Dramenstruktur und Verfremdungseffekt anhand von Bertolt Brechts "Der gute Mensch von Sezuan"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2018

17 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Das epische Theater

3. Verfremdungseffekte in „Der gute Mensch von Sezuan“
3.1. Sprache
3.2. Das distanzierte Spiel
3.3. Historisierung
3.4. Musik
3.5. Strukturaufbau

4. Fazit

5. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Im Zuge der gesellschaftlichen Umwälzungen der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert, empfand Bertolt Brecht die bis dahin gängige Form des „aristotelischen Theaters“ als nicht mehr zeitgemäß. Aus diesem Grundgedanken heraus entstand das „epische Theater“, welches die Scheinrealität des Gespielten aufbrechen und den Zuschauer zum eigenen Handeln und reflektieren anregen sollte. Brecht verstand es mit verschiedenen Mitteln die Tradition zu brechen, auf diese Mittel soll in dieser Seminararbeit am Beispiel seines Parabelstücks „Der gute Mensch von Sezuan“ näher eingegangen werden. Dieses gilt als Musterbeispiel für das epische Theater, aus dem viele Elemente des klassischen Dramas entfernt wurden. Diese Elemente und deren Wirkungsabsicht werden, nach einer kurzen Einführung über das epische Theater, in den folgenden Kapiteln näher beleuchtet.

Zum Ende der vorliegenden Arbeit wird im letzten Kapitel ein Fazit gezogen, in denen die Kerngedanken zur Wirkungsabsicht von Bertolt Brecht noch einmal zusammengefasst werden.

2. Das epische Theater

„[…] das Wesentliche am epischen Theater ist vielleicht, dass es nicht so sehr an das Gefühl, sondern mehr an die Ratio des Zuschauers appelliert. Nicht miterleben soll der Zuschauer, sondern sich auseinandersetzen.“1

In diesem Zitat beschreibt Bertolt Brecht sehr genau seinen Grundgedanken und seine Intention zum von ihm und Piscator entwickelten epischen Theater. Bis zu dieser „neuen“ Form des Theaters war es die „Aufgabe“ des Dramas vor allem Mitleid beim Publikum zu wecken und dieses mitfühlen zu lassen. Der Zuschauer konnte sich durch die „alte“ Form des Theaters in die Figuren hineinversetzen und so deren Emotionen auf sich übertragen und als besserer Mensch das Haus wieder verlassen. Der Besucher sollte das Gesehene auf sich selbst reflektieren und eine Katharsis, eine innere Reinigung vollziehen. Diese Katharsis beschreibt Aristoteles in seinem Werk „Poetik“, dass bis in die Neuzeit das Fundament des Dramas darstellt.2

Bertolt Brecht empfand diesen Ansatz als nicht mehr zeitgemäß, so vergleicht er das aristotelische Theater mit einem Karussell, welches dem Zuschauer nur eine Illusion von Freiheit vorgaukele, durch dessen monotone Kreisbewegung und Musik er in einen tranceähnlichen Zustand versetzt würde.3

In seinem Werk über das epische Theater drückt Walter Benjamin es so aus, dass der Zuschauer keine zu hypnotisierende Versuchsperson sei. Der Betrachter soll sich nicht identifizieren, sondern mitdenken und zu eigenen Erkenntnissen gelangen. Dies funktioniere aber nur mit einem gewissen Abstand, um alle Aspekte von allen Seiten einsehen zu können.4

Brecht möchte zu einer kritischen Betrachtung anregen und den Zuschauer, wissentlich das er im Theater ist, zu einer Reaktion animieren. Um dieses Ziel umsetzen zu können, bediente er sich verschiedener Mittel und Techniken, um sowohl den Dramenaufbau selbst, die Bühne und die gängige Schauspielkunst zu verändern.

„Das Prinzip besteht darin, anstelle der Einfühlung die Verfremdung herbeizuführen. Was ist Verfremdung? Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden, heisst zunächst einfach, dem Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte, Einleuchtende zu nehmen und über ihn Staunen und Neugierde zu erzeugen.“5

Für diesen Verfremdungseffekt bedarf es allerdings ein paar Voraussetzungen die durch die neue Schauspielkunst mitgebracht werden, aufgrund der Vielzahl von Bedingungen werden hier nicht alle genannt. So soll beispielsweise keine bestimmte „Raumatmosphäre“ entstehen, die den Zuschauer der Illusion hingibt. Es soll auch auf eine „einstudierte Sprechweise“ verzichtet werden, die dazu diene, dass sich der Zuschauer der Illusion einer realen Situation hingebe.6 Eine weitere und die wahrscheinlich wichtigste Voraussetzung für die Verfremdung ist das Einreißen der imaginären vierten Wand, die das Publikum vom Bühnengeschehen abgrenzt. Denn so ist es dem Schauspieler möglich den V-Effekt durch „Gestus des Zeigens“ zu erreichen. Der Darsteller zeigt mit diesem stilistischen Mittel, das er nur ein Schauspieler ist, der eine Rolle spielt und sich nicht ganz in die dargestellte Figur verwandelt. Wie genau er das erreicht und was diese Technik beim Zuschauer auslösen soll, wird in der weiteren Untersuchung von „Der gute Mensch von Sezuan“ weiter erläutert. Die letzte hier genannte Technik der Verfremdung ist die „Historisierung“. Hierbei soll der Akteur die Bühnenhandlung als vergänglichen, mit einer Epoche verbundenem, Vorgang darstellen. So soll zum Publikum eine kritische Distanz aufgebaut werden, die auch ein Abrücken von der Lebenswelt des Beobachters darstellt, so auffällig wird und zusätzlich den Zuschauer aus der Situation nimmt.7 Hier enden die allgemeinen Ausführungen zum epischen Theater und dessen Voraussetzungen. Im weiteren Verlauf wird nun die Anwendung des V-Effekts in Untersuchung von „Der gute Mensch von Sezuan“ näher erläutert.

3. Verfremdungseffekte in „Der gute Mensch von Sezuan“

Wie schon erwähnt dient die Verfremdung dem Aufbau von Distanz. Durch diese Distanzierung ist es dem Zuschauer möglich, mitzudenken und seine Lehren aus dem Gesehenen zu ziehen. Dieser Effekt wird durch verschiedene Mittel erreicht. So spielt das Stück „Der gute Mensch von Sezuan“ in der Provinz Sezuan, diese stünde für alle Orte, an denen Menschen von Menschen ausgebeutet würden.8 Zum einen schafft er mit dieser Verortung eine örtliche Distanz, da die Kultur Chinas sich von der westlichen Kultur stark unterscheidet. Und doch ist Sezuan eine „halb europäisierte“9 Stadt. Durch diese Vermischung schafft er eine weitere Verfremdung, denn dem Publikum setzt er einen Handlungsort vor, der ihnen unbekannt ist. Es wird so in eine bereits verfremdete Situation versetzt, bevor das Stück überhaupt beginnt. Die weiteren Techniken, die Brecht anwendet, um den V-Effekt zu erzielen, werden in diesem Kapitel einzeln veranschaulicht.

3.1. Sprache

Eine häufige und vielfältige Methode der Verfremdung ist bei Brecht die Sprache. So nutzte er beispielsweise die proletarische Sprache in „Furcht und Elend des dritten Reichs“, um einen V-Effekt zu erzielen. In „Der gute Mensch von Sezuan“ gibt es viele verschiedene Sprachebenen und Kommunikationsformen. Neben Dialogen kommen auch in diesem Stück von Brecht verschiedene Lieder zum Einsatz, deren Sprachwelt sich durch Verse und Reime deutlich vom Stück abhebt. Auf deren Wirkungsabsicht wird später noch eingegangen. Die eigentliche Sprachebene des Stückes ist die Prosasprache. Betrachten wir „Das Lied vom achten Elefanten“, wo gesungen wird:

„[…] Grabt weiter!

Herr Dschin hat einen Wald

Der muß vor Nacht gerodet sein

Und Nacht ist jetzt schon bald!“10

Später in der Ansprache von Fr. Yang an das Publikum heißt es:

„Wir können Herrn Shui Ta wirklich nicht genug danken. Beinahe ohne jedes Zutun, aber mit Strenge und Weisheit hat er alles Gute herausgeholt, was in Sun steckte. […].“11

Durch diesen Wechsel zwischen Prosasprache und Verssprache innerhalb des Bildes, wird der Zuschauer irritiert und gleichzeitig auf das Geschehen aufmerksam gemacht. Des Weiteren werden auch noch Verse in Publikumsansprachen verwendet, wie beispielsweise die Ansprache von Shen Te, nachdem sie in ihrem Laden von noch mehr Menschen um Hilfe gebeten wurde.

„Sie sind schlecht.

Sie sind niemands Freund.

Sie gönnen keinem einen Topf Reis.

Sie brauchen alles selber.

Wer könnte sie schelten?“12

In dieser Ansprache schildert Shen Te ihre Sicht auf die Familie, der sie Obdach gewährte, sowie über die Witwe Shin, der sie oft Reis gab. Gerade diese, raten ihr davon ab, immer die Wohltäterin zu spielen und halten Shen Te für zu gütig. Die Verse sind zum einen im einfachen Satzbau gehalten und zum anderen mit weiteren Stilmitteln versehen, die aufmerksam machen sollen. So sind die Verse im Parallelismus verfasst, der Satzbau ist bis auf den letzten Vers, in den anderen identisch. Ebenso bestehen die Satzanfänge, der Verswiederholungen aus Anaphern. Eine weitere Besonderheit ist der letzte Vers, denn er stellt eine Frage dar. Am Anfang der Ansprache verurteilt Shen Te noch die Menschen, sie bezeichnet diese als schlecht und stellt sie als egoistisch dar. Diese Ansicht verändert sich mit der Frage, wer sie denn schelten könnte und hebt diese sogar auf. So hat sie nun Verständnis für die Menschen, denn wer könnte ihnen böse sein, wo sie doch so viel Leid durchlebten? Der Zuschauer fragt sich nun unweigerlich, wie sie darauf kommt und wird aufmerksam.

Eine weitere Besonderheit in diesem Stück ist die „Figurensprache“13, so kann jeder Schauspieler durch seine eigene Art des Sprechens, seiner Figur eigene Züge verleihen. Dadurch bewegt sich das sprachliche Niveau im Stück auf unterschiedlichen Ebenen. Ein gutes Beispiel dafür ist Wang, denn er bedient sich sowohl derber Redewendungen, wenn er schimpft: „Ihr werdet in siedendem Pech braten für eure Gleichgültigkeit! Die Götter scheißen auf euch! […]“14, als auch der kultivierten Sprache, wenn er mit den Göttern spricht: „[…] Die Stadt steht zu euren Diensten, o Erleuchtete! Wo wünscht ihr zu wohnen?“15 Wangs Sprachebenen passen sich der Situation an, je nachdem mit welchem Gesprächspartner er es zu tun hat. Selbst die drei Götter unterscheiden sich voneinander, durch ihre Art zu sprechen. Der erste Gott spricht sehr autoritär und gibt überwiegend Befehle: „Nimm das nächste Haus, mein Sohn! Versuch es zunächst mit dem allernächsten!“16, der zweite Gott hingegen spricht etwas entspannter, wenngleich auch dominant: „Aber ein kleines Zimmer genügt uns. Sag, wir kommen.“17 Während der dritte Gott stets freundlich ist und versucht zu vermitteln: „Geh zu Herrn Tscheng oder sonstwohin, mein Sohn, ich ekle mich vor Spinnen doch ein wenig.“18 Jeder der Götter hat einen anderen Charakter, der mithilfe der individuellen Sprache unterstrichen wird.

Durch diese unterschiedlichen sprachlichen Mittel wird der Zuschauer irritiert und gleichzeitig wird seine Aufmerksamkeit geweckt. Immer da, wo eine neue Sprachebene einsetzt, entsteht ein Bruch und somit auch ein Verfremdungseffekt, den der Zuschauer bewusst oder unbewusst wahrnimmt.

3.2. Das distanzierte Spiel

Um ein Mitfühlen des Zuschauers mit den Figuren der Handlung zu vermeiden, wollte Brecht die Illusion des Gespielten aufheben. So nutze er Methoden, die halfen eine Rollendistanz der Schauspieler aufzubauen. Die erste ist das Heraustreten der Akteure aus der eigentlichen Handlung, um die Illusion, der Schauspieler sei die gespielte Person, zu brechen.19 Denn es ist von großer Wichtigkeit im epischen Theater, dass der Zuschauer versteht, dass die Rolle nicht echt ist. Besonders deutlich wird diese Methode, als Shen Te sich vor dem Publikum in ihren Vetter Shui Ta verwandelt und währenddessen „Das Lied von der Wehrlosigkeit der Götter und Guten“ singt.

[...]


1 Bertolt Brecht: Betrachtung über die Schwierigkeit des epischen Theaters. In: Bertolt Brecht: Gesammelte Werke 15. Schriften zum Theater 1. Frankfurt a.M. 1967, S. 131-132.

2 Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übersetzt u. hrsg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart, 1982.

3 Bertolt Brecht (1898-1956), in: Texte zur Theorie des Theaters, hrsg. von Klaus Lazarowicz und Christopher Balme, Stuttgart: Reclam, 1991, S. 82-87.

4 Walter Benjamin: Was ist das epische Theater? Eine Studie zu Brecht. In: Rolf Tiedemann (Hrsg.) Walter Benjamin: Versuche über Brecht. Frankfurt a.M. 1971, S. 8.

5 Brecht, Bertolt: Über experimentelles Theater, S. 301.

6 Vgl. Bertolt Brecht: Neue Technik der Schauspielkunst, S. 341.

7 Ebd. S. 347.

8 Brecht, Bertolt: Der gute Mensch von Sezuan, S. 6.

9 Ebd., S.6.

10 Brecht, Bertolt: Der gute Mensch von Sezuan, S. 117.

11 Ebd. S. 117

12 Brecht, Bertolt: Der gute Mensch von Sezuan, S. 21.

13 Vgl. Schneidewind, Wolf-Egmar/ Sowinski, Bernhard: Interpretation. S. 139.

14 Brecht, Bertolt: Der gute Mensch von Sezuan, S.12.

15 Ebd. S. 8

16 Brecht, Bertolt: Der gute Mensch von Sezuan, S 8.

17 Ebd. S. 9.

18 Ebd. S. 9.

19 Vgl. Brecht, Bertolt: Neue Techniken der Schauspielkunst, S. 342.

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Dramenstruktur und Verfremdungseffekt anhand von Bertolt Brechts "Der gute Mensch von Sezuan"
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Deutsche Philologie)
Veranstaltung
Aufbaumodul Neuere Deutsche Literatur
Note
1,7
Autor
Jahr
2018
Seiten
17
Katalognummer
V491449
ISBN (eBook)
9783668980754
ISBN (Buch)
9783668980761
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Drama, Dramenstruktur, Verfremdung, Verfremdungseffekt, Der gute Mensch von Sezuan, Brecht, Bertolt Brecht
Arbeit zitieren
Denise Gedicke (Autor:in), 2018, Dramenstruktur und Verfremdungseffekt anhand von Bertolt Brechts "Der gute Mensch von Sezuan", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/491449

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