Eine rechtliche Würdigung des Abgasskandals LG Braunschweig, Urteil vom 29.11.2017 – 3O 331/17


Seminararbeit, 2019

31 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

A. Einführung in die Probleme

B. Ausführungen des Gerichts
I. Sachverhalt
II. Darstellung der Entscheidungsgründe
1. Rückabwicklung des Kaufvertrags nach §§ 812 I, 123 I, 142 I BGB
2. Rücktritt vom Kaufvertrag gemäß §§ 434 I, 437 Nr. 2, 323, 346 BGB
3. Schadensersatzanspruch aus §§ 826, 831, 249 BGB
III. Analyse
1. Rückabwicklung des Kaufvertrags nach §§ 812 I, 123 I, 142 I BGB
a) Anwendbarkeit neben kaufrechtlicher Mängelgewährleistung
b) Aktive oder passive Täuschungshandlung?
c) Bestehen einer Offenbarungspflicht
aa) Umwelt-und Klimaverträglichkeit
bb) Nichtnutzbarkeit durch Dieselfahrverbote
cc) EG-Typengenehmigung
2. Rücktritt vom Kaufvertrag gemäß §§ 434 I, 437 Nr. 2, 323, 346 BGB
a) Entbehrlichkeit der Fristsetzung nach § 326 V i.V.m. § 275 I BGB
b) Entbehrlichkeit der Fristsetzung nach § 323 II Nr. 3 BGB
aa) EG-Typengenehmigung als besonderer Umstand
bb) Übereinstimmungsbescheinigung als besonderer Umstand
c) Unzumutbarkeit gemäß § 440 S.1 Alt. 3 BGB
d) Rechtsfolgen
3. Schadensersatzanspruch wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung
a) Vermögensschaden
b) Vorsatz
c) Sittenwidrigkeit
d) Kausalität
e) Ergebnis
4. Rechte aus einer Garantieerklärung i.S.d. § 443 BGB

C. Fazit

Literaturverzeichnis

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Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

A. Einführung in die Probleme

Der Dieselskandal beschäftigt nun seit 2015 enorm die Zivilgerichte. Im Mai 2014 entdeckte die Universität von West Virginia, dass Unge- reimtheiten beim Stickoxidausstoß von VW-Dieselfahrzeugen bestan- den. Die Volkswagen AG erklärte dies zunächst mit einem Software- fehler und ließ die in den USA betroffenen Fahrzeuge zurückrufen, um den Fehler zu beheben. Als weitergehende Untersuchungen des California Air Resources Board im Juli 2015 keine Verbesserung fest- stellen konnten, wurde VW von den US-Behörden aufgefordert, eine Erklärung abzugeben, andernfalls drohe die Verweigerung der Zulas- sung von neuen VW-Modellen im darauffolgenden Jahr. Daraufhin gab der Konzern im September 2015 die Manipulation zu.1

In Dieselmotoren des Typs EA 1892 wurde eine Abschalteinrichtung eingebaut, wodurch dann die Abgasnormen umgangen werden konn- ten. Die Softwarte erkannte, wenn sie sich in einer Prüfsituation be- fand und stieß dann geringere Mengen Stickoxid aus als im regulären Straßenverkehr. Die Testergebnisse wurden also dahingehend ge- fälscht, dass die nach der Euro-5 und Euro-6 Abgasnorm vorgegebe- nen Stickoxidwerte eingehalten wurden. Weltweit sind ca. elf Millio- nen Fahrzeuge des Konzerns betroffen.3 Nach Bekanntwerden dieser unzulässigen Abschalteinrichtungen bot die Volkswagen AG allen Fahrzeugeigentümern an, deren Fahrzeuge durch ein Software-Update nachzubessern.

Das KBA ließ die weitere Nutzung der Fahrzeuge im Straßenverkehr zu und bestätigte des Weiteren am 15.10.2015, dass der Mangel durch das Aufspielen der neuen Software beseitigt werden würde.4 Laut Aussagen des KBA drohe auch kein Erlöschen der Betriebserlaubnis. Die betroffenen Fahrzeuge würden auch nach wie vor die erforderli- che Typengenehmigung haben.5

Dieser Skandal hat viele Fragen im Hinblick auf die dem Käufer zu- stehenden Rechte aufgeworfen. Das Thema gewinnt auch zunehmend an Bedeutung aufgrund der Dieselfahrverbote in deutschen Innenstäd- ten.

Die Rechtsprechung entscheidet hier selten einheitlich. Fragen des Rücktrittsrechts und Zugeständnisse von Schadenersatzansprüchen werden unterschiedlich beurteilt.

Im Folgenden sollen die Entscheidungsgründe des LG Braunschweig analysiert werden.

B. Ausführungen des Gerichts

Das Urteil, das dieser Arbeit zugrunde liegt, wurde vom LG Braun- schweig am 27.11.2017 entschieden und thematisiert die Anfechtung und den Rücktritt von einem direkt mit dem Fahrzeughersteller ge- schlossenen Kraftfahrzeugkaufvertrag aufgrund der unzulässigen Ab- schalteinrichtung sowie eine Schadensersatzforderung wegen vorsätz- licher sittenwidriger Schädigung.

I. Sachverhalt

Der Kläger erwarb im Februar 2011 direkt beim Fahrzeughersteller einen neuen PKW zu einem Kaufpreis von knapp 28.000 Euro. Dieses Fahrzeug war mit einem Dieselmotor des Typs EA 189 ausgestattet, also von der unzulässigen Abschalteinrichtung betroffen. Die Beklag- te informierte den Kläger im August 2016, dass auch sein Wagen von der Stickoxidproblematik betroffen sei und bat ihn, sich mit einem Volkswagen-Partner in Verbindung zu setzten, um das vom KBA au- torisierte Software-Update durchführen zu können. Diese kostenlose Aufspielung der neuen Software würde zwischen 30 Minuten und einer Stunde in Anspruch nehmen. Der Kläger erklärte daraufhin die Anfechtung des Kaufvertrages wegen arglistiger Täuschung. Ebenso forderte er eine Garantie der Beklagten, für alle Mängel und Schäden einzustehen, die infolge der Manipulation entstünden. Ansonsten wer- de er die angebotene Mängelbeseitigung nicht annehmen. Im Ant- wortschreiben verweigerte die Beklagte die Garantie, jedoch verzich- tete sie bis zum 31.12.2017 auf die Erhebung der Verjährungseinrede.

Der Kläger brachte des Weiteren ein, dass die Umwelt- und Klimaver- träglichkeit des Autos beim Kauf für ihn von hoher Bedeutung gewe- sen sei. Dies könne er durch seine Teilnahme an der UN- Klimakonferenz 2007 auf Bali nur unterstreichen. Hilfsweise erklärte er auch den Rücktritt vom Kaufvertrag und forderte Schadensersatz wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung.

II. Darstellung der Entscheidungsgründe

Das LG Braunschweig hat die Klage abgewiesen. Dem Kläger stehe weder ein Anspruch auf Rückabwicklung des Kaufvertrags aus §§ 812 I, 123 I, 142 I BGB, noch aus §§ 434 I, 437 Nr. 2, 323, 346 BGB zu. Ebenfalls sei kein Schadensersatzanspruch aus §§ 826, 831, 249 BGB begründet.

1. Rückabwicklung des Kaufvertrags nach §§ 812 I, 123 I, 142 I BGB

Eine aktive Täuschungshandlung der Beklagten sei weder hinreichend dargetan noch ersichtlich. Die Angaben zum Schadstoffausstoß wür- den lediglich die Emissionsklasse, den Kraftstoffverbrauch und die CO2-Emissionen betreffen, welche nicht mit der unzulässigen Ab- schalteinrichtung in Verbindung stünden. Das KBA habe bestätigt, dass auch nach dem Software-Update die angegebenen Werte korrekt seien.

Aus diesem Grunde komme allein ein arglistiges Verschweigen des Beklagten infrage. Dieses sei nur dann gegeben, wenn eine Aufklä- rungspflicht hinsichtlich der verschwiegenen Tatsache bestand. Grundsätzlich gelte für Kaufverträge, dass kein Vertragsteil dazu ver- pflichtet sei, alle Umstände darzulegen. Es müsse sich vielmehr um besonders wichtige Umstände handeln, die für die Willensbildung der anderen Seite offensichtlich von ausschlaggebender Bedeutung sind. Eine Aufklärungspflicht würde also bestehen, wenn etwa die EG- Typengenehmigung für das Fahrzeug erloschen wäre oder deren Ent- ziehung drohen würde.

Die EG-Typengenehmigung sei nicht erloschen und eine Entziehung drohe ebenfalls nicht, da das KBA das Aufspielen der neuen Software als geeignet befunden habe, den Mangel zu beseitigen.

Ein weiterer wichtiger Umstand sei des Weiteren nicht ersichtlich. Hinsichtlich der Umwelt- und Klimaverträglichkeit des Fahrzeugs fehle es an der Offensichtlichkeit der ausschlaggebenden Bedeutung dieser Kriterien für die Willensbildung des Klägers.

Daher käme insgesamt eine Rückabwicklung des Kaufvertrags auf- grund vorheriger Anfechtung wegen arglistiger Täuschung (§§ 812 I, 123 I, 142 I BGB) nicht in Betracht.

2. Rücktritt vom Kaufvertrag gemäß §§ 434 I, 437 Nr. 2, 323, 346 BGB

Ein Rücktritt vom Kaufvertrag komme nicht in Betracht, da der Klä- ger der Beklagten zuvor keine angemessene Frist zur Nacherfüllung gesetzt habe (§ 323 I BGB) und diese auch nicht entbehrlich gewesen sei.

Der Kläger habe der Beklagten zwar Fristen gesetzt, allerdings keine zu Nacherfüllung. Er habe stattdessen um Mitteilung gebeten, wann und wo er eine Mängelbeseitigung durchführen lassen könne. Des Weiteren habe er zur Abgabe einer Garantieerklärung sowie zur Un- terbreitung eines Kaufangebots für das streitgegenständliche Fahrzeug gebeten.

Eine Fristsetzung sei auch nicht entbehrlich gewesen.

§ 323 V i.V.m. § 275 I BGB lasse das Erfordernis der Fristsetzung entfallen, wenn die Nacherfüllung unmöglich ist. Das sei vorliegend nicht der Fall, da das KBA Gegenteiliges bestätigt habe. Ein verblei- bender merkantiler Minderwert habe der Kläger nicht hinreichend dargetan.

Nach § 323 II Nr. 3 BGB sei eine Fristsetzung entbehrlich, wenn im Falle einer nicht vertragsgemäß erbrachten Leistung besondere Um- stände vorliegen, die unter Abwägung der beiderseitigen Interessen den sofortigen Rücktritt rechtfertigen. Das komme hier unter vier Ge- sichtspunkten in Betracht, nämlich dem Gesichtspunkt des arglistigen Verschweigens, dem Gesichtspunkt der Befürchtung von Folgemän- geln, dem Gesichtspunkt der von der Beklagten trotz Aufforderung nicht abgegebenen Garantieerklärung und dem Gesichtspunkt der Sorge um den Bestand der EG-Typengenehmigung. Sämtliche Punkte würden im Ergebnis nicht durchdringen.

Für die arglistige Täuschung gelte, dass die für die Nacherfüllung er- forderliche Vertrauensgrundlage so geschädigt sein müsse, dass dem Käufer keine Nachbesserung mehr zugemutet werden könne. Hier erfolge die Nachbesserung in Übereinstimmung mit dem KBA, also mit der dafür zuständigen unabhängigen Bundesbehörde. Hier könne ein neuer Täuschungsversuch also nicht befürchtet werden.

Die bloße Möglichkeit oder Befürchtung, dass nach der ersten Nach- besserung Mängel verbleiben oder neu entstehen, begründe nicht die Entbehrlichkeit einer Fristsetzung. Diese Möglichkeit habe der Ge- setzgeber in § 440 S. 2 BGB berücksichtigt.

Des Weiteren wäre die Beklagte nicht dazu verpflichtet gewesen, eine solche Garantieerklärung abzugeben. Aus diesem Grunde würde das Ausbleiben der Garantieerklärung auch nicht zum Rücktritt berechti- gen.

Die Sorge um den Bestand der Typengenehmigung des Fahrzeugs sei, wie oben bereits dargetan, ebenfalls unbegründet.

Nach §§ 440 S.1 Alt. 3 BGB sei die Fristsetzung entbehrlich, wenn die dem Käufer zustehende Art der Nacherfüllung ihm unzumutbar sei. Aus der Formulierung „außer in den Fällen des ... § 323 II bedarf es der Fristsetzung auch dann nicht“ ergebe sich, dass es sich um eine Spezialregelung für Fälle handele, die nicht schon von den §§ 326 V und 323 II BGB erfasst werde. Unter welchem Punkt § 440 S. 1 Alt. 3 BGB hier noch einschlägig sein solle, sei nicht ersichtlich.

3. Schadensersatzanspruch aus §§ 826, 831, 249 BGB

Für einen Schadensersatzanspruch wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung reiche allein der Verstoß der Beklagten gegen die Ver- ordnung (EG) Nr. 715/2007 nicht aus. Für Ansprüche aus unerlaubter Handlung gelte, dass die Ersatzpflicht auf solche Schäden begrenzt sei, die in den Schutzbereich des verletzten Ge- oder Verbots fallen.

Aus den Erwägungsgründen der verletzten EG-Verordnung ergebe sich jedoch, dass sie der Weiterentwicklung des Binnenmarkts sowie dem Umweltschutz diene. Individuelle Vermögensinteressen seien nicht umfasst. Der vom Kläger geltend gemachte Vermögensschaden falle daher nicht in den Schutzbereich der Norm.

Eine Täuschung durch Verschweigen der unzulässigen Abschaltein- richtung könne ebenfalls, aus oben genannten Gründen, nicht ange- nommen werden.

III. Analyse

1. Rückabwicklung des Kaufvertrags nach §§ 812 I, 123 I, 142 I BGB

a) Anwendbarkeit neben kaufrechtlicher Mängelgewährleistung

Die Frage, ob die Anfechtung neben kaufrechtlicher Mängelgewähr- leistung überhaupt möglich ist, hat das Gericht außer Acht gelassen.6

Die Anfechtung wegen arglistiger Täuschung ist vor und nach Ge- fahrübergang immer möglich.7 Der Verkäufer ist in diesem Fall nicht schutzwürdig.8 Jedoch könnte hierdurch das Recht des Verkäufers zur Nacherfüllung umgangen werden. Allerdings wird im Falle einer arg- listigen Täuschung ohnehin die Fristsetzung gemäß § 281 II Alt. 2 BGB, § 323 II Nr. 3 BGB entbehrlich sein.9

b) Aktive oder passive Täuschungshandlung?

Im Gegensatz zur Herangehensweise des Gerichts könnte man auch versuchen auf eine aktive Täuschungshandlung abzustellen, dann müsste man keine Aufklärungspflicht der Beklagten begründen. Das LG Krefeld hat eine aktive Täuschungshandlung durch die Übermitt- lung der Übereinstimmungsbescheinigung angenommen.10 Mit der Übereinstimmungsbescheinigung erkläre der Hersteller, dass ein Fahrzeug aus der Baureihe zum Zeitpunkt seiner Herstellung allen Rechtsakten entspreche (Art. 3 Nr. 36 der Richtlinie2007/46/EG).11

Hiergegen stellte sich das LG Braunschweig in einem Urteil aus dem Frühjahr 2018 mit dem Argument, dass die Bescheinigung dem Käu- fer erst nach Vertragsschluss übergeben werde.12 Da § 123 BGB einen Kausalzusammenhang zwischen Täuschung und der abgegebenen Willenserklärung voraussetzt13, kann diese Ansicht nur überzeugen. Im Zeitpunkt der Übergabe der Übereinstimmungsbescheinigung war der Kaufvertrag nämlich bereits schon geschlossen worden.

Eine klare Trennung zwischen Tun und Unterlassen erscheint hier ohnehin problematisch, denn mann müsste doch auf „das Inverkehr- brigen – unter Verschweigen der gesetzeswidrigen Softwareprogram- mierung“14 abstellen.

Daher erscheint es doch sinnvoller von einer Täuschung durch Unter- lassen auszugehen.

c) Bestehen einer Offenbarungspflicht

Um eine Täuschung begründen zu können, müsste, wie das LG Braunschweig in ihren Entscheidungsgründen dargelegt hat, eine Aufklärungspflicht bezüglich der unzulässigen Abschalteinrichtung bestanden haben.15 Es müssten also Umstände vorliegen, die für die Willensbildung der anderen Seite von hoher Wichtigkeit sind. Diese Definition stellt sich als vage und schwer subsumtionsfähig dar.16 Mit ensprechenden Argumenten lässt sich eine Offenbarungspflicht also gut begründen, aber auch leicht ablehnen. Man könnte solch eine durch die veränderte Umwelt-und Klimaverträglichkeit, durch die in Zukunft drohende Nichtnutzbarkeit von Dieselfahrverboten, aber auch durch die EG-Typengenehmigung begründen. Wie bereits oben darge- legt, lehnte das LG Braunschweig eine Offenbarungspflicht mit der Erklärung ab, dass der Entzug der EG-Typengenehmigung nicht drohe sowie die Umweltverträglichkeit des Fahrzeugs für die Willensent- schließung des Klägers nicht ausschlaggebend gewesen sei.

Dies ist im Folgenden zu untersuchen.

aa) Umwelt-und Klimaverträglichkeit

Hinsichtlich der Umwelt- und Klimaverträglichkeit ist etwa das LG Offenburg der Ansicht, dass diese für den Käufer wertbildend sei, da einige Käufer bereit seien, für so ein Fahrzeug mehr Geld aufzuwen- den.17 Fraglich ist jedoch, ob dies auch auf unseren Kläger zutrifft. Der Kläger behauptete, seine Teilnahme an der UN-Klimakonferenz 2007 hätte ihn bezüglich der Umweltverträglichkeit sensibilisiert. Ebenfalls habe ihn die „Clean Diesel“-Kampagne in den USA stark beeindruckt. In den meisten Fällen erwirbt ein umwelt- und klimabe- wusster Käufer, dem der Ausstoß von Stickstoffoxid von zentraler Bedeutung ist, ohnehin kein Fahrzeug, das mit einem Dieselmotor ausgestattet ist. Dieselmotoren sind der Hauptgrund für die hohe Stickstoffbelastung in Städten, die sich gesundheitsschädlich auf die Lungen des Menschen auswirkt.18 Dies war auch schon im Jahre 2011 bei Abschluss des Kaufvertrags bekannt, da schon 1999 eine EU- Richtlinie über die Grenzwerte für Stickstoffoxid in der Luft beschlos- sen wurde.19 Des Weiteren stützt sich die Entscheidung über den Fahrzeugkauf auf ein Paket von Beweggründen, wie etwa die Motor- leistung, die Ausstattung, die Marke und der Preis. Es erscheint un- klar, ob gerade die unrichtigen Abgaswerte kausal für den Abschluss des Kaufvertrags gewesen sind.20 Daher erscheint die Begründung des LG Braunschweig, dass es an der Offensichtlichkeit der Willensbil- dung in Bezug auf dieses Merkmal fehle, überzeugend.

bb) Nichtnutzbarkeit durch Dieselfahrverbote

Andererseits könnte auch die Nichtnutzbarkeit durch Dieselfahrverbo- te von Bedeutung sein. Denn der Käufer könnte künftig von zahlrei- chen Dieselfahrverboten in deutschen Großstädten betroffen sein. Diese Verbote würden zwangsläufig auch zu Wertminderungen der Fahrzeuge führen, den man als merkantilen Minderwert betrachten könnte. Das LG Braunschweig scheint dies in einem Urteil aus dem Frühjahr 2018 nicht als Faktor anzusehen, mit dem man eine Aufklä- rungspflicht des Herstellers begründen könnte. Es stehe nämlich nicht eindeutig fest, ob Preisrückgänge auf dem Umstand der Softwarema- nipulation oder „nicht etwa auf einer allgemeinen Verunsicherung des Marktes und auf den markenübergreifend generell allen nach EU5 zugelassenen Dieselfahrzeugen drohenden Fahrverboten“21 zurückge- führt werden könnten.22

[...]


1 Klinger, in: ZUR 2017, 131 (131).

2 Zeit-Online 11/2015.

3 Zeit-Online 11/2015.

4 W itt, in: NJW 2017, 3681 (3681).

5 Zeit-Online 11/2015.

6 Omlor, in: JuS 2018, 485 (486).

7 Berger, in: Jauernig, BGB, § 437, Rn. 31; Armbrüster, in: MüKo, BGB, § 123, Rn. 101

8 Berger, in: Jauernig, BGB, § 437, Rn. 31.

9 Faust, in: BeckOK, BGB, § 437, Rn. 192; Grunewald, in: Erman, BGB, Vor § 437, Rn. 30.

10 LG Krefeld, Urt. v. 12.07.2017 – 7 O 159/16; Legner, in: VuR 2018, 251 (251).

11 Klinger, in: ZUR 2017, 131 (132).

12 LG Braunschweig, Urt. v. 14.02.2018 – 3 O 1915/17; Legner, in: VuR 2018, 251 (251).

13 S i ng er / Vo n Finckenstein, in: Staudinger, BGB, § 123, Rn. 48.

14 O ec h sler, in: NJW 2017, 2865 (2866).

15 A r mb r ü ster, in: MüKo, BGB, § 123, Rn. 38.

16 S i ng er / Vo n Finckenstein, in: Staudinger, BGB, § 123, Rn. 10.

17 LG Offenburg, Urt. v. 12.05.2017 – 6 O 119/16; Legner, in: VuR 2018, 251 (252).

18 Handelsblatt, 08/2017.

19 Richtlinie 1990/30/EG des Rates vom 22. April 1999 über Grenzwerte für Schwe- feldioxid, Stickstoffdioxid und Stixkstoffoxide, Partikel und Blei in der Luft.

20 O ec h sler, in: NJW 2017, 2865 (2867).

21 LG Braunschweig, Urt. v. 16.03.2018 – 11 O 3669/16.

22 Legner, in: VuR 2018, 251 (254).

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Details

Titel
Eine rechtliche Würdigung des Abgasskandals LG Braunschweig, Urteil vom 29.11.2017 – 3O 331/17
Autor
Jahr
2019
Seiten
31
Katalognummer
V491433
ISBN (eBook)
9783668983151
ISBN (Buch)
9783668983168
Sprache
Deutsch
Schlagworte
eine, würdigung, abgasskandals, braunschweig, urteil
Arbeit zitieren
Anna-Maria Langerscheidt (Autor:in), 2019, Eine rechtliche Würdigung des Abgasskandals LG Braunschweig, Urteil vom 29.11.2017 – 3O 331/17, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/491433

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