Therapie, Traumatisierung, Spätfolgen, Retraumatisierung
Arbeit zitieren
Victoria Fischer (Autor:in), 2019, Kriegstrauma im Alter. Warum ist Biografiearbeit in vollstationären Pflegeeinrichtungen wichtig?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/491931

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